Fünfundzwanzig Jahre nach Karl Marx

Das befruchtende Wirken großer Geister, länger andauernd als das kurzfristige menschliche Leben, verdient der Erwähnung und Erinnerung im Gedächtnis späterer Generationen. Und je lebendiger dieses Nachwirkende und auch nachmalig Bahnbrechende sich im sozialen Leben erweist durch die greifbar deutlichen Tatsachen, je mehr es seine Bestätigung fand durch die Geschehnisse im gesellschaftlichen Walten und dadurch näher kam und verwandt wurde mit dem Bewußtsein der Massen, das, was vordem nur Einzelnen gehörte, — desto lauter tönt der Massenchor der Würdigung, den ein solch großer Geist empfängt, desto lebendiger ist er im Gefühl, im täglichen Tun der Massenwelt- und Massenaktion. Aber dieser Chor der festlichen Würdigung äußert sich dann nicht mehr durch das Wort allein, denn dieses ist ja stets der Beweis für das noch nicht Erreichte; diese Würdigung äußert sich dann im praktischen Tun, im geistigen Streben der Massen, denen das Denken und Gefühl des von ihnen verehrten Geistes so in alle Interessenfasern ihres Seins übergegangen ist, daß er für sie zur Selbstverständlichkeit wurde.

Wenn wir heute, 25 Jahre nach Karl Marx Hingang über ihn schreiben und ihn im Lichte dieser Betrachtungsmethode beurteilen, so können wir es ruhig konstatieren: das, was vor noch einem Jahrzehnt seine ganze Bedeutung bildete, das System, das seinem Namen die Gloriole des beweihräuchernden Ruhmes verlieh, der Marxismus ist heute tot und überwunden. Allerdings, wenn man sich an die phrasenreichen und geistig inhaltslosen Ausspinnungen in der sozialdemokratischen Presse Österreichs und Deutschlands — und charakteristischer Weise existiert der ruhmselige Marxkultus nur in diesen beiden politisch rückständigen Großstaaten in irgendwie gefährlichem Maße! — halten wollte, dann lebten Marx Theorie und die marxistische Praxis noch sehr, fänden Tag auf Tag ihre Bestätigung und Anschauung in der modernen Sozialdemokratie. Leider — für die letztere — sind wir aber nicht genug Auguren, um uns gegenseitig in dieser Weise auf Kosten der genarrten und genasführten Dritten, auf Kosten der proletarischen Massen zu unterhalten. Und so kann uns, die wir die internationale Arbeiterbewegung kennen und miterleben, nichts vorgefackelt werden, wie die Marxisten es mit dem Arbeiter tun, der eben durch die moderne Lohnsklaverei weder die Zeit noch die geistige Ausbildung besitzt, um die Behauptungen solch theoretischer Falschmünzer kontrollieren zu können.

Auch wissen wir nur allzu gut, weshalb die Führer der Sozialdemokratie sich gerade so sehr an Marx halten und ihn emporheben zwecks staunender Bewunderung seitens der Arbeiter, die ihn größtenteils weder lesen können noch überhaupt lesen: — stets haben die Priester jeder Kirche, jedes Dogmas dem Volke irgend welche Götter und Götzen geboten, vor denen es ehrfurchtsvoll in die Kniee sank, eben weil es sie nicht verstand und die Pfaffen mittlerweile des Volkes Ketten desto ungestörter schmieden konnten! Im Falle der Sozialdemokratie verhält es sich ganz ebenso: Je weiter sich ihre Praxis von der Theorie Marxens entfernt, je mehr sie das wirtschaftlich-ökonomische Moment der Lehre Marxens auf Kosten des politischen hintansetzt, je mehr sie aus einer sozialistischen Partei eine kleinbürgerliche, mittelmäßig-demokratische Partei wird, desto größer und lauter die Sucht, als Marxnachtreterin zu posieren, sich mit Pfauenfedern zu schmücken, schließlich alles Volksverräterische, was man tut, als marxistisch auszugeben — obwohl Marx sich im Grabe zu Highgate umdrehen müßte, wenn er, der unerbittliche Ingrundundbodenwetterer des Gotha'schen Einigungsprogrammes der deutschen Sozialdemokratie, die Praxis der internationalen, heutigen Sozialdemokratie sehen könnte; die so weit geht, daß ein Viktor Adler im parlamentarischen Ausschuß den "vulgärökonomischen" Blödsinn aufstellen kann, die Sozialdemokratie hätte nichts gegen die Vermehrung und Verstärkung der Sicherheitsbehörden einzuwenden, nur dürften diese nicht gegen streikende Arbeiter verwendet werden. Und dies 60 Jahre nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifestes, in dem zu lesen steht: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet."

An Karl Marx hat sich die Ironie der Geschichte vollzogen. Die historische Entwicklung des modernen Sozialismus kennt keinen zweiten, der die Geistesprodukte der französischen und englischen Schulen der sozialistischen Bewegung so ausgiebig verwertete, so plagiatorisch sich aneignete, wie Karl Marx es tat; aber auch keinen, der in ähnlich perfider Weise gegen sämtliche seiner Lehrer vorgegangen wäre, sie ähnlich geschmäht hätte, wie Marx es mit Proudhon, Sismondi, Mill, Grün usw. getan. Und dies stets mit dem wohl ausgeklügelten Plan, eine dogmatische Schule zu begründen, die diese historischen Fälschungen, Schmähungen und Verleumdungen kommentarmäßig fortsetzen würde. So vermeinte er, sie alle, einschließlich der großen Utopisten und ihrer Schüler, totgeschlagen zu haben. Und doch hatte er sich ganz gründlich verrechnet. Denn trotz alledem war Marx ein Sozialist, wenn auch nur Staatssozialist nach Louis Blanc'schem Muster. Er wollte den Sozialismus und hoffte, daß die von ihm gegründete Schule seine Theorie des revolutionären Staatssozialismus zum Siege geleiten würde. Das wird niemals geschehen, so viel ist schon heute ersichtlich. Die moderne Sozialdemokratie hat Stück auf Stück seiner theoretischen Lehren aufgegeben und wird in der Praxis — und nur diese ist der Gradmesser der Theorie! — beherrscht von der kleinbürgerlich-radikalen Demokratie, deren Führertum die Revisionisten nicht nur sind, sondern stets waren, selbst dann schon, als es diesen Namen noch gar nicht gab. Und während so die Sozialdemokratie einzig und allein darin das Erbe Marx' angetreten hat, daß sie — darin hat sie freilich unübertrefflich Schule gemacht! - die Anhänger des nicht-marxistischen Sozialismus mit derselben Flut von unwissender Gemeinheit überhäuft, wie es ihr quasi-Abgott getan, hat sie auf der anderen Seite den revolutionären Standpunkt des Marxismus vollständig aufgegeben, damit ihn selbst, der ja theoretisch durchaus unhaltbar, abgetan, sich ausschließlich zur Linken der bürgerlich-demokratischen Opposition entwickelt. Damit ist der Marxismus kläglich zu Ende; das Ende des Marxismus bedeutet aber auch das Ende des Ruhmesnamens Karl Marx, der damit reichlich Sühne tut für alle die Verleumdungssünden seinen sozialistischen Gegnern gegenüber, die seiner Hegemonie widerstritten.

Aber ganz abgesehen von der modernen Sozialdemokratie ist Marx hauptsächlich auch durch das Leben und die historische Forschung des Sozialismus erledigt worden. Bei uns in Österreich, wo man doch so gar keine theoretische Tradition des Sozialismus hat, wo Lassalle und Marx das uns ideal leitende Dioskurenpaar sein sollen, an dessen Genialität der Arbeiter zu glauben — denn in der österreichischen Arbeiterklasse ist die Kenntnis des Sozialismus grauenhaft gering! — gelehrt wird, können sie freilich noch die erste Geige spielen. Doch nur, weil man hier gemeinhin nichts anderes kennt, von nichts anderem weiß! Wie sehr abgetan der Marxismus als theoretisches Lehrgebäude ist, das wissen nur diejenigen, welche die übrige europäische Arbeiterbewegung kennen und da sehen, daß er in den industriell wie sozialistisch geistig höchst entwickeltesten Ländern, wie Frankreich, England, nach über40 jähriger Pflanzung so absolut gar keine Ernte einzuheimsen hat, an Bedeutung höchst unbedeutend ist. Und man glaube nicht, daß diese Länder, wie alle die übrigen mit Ausnahme Österreichs und Deutschlands, sich jemals zum Marxismus entwickeln werden. Niemals; denn weil sie an Kenntnis und Aktionsfrische der sozialistischen Bewegung weit über ihm stehen, ihn innerlich, wie auch teilweise historisch längst überwunden haben, aus diesem Grunde sind sie nicht marxistisch. Wohl bedürfen auch sie noch der sozialistisch-prinzipiellen Entwicklung; doch niemals nach der Richtung zum Marxismus hin.

Ist es nur ein Zufall, daß mit Ausnahme gerade einiger Broschüren, deren Inhalt ebenfalls höchst anfechtbar ist, die Gesamtarbeit von Marx auf literarischem Gebiet mit dem Sozialismus nichts Tieferes gemein hatte, sondern rein nationalökonomisch war? Wenn ihn die Nationalökonomen feierten, dann hätten sie recht. Aber der historische Schiedsspruch des Sozialismus wird Marx niemals in bedeutendem Maßstabe für sich beanspruchen. Man darf dabei nicht vergessen, daß wenn schon die gesamte Sozialwissenschaft heute zum größten Teil noch Experiment und das Tatsächliche ihrer Erkenntnisse noch lächerlich minimal ist, die politische Ökonomie in Wahrheit nichts ist, als pureste Metaphysik und Spekulation. Gerade darin aber war Marx groß, nämlich in der Nationalökonomie. Und es geht ziemlich schwer an, ihn so für den Sozialismus zu retten, wie man es nicht laut seinem "Kapital", wohl aber laut diversen anderen Schriften tun darf, zu sagen, Marx habe die Metaphysik der Nationalökonomie in sozialistischem Sinne ausgelegt, angewandt und verwertet. Man kann dies sagen, doch man sagt damit blutwenig für und zu Gunsten von Marx. Denn man vergißt dabei ganz, daß ja eben der Sozialismus gar nichts anderes ist als die aller Metaphysik entkleidete Gesellschaftsökonomie. Von letzterem hat uns Marx außerordentlich wenig, nur in ganz flüchtigen Strichen geboten. Seine Stärke bestand darin, in den Produktionsprozeß der bürgerlichen Gesellschaft eindringen zu wollen; seine Schwäche, diesen Produktionsprozeß als eine für sich bestehende historische Kategorie anzusehen, die durch eigene, ihr innewohnende, ökonomische Gesetze geleitet und fortentwickelt wird.

So konnte er dazu gelangen, zu glauben, er besäße die Erkenntnis der bürgerlichen Produktionsweise, wenn er die Bewegungsgesetze der Waren, der Kapitalien, den Zirkulationsprozeß des verschiedenen Geldkapitals verfolge und konstatiere. Ein arger Irrtum, denn die moderne Produktionsform wird nicht geleitet oder beherrscht durch den den Waren etc. innewohnenden Charakter, den sie in unveränderlicher Form überhaupt nicht haben, sondern durch das, was Marx in seinem "Kapital" vollständig vergaß, durch den staatlich aufrechterhaltenen und je nach den sich durchsetzenden, verschiedenartigen sozial-ökonomischen Bedürfnissen der mächtigsten Kapitals- und Herrschaftskliquen. Dort wo das "Kapital" recht hat, hat nicht Marx recht, sondern einfach der Sozialismus und dessen Kritik an der bestehenden Gesellschaft, wie sie ein Fourier schon so glanzvoll und umfassend durchführte, daß Marx ihm vieles entlehnen konnte. Wie total wertlos aber die theoretische Lebensarbeit von Marx für das Proletariat ist, das weiß jeder, der das "Kapital" aus eigenem Studium kennt und die Ehrenhaftigkeit besitzt, das zu konstatieren, was ist.

Das "Kapital" ist das metaphysischeste Werk des modernen Sozialismus, das je geschrieben wurde; und gerade weil es sich ausschließlich mit ökonomischen Kategorien beschäftigt. Relativen Wert haben nur die Auszüge aus den Blaubüchern der englischen Regierung, die historischen Partien, die aber absolut nichts Originales sind. Dort wo es sich auf das ökonomische Gebiet begibt, ist es die ökonomisch verzerrte Grimasse eines konservativen Hegels und bewegt sich in lauter Abstraktionen, so sehr, daß ganze Seiten den eigenen Anhängern unverständlich bleiben. Für Marx haben die Waren, das Geld, die Profitraten u. dgl. eigene Bewegungsgesetze, Terminologien wie Arbeit und Arbeitskraft ersetzen den Arbeitenden, kurz man bewegt sich selbst nicht mehr unter sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen: will man sie und wieder realen Boden unter den Füßen  gewinnen, so muß man alle diese Begriffe — und damit experimentierte die scholastische Dialektik der mittelalterlichen Mönche ganz ebenso wie es Marx tut — zurück in reale Dinge verwandeln. Marx glaubte, wer weiß wie klug zu handeln, wenn er in seiner Analyse des "Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion" mit der Darstellung der Ware begann und mit der höchst flüchtigen Analyse der Grundrente und überhaupt Grund-und Bodenfrage endete. Heute wissen wir alle, daß es gerade umgekehrt ist, daß jeder Mehrwert, jede Ausbeutung erst eine Formabart der ursprünglichsten Ausbeutung durch den Monopolbesitz des Grund und Bodens und daß die gesamte Warenwirtschaft und Staatsbelastung erst seine Folge ist. Dabei, und dies ist die Hauptsache, ist das "Kapital" so geschrieben, in einer solchen Sprache verfaßt, daß die eigenen Anhänger, so weit sie aus Proletariern bestehen, den Ausführungen des Meisters nicht folgen können, sie einfach nicht verstehen. Aus diesem Unglück resultiert nur ein Glück: es schadet nämlich dem sozialistisch denkenden Arbeiter gar nicht, wenn er Marx nicht versteht, da er, wenn er ihn verstehen gelernt hat, um nichts klüger in punkto Sozialismus, um manche ganz falsche Schrullen reicher geworden ist. Und gerade als Marx sich mit dem Sozialismus beschäftigen anfangen wollte, bricht das dreibändige Manuskript ab.

So ähnlich verhält es sich mit allen anderen Thesen des Marxismus. Keine einzige hat das ihr gestellte Prognostikon erfüllt und erreicht. Wer belächelt heute nicht den Gedanken an die totale Vernichtung der Mittelklasse; wer glaubt noch an die Konzentration des Kapitals in immer weniger und weniger Händen; was kümmert uns, die wir den Sozialismus wollen, die Wert- oder Mehrwerttheorie; wer ist noch der Meinung, daß man auf dem Wege der parlamentarischen Betätigung einen Klassenkampf führt und realisiert; wer kann sich nach Beobachtung der 40 jährigen parlamentarischen Taktik der deutschen Sozialdemokratie noch der Hoffnung hingeben, je auf diese Weise die "Diktatur des Proletariats" zu erreichen; und wen, der wirklich für die Freiheit sich interessiert und nach ihr strebt, kümmern heute noch die schablonisierten Begriffe, die Marx aufstellte? Niemanden, und nur jene halten all dies aufrecht, die sich über das Trügerische des Ganzen sehr wohl im Klaren, sich aber materiell und sozial sehr wohl befinden bei diesem unfruchtbaren Wahnglauben der Massen, dem deren Untätigkeit und soziale Aktionslosigkeit entspringt.

Und nun auch das Letzte! Herr Dr. Max Adler stellt uns "Marx als Denker" vor, als einen Entdecker und Eroberer. Daß doch selbst die schäbigsten, in Deutschland längst abgetanen Phrasen bei uns noch gangbar sind. Und welche Gesichtsblendung des Proletariats setzt dies voraus. Man denke: heute, wo wir wissen, daß ein Proudhon schon 1842 ein Werk lieferte ("Was ist das Eigentum?"), von dem Marx selbst konstatierte, daß es das "erste wissenschaftliche Manifest" des französischen Proletariats; daß das "Kommunistische Manifest" eine oftmals wörtliche Abschrift von Viktor Considérant; daß Engels selbst in seinem Vorwort zum 2. Band des "Kapital" es zaghaft zugestehen muß, daß ein Thompson lange vor Marx nicht nur den Mehrwert enthüllte — jeder sozialistische Proletar kann dasselbe Kunststück liefern! —, sondern auch die Schablone der bürgerlichen Nationalökonomie sozialistisch verwertete; daß die Lehren vom Klassenkampf, von der Konzentration des Kapitals, dem Verschwinden der Mittelklasse, der Verelendungstheorie  etc., zu  den gebräuchlichsten Schlagworten der französischen Bewegung anno 1848 gehörten; daß die gesamte politisch-parlamentarische Betätigung der sozialdemokratischen Bewegung seit Lassalle von Louis Blanc abgeguckt ward — heute kann kein wissenschaftlich denkender Mensch mehr Marx als Entdecker und Eroberer darstellen. Wenn man ihn auffaßt als einen Vorkämpfer des Staatssozialismus, ähnlich wie es Blanc, Pequeur, Vidal, etc., waren, lassen wir dies gerne gelten, konstatieren sogar, daß er sie in vielem überragte; wenn man seine Bedeutung aber fälschlich vergrößert, so wie es die Bourgeoisie mit ihren Heroen tut und eben so ungerechter Weise, dann bleibt natürlich nichts anderes übrig, als der Wahrheit ohne Gnade die Ehre geben und Marx als das darzustellen, was vornehmlich in ihm stak: als ehrabschneiderischen Plagiator, über dessen Wirken innerhalb der Arbeiterbewegung sich einige höchst bedauernswerte, seine Schädlichkeit krasse hervorhebende Kapitel schreiben lassen!

Wir müssen uns daran gewöhnen, den Sozialismus gesondert vom Marxismus zu betrachten und zu vertreten. Nur so können wir den ersteren vor dem Untergange bewahren. Die dialektische Sophisterei des Marxismus hat den Sozialismus dorthin gebracht, wo er heute steht; daß er verknüpft wird mit unmöglichen Vorstellungen, sich bläht als eine "Wissenschaft" und dabei sein Grundelement, den wirklichen sozial geführten Klassenkampf für seine Verwirklichung, vollständig außer Acht läßt. Marx hat es schon einmal versucht, die Arbeiterbewegung in unheilvollster Weise zu beeinflussen und zu spalten, zu brechen, als er die "Internationale" gewaltsam sprengte. Es soll diesmal dem Marxismus nicht ganz gelingen, was ihm schon fast gelungen: die totale Einlenkung der Arbeiterbewegung auf rein bürgerliche Bahnen; der immer kräftiger einsetzende, wenn auch längst totgesagte Anarchismus verhindert dies. Er ist der klarste Ausdruck, den der Sozialismus gefunden, nämlich im kommunistischen Anarchismus. Und so ist uns denn Marx heute ein Überwundener; ein Beigelegter, durch die Taktik seiner eigenen Partei, die den Grundsatz, daß die ökonomischen Veränderungen die politischen bedingen und herbeiführen, längst ad acta gelegt und den Wagen vor das Pferd gespannt hat; ist ein Erledigter in Sachen wissenschaftlicher Theorie des Sozialismus, denn keine einzige seiner Thesen hat sich im Laufe der letzten 40 Jahre auch nur annähernd erfüllt, ist irgendwie Tatsache oder etwa gesellschaftlich gültige Erscheinung geworden. In dem Chor von Sykophanten und marxistischen Parlamentshöflingen, die - welche Ironie, denn es sind ganz und gar keine Arbeiter! — Marx anläßlich seines 25. Todesjahres gedenken, tönt schrill, aber der Wahrheit gemäß unsere Stimme, die für Marx einen Grabstein errichtet sehen will, auf dem als passendste Inschrift diejenigen Worte zu lesen sind, die Engels in seiner Polemik gegen Dr. Conr. Schmidt gebrauchte, als er da sagte: "Die Konstitution ist äußerst sinnreich, sie ist ganz nach Hegelschem Muster, aber sie teilt das mit der Mehrzahl der Hegelschen, daß sie nicht richtig ist!"

Aus: "Wohlstand für Alle", 1. Jahrgang, Nr. 7 (1908). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.