Tschechien - Die Geschichte der CSAF

Mehr als 15 Jahre anarchistischer Organisierung in Osteuropa

Das Anarchistische Radio Berlin führte 2011 ein Interview mit Milan durch, einem Genossen der CSAF, der Tschechoslowakischen Anarchistischen Föderation, das 2012 mit zusätzlichen Informationen ergänzt wurde. Die CSAF ist Mitglied in der Internationalen der Anarchistischen Föderationen (IFA), die 1968 im italienischen Carrara gegründet wurde. Milan gibt einen ausführlicheren Einblick in die mehr als 15-jährige Geschichte der CSAF.


A-Radio Berlin: Wie begann die Geschichte der CSAF?

Milan: Ich werde zunächst etwas über den Anarchismus in der Tschechischen Republik erzählen. Das Thema ist jedoch viel zu breit, um es ausführlich besprechen zu können. Daher werde ich mich auf einen kurzen Abriss seit den Neunzigern beschränken und dann etwas zur 15-jährigen Geschichte der Tschechoslowakischen Anarchistischen Föderation sagen.

Vor der so genannten Samtenen Revolution, dem Zusammenbruch des bolschewistischen Systems 1989, tauchten Anarchist*innen praktisch nicht in der Öffentlichkeit auf. In gerade mal drei Jahren entwickelte sich jedoch aus dem Stand eine lautstarke anarchistische Bewegung. Eine Gruppe um die „Tschechische Anarchistische Vereinigung“ begann 1992 mit der Herausgabe der Zeitschrift „A-kontra“, die bis heute als wichtigste anarchistische Zeitschrift in Tschechien gilt. Bald kam auch die Zeitschrift „Autonomie“ heraus.

1992 selbst gab es eine ganze Reihe erfolgreicher Aktionen, darunter der Angriff auf den Prager Opernball, eine erfolgreiche Erste-Mai-Demo, die Zurückschlagung eines Nazi-Angriffs und die Störung eines umstrittenen Pferderennens durch radikale Umweltschützer*innen und Tierrechtsaktivist*innen.


A-Radio Berlin: Nach einem Streit tschechischer und slowakischer Politiker*innen kam es 1993 ja zur Spaltung der Tschechoslowakei in zwei unabhängige Staaten: die Tschechische Republik und die Slowakei. Wie ging es nach 1993 weiter?

Milan: In den nächsten Jahren etablierte sich eine ganze Reihe an anarchistischen Organisationen, unter anderem die bereits erwähnte Gruppe um die Zeitschrift „A-Kontra“, die von 1991 bis 1995 erschien und dann später noch einmal von 1998 bis 2008. Die Zeitschrift wurde sogar neben kommerziellen Zeitungen an den Kiosken verkauft.

1995 wurde die Tschechische Anarchistische Föderation gegründet, die später in Tschechoslowakische Anarchistische Föderation umbenannt wurde. Aus dieser Föderation spaltete sich eine anarchosyndikalistische Föderation ab, die als „Föderation sozialer Anarchist*innen“ versuchte, subkulturelle Themen hinter sich zu lassen und sich mehr der arbeitenden Bevölkerung zuzuwenden. Mit ORAS-SOLIDARITA entstand eine weitere anarchosyndikalistische Gruppe, die später plattformistisch wurde. Und es gab auch die ersten Besetzungen, mit denen die Leute versuchten, Freiräume zu schaffen. Dazu gehört auch die erste ernsthafte Besetzung: 1990 das besetzte Haus Sochorka in Prag, das später legalisiert wurde. Andere ebenfalls sehr bekannte Besetzungen waren Ladronka und Milada, die 1998 besetzt wurden. [1]


A-Radio Berlin: Aus welchen anderen Quellen speiste sich die anarchistische Bewegung in Tschechien damals?

Milan: Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass der Anarchismus in Tschechien starke öko-anarchistische Wurzeln hat. Gleich zu Beginn gab es viele Anarchist*innen, die sich in Gruppen wie „Earth First“ oder „Animal Liberation Front“ bewegten. Es gab verschiedenste Zeitschriften und Ende der Neunziger kam auch eine „Reclaim the Streets“-Gruppe hinzu.

1998 gab es mit der „Global Street Party“, einer Demo in Prag als Teil eines globalen Events, den ersten großen Protest gegen die Globalisierung des Kapitalismus in Tschechien. Zahlreiche Fensterscheiben multinationaler Konzerne gingen zu Bruch und die Demonstration endete mit massiver Polizeibrutalität. Der Protest war dennoch ein Erfolg, da die Massenmedien damals zum ersten Mal überhaupt anfingen, die Probleme der Globalisierung zu thematisieren. Anschließend fanden viele „Street Partys“ statt: in Prag, in Brno und in Bratislava. Die größte solche Veranstaltung fand vermutlich 1999 in Prag statt. Es nahmen 6.000 Aktivist*innen teil, und dabei wurde sogar die US-Botschaft angegriffen.

1999 gab es auch eine relativ große 1.-Mai-Demo. Diese fand wie gewohnt auf einem Platz mit dem Namen „Shooter’s Island“ statt. Der Fokus der Aktivitäten lag zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits auf der Vorbereitung eines Zusammenschlusses mit dem Namen „INPEG“ (Initiative gegen wirtschaftliche Globalisierung), der angelehnt war an PGA (People’s Global Action). Dieser Zusammenschluss organisierte eine Kampagne gegen den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank. Außerdem organisierte er den Gegengipfel in Prag im Jahr 2000.

Das Treffen der Staats- und Regierungschefs wurde massiv auf der Straße gestört. Die tschechische Bewegung hatte durch diese ganzen Aktivitäten viele Erfahrungen gesammelt, die es ihr ermöglichten, ein solch großes Event zu organisieren. Was uns jedoch nicht gelang, war das Thema der Globalisierung in Beziehung zu setzen mit den Lebensbedingungen der ganz normalen Leute. Und ich glaube, hier findet sich auch ein ganz großes Problem der tschechischen Bewegung: die fehlende Motivation, mit den älteren Generationen ins Gespräch zu kommen.

Mit dem beginnenden „Krieg gegen den Terror“ wurde der Fokus nunmehr auf die antimilitaristische Arbeit gelegt. Der wichtigste Punkt war die Einrichtung einer gemeinsamen Anti-NATO-Plattform mit anderen anarchistischen Gruppen aus Osteuropa. Der Schlusspunkt dieser Kampagne war eine Demonstration gegen den NATO-Gipfel in 2002. Die antimilitaristische Arbeit wurde auch während des Irakkrieges fortgesetzt, aber dieses Mal war die Bewegung deutlich geschwächt.


A-Radio Berlin: Was waren die Ursachen dafür? Waren es interne Gründe oder eher externe Faktoren?

Milan: Die Aktivist*innen der ersten Stunde waren langsam erschöpft und viele von ihnen zogen sich zurück. Es gab verschiedene Gründe dafür, aber die bereits erwähnte fehlende Kommunikation mit älteren Generationen war auch hier ein Problem. Der Bewegung gelang es darüber hinaus nicht, sich auch außerhalb des Aktivist*innen-Ghettos zu etablieren. Der Kern der Bewegung war stets auf Prag ausgerichtet. Es waren daher immer wieder dieselben Leute, die die Events organisierten, und es waren immer dieselben Leute, die zu den Events kamen.

Die Krise betraf auch den NGO-Sektor. Das letzte große Event war eine Demonstration gegen soziale Ausgrenzung. Gleichzeitig war dies eine Reaktion auf die stärker gewordene Neonazi-Szene. Die Antifa hatte zu dieser Zeit ihre Taktik geändert und setzte auf direkte Intervention vor Ort, basierend auf einer groß angelegten Observation.

Einen großen Einschnitt bedeutete die Reform des Polizeigesetzes, die die Vermummung auf Demonstrationen verbot und darüber hinaus den Einsatz von Tasern erlaubte sowie Hausdurchsuchungen ohne richterliche Erlaubnis. Aktivist*innen reagierten darauf mit dem Aufbau stärkerer lokaler Gruppen mit lokalen Aktivitäten, wie Filmclubs, Workshops, Ausstellungen, direkten Aktionen. Das bevorzugte Mittel zur Verbreitung von Ideen wurden große Festivals, die Kultur mit Politik kombinierten. Es gab auch weiterhin Demonstrationen, allerdings nur klein und auf lokaler Ebene.


A-Radio Berlin: Du hast jetzt viel zur Geschichte des Anarchismus seit 1990 gesagt. Kannst du uns von der Tschechoslowakischen Anarchistischen Föderation erzählen, ihrem Aufbau und ihren Tätigkeiten?

Milan: Die Föderation setzt sich zusammen aus lokalen Gruppen und Einzelpersonen, die anarchistischen Ideen anhängen. Es handelt sich um eine Organisation von Arbeiter*innen, Studierenden und Arbeitslosen, die gemeinsame anarchistische Prinzipien propagiert.

Dazu gehören der Föderalismus, eine Selbstorganisierung von unten, die Abwesenheit von Hierarchien und Ungleichheiten. Die CSAF setzt sich für eine freie und selbstorganisierte Gesellschaft ein, deren Grundlage selbstorganisierte Regionen und eine selbstverwaltete Produktion sind.

Die Föderation wurde 1995 von den Herausgeber*innen der anarchistischen Zeitschrift „Freier Geist“ gegründet. In der zweiten Ausgabe riefen diese in einem Kommuniqué zur Gründung der Föderation auf. 1997 kam eine Gruppe slowakischer Anarchist*innen hinzu, weswegen sie in Tschechoslowakische Föderation umbenannt wurde.

In den beiden darauf folgenden Jahren kristallisierten sich zwei wichtige, autonome Strömungen innerhalb der Föderation heraus: eine anarchosyndikalistische und eine öko-anarchistische. Beide gaben eine eigene Zeitschrift heraus: „Syndikalista“ und „Gegen den Strom“.

Im Herbst 1997 verließen einige AnarchoSyndikalist*innen die Organisation und gründeten die Föderation sozialer Anarchist*innen (FSA). Die Zeitschrift „Freier Geist“ wurde eingestellt, weswegen die CSAF begann, ihre Zeitschrift „Existence“ herauszugeben, während die FSA eine Zeitschrift mit dem Namen „Freie Arbeit“ herausgab. „Existence“ kam von 1998 bis 2002 heraus. In diesem Zeitraum gab es 14 Ausgaben, in denen hauptsächlich Themen wie Globalisierung, Militarismus, Repression und praktischer Anarchismus diskutiert wurden. Neben der wichtigsten Zeitschrift gab es auch andere regelmäßige Publikationen, wie z. B. „Tunnel“, „Work“, „From Below“, „Past Away“ und „Exhaust“.


A-Radio-Berlin: Und was waren bzw. sind jenseits der Propaganda eure Tätigkeitsfelder?

Milan: Die Föderation organisierte alljährlich eine traditionelle 1.-Mai-Demonstration, die an den Kampf um den 8-Stunden-Tag erinnert. Sie fanden auf dem traditionell dafür genutzten Platz „Shooter’s Island“ in Prag statt. Die CSAF beteiligte sich auch an der Global Street Party in 1998 in der Tschechischen Republik, die wie bereits erwähnt der erste massive Protest gegen die Globalisierung des Kapitalismus war.

Ein wichtiges Thema für uns war vor einiger Zeit der öffentliche Transport. Wir lancierten eine Kampagne zur Sicherung des regionalen Transports und gegen die Erhöhung der Fahrpreise. Als Föderation entwickelte die CSAF ein eigenes Konzept zur Einführung eines kostenlosen öffentlichen Nahverkehrs.

Der Schwerpunkt der Aktivitäten lag auf dem Erfahrungsaustausch. Zu Bildungszwecken wurden Workshops organisiert. Auch die Verbreitung von anarchistischen Werken kann zur Verbreitung des Wissens um den Anarchismus beitragen, aber in 15 Jahren wurde nur ein Buch herausgegeben.

Die CSAF war im vorher bereits erwähnten Bündnis „INPEG“ involviert, das eine Kampagne gegen IWF und Weltbank organisierte. Neben dem Anti-NATO-Bündnis in 2002 und einer antimilitaristischen Kampagne während des Irakkrieges, organisierten wir auch die Hilfe für politische Gefangene im Anarchist Black Cross (ABC).


A-Radio Berlin: In einem Bericht Anfang 2012 schriebt ihr, dass es zwar keine ernsthaften Repressionsfälle gegen Anarchist*innen in den beiden Ländern gab, ihr aber dennoch Anti-Repressionsarbeit leistet. Was bedeutet das?

Milan: Unsere ABC-Gruppe konzentriert sich hauptsächlich auf die Unterstützung von Fällen in anderen Ländern: Griechenland, Belarus, Russland, Großbritannien. Neben Soli-Events, z.B. für ABC Moskau, gab es eine Reihe von Konzerten in verschiedenen Städten in Tschechien und der Slowakei.


A-Radio Berlin: Was macht ihr zurzeit?

Milan: Unser wichtigstes Kommunikationsmedium ist aktuell unsere täglich aktualisierte Webseite. Heutzutage konzentriert sich die Arbeit auf drei Projekte:

Wir haben eine Zusammenstellung unserer langjährigen Aktivitäten in Form einer Broschüre erstellt. Bei Interesse könnt ihr euch gerne im englischsprachigen Bereich unserer Webseite umgucken, unter csaf.cz.

Fußnoten:
[1] Es gibt einen ganz spannenden Dokumentarfilm zum Thema Hausbesetzungen in der Tschechischen Republik, der auch online verfügbar bist. Den Link zu „Squat Wars“ findet ihr auf dem Blog des Anarchistischen Radios Berlin unter aradio.blogsport.de.

Originaltext: Gai Dao Nr. 24, Dezember 2012 (PDF)