Rudolf Rocker - Absolutistische Gedankengänge im Sozialismus

I.

Unser Bild über die tieferen Ursachen der heutigen Weltkatastrophe wäre nicht vollständig, wenn wir die Rolle übersehen würden, welche der zeitgenössische Sozialismus und die moderne Arbeiterbewegung in der Vorbereitung zu der gegenwärtigen Kulturtragödie gespielt haben. In dieser Hinsicht sind die geistigen Bestrebungen der sozialistischen Bewegung in Deutschland von besonderer Bedeutung, infolge ihres jahrzehntelangen Einflusses auf die sozialistischen Arbeiterparteien Europas und Amerikas.

Der moderne Sozialismus war im Grunde genommen nur eine natürliche Fortsetzung der großen liberalen Gedankenströmungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Liberalismus hatte dem System des fürstlichen Absolutismus den ersten tödlichen Schlag versetzt und das gesellschaftliche Leben auf neue Bahnen gelenkt. Seine geistigen Träger, die in dem Höchstmaß der persönlichen Freiheit den Hebel jeder kulturellen Neugestaltung erkannten und die Betätigung des Staates auf die engsten Grenzen beschränken wollten, hatten damit der Menschheit ganz neue Ausblicke ihrer zukünftigen Entwicklung eröffnet, die unbedingt zu einer Überwindung aller machtpolitischen Bestrebungen und zu einer sachkundigen Verwaltung gesellschaftlicher Dinge hätte führen müssen, wenn ihre wirtschaftliche Einsicht mit ihrer politischen und sozialen Erkenntnis gleichen Schritt gehalten hätte. Das aber war leider nicht der Fall.

Unter dem stets wachsenden Einfluß einer sich in immer rascherem Tempo vollziehenden Monopolisierung aller natürlichen und durch gesellschaftliche Arbeit erzeugten Reichtümer entwickelte sich ein neues System wirtschaftlicher Hörigkeit, das sich auf alle ursprünglichen Bestrebungen des Liberalismus und die wirklichen Grundsätze einer politischen und sozialen Demokratie immer verhängnisvoller auswirkte und mit innerer Folgerichtigkeit zu jenem neuen Absolutismus führen mußte, der heute in dem Gebilde des totalen Staates einen so vollendeten und schmachvollen Ausdruck gefunden hat.

Die sozialistische Bewegung hätte dieser Entwicklung der Dinge einen Damm entgegensetzen können, wenn sie nicht selber in ihrer großen Mehrheit in den gefährlichen Strudel dieser Vorgänge mit hineingezogen worden wäre, deren zerstörende Folgen sich heute zu einer allgemeinen Kulturkatastrophe ausgewirkt haben. Sie hätte zum Testamentsvollstrecker der liberalen Gedankenentwicklung werden können, indem sie ihr durch die Bekämpfung der Wirtschaftsmonopole und ihr Bestreben, die gesellschaftliche Produktion den Bedürfnissen aller dienstbar zu machen, eine positive Grundlage gegeben hätte. Durch diese wirtschaftliche Ergänzung der politischen und sozialen Ideenströmungen des Liberalismus hätte sie sich zu einem machtvollen Bestandteil im Bewußtsein der Menschen verdichten und zum Träger einer neuen gesellschaftlichen Kultur im Leben der Völker werden können. Tatsächlich haben Männer wie Godwin, Owen, Thompson, Proudhon, Pi y Margati, Pisacane, Bakunin, Guillaume, De Pape, Reclus und später Kropotkin, Malatesta und andere den Sozialismus auch in diesem Sinne aufgefaßt. Allein die große Mehrheit der Sozialisten bekämpfte mit unglaublicher Verblendung die freiheitlichen Grundgedanken der liberalistischen Gesellschaftsauffassung und sah in dieser lediglich einen politischen Niederschlag des so genannten Manchestertums.

Auf diese Art wurde der Glaube an die Allmacht des Staates, welcher durch die liberalen Gedankenströmungen des 18. und 19. Jahrhunderts einen empfindlichen Schlag erlitten hatte, wieder neu aufgefrischt und planmäßig gestärkt. Es ist bezeichnend, daß die Vertreter des autoritären Sozialismus im Kampfe gegen den Liberalismus ihre Waffen häufig der Rüstkammer des Absolutismus entlehnt haben, ohne daß dieses den meisten von ihnen auch nur zum Bewußtsein gekommen wäre. Viele von ihnen, besonders die Vertreter der deutschen Schule, die später einen so überragenden Einfluß über die gesamte sozialistische Bewegung erlangte, waren bei Hegel und Fichte und anderen Vertretern der absoluten Staatsidee in die Schule gegangen. Andere wurden von den Überlieferungen des französischen Jakobinismus so mächtig beeinflußt, daß sie sich den Übergang zum Sozialismus nur in der Form der Diktatur vorstellen konnten, noch andere glaubten an eine soziale Theokratie oder an einen sozialistischen Napoleon, der der Welt das Heil bringen sollte.

Doch der schlimmste Wunderglaube war die Vorstellung von der "historischen Mission des Proletariats", das nach Marx mit zwangsläufiger Notwendigkeit zum "Totengräber der Bourgeoisie" werden mußte. Das Wort Klasse ist im besten Falle ein soziologischer Einteilungsbegriff, den man unter bestimmten Voraussetzungen gelten lassen kann, aber weder Marx noch irgend ein anderer war bisher imstande, eine feste Grenze für diesen Begriff anzugeben. Es geht mit den Klassen wie mit den Rassen; man weiß nie, wo die eine aufhört und die andere anfängt. Es gibt im sogenannten Proletariat ebensoviele soziale Abstufungen wie im Bürgertum und in jeder anderen Schicht des Volkes. Der schlimmste Irrtum aber ist es, eine Klasse mit bestimmten historischen Aufgaben auszustatten und sie zum Träger gewisser Ideenströmungen machen zu wollen. Wenn man beweisen könnte, daß Menschen, die unter bestimmten wirtschaftlichen Bedingungen geboren und aufgezogen werden, sich in ihrem Denken und Handeln von allen anderen Gesellschaftsgruppen wesentlich unterscheiden, so brauchten wir uns mit diesen Dingen überhaupt nicht zu beschäftigen, da man sich mit offensichtlichen Tatsachen einfach abfinden muß. Aber da liegt ja gerade der Hund begraben. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaftsschicht bietet nicht die kleinste Gewähr für das Denken und Handeln der Menschen. Die Tatsache allein, daß fast alle großen Pioniere des sozialistischen Gedankens nicht aus dem Proletariat, sondern aus den sogenannten herrschenden Klassen hervorgegangen sind, sollte uns gerade in dieser Hinsicht zum Denken anregen. Man findet unter ihnen Aristokraten wie Saint Simon, Bakunin und Kropotkin, Offiziere der Armee wie Considerant, Bazard, Pisacane und Lawroff, Kaufleute wie Fourier, Fabrikanten wie Owen und Engels, Priester wie Meslier und Lammenais, Männer der Wissenschaft wie Wallace und Düring und Intellektuelle aller Schattierungen wie Blanc, Cabet, Godwin, Marx, Lassalle, Gatrido, Pi y Margall, Heß und hundert andere.

Die Anhänger der Lehre von der "historischen Mission des Proletariats" mögen sich damit trösten, daß der Faschismus nur eine Bewegung der Mittelklasse sei, das ändert nichts an der Tatsache, daß die fast 14 Millonen Wähler, die in Deutschland für Hitler gestimmt haben, zum größten Teil aus dem Proletariat hervorgegangen sind. Gerade in einem Lande wie Deutschland, wo die marxistische Lehre eine so weite Verbreitung gefunden hatte, ist dies von doppelter Bedeutung. Wenn die geistigen Vertreter des alten Absolutismus, die Hobbes, Machiavelli, Bossuet usw. dem Lager der geistigen Oberschicht angehörten, während die Träger des neuesten Absolutismus, die Mussolini, Stalin und Hitler aus den untersten Schichten ihren Aufstieg genommen haben, so zeigt gerade dieser Umstand am besten, daß weder revolutionäre noch reaktionäre Ideen an eine bestimmte Volksgruppe gebunden sind.

Die Anhänger des wirtschaftlichen Determinismus und der Lehre von der "historischen Mission des Proletariats" behaupten zwar, daß es sich in ihrem Falle um keine gewöhnliche Auflassung handelt, sondern um die innere Notwendigkeit eines Naturprozesses, der sich unabhängig von dem menschlichen Wollen vollzieht, aber das ist es gerade, was erst bewiesen werden müßte. Auch diese Auffassung ist nur eine Spekulation, ein Glaube wie jeder andere, bei dem der Wunsch der Vater des Gedankens ist. Der Glaube an eine mechanische Abwicklung aller geschichtlichen Geschehnisse auf Grund eines zwangsläufigen Prozesses, der in der Natur der Dinge begründet ist, hat dem Sozialismus am meisten geschadet, denn er zerstörte alle ethischen Voraussetzungen, die gerade für den sozialistischen Gedanken am unentbehrlichsten sind. Der Absolutismus des Gedankens führt unter gewissen geschichtlichen Umständen stets zu einem Absolutismus der Tat. Darüber hat uns gerade die neueste Geschichte den besten Anschauungsunterricht gegeben.

II.

Unter den großen Vorkämpfern des sozialistischen Gedankens war Proudhon einer der wenigen, welcher die geschichtliche Bedeutung des Sozialismus am tiefsten erfaßt hatten. Sein geistiger Einfluß auf die sozialistische Bewegung der lateinischen Länder konnte bis heute nicht verdrängt werden und blieb ein lebendiger Quell für neue Anregungen und Entwicklungsmöglichkeiten. Mit großem Scharfsinn erkannte er, daß das Werk der Französischen Revolution nur halb getan war; daß es die Aufgabe der "Revolution des 19. Jahrhunderts" sein müsse, dieses Werk fortzusetzen und zur Vollendung zu bringen, um die soziale Entwicklung Europas auf neue Wege zu führen. Denn darin erschöpft sich ja die große Bedeutung der Großen Revolution, daß sie der monarchistischen Bevormundung ein Ende setzte und den Völkern den Weg ebnete, ihr soziales Geschick in die eigenen Hände zu nehmen, nachdem sie jahrhundertelang dem fürstlichen Absolutismus als willenlose Herde dienen und sein Bestehen durch ihre Arbeit sichern mußten.

Hier war die von der Zeit gestellte Aufgabe von Proudhon besser erkannt worden, als von irgendeinem seiner Zeitgenossen. Die Große Revolution hatte zwar die Monarchie als politische und soziale Einrichtung beseitigt, doch war es ihr nicht gelungen, zusammen mit dieser auch den "monarchistischen Gedanken" zu beseitigen, wie Proudhon es nannte, der in der politischen Zentralisation des Jakobinertums und in der Ideologie des nationalen Einheitsstaates zu neuem Leben erwachte. Es ist dieses verhängnisvolle Erbteil, das uns aus einer entschwundenen Zeit verblieben ist und das heute im sogenannten "Führerprinzip" des totalen Staates wieder zum Ausdruck gelangte, das nur eine neue Umschreibung des alten monarchistischen Gedankens ist.

Proudhon hatte erkannt, daß der Absolutismus, dieses ewige Prinzip der Bevormundung für einen gottgewollten Zweck, der jedem menschlichen Einspruch verschlossen ist, den Menschen in ihren geistigen Bestrebungen nach höheren Formen ihres gesellschaftlichen Daseins am stärksten im Wege steht. Für ihn war der Sozialismus nicht bloß eine Frage der Wirtschaft, sondern eine kulturelle Frage, die alle Gebiete der menschlichen Betätigung umfaßte. Er wußte, daß man die autoritären Überlieferungen der Monarchie nicht bloß auf einem Gebiete beseitigen und auf allen anderen beibehalten durfte, wenn man die Sache der sozialen Befreiung nicht einem neuen Despotismus in die Hände spielen wollte. Für ihn waren wirtschaftliche Ausbeutung, politische Unterdrückung und geistige Gebundenheit nur verschiedene Erscheinungsformen derselben Ursache. Proudhon sah in der Monarchie das Symbol aller menschlichen Versklavung. Sie war für ihn nicht lediglich eine politische Einrichtung, sondern ein sozialer Zustand mit bestimmten unvermeidlichen geistigen und seelischen Auswirkungen, die sich auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens gleichermaßen bemerkbar machen. In diesem Sinne nannte er den Kapitalismus den "Monarchismus der Wirtschaft", welcher die Arbeit dem Kapital in gleicher Weise tributpflichtig macht wie die Gesellschaft dem Staat und dem Geist der Kirche.

"Der ökonomische Begriff des Kapitals", sagt Proudhon, "der politische Gedanke des Staates oder der Autorität und die theologische Auffassung der Kirche sind identische Vorstellungen, die sich wechselseitig ergänzen und ineinander aufgehen. Man kann daher die eine nicht bekämpfen und die anderen unangetastet beibehalten. Es ist dies eine Tatsache, über die sich heute alle Philosophen einig sind. Was das Kapital heute der Arbeit zufügt, das fügt der Staat der Freiheit und die Kirche dem Geiste zu. Diese Dreieinigkeit des Absolutismus ist in der Praxis ebenso verhängnisvoll wie in der Philosophie. Um das Volk wirksam zu unterdrücken, muß man seinen Leib, seinen Willen und seine Vernunft in Bande schlagen. Wenn der Sozialismus die Absicht hat, sich in dieser erschöpfenden, allseitige" und von jedem Mystizismus befreiten Gestalt zu offenbaren, so braucht er bloß die Bedeutung dieser Dreieinigkeit dem Volke zum Bewußtsein zu bringen."

Von dieser Erkenntnis ausgehend, sah Proudhon in der Entwicklung des modernen Großstaates und in dem stets wachsenden Einfluß des wirtschaftlichen Monopolismus die größte Gefahr für die Zukunft Europas, die er durch eine bewußte und auf Erfahrung begründete Vorbereitung für eine Föderation freier Gemeinwesen auf der Grundlage gleicher Wirtschaftsmöglichkeiten und gegenseitiger Verträge zu bannen versuchte. Er wußte genau, daß dieser neue Zustand der Dinge den Menschen nicht über Nacht kommen würde, sondern daß es sich zunächst darum handelte, die Menschen durch konstruktives Tun und Denken für eine bessere Erkenntnis empfänglich zu machen. Nur so war es möglich, ihren Bestrebungen eine gewisse Richtung zu geben, damit sie aus eigenem Antrieb der Gefahr entgegenwirken konnten, die sie bedrohte.

Jeder Versuch, die machtpolitischen Bestrebungen innerhalb des gesellschaftlichen Organismus auszuschalten und dem wirtschaftlichen Monopolismus engere Grenzen zu setzen, war für Proudhon ein wirklicher Schritt auf dem Wege der sozialen Befreiung. Alles, was diesem großen Ziele entgegenwirkte und bewußt oder unbewußt dazu beitrug, den geistigen, wirtschaftlichen oder politischen Monarchismus durch neue Machtansprüche zu stärken, mußte nur dazu beitragen, den Kreislauf der Blindheit zu verewigen und der gesellschaftlichen Reaktion den Weg zu ebnen, auch wenn dies unter dem anspruchsvollen Namen der Revolution geschah.

Die übergroße Mehrheit der heurigen Sozialisten hat sich überhaupt niemals Mühe gegeben, in die Gedankengänge Proudhons einzudringen, dessen Werke den meisten ebenso unbekannt sind wie einem Botokuden der pythagoreische Lehrsatz oder die Theorie von der Einheit des Weltalls. Was sie oberflächlich von ihm kennen, ist seine Lehre vom "freien Kredit" und sein Versuch zur Einrichtung einer "Volksbank", der durch das Eingreifen der französischen Regierung nie zur Ausführung gelangte. Und sogar diese Kenntnis wurde den meisten durch das Zerrbild vermittelt, welches marxistische Schreiber daraus gemacht haben und aus dem man allerdings den Eindruck gewinnen muß, als sei Proudhon nur ein gewöhnlicher Quacksalber gewesen, der nach der Art der Marktschreier sein ganzes Leben lang nichts besseres zu tun wußte, als der armen Menschheit sein Mittelchen gegen alle sozialen Gebrechen anzupreisen.

In der Wirklichkeit war Proudhon unter allen älteren Sozialisten gerade derjenige, der gegen den Glauben an ein Allheilmittel für alle gesellschaftlichen Schäden am nachdrücklichsten und entschiedendsten Front machte. Er wußte, daß die Aufgabe, die dem Sozialismus vorbehalten war, kein gordischer Knoten war, den man mit einem Schwertstreich lösen konnte. Gerade deshalb setzte er kein Vertrauen in sogenannte Universalmittel, durch welche so manche glaubten, eine allgemeine Umgestaltung aller sozialen Einrichtungen mit einem Schlage erreichen zu können. Seine scharfsinnige und überzeugende Kritik an allen sozialistischen Richtungen seiner Zeit, ist ein sprechender Beweis dafür.

Proudhon war der Mann ohne festgesetzte Ziele, denn er war sich vollkommen darüber klar, daß das eigentliche Wesen der Gesellschaft in dem ewigen Wandel ihrer Formen zu suchen ist und am besten gedeiht, je weniger künstliche Schranken ihm gesetzt werden und einen je stärkeren und bewußteren Anteil die Menschen an diesem Wandel nehmen. In diesem Sinne sagte er einmal, daß die Gesellschaft einem Uhrwerk gleiche, das seinen eigenen Pendelschlag in sich trage und keiner äußeren Hilfe bedarf, um in Bewegung zu bleiben. Die soziale Befreiung war für ihn ein Weg, kein Ziel, da er mit Ibsen der Meinung war: "Wer die Freiheit anders besitzt als das zu Erstrebende, der besitzt sie tot und geistlos, dem der Freiheitsbegriff hat ja gerade die Eigenschaft, sich während der Aneignung stetig zu erweitern. Wenn deshalb einer im Kampfe stehen bleibt und sagt: jetzt habe ich siel - so zeigt er eben dadurch, das er sie verloren hat." Von diesem Standpunkt sind auch die praktischen Versuche Proudhons zu bewerten. Sie entsprangen den Verhältnissen der Zeit und können nur aus dieser erklärt und verstanden werden. Wie bei jedem Denker, dessen Wirken bereits der Vergangenheit angehört, so gibt es auch bei Proudhon manches, das von der Zeit überholt wurde, ohne daß dadurch die schöpferische Bedeutung seines Lebenswerkes berührt wird. Es ist vielmehr geradezu erstaunlich, wie viel von diesem Werke lebendig geblieben ist und gerade durch die heutige Weltlage erneute Bedeutung erlangt hat.

Proudhon, der das Wesen des Staates besser erfaßt hatte als die meisten seiner sozialistischen Zeitgenossen, machte sich keinerlei Illusionen über die unvermeidlichen Folgen aller machtpolitischen Bestrebungen, einerlei, unter welcher Form sie in die Erscheinung traten und von welcher Seite sie angeregt wurden. Er war sich deshalb auch völlig klar über den eigentlichen Charakter aller politischen Parteien und fest davon überzeugt, daß von diesen keine schöpferische Arbeit für eine wirkliche soziale Umgestaltung ausgehen konnte. Deshalb warnte er die Sozialisten, sich im Fahrwasser machtpolitischer Bestrebungen zu verirren und versuchte, ihnen klarzumachen, daß, sobald der Sozialismus erst einer Regierung in die Hände falle, er seine Rolle ausgespielt und der Reaktion rettungslos verfallen sei.

"Alle Parteien, ohne Ausnahme," sagte er, "sind, indem sie die öffentliche Macht erstreben, nur besondere Formen des Absolutismus. Es wird keine Freiheit -' für die Bürger, keine Ordnung in der Gesellschaft, keine Einigkeit unter den Arbeitern geben, bevor nicht in unserem politischen Katechismus der Verzicht auf die Autorität an die Stelle aller Bevormundungsgelüste getreten ist."

Proudhon war unter allen älteren Sozialisten fast der einzige, der allen fertigen Systemen den Krieg erklärte, da er erkannt hatte, daß die Bedingungen des sozialen Lebens viel zu mannigfach und verschiedenartig sind, als daß man sie in eine bestimmte Form pressen könnte, ohne der Gesellschaft Gewalt anzutun und eine alte Form der Tyrannei durch eine neue zu ersetzen. Deshalb richteten sich seine Angriffe nicht bloß gegen die Träger der heutigen Gesellschaftsordnung, sondern auch gegen viele der sogenannten "Befreier", die mit den alten Machthabern nur die Plätze wechseln wollten und den Massen Schätze im Monde versprachen, um sie desto leichter für ihren persönlichen Ehrgeiz mißbrauchen zu können. Wie frei Proudhon in dieser Beziehung dachte, geht aus einem seiner Briefe an Karl Marx hervor, der die folgende bezeichnende Stelle enthält:

"Suchen wir gemeinschaftlich, wenn Sie wollen, die Gesetze der Gesellschaft zu ergründen, die Art ihrer Erscheinung festzuhalten und dem Wege zu folgen, den wir freilegen, indem wir uns dieser Arbeit unterziehen. Doch, bei Gott! denken wir unsererseits nicht daran, das Volk von neuem zu schulmeistern, nachdem wir a priori allen Dogmatismus zerstört haben, fallen wir nicht in den Widerspruch Ihres Landsmanns Martin Luther, der, nachdem er die Glaubenssätze der katholischen Theologie umgestoßen, sich mit verstärktem Eifer und großem Aufwand von Bannflüchen und Verdammungsurteilen daran machte, eine protestantische Theologie ins Leben zu rufen. Seit drei Jahrhunderten ist Deutschland damit beschäftigt, diese Neuübertünchung des alten Baues durch . Herrn Luther zu beseitigen. Stellen wir die Menschheit nicht durch neuen Wirrwarr und eine Verputzung der alten Grundlagen vor eine neue Aufgabe. Ich begrüße von ganzem Herzen Ihren Gedanken, alle Meinungen eines Tages zum Ausdruck zu bringen. Befleißigen wir uns dabei einer freundschaftlichen und ehrlichen Auseinandersetzung-, geben wir der Welt das Beispiel einer weisen und vorausblickende" Toleranz -, versuchen wir nicht, weil wir an der Spitze der Bewegung stehen, uns zu Führern einer neuen Unduldsamkeit zu machen. Geben wir uns nicht als Apostel einer neuen Religion, auch dann nicht, und wenn es die Religion der Logik und Vernunft wäre. Empfangt" und ermuntern wir jeden Protest-, geißeln wir jede Ausschließlichkeit, jeden Mystizismus. Betrachten wir niemals eine Frage für erschöpft, und wenn wir unseren letzten Beweisgrund verbraucht haben, laßt uns, wenn es nötig ist, mit Beredsamkeit und Ironie von neuem beginnen. Unter dieser Bedingung werde ich mich Ihrer Vereinigung mit Vergnügen anschließen. Wenn nicht, nicht."

Dieses Schreiben vom 17. Mai 1846 ist in zweifacher Beziehung wichtig. Es ist bezeichnend für die offene und freimütige Art Proudhons und seine tiefe Abneigung gegen jeden Dogmatismus und alles Sektenwesen und es ist bedeutungsvoll, weil es die unmittelbare Ursache für den inneren Bruch zwischen Marx und Proudhon gewesen ist. Proudhon war ein einsamer Denker, der nicht bloß von seinen demokratischen und sozialistischen Gegnern, sondern auch häufig von seinen späteren Anhängern mißverstanden wurde, die bestimmte praktische Vorschläge Proudhons, die aus den Verhältnissen der Zeit geboren wurden, mit seinem eigentlichen Lebenswerk verwechselten. Sein umfangreicher Briefwechsel (14 große Bände) enthält zahllose Erläuterungen seiner Gedankengänge, aus welchen dies deutlich hervorgeht und ist für ein gründliches Studium seiner Werke unentbehrlich. Proudhons Blick war zu tief auf die inneren Zusammenhänge der sozialen Erscheinungen gerichtet, als daß er den blinden Nachbetern der jakobinischen Überlieferung, die alles Heil von der Diktatur erwarteten, etwas hätte sagen können. Er war unter den älteren Sozialisten einer der wenigen, welche die politischen Ideengänge des Liberalismus weiter fortsetzten und, indem er ihnen eine wirtschaftliche Grundlage zu geben versuchte, sie folgerichtig zu Ende dachte.

Es ist bezeichnend, daß gerade die Vertreter der marxistischen Schule den angeblichen "Utopismus" Proudhons damit zu belegen versuchten, indem sie mit unverkennbarer Schadenfreude immer wieder darauf hinwiesen, daß die ungeheuerliche Erstarkung der zentralen Staatsgewalt und der stets wachsende Einfluß der modernen Wirtschaftsmonopole die geistige Rückständigkeit der Bestrebungen Proudhons klar erwiesen haben. Als wenn durch die Tatsache dieser Entwicklung an der Sache selbst auch nur das geringste geändert würde. Ebensogut könnte man heute behaupten, daß die Lehre von der sogenannten "historischen Mission des Proletariats" uns glücklich zum Faschismus und zur Herrschaft des Dritten Reiches verhelfen habe.

Proudhon hat die unvermeidlichen Folgen einer Entwicklung in jener Richtung klar vorausgesehen und kein Mittel unversucht gelassen, seinen Zeitgenossen die ganze Größe der Gefahr zum Bewußtsein zu bringen. Er hat mehr wie jeder andere sein ganzes Können darauf eingestellt, die Menschen auf neue Wege zu drängen, um der drohenden Katastrophe vorzubeugen. Daß man seine Warnung in den Wind geschlagen und sein Wort im Getöse politischer Parteileidenschaften wirkungslos verhallte, ist wahrlich nicht seine Schuld gewesen. Die ganze wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung, besonders nach dem deutsch-französischen Kriege 1870-71, aber zeigt uns mit erschreckender Deutlichkeit, wie sehr er mit seiner Beurteilung der allgemeinen Lage im Rechte gewesen ist. Gerade heute, wo wir mit vollen Segeln einer neuen Periode des politischen und sozialen Absolutismus zusteuern, wo der moderne Kollektivkapitalismus die letzten Reste wirtschaftlicher Unabhängigkeit mit brutaler Verachtung aller menschlichen Erwägungen zu Tode trampelt und der Schrei nach der Diktatur die ganze geistige Unmündigkeit der Zeit so deutlich zum Ausdruck bringt, gerade heute zeigt sich die volle geschichtliche Bedeutung von Proudhons Lebenswerk erst in ihrem vollen Umfang.

Vor allem zeigt es sich heute, daß die soziale Befreiung nicht bloß ein wirtschaftliches Problem ist. Auch die vollkommendste Gleichschaltung 1) der ökonomischen Kräfte bietet keine Sicherheit für die wirkliche und allseitige Befreiung der Menschen. Sie kann sich sogar unter Umständen zu einer weit größeren Versklavung auswirken als die, unter welcher wir bisher gelebt haben. Der blinde Glaube so vieler Sozialisten, daß mit der Verstaatlichung der Wirtschaft die soziale Frage gelöst werden könnte, beruht auf einer vollständigen Verkennung der Aufgabe, die dem Sozialismus gestellt ist. Die wirtschaftlichen Vorgänge in den sogenannten totalen Staaten und besonders der Anschauungsunterricht, den uns die "proletarische Diktatur" in Rußland gegeben hat, haben uns allzu deutlich gezeigt, daß die Verstaatlichung des ökonomischen Lebens Hand in Hand mit einer völligen Verleugnung aller persönlichen Rechte und Freiheiten geht, ja, gehen muß, da sie einer bürokratisch gegliederten Hierarchie zur Macht verhilft, deren Einfluß als herrschende Klasse dem werktätigen Volke nicht minder verderblich ist wie die Rolle der besitzenden Schichten in den kapitalistischen Staaten, ja diese in ihren geistigen, physischen und moralischen Auswirkungen noch bei weitem übertrifft. Die wirtschaftliche Gleichheit des Gefängnisses oder der Kaserne ist sicher kein geeignetes Vorbild für eine höhere soziale Kultur der Zukunft. Auch in dieser Beziehung bewährte sich Proudhon als Prophet, wenn er voraussagte, daß eine Vereinigung des Sozialismus mit dem Absolutismus zur größten Tyrannei aller Zeiten führen müsse.

III.

Es war nicht zuletzt dieser freiheitsfeindliche Zug im Lager des Sozialismus, welcher unbewußt und unbeabsichtigt dazu beitrug, der faschistischen Auffassung vom totalen Staate den Weg zu ebnen. Tatsache ist, daß die sogenannte "proletarische Diktatur" in Rußland das erste Ideengebilde eines totalen Staates ins Leben umsetzte, das später Mussolini und Hitler in vielen Hinsichten als Vorbild dienen mußte. Die Opposition im kommunistischen Lager, die Anhänger Trotzkys und andere Splittergruppen haben später sogar offen zugegeben, daß der Stalinismus der Wegbereiter der faschistischen Reaktion in Europa gewesen ist, sie haben dabei nur das Wesentliche vergessen, nämlich, daß Lenin und Trotzky die Wegbereiter Stalins gewesen sind. Es ist nicht die Person des Diktators, die hier entscheidend ist, es ist die Einrichtung der Diktatur als solche, aus welcher das Übel hervorgeht und die ihrem ganzen Wesen nach nie etwas anders sein kann, als der Wegbereiter einer neuen sozialen Reaktion, auch wenn der Sozialismus und die Befreiung des Proletariats ihr als Feigenblatt dienen muß, um ihren eigentlichen Charakter zu verbergen.

Es war zweifellos ein Verhängnis für die Entwicklung der sozialistischen Bewegung, daß sie bereits in ihrem Anfangsstadium unter den starken Einfluß der autoritären Ideenströmungen der Zeit geriet, die aus den jakobinischen Überlieferungen der Großen Revolution und aus der langen Periode der napoleonischen Kriege hervorgegangen waren. Es war dies vielleicht unvermeidlich, denn jede geschichtliche Epoche erzeugt aus sich selbst eine gewisse Art des Denkens, deren Einflüssen sich nur wenige entziehen können, da sie mit den gesellschaftlichen Umständen der Zeit zu stark verwachsen sind.

Als William Godwin 1793 seine "Political Justice" in die Welt schickte, standen die Völker noch vollständig unter dem Banne der großen Ereignisse in Frankreich und waren jeder neuen Auffassung auf dem Gebiete des politischen und sozialen Lebens leicht zugänglich. Das war auch die Ursache, weshalb die liberalen Gedankengänge von Richard Price, Joseph Priestley und besonders von Thomas Paine damals einen so belebenden Einfluß auf die geistig regsamen Teile des englischen Volkes ausübten, dessen Wirkungen sich sogar noch längere Zeit bemerkbar machten, als die Reaktion infolge des Krieges gegen die Französische Republik mächtig um sich griff und allen freiheitlichen Bestrebungen ein gewaltsames Ende zu machen versuchte. Die geistige Entwicklung befand sich damals noch in einer aufsteigenden Linie und hatte ihren inneren Schwung durch die großen Enttäuschungen der späteren Jahre noch nicht eingebüßt.

Doch die Verhältnisse hatten sich bedeutend geändert, als Saint-Simon, Fourier und Owen mit ihren Plänen für eine Umgestaltung des sozialen Lebens hervortraten. Bei Saint-Simon erhalten diese Pläne erst nach 1817 ihren eigentlichen sozialen Charakter, während Fourier bereits unter dem ersten Kaiserreich seine sozialistischen Gedankengänge in seinem Werke "Theorie des quatre mouvements" (1808) entwickelt hatte. Beide Männer aber fanden erst nach dem Sturze Napoleons eine nennenswerte Anhängerschaft, als sich der Schatten der Heiligen Allianz bereits über Europa gesenkt hatte. Um dieselbe Zeit trat auch Robert Owen mit seinen sozialen Reformplänen an die Öffentlichkeit. In den nächsten drei Jahrzehnten entstand sowohl diesseits als jenseits des Kanals eine ganze Flut neuer Gedanken, die sich mit den gesellschaftlichen Aufgaben der Zeit beschäftigten und diese durch eine gründliche Umgestaltung der wirtschaftlichen Zustände lösen zu können glaubten.

Doch alle diese Bestrebungen gaben sich erst kund, als Europa eine der schwersten und sturmbewegtesten Epochen seiner Geschichte kaum beendet hatte, deren geistige und materielle Nachwirkungen sich noch lange bemerkbar machten. Die Stürme der Großen Revolution, welche die Grundfesten der europäischen Gesellschaft im Tiefsten erschüttert hatten, waren verrauscht. Geblieben war nur der Krieg, der 1792 entfesselt wurde und mit kurzen Unterbrechungen die wichtigsten Länder des Kontinents dreiundzwanzig Jahre lang zum Schlachtfeld gemacht hatte. Nun war auch der Nimbus und die militärische Allmacht des Kaiserreiches verblichen, die sechs Millionen Menschenleben verschlungen und völlig erschöpfte Völker zurückgelassen hatte. In allen Ländern herrschte schreckliches Elend, Arbeitslosigkeit und eine vollständige Zerrüttung der Wirtschaft. Eine große Mutlosigkeit war über die Menschen gekommen und machte sie zu jedem weiteren Widerstand unfähig. Die glühende Begeisterung, die der Sturm auf die Bastille einst in allen Ländern ausgelöst hatte, war längst verflogen. Nun waren auch die letzten Hoffnungen, die man auf den Sturz Napoleons gesetzt hatte, durch den offenen Wortbruch der Fürsten kraftlos zusammengebrochen und hatten einer neuen Ergebung in das Unvermeidliche Platz gemacht. Die Menschen waren eben so erschöpft, daß sie vorläufig zu keinem neuen Aufschwung mehr fähig waren.

Es war eine Epoche physischer Erschlaffung und geistiger Demoralisation, die mit der Geschichte unserer Zeit vieles gemein hat und die wir, auf Grund unserer eigenen Erfahrungen, heute viel besser beurteilen können als aus allen Büchern der Geschichte. Wie in unserer Zeit die russische Revolution, die von der sozialistischen Arbeiterschaft der ganzen Welt mit so viel Begeisterung begrüßt wurde, unter der Diktatur der Bolschewik! zu einem geistlosen Despotismus ausartete, welcher der faschistischen Reaktion den Weg bereitete, so erstickte die Schreckensherrschaft der Jakobiner mit ihren sinnlosen Massenschlächtereien den mächtigen Widerhall, den die Revolution zuerst in ganz Europa gefunden hatte und machte den Weg für die Säbeldiktatur Napoleons frei, dessen politisches Erbe später die Heilige Allianz angetreten hat. Und wie die Weltkriege von 1914-18 und 1939-45 und ihre unvermeidlichen Begleiterscheinungen Europa vollständig erschöpften und sich zu einer wirtschaftlichen Dauerkrise von ungeheueren Ausmaßen verdichtete, so zerstörten die unseligen Kriege unter der Republik und später unter Napoleon das wirtschaftliche Gleichgewicht Europas so gründlich, daß lange Zeit nichts anderes mehr gedeihen konnte als Massenarmut und grenzenloses Elend. In beiden Fällen führte die Enttäuschung der Massen und die wirtschaftliche Unsicherheit zu einer internationalen Reaktion, die sich nicht bloß auf die Tätigkeit der Regierungen begrenzte, sondern in allen Zweigen des gesellschaftlichen Lebens ihren Niederschlag fand. Der Charakter dieser Reaktion war natürlich den Umständen der Zeit gemäß in beiden Perioden verschieden, aber ihre geistigen Auswirkungen führten zu denselben Ergebnissen.

Ohne den Krieg hätte die soziale Neugestaltung Frankreichs sehr wahrscheinlich eine andere Wendung genommen und die Diktatur einer Partei nicht aufkommen lassen. Tatsache ist, daß zunächst alle Parteien, mit der Ausnahme einer kleinen Minderheit, der Diktatur feindlich gegenüberstanden, da jede Richtung fürchtete, der anderen zum Opfer zu fallen, wenn der Zufall dieser die Macht in die Hände spielte. Der Krieg aber führte unvermeidlich zu einer Reihe von Maßnahmen, die der Diktatur den Weg bereiten halfen. Das Gefühl der Unsicherheit und das allgemeine Mißtrauen, das überall verborgene Feinde witterte, die bestrebt waren, die großen Errungenschaften der Revolution zu beseitigen und die alten Zustände wiederherzustellen, taten das übrige und erweckten im Volke den Glauben an die provisorische Notwendigkeit der Diktatur, um die Krise zu überwinden. Kommt es aber erst so weit, dann entscheidet nicht länger die geistige Überlegenheit, sondern die Brutalität der Mittel, persönliche List und Verschlagenheit und eine Gesinnung, die von moralischen Bedenken nicht beeinflußt wird. Gerade diese Eigenschaften aber gehen in der Regel Hand in Hand mit ideologischer Beschränktheit und Mittelmäßigkeit der Auffassung. Da für die Träger der Diktatur die brutale Gewalt das erste und letzte Wort der Selbstbehauptung ist, so geraten sie nie in Verlegenheit, ihr Tun gegen Erwägungen anderer Art verteidigen zu müssen. Das geflügelte Wort Cavours, daß "mit dem Belagerungszustand jeder Esel regieren könne", gilt für die Diktatur in noch höherem Maße, denn jede Diktatur ist ja nichts anderes als der Staat im dauernden Belagerungszustand.

Unter normalen Verhältnissen bestehen stets gewisse Möglichkeiten für neue Wege der Entwicklung, die sich immer ergeben, so lange die freie Erörterung über soziale Zustände nicht durch tyrannische Maßnahmen völlig unterbunden wird. Sogar die ausgesprochendsten Vertreter des politischen Konservatismus können sich unter solchen Bedingungen den moralischen Auswirkungen einer demokratischen Gesellschaftsauffassung nie völlig entziehen. Wie die Römische Kirche sich allmählich mit den verschiedenen Richtungen des Protestantismus abfinden mußte, so muß sich auch der politische und soziale Konservatismus mit bestimmten Ergebnissen des demokratischen Bewußtseins im Volke abfinden, die aus den Revolutionen gegen den fürstlichen Absolutismus hervorgegangen sind. Ein solches Abfinden mit historischen Tatsachen ist unter normalen Bedingungen unvermeidlich, da weder die Revolution noch die Reaktion imstande ist, den Gegner völlig aufzureiben. Um nach größeren Erschütterungen das soziale Gleichgewicht wiederherzustellen und ein gesellschaftliches Zusammenarbeiten überhaupt möglich zu machen, entwickeln sich allmählich gewisse Satzungen, in denen Altes und Neues unmerklich zusammenfließen, und die sich mit der Zeit zu einem bestimmten Rechtszustand verdichten, den man nicht jeden Augenblick willkürlich vergewaltigen kann, wenn man die Gesellschaft nicht fortgesetzt im offenen Kriegszustande halten will.

Der so geschaffene Rechtszustand wechselt in dem Grade, nach dem die eine oder die andere Richtung im öffentlichen Leben an Stärke gewinnt oder verliert, doch bleibt seine moralische Grundlage unerschüttert, so lange die allgemeinen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht in sich selbst unhaltbar werden und auf eine revolutionäre Änderung des bestehenden Zustandes hindrängen. Sogar wenn der stärkere Teil Versuche macht, das bestehende Recht zu beugen und in seinem Sinne auszulegen, so geschieht dies in ruhigen Zeiten stets auf der Basis der vorhandenen Rechtsanschauungen, um größere Konflikte zu vermeiden, durch welche das gesellschaftliche Gleichgewicht in Gefahr geraten könnte. Sogar der verbissendste Tory wird sich unter normalen Verhältnissen nicht für die Wiedereinführung des fürstlichen Absolutismus einsetzen, sondern seine Bestrebungen dem allgemeinen Rechtszustande anpassen, um ihnen Geltung zu verschaffen. Er wird, wenn ihm die Gelegenheit dazu günstig erscheint, die Auswirkung bestimmter Rechte und Freiheiten zu begrenzen versuchen, aber er wird diese Rechte und Freiheiten selbst nie in Frage stellen, mit denen er sich notgedrungen abfinden muß, da sie einen wesentlichen Teil der bestehenden sozialen Ordnung bilden. Das ist auch die Ursache, weshalb auch Revolutionen nicht jeden Tag künstlich gemacht werden können, sondern ebenso wie Perioden einer sozialen Reaktion von den gegebenen Verhältnissen abhängig sind. Nur von diesem Standpunkt läßt sich der Einfluß der politischen Zeitströmungen auf die historische Entwicklung des Sozialismus richtig beurteilen.

IV.

Der Einfluß der verschiedenen politischen Strömungen auf die Entwicklung des sozialistischen Gedankens läßt sich in jedem Lande deutlich feststellen und hat dem Sozialismus bei jedem Volke einen besonderen Stempel aufgeprägt, der sich vornehmlich in der Stellung seiner Anhänger zu der Form des Staates bemerkbar macht. Es gibt, in der Tat, keine politische Auffassung, von der Theokratie bis zur Anarchie, die in der sozialistischen Bewegung nicht ihren Ausdruck gefunden hätte. Die großen Vorläufer des modernen Sozialismus hatten das eine gemeinsam, daß sie in der Ungleichheit der wirtschaftlichen Bedingungen die eigentliche Ursache aller gesellschaftlichen Übel erblickten und bestrebt waren, dies ihren Zeitgenossen zum Bewußtsein zu bringen. Saint-Simon und Fourier hatten die Stürme der Großen Revolution noch miterlebt und auch Owen hatte die unmittelbaren Auswirkungen jenes großen historischen Dramas auf die Neugestaltung Europas aus persönlicher Anschauung kennen gelernt. Die meisten ihrer Schüler waren aus der Zeit des ersten Kaiserreichs hervorgegangen. Sie hatten daher die unmittelbaren Nachwirkungen der Revolution, sowie den Bonapartismus und die gegenrevolutionären Bestrebungen der Restaurationsperiode noch durchgelebt und diese vielfach ganz anders beurteilt als spätere Geschlechter, welche jene Dinge bloß noch aus den Darstellungen der Geschichtsschreibung kannten. Denn die frischen Eindrücke, die wir aus dem unmittelbaren Geschehen empfangen, sind in der Regel sehr verschieden von den Vorstellungen, die uns durch die Perspektive der Zeit vermittelt werden.

Betrachtet man die Gedankengänge und das Wirken jener ersten Wortführer des Sozialismus im Zusammenhang mit der Epoche, in der sie lebten, so wird uns ihre Stellung in allen ihren starken und schwachen Seiten ohne weiteres verständlich, ohne daß wir zu dem ebenso willkürlichen wie nichtssagenden Einteilungsbegriff eines "utopischen" und eines "wissenschaftlichen Sozialismus" unsere Zuflucht nehmen müßten. Tatsache ist, daß Männer wie Saint Simon, Considerant, Blanc, Vidal und hauptsächlich Proudhon den Sozialismus keineswegs als eine Offenbarung des Himmels, sondern als natürliches Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung beurteilt haben und dabei zu Schlüssen gelangten, über die auch die anspruchsvollsten Vertreter des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus nicht hinausgekommen sind.

Mit der Ausnahme jener Richtungen, deren Bestrebungen unmittelbar den polirischen Überlieferungen des Jakobinertums, der kommunistischen Lehre Babeufs und seiner "Verschwörung der Gleichen" entsprungen sind, haben fast alle Schulen des älteren Sozialismus in Frankreich und England das eine gemeinsam, daß sie die Verwirklichung ihrer Ziele durch eine friedliche Umgestaltung der gesellschaftlichen Einrichtungen und die Erziehung der Massen zu erreichen hofften. Manche haben diesen Zug durch den persönlichen Mangel an revolutionärem Temperament, andere durch eine seltsame Verkennung der "sozialen Entwicklungsgesetze" zu erklären versucht. Beide Erklärungsversuche sind schon deshalb hinfällig, weil sie auf den Kern der Sache überhaupt nicht eingehen.

Eine ganze Reihe jener sogenannten "Utopisten" hat an den Verschwörungen der geheimen Gesellschaften gegen die Bourbonen einen hervorragenden Anteil genommen und dabei sogar eine führende Rolle gespielt. Dazu gehörten gerade diejenigen, die später als Vertreter der neuen Lehre am wenigsten von revolutionären Erhebungen erwarteten. Bazard, Leroux, Buchez, Cabet und manche anderen gehörten mit zu den tätigsten Mitgliedern der französischen Carbonaria. Einige von ihnen hatten bereits der geheimen Gesellschaft der "Wahrheitsfreunde" (amis de la verite) angehört. Buchez, der nach dem mißlungenen Aufstandsversuch von 1821 verhaftet und vor Gericht gestellt wurde, entging nur mit einer Stimme dem Tode. Erst seine persönliche Bekanntschaft mit Saint-Simon brachte ihn auf andere Bahnen. Saint-Simon selbst hatte in seinen jungen Jahren an dem Aufstand der nordamerikanischen Kolonien gegen England teilgenommen und unter Washington gekämpft. Man kann daher schwer behaupten, daß revolutionäre Neigungen jenen Männern ganz fremd geblieben sind. Daß sie nach der inneren Klärung, die osie durch den Sozialismus empfangen hatten, sich von Aufstandsversuchen keinen Erfolg mehr versprachen, lag sowohl in der neuen Richtung ihres Denkens als auch in den Verhältnissen der Zeit. Sie hatten erkannt, daß die Wurzeln des sozialen Übels zu tief lagen, als daß man ihnen durch einfache Gewaltmaßnahmen hätte beikommen können, umsoweniger, als man von den durch die langen Kriege und ihre Begleiterscheinungen erschöpften Massen gerade damals keine Unterstützung erwarten konnte.

So wurde die Erziehung den meisten der älteren Sozialisten zum wichtigsten Feld ihrer Betätigung. Die schmerzlichen Erfahrungen der Zeit hatten sie gelehrt, daß eine tiefere Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens unmöglich ist, so lange vor allem der denkende Teil des Volkes von den neuen Ideen nicht erfaßt und von der Größe der Aufgabe durchdrungen ist, die ihm gestellt wurde. Die letzten Worte Saint-Simons an seinen Lieblingsschüler Rodrigues: " Vergesse nie, mein Sohn, daß man von der inneren Begeisterung einer Idee erfüllt sein muß, um große Dinge zu vollbringen!" waren der tiefste Ausdruck dieser Erkenntnis. Denn die äußeren Lebensbedingungen sind nur der Nährboden, aus dem sich die Ideen der Menschen entwickeln, aber es sind die Ideen selbst, welche die Menschen für jede neue Gestaltung ihrer sozialen Existenz empfänglich machen und neue Bedingungen des Lebens schaffen.

Denn auch der Glaube an die Allmacht der Revolution ist im Grunde nur eine Selbsttäuschung, die schon viel Unheil angerichtet hat. Auch Revolutionen können immer nur Keime entwickeln, die bereits früher vorhanden waren und in das Bewußtsein der Menschen eingedrungen sind. Aber sie können diese Keime nicht selbst schaffen und aus dem Nichts eine neue Welt formen. Eine Revolution ist die Entfesselung der bereits im Schöße der alten Gesellschaft wirkenden neuen Kräfte, die nach einer Neugestaltung der sozialen Formen streben und die, wenn die Zeit dazu gekommen ist, die alten Bindungen sprengen, dem Kinde vergleichbar, das nach der vollendeten Schwangerschaft die alte Hülle sprengt, um sein eigenes Dasein zu beginnen. Bezeichnend für das Wesen der Revolution ist der Umstand, daß die Erneuerung der sozialen Lebensbedingungen nicht von oben ausgeht, sondern der unmittelbaren Betätigung breiter Schichten des Volkes entspringt, ohne die eine wirkliche Umgestaltung überhaupt nicht möglich wäre. In diesem Sinne ist die Revolution stets der Abschluß eines bestimmten Entwicklungsprozesses und zugleich die Einleitung zu einer Neugestaltung der Gesellschaft.

Aber diese Verjüngung des sozialen Lebens durch die Revolution ist nur denkbar, durch eine immer weiter um sich greifende Auswirkung neuer Ideen und Vorstellungen im Schöße des alten Gesellschaftskörpers und die mehr oder weniger entschiedene Art des Handelns ihrer Träger. Durch die immer schärfer hervortretende Bloßstellung der alten Lebensformen und die Entwicklung neuer moralischer und sozialer Wertbegriffe entsteht allmählich eine neue geistige Atmosphäre, deren beständige Ausbreitung das Ansehen der alten Gesellschaftseinrichtungen und ihrer Vertreter fortgesetzt untergräbt, bis es endlich ganz in die Brüche geht und zu keinem ernsten Widerstand mehr fähig ist. Der erste Anstoß zu einer kommenden Umwälzung geht stets von geistig regsamen Minderheiten aus, doch gelangt er nur dann zu der vollen Entfaltung seiner Kräfte, wenn breite Schichten des Volkes von der Notwendigkeit einer gründlichen Änderung der sozialen Lebensbedingungen erfaßt werden und zu einer Betätigung in dieser Richtung vorwärts drängen. Zunächst geschieht dies rein gefühlsmäßig, bis die unbestimmten Regungen sich bei großen Teilen des Volkes zu festen Vorstellungen verdichten und zur inneren Überzeugung werden.

Ohne diese geistige Entwicklung breiter Volksschichten ist eine Revolution überhaupt nicht denkbar. Sie ist die erste Vorbedingung jeder gesellschaftlichen Umwälzung, die das Volk zum Widerstand anregt und ihm das Bewußtsein seiner Menschenwürde näher bringt. Je tiefer die neuen Ideen in die Massen eindringen und das Denken der Menschen beeinflussen, desto stärker sind die Wirkungen, welche die Revolution hervorbringt, desto unvergänglicher die Spuren, die sie im Leben der Gesellschaft zurückläßt. Es ist daher grundfalsch, die Revolution lediglich als den gewaltsamen Umsturz alter Gesellschaftsformen zu beurteilen und auf die zerstörende Seite ihres Wirkens das Hauptgewicht zu legen. Die zerstörende Seite der Revolution ist nur eine ihrer Begleiterscheinungen, die fast gänzlich von dem Grad des Widerstandes des Gegners abhängt. Nicht in dem, was sie zerstört, sondern in dem Neuen, das sie hervorbringt und dem sie Geburtshilfe leisten mußte, gibt sich ihr inneres Wesen, kund. Es sind die schöpferischen Bestrebungen, die sie freilegt und von der Umklammerung der alten Gesellschaftsformen befreit, welche der Revolution ihre soziale und geschichtliche Bedeutung geben.

Eine Revolution ist daher viel mehr wie ein gewöhnlicher Straßenaufstand, dessen Ursachen durch allerhand Zufälligkeiten bestimmt werden kann, was bei einer wirklichen Revolution nie der Fall ist, da sie stets das letzte Glied eines langen Entwicklungsprozesses ist, den sie mit gewaltsamen Mitteln zu Ende bringt. Wo diese Vorbedingungen nicht vorhanden sind, dort kann eine Erhebung im besten Falle nur eine oberflächliche Veränderung der äußeren Machtverhältnisse bewirken und neuen Parteien zur Herrschaft verhelfen, weil das Volk zu einer tieferen Erkenntnis noch nicht reif ist und daher alles Heil von einer neuen Regierung erwartet wie der. Gläubige von der Vorsehung Gottes.

Die Gewalt selbst schafft nichts Neues. Sie kann im günstigsten Falle Altes und Überlebtes aus dem Wege räumen und die Pfade für eine neue Entwicklung freilegen, wenn jede andere Möglichkeit dazu verschlossen ist. Aber sie kann nicht Dinge hervorrufen, die erst allmählich im Hirne der Menschen heranreifen und gedeihen müssen, bevor sie praktisch in die Erscheinung treten können. In diesem Sinne ist die Gewalt in weit größerem Umfang ein typisches Merkmal der Reaktion in der Geschichte gewesen, die sich ihrer bediente, um jede schöpferische Betätigung zu unterbinden und das Denken der Menschen auf bestimmte Formen festzulegen, während die Revolution gerade das Gegenteil erstrebte und einzig dadurch allen tieferen sozialen Änderungen den Weg bahnte.

Der gewaltsame Bruch mit alten Formen, die innerlich bereits überlebt sind, ist oft das einzige Mittel, um neuen Formen zum Durchbruch zu verhelfen, aber er hat mit dem "Kultus der Gewalt" als solche nichts gemeinsam, der gerade von der Reaktion in jeder Art planmäßig betrieben wird. Das ist auch die Ursache, weshalb jede Revolution, sobald sie in einem neuen Gewaltsystem bestimmter Parteien ausmündet, ihren eigentlichen Charakter verliert und in die Gegenrevolution umschlägt. Wer dieses verkennt, mag noch so sehr auf seine revolutionäre Gesinnung pochen, er bleibt im Grunde seines Wesens doch nur ein revolutionärer Staatsstreichler, der bewußt oder unbewußt im Lager der Gegenrevolution steht. Max Nettlau hat dieser Auffassung einen tiefempfundenen Ausdruck gegeben: "Die babouvistisch-blanquistische Idee der gewaltsamen Übernahme der Staatsgewalt und der Diktatur wurde auch außerhalb dieser bewußt autoritären Kreise ohne nähere Prüfung übernommen; es entstand der Glaube an die Allmacht der Revolution. So sehr ich auch solche wünsche und diesen Glauben achte, so ist er doch autoritären Ursprungs, ist napoleonisch gedacht und übersieht - was für Autoritäre belanglos ist - die wirkliche Durchdringung des Einzelnen mit sozialem Geist, Gefühl und Verständnis. Daß diese sich automatisch bei verbesserter Lage einstellen, ist eine weitere etwas summarische Annahme, für welche die durch Schrecken hergestellte Nivellierung bei den bisherigen autoritären Revolutionen kein zwingender Beweis ist."

Die meisten der großen Pioniere des Sozialismus versprachen sich schon deshalb nichts von Verschwörungen und Aufstandsversuchen zur Förderung ihrer Sache, weil manche von ihnen die Fruchtlosigkeit solcher Versuche aus eigener Erfahrung kennen gelernt hatten und die anderen aus den unmittelbaren Ergebnissen der zeitgenössischen Geschichte ihre Lehre zogen. Sie verstanden, daß man Dinge nicht gewaltsam zur Reife bringen konnte, die erst im Anfangsstadium ihrer natürlichen Entwicklung begriffen waren und vorläufig nur bei einer kleinen Minderheit einen geistigen Niederschlag gefunden hatten. Diese Auffassung war bei ihnen umso verständlicher, da es sich in ihrem Falle ja nicht um einen gewöhnlichen Regierungswechsel handelte, sondern um eine Umgestaltung aller gesellschaftlichen Lebensbedingungen, die ohne die geistige Bereitwilligkeit breitet Volksmassen nicht zu erhoffen war. Es war weder persönliche Naivität noch Haltlosigkeit der Gesinnung, aus denen solche Erwägungen geboren wurden, sondern die völlige Ohnmacht des Einzelwesens in einer Zeit, die alle sozialen Bindungen verloren hatte und nur Kommandorufe und widerstandslose Unterwerfung kannte.

Aber gerade diesen autoritären Einflüssen der Zeit konnten sich auch die großen Bahnbrecher des Sozialismus nicht entziehen, wie sehr ihre Gedanken auch der Zeit vorangeeilt waren. Die liberalen Anschauungen, welche einst in der "Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" ihren Ausdruck gefunden hatten, waren in den Hintergrund getreten und hatten dem neuen Absolutismus Napoleons das Feld geräumt, der das Erbe der Revolution angetreten hatte. Die Völker hatten sich wieder in Herden verwandelt, deren Schicksal in den Händen neuer Herrenmenschen ruhte, die ihm Gestalt und Prägung gaben. Der Jakobinismus hatte den Glauben an die Allmacht des Staates wieder aufgefrischt, der durch die Revolution eine Zeit lang seinen Glanz verloren hatte. Napoleon aber hatte sich aus eigener Machtvollkommenheit zum "Mechaniker, der die Maschine erfindet" gemacht, wie Rousseau den Gesetzgeber zu nennen beliebte. Die ungeheueren militärischen und politischen Erfolge des korsischen Eroberers auf dem ganzen Kontinent entfesselten eine wahre Flut der Bewunderung, die auch nach seinem Sturze fortlebte. Der Wunderglaube an die "großen Heroen" der Geschichte, die nach eigenem Ermessen das Schicksal der Völker kneten wie der Bäcker den Teig knetet, feierte die größten Triumphe und trübte den Menschen den Blick für jedes organische Geschehen. Der Glaube an die Allmacht der Autorität wurde wieder zum Inhalt der Geschichte und fand seinen Niederschlag in den Schriften von Haller, Hegel, DeMaistre, Bonald und vielen anderen. Der Wahlspruch De Maistre's: "Ohne Papst keine staatliche Souveränität, ohne Souveränität keine Einheit ohne Einheit keine Autorität, ohne Autorität kein Glaubet" wurde zum Leitmotiv dieser neuen Reaktion, die sich über ganz Europa verbreitete.

Nur wenn man die Zeit in Betracht zieht, in weichet der Geist der Autorität seine höchsten Triumphe feierte und keine politische Gegenströmung vorhanden war, um das Gefühl völliger Abhängigkeit zu entkräften, läßt es sich erklären, wenn Saint-Simon 1813 seinen berühmten Brief an Napoleon richtete, um diesen zu einer Reorganisation der europäischen Gesellschaft anzuregen oder wenn Robert Owen sich in einem längeren Schreiben an Friedrich Gentz, den ebenso geistvollen als charakterlosen Soldschreiber der "Heiligen .Allianz" wendete, um diesem vorzuschlagen, dem Fürstenkongreß in Aachen (1818) seine Pläne zur Überwindung des sozialen Elends vorzulegen und wenn Fourier einen ähnlichen Schritt bei dem Justizminister Napoleons unternahm und später zehn Jahre lang auf den Mann wartete, der ihm eine Million Franken zur Verfügung stellen sollte, um ihm die Möglichkeit zu geben, einen praktischen Versuch zur Verwirklichung seiner Ideen in größerem Maßstabe vorzunehmen.

Im Jahre 1809 erschien in Paris ein zweibändiges Werk, "La philosophie du Ruvarebohni"[2], das zu den geistvollsten Erzeugnissen der sozialistischen Literatur jener Zeit gehörte. Das Werk enthielt eine ganze Reihe glänzender Betrachtungen über die Grundlagen einer sozialistischen Gesellschaft, auf die wir hier nicht eingehen können. Das Charakteristische an jenem Buche ist, daß seine Verfasser sich die Befreiung der Gesellschaft durch den großen Machthaber Poleano vorstellten, der an der Hand der wissenschaftlichen Untersuchungen der größten Gelehrten des Volkes der Icanarfs die große Wiedergeburt der Menschheit in die Wege leitet. Wie der römische Konsul Cincinnatus nach dem Kriege wieder zu seinem Pflug, so begibt sich auch der große Poleano endlich freiwillig seiner Macht, um als Gleicher zwischen seinen Mitbürgern zu leben und mit ihnen die Fruchte seines Werkes zu genießen, das er so glänzend zur Vollendung gebracht hatte. Poleano ist natürlich nur eine Umschreibung des Namens Napoleon und das Volk der Icanarfs eine solche der Franzosen (Francais).

Ohne Zweifel wurden die Verfasser dieses merkwürdigen Buches durch die mannigfachen Pläne Napoleons angeregt, durch welche dieser den Widerstand Englands zu brechen und die französische Industrie zur ersten der Welt zu machen hoffte. Seine zahllosen Besprechungen mit Männern der Wissenschaft, Technikern, Indu-strialisten und Vertretern der Hochfinanz, aber auch mit gewöhnlichen Glücksrittern, Charlatanen und Abenteurern aller Schattierungen, die darauf ausgingen, sich die Taschen zu füllen, hatten alle denselben Zweck im Auge. Unter diesen Umständen war es wohl verständlich, daß unsere beiden Philosophen sich in der Hoffnung wiegten, den Kaiser für ihre Pläne gewinnen zu können und den Absolutismus zum Ausgangspunkt des Sozialismus zu machen.

V.

Der Glaube, Napoleon für eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft gewinnen zu können, war übrigens keine Einzelerscheinung. Auch der Einwand, daß Männer wie Saint-Simon, Fourier und die beiden Verfasser des oben erwähnten Werkes an die Möglichkeit einer Hilfe durch Napoleon nur deshalb glaubten, weil sie dazu durch ihre innere Abneigung gegen alle revolutionären Versuche veranlaßt wurden, ist nicht stichhaltig, denn wir begegnen diesen Bestrebungen auch in jenen Kreisen, die den Überlieferungen des Jakobinismus treu geblieben und von einer revolutionären Diktatur die Verwirklichung ihrer sozialistischen Pläne erhofften. Auch Michel Buonarroti, der Genosse Babeufs, den Bakunin als den größten Verschwörer seines Jahrhunderts bezeichnet hatte, setzte auf Napoleon seine Hoffnung und glaubte ernstlich, daß dieser zum Werkzeug einer neuen Revolution berufen sei, um zu vollenden, was die erste Revolution unvollendet gelassen hatte.

Als Napoleon durch den Machtspruch der europäischen Großmächte nach Elba verbannt wurde, traten seine alten Bundesgenossen in der Armee mit den Resten der Jakobiner in geheimen Verbindungen zusammen, gegen die Regierung Louis XVIIL, die man Frankreich aufgezwungen hatte. Napoleon, der für die Logik der Tatsachen eia feines Verständnis besaß, fühlte sehr gut, daß er von dem französischen Bürgertum, das ihn beim Eindringen der alliierten Armeen kaltblütig fallen ließ, keine Hilfe erwarten durfte. Er war daher gezwungen, sich auf die untersten Volksklassen zu stützen und sie mit großen Versprechungen zu füttern, um sie in Bewegung zu setzen. Als er am 20. März 1815 in die Tuillerien zurückkehrte, besuchte er die Vorstädte und Fabriken, ließ sich von den Arbeitern Berichte über ihre wirtschaftliche Lage vorlegen und versprach ihnen, daß er den Rest seines Lebens bloß noch dem Frieden zu widmen entschlossen sei, um der Welt zu zeigen, daß er "Nicht bloß ein Kaiser der Soldaten, sondern auch ein solcher der Bauern und Proletarier" sei. Alte Demokraten und gewesene Gegner des Kaisers traten in die neue Regierung ein, damit das Volk erkenne, daß es ihm wirklich ernst sei mit dem versprochenen "Reiche des Friedens und der Demokratie". Die Zensur wurde abgeschafft, die polizeiliche Überwachung des Buchhandels aufgehoben. Sein langjähriger Gegner, Benjamin Constant, der jetzt zusammen mit Carnot in der neuen Regierung saß, wurde mit dem Entwurf einer neuen Verfassung betraut. Es war, in der Tat, eine "Zeit des Taumels", jene kurze Periode der "Hundert Tage", die bei Waterloo einen ebenso schnellen wie blutigen Abschluß finden sollte.

Bonapartisten und Jakobiner hatten schon seit der Rückkehr der Bourbonen ihre alte Fehde aufgegeben und sich für die Wiedererrichtung des Kaiserreiches eingesetzt. Die Politik schafft oft sonderbare Bettgenossen, aber solche Bündnisse stellen sich in der Regel nur dann ein, wenn ihnen eine gewisse Gleichartigkeit der Bestrebungen zugrunde liegt. Man hat allerhand Vermutungen darüber angestellt, wie sich die Zukunft Europas gestaltet hätte, wenn Napoleon die Gelegenheit gefunden, den sozialen Reformen, die er in Aussicht gestellt, tiefer nachzugehen. Doch ist es kaum anzunehmen, daß er seine Versprechungen gehalten hätte, auch wenn er seinen militärischen Gegnern nicht so rasch unterlegen wäre. Ein Mann mit seinen Charakteranlagen, der sich so gänzlich daran gewöhnt hatte, die Rolle der Vorsehung in Europa zu spielen und seinen Willen als höchstes Gesetz zu betrachten, war kaum imstande, andere Wege zu beschreiten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sich wirklich mit dem Gedanken großer sozialer Änderungen getragen hat. Seine früheren Pläne, Europa in eine große wirtschaftliche Einheit unter der Hegemonie Frankreichs zu verschmelzen und manches andere sprechen sogar dafür. Aber eine solche Reform hatte immer nur seinem eigenen Wesen entsprochen: ein Termitenstaat auf der Grundlage einer Kasernenmoral, die alles Persönliche erstickt und dem gefühllosen Rhythmus einer Maschine unterwirft, die alle auf das gleiche Maß bringt.

Wenn Fourier und Saint-Simon glaubten, Napoleon für eine große soziale Reform gewinnen zu können, so geschah dies deshalb, weil er nach ihrer Meinung alle Möglichkeiten in sich verkörperte, die eine neue Entwicklung des sozialen Lebens fördern konnten. Doch hofften sie, daß ein ernsthafter Versuch in dieser Richtung die ganze politische und militärische Grundlage, auf der die Herrschaft des Kaisers fußte, mit der Zeit überflüssig machen und durch neue gesellschaftliche Einrichtungen ersetzen würde. Das war ein psychologischer Irrtum, der sich aber immerhin aus der politischen und sozialen Lage der Zeit erklären läßt.

Anders aber muß man die Stellung Buonarrotis und seiner späteren kommunistischen Anhänger in den geheimen Gesellschaften Frank' reich" beurteilen. Zwischen ihnen und Napoleon bestand eine innere Wesensverwandtschaft, über die sie sich allerdings nie Rechenschaft ablegten. Buonarroti, der einst dem inneren Kreise Robespierres angehörte, glaubte mit derselben Inbrunst an die Allmacht der Diktatur wie Napoleon, dem nichts unmöglich schien, so lange er eine Armee hinter sich hatte. Auch er rechnete mit Menschen wie mit Zahlen, und wenn Napoleon fest davon überzeugt war, durch Gewalt jeden Widerstand brechen zu können, so glaubten Buonarroti und seine Anhänger, daß man die Menschen mit dem revolutionären Terror zu ihrem Glücke zwingen müßte. Napoleon hatte eigentlich nur in größerem Maßstabe fortgesetzt, was Robespierres und seine Anhänger bereits zur Ausführung gebracht hatten, - die Zentralisation aller Zweige des gesellschaftlichen Lebens. Er war denn auch, im Grunde genommen, nicht der Erbe der Revolution, welche die "Memschenrechte" verkündet hatte, sondern nur der Erbe des Jakobinertums, das jene Redite zur Zwangsjacke gemacht und ihre Auslegung durch die Guillotine erläutert hatte.

Extreme berühren sich sehr häufig im politischen Leben, aber sie berühren sich nur dann, wenn gemeinsame Anziehungspunkte vorhanden sind, die unter gegebenen Verhältnissen nach derselben Richtung streben. Alle Reformen Napoleons waren der Atmosphäre der Kaserne entsprungen. Der Gleichheits-Kommunismus Barbeufs, Buonarrotis und der ganzen späteren babouvistischen Schule wurde von denselben Voraussetzungen getragen. Es ist die innere Verwandtschaft des Denkens und Fühlens, die solche Verbindungen zustande bringt. Das Bündnis der Jakobiner mit den Bonapartisten in der Zeit der Restauration, der Anschluß, den Lassalle bei Bismarck suchte und nur deshalb nicht finden konnte, weil er keine ebenbürtige Macht hinter sich hatte, die Allianz zwischen Stalin und Hitler, die zur unmittelbaren Ursache des letzten Weltkrieges wurde, sind nur in diesem Sinne zu verstehen. Es handelt sich in allen diesen Fällen um bestimmte Auswirkungen desselben absolutistischen Prinzips in verschiedenen Formen. Wer diesen inneren Zusammenhängen nicht tiefer nachgeht, dem hat die Geschichte überhaupt nichts zu offenbaren.

Die ganze babouvistische Schule des Sozialismus, die in Männern wie Barbes, Blanqui, Teste, Voyet d'Argenson, Bernard, Meillard, Nettre usw. ihre Vertreter fand und in den geheimen Bünden der "Gesellschaft der Familien", der "Gesellschaft der Jahreszeiten" und anderen ihre Wirksamkeit entfaltete, war durchaus autokratisch in ihren Bestrebungen. Nach einem geheimen Bericht, der 1840 von allen Sektionen der Gesellschaften angenommen wurde, sollte ein Direktorium von drei Personen den kommenden Aufstand organisieren und nach dem Siege als provisorische Regierung eingesetzt werden. Diese diktatorische Körperschaft sollte nicht vom Volke, sondern von den Verschworenen selbst gewählt werden. Die Regierung sollte die Leitung der Industrie, des Ackerbaus und der Verteilung der Produkte übernehmen. Um die Gleichheit der Gesinnung dem Staate gegenüber herzustellen, sollten die Kinder vom fünften Lebensjahre an den Eltern entzogen und in staatlichen Instituten erzogen werden. Das Vorbild eines totalen Staates wurde auf diese Weise also bereits von Sozialisten ausgearbeitet. Auch die Idee Lenins von den "professionellen Revolutionären" ist nur ein Abklatsch von Blanquis "revolutionärem Generalstab". Der "monarchistische Gedanke", dem Proudhon den Krieg erklärt hatte, saß viel tiefer, als die meisten ahnen mochten und hat, wie die letzten Zeitereignisse überall in der Welt deutlich zeigen, seine Wirkung noch lange nicht eingebüßt. Auch die sozialistischen Schulen von Etienne Cabet, Louis Blanc, Constantin Pecqueur und anderen sind vollständig mit absolutistischen Gedankengängen durchsetzt. Nur bei Fourier und seinen Anhängern findet man vielfach freiheitliche Ideen und bewußte föderalistische Bestrebungen. Auch der englische Sozialismus der älteren Schule und auch später ist von einem viel freiheitlicheren Geiste getragen, weil die großen liberalen Gedankenströmungen einen viel stärkeren Einfluß auf seine Träger ausübten, ebenso wie in Spanien, wo die föderalistischen Überlieferungen tief im Volke wurzelten und den anarchistischen Sozialismus zu einer Massenbewegung entwickelten. Dasselbe gilt auch für Italien, wo die Lehren Pisacanes und des freiheitlichen Sozialismus stets ein wirksames Gegengewicht gegen die autoritären Bestrebungen der Zeit bildeten.

Unter den Sozialisten der älteren Schule finden wir nicht bloß bei vielen eine ausgesprochene Feindseligkeit gegen alle liberalen Bestrebungen und ein ganz unverkennbares Kokettieren mit Auffassungen des politischen Absolutismus, sondern sogar theokratische Anwandlungen, die direkt aus dem Vorstellungskreise des römischen Katholizismus hervorgegangen sind. Das gilt besonders für die Saint- Simonisten und die Anhänger des sogenannten theosophischen Kommunismus. Zwischen der Lehre Saint-Simons und den sozialen Auffassungen der saint-simonistisdien Schule besteht ein Unterschied, der sich häufig überhaupt nicht mehr überbrücken läßt und nur noch als eine Entartung der ursprünglichen Ideen des Lehrers bezeichnet werden kann. Unter den großen Bahnbrechern des Sozialismus war Saint-Simon sicher einer der hervorragendsten Köpfe, der mit seinen Gedanken alle späteren sozialistischen Richtungen befruchtet hat, von den Marxisten bis zu den Anarchisten. Seine umfassenden Kenntnisse und seine außergewöhnliche historische Beobachtungsgabe haben ihm seinen Platz als einen der bedeutendsten Denker seiner Zeit angewiesen, den ihm niemand bestreiten kann. Man hat ihn eine Faust-Natur genannt und nicht mit Unrecht, denn er hat an manche verborgene Pforte geklopft und der ewige Hunger nach immer tieferer Erkenntnis bildet den ganzen Inhalt seines seltsamen Lebens, das in seiner ergreifenden Eigenart so reich an tragischer Größe ist.

Saint-Simon hat nie eine bestimmte Theorie über die Lösung der sozialen Frage aufgestellt, noch hat er sich je in abstrakten Vorstellungen verloren, wie die meisten seiner späteren Schüler. Seine überragende geistige Überlegenheit geht schon daraus hervor, daß er eine ganze Reihe der bedeutendsten Geister seiner Zeit in den Bann seiner Gedanken zu bringen verstand. Augustin Thierry, der große französische Historiker, der Mineraloge Le Play, Auguste Comte, der Begründer der "Philosophie des Positivismus", der Rechtstheoretiker Lerminier, der spätere Unterrichtsminister H. Carnot, Komponisten wie Leon Halevy und F. David, Ingenieure wie Barrault, Mony und Lesseps, der spätere Erbauer des Suezkanals, Nationalökonomen und Finanzmänner wie Michel Chevalier, Adolph Blanqui, O. Rodrigues, Emile Pereire, Männer, die in der späteren sozialistischen Bewegung eine hervorragende Rolle spielten, wie A. Bazard, P. Enfantin, P. Leroux, J. Reynaud, Ph. Buchez und viele andere, - sie alle sind aus der Schule Saint-Simons hervorgegangen oder wurden stark von seinen Anschauungen beeinflußt. Auch Heinrich Heine und die Romandichterin George Sand sind tief von seiner Lehre berührt worden. Nur ein ganz großer Geist konnte einen so starken und nachhaltigen Eindruck hervorrufen.

Die eigentliche Größe Saint-Simons besteht in seiner glänzenden Beurteilung der neuen wirtschafts-politischen Verhältnisse, die sich aus der französischen Revolution ergeben hatten und in seiner tiefgründigen Auffassung über die Bedeutung der modernen Industrie, die er mit Recht als einen der entscheidenden Faktoren für die wirtschaftliche und politische Entwicklung der europäischen Gesellschaft betrachtete. Dabei war für ihn die Industrie nicht bloß eine materielle, sondern auch eine -geistige Erscheinung, denn durch sie siegte der Geist über die Materie und schaffte in derselben Zeit eine ethische Wertung des Lebens, welche die alte Gesellschaft nicht kannte, die Wertschätzung der menschlichen Arbeit.

Saint-Simon war einer der ersten großen Sozialphilosophen, die zwischen der politischen Organisation des Staates und dem natürlichen Gebilde der Gesellschaft eine deutliche Grenze zogen und versuchte, die Einflußsphäre beider zu bestimmen. In seiner Schrift "Du systeme industriel" (1821) führte er den Ausbruch der Großen Revolution auf die staatliche Bevormundung und Regulierung der Industrie zurück und zog daraus den Schluß, daß das Schwergewicht aller menschlichen Betätigung nicht in den politischen Formen der Regierung, sondern in den wirtschaftlichen und allgemeinen Verhältnissen der Zeit gesucht werden müsse. Solange die Menschheit über die Phase ihrer Kindheit noch nicht hinausgekommen, war die Vormundschaft der Regierung eine natürliche Einrichtung, die in den Verhältnissen selbst begründet war, wie die Vormundschaft der Eltern über das Kind. Wie aber der erwachsene Mensch diese Vormundschaft nicht länger benötigt und mit der Reife seiner persönlichen Verantwortung sein Leben nach eigenen Bedürfnissen gestaltet, so wird auch die Menschheit als Ganzes die Vormundschaft der Regierung allmählich überwinden und auf eigenen Füßen stehen lernen. "Die Kunst, Menschen zu regieren, wird dann verschwinden, um einer neuen Kunst das Feld zu räumen, der Kunst, die Dinge zu verwalten".

Die Zeit der gesellschaftlichen Reife beginnt nach Saint-Simon mit der Entstehung der Industrie. Sie wird die Menschen nicht bloß vom Fluche der Armut, sondern auch von der Notwendigkeit des Regierens befreien. Seine Schüler aber haben aus dieser lichtvollen Auffassung des Meisters, die Proudhon so bereitwillig aufgenommen und weiter entwickelt hat, überhaupt nichts zu machen gewußt. Sie wurden nicht nur die Träger eines neuen Katholizismus, sondern auch die geistigen Vertreter einer neuen Hierarchie, die sie die "Saint-Simonistische Kirche" nannten. Was sie erstrebten, war eine gesellschaftliche Theokratie, in welcher die Vertreter der Kunst, der Wissenschaft und der Arbeit die innere Gliederung des Staates bilden sollten. Im Gegensatz zu den meisten anderen sozialistischen Richtungen waren die Saint-Simonisten Gegner der Republik, weil sie in der republikanischen Staatsform den Ausdruck einer inneren Zersplitterung erblickten. "Die Republik", sagte Rodrigues, "ist unmöglich! sie wird nie verwirklicht werden. Sogar ihr Name wird verschwinden und von der Assoziation verdrängt werden. Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß der Saint-Simonismus republikanisch sei".

Wenn die Vertreter der liberalen Schule durch eine Trennung der Machtbefugnisse und besonders durch eine Scheidung der gesetzgebenden von der ausführenden Gewalt den Mißbrauch der öffentlichen Macht verhindern wollten, so erblickten die Saint-Simonisten in dieser Teilung eine Zersplitterung der gesellschaftlichen Kräfte, die zu einer Zersetzung des Gemeinwesens führen mußte. Was sie erstrebten, war eine Vereinigung aller politischen und sozialen Befugnisse in einer Person. "Das Staatsoberhaupt ist zugleich Gesetzgeber und Richter. Es bestimmt die Richtlinien der öffentlichen Ordnung und entscheidet über ihre Anwendung. Es ist das lebendige Gesetz, das Organ, von dem alles Lob und aller Tadel ausgeht".

Da nach der Auffassung der Saint-Simonisten das materielle Dasein des Menschen mit der Religion auf das tiefste verwachsen ist, so erhebt sich über allen Gliederungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens die neue Kirche als synthetische Zusammenfassung und organische Einheit. Deshalb ruht die ganze Leitung der Gesellschaft in der Hand des Priesters, denn die Kirche ist nicht länger eine Einrichtung der Gesellschaft, sondern die Gesellschaft selbst. Die ganze Gesellschaftsordnung ist auf den drei großen Prinzipien "der Liebe, des Gedankens und der Kraft" aufgebaut, die in den drei Ständen der Künstler, Gelehrten und Werktätigen ihre Vertretung findet und die Hierarchie des sozialen Lebens bildet. In einer solchen Gemeinschaft ist kein Platz für persönliche Sonderinteressen, das Individuelle verschwindet überhaupt, um sich im Organismus der Gesellschaft aufzulösen. Der Priester ist der Vermittler aller gesellschaftlichen Beziehungen. Er entscheidet nicht nur über alle Angelegenheiten des geistigen Lebens, sondern weist auch jedem Gliede der Gemeinschaft seinen Platz an und sorgt für das gesellschaftliche Gleichgewicht durch eine gerechte Verteilung der allgemeinen Gütererzeugung und der Verteilung der Arbeitsprodukte.

Die "Allweltliche Arbeiter-Assoziation' der Saint-Simonisten trägt den Charakter einer sozialen Theokratie, an deren Spitze ein industrieller Papst steht, dessen Anweisungen jeder widerspruchslos Folge leistet, da sie für alle gleich verbindlich sind. Sie ist das Modell eines totalen Staates, der alle sozialen Lebensäußerungen im richtigen Geleise hält und dafür sorgt, daß jeder den Anteil von allem erhält, der ihm auf Grund seiner sozialen Stellung und seines Ranges zusteht. Die Vorstellung einer sozialen Kirche als lebendiges Symbol der menschlichen Verbrüderung, die jedem den Platz anweist, den er auszufüllen hat, um die Belange der Gemeinschaft zu fördern, war das politische Ideal der Saint-Simonisten, die sich hier bewußt oder unbewußt mit den starren Vertretern des absolutistischen Autoritätsprinzips begegnen. Auch ihre Organisation trug den theokratischen Charakter einer neuen Kirche. Sie wurde von einem "Heiligen Collegium" geleitet, an dessen Spitze Bazard und Enfantin als "Hohepriester" figurierten. Sie hatte Gemeinden, Bistümer und Bischofsitze in Paris, Toulouse, Angers, Lyon, Metz, Blois, Bordeaux, Nantes, Limoges, Tour, Dijon und einer Reihe anderer Städte und fand auch im Auslande, besonders in Belgien, wirksame Vertreter. Besonders nach dem Tode Bazards, als Enfantin das alleinige Haupt, der "Vater" der neuen Kirche wurde, nahm die gläubige Inbrunst seiner Anhänger oft einen Charakter an, der sich heute schwer begreifen läßt. So schrieb ihm Reynaud aus Korsika: "Der Kuß meines Vaters wird mir Kraft, sein Wort Beredsamkeit geben. Ich setze alles Vertrauen auf meinen Vater, denn ich weiß, daß er seine Kinder besser kennt, als sie sich selber kennen. Und doch, weshalb zittere ich, wenn ich seine Nähe fühle?" Und Barrault, einer der glänzensten Redner und Apostel der neuen Kirche, schrieb an Enfantin: "Vater, Du bist der Gesandte Gottes auf Erden und der König aller Völker! Jerusalem sah seinen Christus und kannte ihn nicht. Paris hat Dein Antlitz gesehen und Deine Stimme gehört. Frankreich aber kennt nur Deinen Namen."

Es ist wohl kein Zweifel, daß Enfantin diese schwüle Glaubensbrunst gefördert hat, um seinem Einfluß eine geistige Grundlage zu geben, an der die Vernunftsgründe des gesunden Menschenverstandes scheitern mußten. Vergleicht man damit das Gebaren der politischen Kirche des modernen Kommunismus, deren blinde Anhängerschaft jeder Zeit bereit ist, heute auf höhere Weisung hin, alles zu verschreien, was sie noch gestern gefeiert hat, so wird uns allerdings manches verständlich, was uns beim Studium jener entschwundenen Zeit oft so befremdlich erscheinen mußte. Der Stalinkult unserer Tage aber fußt auf der gleichen Vorstellungswelt.

VI.

Der Einfluß absolutistischer Gedankenströmungen auf die Entwicklung der sozialistischen Ideenwelt, bald in der Anfangsperiode ihrer Entfaltung, war sicher ein Verhängnis, auch wenn uns seine Ursachen aus den Verhältnissen der Zeit verständlich erscheinen. Doch in Frankreich gab es nicht bloß eine jakobinische und autoritäre Überlieferung, sondern die Große Revolution selbst hatte tiefe Spuren im Denken der Menschen zurückgelassen, die unvergänglich waren und stets neue Anknüpfungspunkte für neue Entwicklungsmöglichkeiten boten. Und wenn es auch unbestreitbar ist, daß gewisse Richtungen des französischen Sozialismus bei dem politischen und klerikalen Absolutismus Anleihen machten, so fanden diese Bestrebungen ein wirksames Gegengewicht in den geschichtsphilosophischen Betrachtungen Saint-Simons, in der föderalistischen Assoziationsidee des Fourierismus und seiner Lehre von der "attraktiven Arbeit" und besonders in dem überragenden Einfluß der anarchistischen Gesellschaftsphilosophie Proudhons.

Ganz anders aber lagen die Verhältnisse in Deutschland, wo jede revolutionäre Überlieferung fehlte, wo der Liberalismus stets ein kraftloses Ersatzprodukt seines englischen Vorbildes blieb und die Ideen der bürgerlichen Demokratie niemals Wurzeln im Volke geschlagen hatten. Deutschland blieb bis zum Ende des ersten Weltkrieges ein halb-absolutistischer Staat, und alle Wahlsiege der deutschen Sozialdemokratie konnten an dieser historischen Tatsache nichts ändern. Die ersten Ansätze der sozialistischen Bewegung in Deutschland wurden aus Frankreich eingeführt, aber da ihre ersten Vertreter fast ausnahmslos aus der Schule Hegels und Fichtes hervorgegangen waren, so erhielten ihre Anschauungen von Anfang an ein ganz besonderes Gepräge, das sie von allen sozialistischen Gedankenrichtungen in Westeuropa wesentlich unterscheidet. Hegel, der "Philosoph des preußischen Staates", wie man ihn mit Recht genannt hat, hatte den Staat zum "Gott auf Erden" gemacht und Fichte hatte in seiner Schrift, "Der geschlossene Handelsstaat", die Vorlage einer staatssozialistischen Gesellschaft entworfen, die jedem totalen Staatsgebilde als Vorbild dienen konnte. Wenn Friedrich Engels in seiner Schrift, "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", erklärte "wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, daß wir abstammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier uud Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel", so bestätigt er damit nur eine Tatsache. Ob diese Tatsache dem deutschen Sozialismus wirklich das geistige Übergewicht gegeben hat, das Engels ihr zuschreibt, ist freilich eine andere Frage.

Die Agitation Ferdinand Lassalles hatte der modernen deutschen Arbeiterbewegung den Weg gebahnt. Sein Einfluß auf die Bewegung blieb stets unverkennbar und erwachte besonders vor dem ersten Weltkriege und nach der November-Revolution von 1918 zu erneuter Stärke. Lassalle war zeit seines Lebens ein fanatischer Anhänger der Hegelschen Staatsidee. Seine Anhänger waren von der "befreienden Misston des Staates" so fest überzeugt, daß ihre Staatsgläubigkeit zuweilen geradezu groteske Formen annahm. Man ist im Auslande häufig der Ansicht, daß Deutschland das marxistischste Land der Welt gewesen sei und der barbarische Kampf der Machthaber des Dritten Reiches gegen den "Marxismus" hat viele in dieser Meinung gestärkt. In der Wirklichkeit liegen die Dinge ganz anders: die Zahl der wirklichen Marxisten war auch in Deutschland verhältnismäßig gering, denn die politische Stellung der deutschen Sozialdemokratie wurde viel mehr von Lassalle als von Marx und Engels beeinflußt. Von ihm erbten die deutschen Sozialisten ihre brünstige Staatsgläubigkeit und den größten Teil ihrer autoritären Bestrebungen. Von Marx übernahmen sie lediglich den ökonomischen Schicksalsglauben an die unüberwindliche Macht der wirtschaftlichen Verhältnisse und die Terminologie der Begriffe.

Lassalle war nicht bloß seinen Ideen nach sehr absolutistisch veranlagt, er war auch in seinem ganzen Wesen einer jener geborenen Autokraten, die von ihrer eigenen Unfehlbarkeit so mächtig durchdrungen sind, daß sie jeden Widerspruch geradezu als eine Sünde gegen den "heiligen Geist" empfinden. Er hat mit vollem Bewußtsein den Glauben an seine "historische Sendung" so tief in den Köpfen seiner kleinen Anhängerschaft verankert, daß sie mit schwärmerischer Begeisterung zu ihm aufblickten wie zu einem neuen Messias, der alles Heil in seinen Händen trägt. Von diesem Geiste beseelt, schrieb der "Neue Sozialdemokrat", das Organ der Lassalleschen Schule: " Weshalb aber sind wir so begeistert, so energisch, ja weshalb sind die Lassalleaner fast alle von einem glühenden Fanatismus beseelt? Weil die Lehre Lassalles eine unfehlbare ist, und weil die Lassalleaner, wenn sie dieselbe verkündigen, in dieser Hinsicht sich selbst für unfehlbar halten müssen. Die Lehre Lassalles ist die einzig wahre; sie ist unfehlbar und der Glaube daran versetzt Berge. Ohne festen Glauben an ihre Lehre hätten die ersten Christen nicht geblutet für dieselbe; ohne die Unfehlbarkeit jener Religion wäre sie gar nicht als Religion bekannt geworden. Und ohne den Lassalleschen Glauben wird nimmermehr der Sozialismus diejenigen Wurzeln unter den deutschen Arbeitern schlagen, welche einst den Baum der glückseligen Menschen tragen sollen."

Man vergleiche mit solchen Ergüssen einer brünstigen Glaubenswut die fortwährende Berufung auf die "Notwendigkeit des Fanatismus" in den Reden Hitlers, und man wird begreifen, daß beide aus demselben Holze gewachsen sind. Lassalle besaß alle Eigenschaften des Diktators, es fehlten ihm bloß die Umstände, aus denen die Diktatur hervorgeht. Seine ganze Organisation war auf die Diktatur zugeschnitten, trotz aller demokratischen Verbrämung. Er wurde von dem "Allgemeinen deutschen Arbeiter-Verein' für fünf Jahre als Präsident mit diktatorischen Vollmachten gewählt und entwickelte das sogenannte "Führerprinzip", das dann den Grundstein des "Dritten Reiches" bildete, mit erstaunlicher Folgerichtigkeit. So sagte er in seiner berühmten Ronsdorfer Rede im Mai 1864: "Auch ein anderes höchst merkwürdiges Element unseres Erfolges habe ich zu erwähnen. Es ist dieser geschlossene Geist strengster Einheit und Disziplin, welcher in unserem Vereine herrscht! Auch in dieser Hinsicht, und in dieser Hinsicht vor allem, steht unser Verein epochemachend und als eine ganz neue Erscheinung in der Geschichte da! Dieser große Verein, sich erstreckend über fast alle deutschen Länder, regt sich und bewegt sich mit der geschlossenen Einheit eines Individuums! In den wenigsten Gemeinden bin ich persönlich bekannt oder jemals persönlich gewesen, und dennoch habe ich vom Rhein bis zur Nordsee und von der Elbe bis zur Donau noch niemals ein " Nein " gehört, und gleichwohl ist die Autorität, die Ihr mir anvertraut habt, eine durchaus auf Euerer fortgesetzten höchsten Freiwilligkeit beruhende! . . . Wohin ich gekommen bin, überall habe ich von den Arbeitern Worte gehört, die sich in dem Satz zusammenfassen: Wir müssen unserer aller Willen in einem einzigen Hammer zusammenschmieden und diesen Hammer in die Hände eines Mannes legen, zu dessen Intelligenz, Charakter und gutem Willen wir das nötige Zutrauen haben, damit er auf aufschlagen könne mit dem Hammer!"

Die liberale Staatsauffassung, welche dem Staat nur die Berechtigung zuerkannte, die Freiheit des Bürgers und des Landes gegen Angreifer von innen und von außen zu schützen, bezeichnete Lassalle als eine "Nachtwächter-Idee". Auch in diesem Sinne dachte er ganz als Hegelianer. " Wollte die Bourgeoisie konsequent ihr letztes Wort aussprechen", sagte er, "so müßte sie gestehen, daß nach diesem ihrem Gedanken, wenn es keine Räuber und Diebe gäbe, der Staat überhaupt ganz überflüssig sei". Von einem solchen Gedanken aber - und darin unterscheidet er sich von Marx - wollte Lassalle nichts wissen. Für ihn war und blieb der Staat "das sittliche Ganze" Hegels, "welches die Funktion hat, diese Entwicklung zur Freiheit, diese Entwicklung des Menschengeschlechtes zur Freiheit zu vollbringen".

Es war gerade diese historisch absolut falsche Auffassung, die ihn dazu führte, Anschluß bei Bismarck zu suchen. Das Liebäugeln Lassalles mit dem "sozialen Königtum", das, "auf den Knauf des Schwertes gestützt", die große Aufgabe erfüllen könnte, "wenn es entschlossen ist, wahrhaft große, nationale und volksgemäße Ziele zu verfolgen", war auch die Ursache, weshalb die Presse der Deutschen Fortschrittspartei gegen Lassalle und seine Anhänger den Vorwurf erhob, daß sie die Geschäfte Bismarcks besorgten. Für diese Beschuldigung gibt es allerdings keine materielle Begründung. Lassalles Stellung beruhte auf der Art seines Denkens. Er besorgte nicht die Geschäfte Bismarcks, aber er glaubte, Bismarck für seine eigenen Geschäfte benutzen zu können und gerade darin lag die gefährliche Seite seines gewagten Spieles, denn es war Bismarck, der sich auf "den Knauf des Schwertes stützen konnte", nicht Lassalle. Sein Biograph, Eduard Bernstein, hat Lassalles damalige Äußerungen als "die Sprache des Zäsarismus" bezeichnet und mit Recht, umso mehr, als er sich dazu verstieg, die bestehende preußische Verfassung als "eine den bürgerlichen Klassen vom Königtum gewährte Gunst" hinzustellen. In einem Lande wie Deutschland war ein solches Zugeständnis eines sogenannten "Demokraten" ein doppeltes Verhängnis.

Lassalle war ein hochbegabter Mensch, und, wie er einmal von sich selber sagte, mit "dem ganzen geistigen Rüstzeug seines Jahrhunderts" bewaffnet. Aber viele Äußerungen seiner Reden und Schriften, manche seiner Briefe an Sophie von Solutzef und die Gräfin Hatzfeld und manches andere deuten darauf hin, daß bei diesem außergewöhnlichen, von vielen deutschen Arbeitern wie ein Halbgott verehrtem Manne, der persönliche Ehrgeiz das eigentliche Motiv seines Handelns gewesen ist. Deshalb kann auch niemand sagen, wo er schließlich gelandet wäre, wenn die Kugel des ungarischen Aristokraten von Rakowitza seinem Leben nicht ein vorzeitiges Ziel gesetzt hätte. Dieser geradezu krankhafte Ehrgeiz tritt bei ihm bereits in frühester Jugend hervor. So schrieb er nach einer Vorstellung von Schillers "Fiesko", der er beigewohnt hatte, in sein Tagebuch die bezeichnenden Worte: "Ich weiß nicht, trotzdem ich jetzt revolutionär-demokratisch-republikanische Gesinnungen habe wie Einer, so fühle ich doch, daß ich an der Stelle des Grafen Lavagna ebenso gehandelt und mich nicht damit begnügt hätte, Genuas erster Bürger zu sein, sondern nach dem Diadem meine Hand ausgestreckt hätte. Daraus ergibt sich, wenn ich die Sache bei Lichte betrachte, daß ich bloß Egoist bin. Wäre ich als Prinz oder Fürst geboren, ich würde mit Leib und Leben Aristokrat sein. So aber, da ich bloß ein schlichter Bürgersohn bin, werde ich zu seiner Zeit Demokrat sein," Auch Idole haben ihre Schattenseiten, wenn man sie bei Licht betrachtet. Lassalle hatte davon eine ganze Menge.

***

Der Einfluß von Marx auf die deutsche Arbeiterbewegung war anders geartet. Marx war kein zündender Redner wie Lassalle, der unmittelbar auf seine Zuhörerschaft durch das lebendige Wort wirken konnte; seine Gedankengänge gingen vielfach über das Begriffsvermögen sogar intelligenterer Arbeiter hinaus und mußten diesen erst durch populäre Darstellungen aus zweiter Hand vermittelt werden. Dazu lebte er faßt die ganze Zeit seines Lebens im Auslande, während Lassalle in Deutschland wirkte und infolgedessen die unmittelbaren Notwendigkeiten seiner Propaganda besser zu beurteilen wußte. Außerdem aber gab es in den Lehren beider Männer eine ganze Reihe wesentlicher Verschiedenheiten, die besonders in ihrer Stellung zum Staat ihren Ausdruck fanden. Auch Marx ging von bestimmten absoluten Vorstellungen aus, indem er die Entwicklung des gesellschaftlichen Geschehens auf zwangsläufige Notwendigkeiten zurückführte, die in den Produktionsbedingungen der Zeit begründet sind.

"Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt", wie es in der berühmten Einleitung "Zur Kritik der politischen Ökonomie"[1] heißt. Marx war fest davon überzeugt, den Bewegungsgesetzen der bürgerlichen Gesellschaft auf die Spur gekommen zu sein. Er gab sich denn auch alle Mühe, die angeblichen Gesetze der sozialen Physik als "reine" und "absolute" Gesetze zu begründen, so wenn er im ersten Bande des "Kapital" die sogenannte Akkumulation des Kapitals als "absolutes und allgemeines Gesetz" bezeichnet, demzufolge "der Reichtum einer Nation ihrer Bevölkerung und ihr Elend ihrem Reichtum entspricht." - Als Schüler Hegels stellte er sich diesen Prozeß der Entwicklung als eine Trilogie des Geschehens vor, die sich mit eiserner Notwendigkeit aus den wirtschaftlichen Lebensbedingungen von selbst ergibt. So lesen wir im ersten Bande des "Kapital": "Die am der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehende kapitalistische Aneignungsweise, daher das kapitalistische Privateigentum, ist die erste Negation des individuellen, auf eigene Arbeit gegründeten Privateigentums. Aber die kapitalistische Produktion erzeugt mit der Notwendigkeit eines Naturprozesses ihre eigene Negation. Es ist die Negation der Negation. Diese stellt nicht das Privateigentum wieder her, wohl aber das individuelle Eigentum auf der Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Aera: der Kooperation und des Gemeindebesitzes der Erde und durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel."

Diese mechanische und fatalistische Auffassung des geschichtlichen Geschehens, die hier als absolute Wahrheit vorgetragen wurde, hatte mit dem wachsenden Einfluß der deutschen Bewegung auf die sozialistischen Bestrebungen aller übrigen Länder eine lähmende Wirkung auf die Gestaltung des sozialistischen Gedankens ausgelöst, obgleich Marx mit der vorschreitenden Entwicklung des wirtschaftlichen Geschehens die Überwindung aller machtpolitischen Befugnisse des Staates erhoffte. Gerade in dieser Beziehung unterscheidet er sich wesentlich von Lassalle, der in seiner Auffassung vom Staate zeit seines Lebens Alt-Hegelianer geblieben ist. So heißt es bereits im "Kommunistischen Manifest": "Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter. Die politische Gewalt im eigentlichen Sinne ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen. Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf. - An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren. Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".

Sogar in der haßerfüllten Schmähschrift, "L´ Alliance de la Democratie socialiste et l'Association internationale de Travailleurs", die Marx zusammen mit Engels und Lafargue gegen Bakunin und den freiheitlichen Flügel der Internationale verfaßt hatte, werden die Worte, die bereits in dem berüchtigten Privatzirkular des Generalrats "Les pretendues scissions dans l´Internationale" enthalten sind, noch einmal wiederholt: "Alle Sozialisten verstehen unter Anarchie dieses: ist einmal das Ziel der proletarischen Bewegung, die Abschaffung der Klassen erreicht, so verschwindet die Gewalt des Staates, welche dazu dient, die große produzierende Mehrheit unter dem Joche einer wenig zahlreichen ausbeutenden Minderheit zu erhalten, und die Regierungsfunktionen verwandeln sich in einfache Verwaltungsfunktionen."

Das politische Ziel, das Marx im Auge hatte, war also unzweifelhaft die Ausschaltung des Staates aus dem Leben der Gesellschaft. In dieser Hinsicht wurde er vollständig von den Ideengängen Proudhons beeinflußt. Nur in der Art, wie er dieses Ziel erreichen wollte, unterschied er sich grundsätzlich von Bakunin und den freiheitlich gesonnenen Föderationen der Internationale. Bakunin und seine Freunde vertraten den Standpunkt, daß eine soziale Umwälzung zusammen mit den Institutionen der wirtschaftlichen Ausbeutung auch den politischen Machtapparat des Staates abtragen müsse, um eine ungehinderte Entwicklung des neuen sozialen Lebens zu ermöglichen. Marx aber wollte den Staat in der Form der "proletarischen Diktatur1 als Mittel benutzen, um den Sozialismus praktisch durchzuführen und die Klassengegensätze innerhalb der Gesellschaft abzuschaffen. Erst nachdem die Klassen verschwunden, sollte ihnen der Machtapparat des Staates nachfolgen und der Verwaltung der Dinge Platz machen. Der Gegensatz zwischen diesen beiden Meinungen und der Versuch von Marx und seinen Anhängern im Generalrat den Föderationen der Internationale eine zentralistische Organisationsform aufzuzwingen und sie auf eine bestimmte Politik festzulegen, war die eigentliche Ursache, die später zur Spaltung und inneren Zersetzung des großen Arbeiterbundes führte.

Wer in jenem Streite Recht hatte, ist heute durch die Geschichte entschieden worden. Das Experiment des Bolschewismus in Rußland hat klar bewiesen, daß man durch die Diktatur zwar zum Staatskapitalismus gelangen kann, aber nie zum Sozialismus. Auch eine Gesellschaft ohne Privateigentümer kann sich zur Sklaverei eines Volkes auswirken. Die Diktatur kann alte Klassen abschaffen, aber sie ist stets gezwungen zu einer regierenden Kaste ihrer eignen Parteigänger ihre Zuflucht zu nehmen und diesen Vorrechte zu gestatten, die das Volk nicht besitzt. Die Diktatur als "Befreiungsmittel" wird durch die Logik der Umstände stets zu einem Instrument der Unterdrückung und ersetzt jede alte Form der Sklaverei durch eine neue. Auch die sogenannte "Diktatur des Proletariats" ist in Wirklichkeit nur eine Diktatur über das Proletariat, sogar wenn sie bloß als ein Provisorium oder als Übergangsperiode gedacht ist. Denn "jede provisorische Regierung hat stets die Tendenz permanent zu werden", wie Proudhon mit tiefem Verständnis der Dinge voraussagte. Daß diese Erkenntnis mit soviel Blut und Tränen und getäuschten Hoffnungen erkauft werden mußte, ist sicher eine der tragischsten Seiten der Geschichte. Am 20. Juli 1870 schrieb Marx an Engels die für seine Person und Geistesrichtung so bezeichnenden Worte: "Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so die Zentralisation der state power, nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. -Das deutsche Übergewicht wird ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis jetzt in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehen, daß die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unserer Theorie über die Proudhons etc."

Marx hatte Recht. Der Sieg Deutschlands über Frankreich war in der Tat ein Wendepunkt in der Geschichte Europas und der internationalen sozialistischen Bewegung. Der freiheitliche Sozialismus Proudhons wurde durch die neugeschaffene Lage in den Hintergrund gedrängt und mußte den bis ins innerste Mark hinein autoritären Anschauungen von Marx und Lassalle das Feld räumen. Die lebendige, schöpferische und unbegrenzte Entwicklungsfähigkeit des Sozialismus wurde für die nächsten fünfzig Jahre durch einen verknöcherten Dogmatismus verdrängt, der anspruchsvoll als neue Wissenschaft in die Schranken trat, in Wirklichkeit aber nur auf einem Gewebe theologischer Spitzfindigkeiten und fatalistischer Trugschlüsse beruhte, die jedem wahrhaft sozialistischen Gedanken das Grab schaufelten. In Deutschland selbst nahm dieser Überlegenheitsfimmel oft ganz groteske Formen an. Man fühlte sich als Wegweiser des "wissenschaftlichen Sozialismus" und als "Lehrer der internationalen Arbeiterbewegung". Dabei vergaß man im ganzen, daß das Deutschland Bismarcks ein halbdespotischer Militär- und Polizeistaat war, der erst noch zu erringen hatte, was die westeuropäischen Länder längst besaßen und wovon man im Lande des Parademarsches, der Polizeiwillkür und des Kadavergehorsams sogar nicht träumen durfte.

Daß eine Arbeiterschaft, die nicht die kleinsten revolutionären Überlieferungen hinter sich hatte und welche den sozialistischen Gedanken nur in der Form des Marxschen Wirtschaftsfatalismus und der blinden Staatsgläubigkeit Lassalles kennen lernte, zum Wegweiser der allgemeinen sozialistischen Bewegung werden konnte, war für den Sozialismus dasselbe Verhängnis wie die Politik Bismarcks, die Europa zum Schicksal wurde. Mein unvergeßlicher Freund, der Dichter Erich Mühsam, der von den Nazis im Lager Oranienburg ermordet wurde, hat für diese eigenartige Tendenz das Wort "Bismarxismus" geprägt, die beste und treffendste Bezeichnung, die man dafür finden konnte.

***

Der große politische Umschwung, der nach dem deutsch-französischen Kriege von 1870-71 in Europa eintrat, mußte sich in ähnlicher Weise auch auf den Sozialismus auswirken. An die Stelle der sozialistischen Ideengruppen und der wirtschaftlichen Kampf -Organisationen, in welchen die vorgeschrittenen Teile der ersten Internationale die Zellen der zukünftigen Gesellschaft und die natürlichen Organe zur Umgestaltung der Wirtschaft im Sinne des Sozialismus erblickten, traten die modernen Arbeiterparteien, die das Schwergewicht der Bewegung nicht länger auf die Eroberung des Grund und Bodens und der industriellen Betriebe, sondern auf die Eroberung der politischen Macht verlegten. So entwickelte sich im Laufe der Jahre eine ganz neue Ideologie. Der Sozialismus verlor immer mehr den Charakter eines neuen Kulturideals, das die Völker für die Ablösung der kapitalistischen Zivilisation geistig vorbereiten und praktisch befähigen sollte und deshalb vor den engen Grenzen des nationalen Staates nicht halt machte.

In den Köpfen der Führer dieser neuen Phase der Bewegung vermengten sich die Belange des nationalen Staates immer mehr mit den geistigen Belangen der Partei, bis sie zuletzt überhaupt nicht mehr imstande waren, eine bestimmte Grenze wahrzunehmen und sich daran gewöhnten, den Sozialismus durch die Brille der sogenannten "nationalen Interessen" zu sehen. So konnte es nicht ausbleiben, daß die moderne Arbeiterbewegung sich allmählich in das nationale Staatsgefüge eingliederte und bewußt oder unbewußt die Machtpolitik der Regierungen förderte. Es wäre falsch, diese seltsame Umstellung lediglich als einen Verrat der Führer zu beurteilen, wie man dies häufig getan hat. In Wirklichkeit handelte es sich hier um ein allmähliches Hineinwachsen in die Gedankenwelt der alten Gesellschaft, das durch die praktische Betätigung der heutigen Arbeiterparteien bedingt war und sich notwendigerweise auf die geistige Einstellung ihrer politischen Träger auswirken mußte. Dieselben Parteien, die einst ausgezogen waren, um unter der Flagge des Sozialismus die politische Macht zu erobern, sahen sich durch die eiserne Logik der Umstände mehr und mehr in eine Stellung gedrängt, in der sie Stück für Stück ihrer sozialistischen Grundsätze der nationalen Politik des Staates opfern mußten. Sie wollten durch eine nationale Politik den Sozialismus erobern, aber was sie zu Wege brachten, war, daß die nationale Politik ihren Sozialismus eroberte.

Man blickte wie hypnotisiert auf die großen Wahlerfolge der deutschen Sozialdemokratie und bewunderte die mächtige Parteimaschine, die sie aufgebaut hatte, aber man vergaß, daß trotz all dieser Erfolge an der deutschen Wirklichkeit auch kein Jota geändert wurde. Die eiserne Zentralisation der Partei und die Kasernendisziplin, die sie dem preußischen Staate abgelauscht hatte, erstickten jede lebendige Initiative. Die Organisation, die nur ein Mittel zum Zweck sein sollte, wurde Selbstzweck und tötete den Geist der ihr allein einen lebendigen Inhalt geben konnte. Daß dies keine Übertreibung ist, dafür nur ein Beispiel: Als nach dem Sturze Bismarcks der vom Kaiser ernannte neue Reichskanzler von Caprivi im Reichstag den Eifer der sozialdemokratischen Soldaten in der deutschen Armee offen anerkannte, antwortete ihm der angesehendste Führer der Partei, August Bebel: "Das wundert mich gar nicht und beweist nur, daß die Herren von der Rechten und von der Regierung von der Tüchtigkeit der Sozialdemokraten eine ganz falsche Anschauung haben. Ich glaube sogar, daß die Bereitwilligkeit, mit der gerade meine Parteigenossen sich der vorschriftsmäßigen Disziplin gefügt haben, ein Ausfluß der Disziplin ist, die ihnen das Leben beibringt. Die Sozialdemokratie ist also gewissermaßen eine Vorschule für den Militarismus".

Darf man sich bei einer solchen Einstellung noch wundern, wenn die deutsche Revolution von 1918 so schmählich versagte, und wenn der "Vorwärts" seinen geduldigen Lesern noch am Vorabend des 9. November zu Herzen führte, daß das deutsche Volk für die Republik noch nicht reif sei? Niemand macht der deutschen Sozialdemokratie den Vorwurf, daß sie nicht versucht hat, nachdem ihr nach dem Kriege die politische Macht, die sie so lang erstrebt hatte, wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen war, eine sozialistische Gesellschaft in Deutschland einzuführen. Dazu war das deutsche Volk, nach der ganzen Erziehung, die es genossen hatte, wirklich nicht fähig. Eines aber hatte die erste rein sozialistische Regierung nach dem Kriege ja in ihrer Hand: sie konnte die unselige Macht des preußischen Junkertums in Deutschland brechen, indem sie Hand an den großen Grundbesitz legte, auf dem die politische Macht der Junker beruhte. Die bürgerlichen Revolutionäre der großen französischen Revolution, die von keinen sozialistischen Ideengängen geleitet wurden, hatten gut verstanden, daß sie Frankreich von der politischen Vorherrschaft der Aristokratie und der Geistlichkeit nur befreien konnten, wenn sie die adligen Grundbesitzer enteigneten und ihnen damit die eigentliche Macht ihres politischen Einflusses entzogen. Allein die deutschen Sozialisten dachten nicht an eine solche Maßnahme, durch die man allein die kleinen Bauern an die Republik fesseln konnte, die später ihre ärgsten Feinde wurden. Das Ergebnis war, daß später zwei preußische Junker, der Sohn Hindenburgs und Franz von Papen, Hitler die Macht in die Hände spielten. Man dachte sogar nicht daran, das Vermögen der deutschen Fürsten anzutasten. Während die halbverhungerten Massen immer tiefer im Elend versanken, zahlte die republikanische Regierung den gewesenen Fürsten fabelhafte Summen als "Entschädigungen" und diensteifrige Gerichte sorgten dafür, daß jenen Parasiten kein Pfennig verloren ging. Die Hohenzollern allein beanspruchten eine Entschädigung von zweihundert Millionen Goldmark. Die Ansprüche sämtlicher deutschen Fürsten übertrafen die Dawes-Anleihe um das Vierfache. Wären die Führer der deutschen Arbeiterbewegung mit dem Vermögen und den Vorrechten der Junker und Fürsten nur halb so gründlich umgesprungen wie die Nazis, als sie den Arbeitern ihre Kassen und ihr sonstiges Eigentum stahlen, das nach Millionen zählte, so wäre Deutschland die Schmach des Dritten Reiches und der Welt die blutigste Katastrophe aller Zeiten erspart geblieben. Die Kommunistische Partei Deutschlands aber lebte nur von den Fehlern und Unterlassungssünden der Sozialdemokratie, ohne selbst einen schöpferischen Gedanken zu entwickeln. Sie war nie etwas anderes als das willenlose Organ der russischen Außenpolitik und fügte sich ohne Wimperzucken jedem Diktat von Moskau. In diesem Sinne entfachte sie den Glauben an die Unvermeidlichkeit der Diktatur unter jenem Teil der sozialistischen Arbeiterschaft, der bereits jedes Vertrauen zu der Sozialdemokratie verloren hatte. Sie entwickelte besonders unter der Jugend einen beispiellosen Fanatismus, der sie für jede vernünftige Beurteilung der Lage blind und taub machte. Ihr geräuschvoller Protest gegen die reaktionären Maßnahmen der Regierung trugen von Anfang an den Stempel der Unaufrichtigkeit und Heuchelei auf sich, denn man kann sich nicht mit ehrlichem Herzen für die Verteidigung der Freiheit einsetzen, wenn man selbst die Diktatur, das heißt die Aufhebung jeglicher Freiheit, erstrebt. Jedes Ziel verkörpert sich in seinen Mitteln. Der Despotismus der Methode entspringt stets dem Despotismus des Gedankens. Die Diktatur, welche die deutschen Kommunisten seit Jahren erstrebten, kam denn auch, aber sie kam von der anderen Seite und brachte sie selbst mit unter die Räder.

Es ist kein Zweifel für jeden ehrlichen Beobachter der heutigen Lage und der Ursachen, die sie herbeigeführt haben, daß das Jonglieren mit absolutistischen Begriffen im sozialistischen Lager nicht bloß die Widerstandskraft der sozialistischen Bewegung in vielen Ländern und besonders in Deutschland gebrochen, sondern auch der faschistischen Reaktion geistig Vorschub geleistet hat und noch leistet: Denn der Sozialismus wird frei sein oder er wird nicht sein!

Fußnoten:
[1] Das häßliche Wort "Gleichschaltung", das dem Nazijargon entstammt, wurde bereits vor der Entstehung des Dritten Reiches von Gewerkschaftsführern und Sozialisten in Deutschland sehr häufig gebraucht. In solche* Modeworten spiegelt sich nur allzuoft die Art des Denkens ab.
[2] Die Verfasser, wie später festgestellt wurde, waren Nicolas Bugnet und Pierre-Ignace Jaunez-Sponville.

Erstausgabe: Verlag Freie Gesellschaft, Darmstadt/Land 1950

Originaltext: http://www.twokmi-kimali.de/texte/Rocker_Absolutistische_Gedankengaenge_im_Sozialismus.htm