Das Leben von Albert R. Parsons

Schriftsetzer, im Alter von 39 Jahren zum Tod verurteilt

Ich, Albert R. Parsons, wurde am 24. Juni 1848 in Montgomery in Alabama geboren. Mein Vater Samuel Parsons stammte aus dem Bundesstaat Maine. Er heiratete in die Familie Tomkins-Broadwell aus New Jersey ein und ließ sich schon frühzeitig in Alabama nieder, wo er im Laufe der Jahre eine Leder- und Schuhfabrik gründete. Mein Vater besaß sehr viel Gemeinsinn und war als Philantrop bekannt. Er war Freidenker und bekleidete das höchste Amt in der Antialkoholikerbewegung von Louisiana und Alabama. Meine Mutter war eine gläubige Methodistin, die sehr ausgeprägte geistige Interessen hatte und weit und breit als kluge und aufrichtige Frau bekannt war. Ich hatte neun Geschwister. Meine Vorfahren gehörten zu den ersten Siedlern dieses Landes, die ersten Parsons landeten 1632 aus England kommend an der Narragansett Bay. Diese Familie Parsons und ihre Nachfahren haben in den sozialen, religiösen, politischen und revolutionären Bewegungen eine aktive und entscheidende Rolle gespielt. Es gibt über 90.000 Nachfahren der ursprünglichen Parsons-Familie in den Vereinigten Staaten.

Ich war noch keine 2 Jahre alt, als meine Mutter starb. Meinen Vater verlor ich mit 5 Jahren. Mein ältester Bruder, der sich nach seiner Heirat in Tyler in Texas niedergelassen hatte, wurde zu meinem Vormund bestimmt. In den Jahren 1851 bis 53 war er Eigentümer und Herausgeber des Tyler »Telegraph«. Zwei Jahre später zog unsere Familie nach Johnston nahe der texanischen Grenze. Hier lebten wir ungefähr drei Jahre auf einer Ranch und zogen dann nach Hill County, um dort eine Farm im Tal des Brazos River aufzukaufen. Durch mein Leben in diesem Grenzgebiet habe ich schon in jungen Jahren gelernt, beim Jagen und Reiten mit Gewehr und Pistole umzugehen und galt auf diesem Gebiet als Experte.

1859 ging ich nach Waco in Texas. Nachdem ich dort zuerst bei meiner Schwester, der Frau von Major Boyd, gewohnt hatte und zur Schule gegangen war, schloß ich bei der »Daily News« in Galveston einen Lehrvertrag über 7 Jahre ab, um das Druckerhandwerk zu erlernen. Ich arbeitete nicht nur als Setzerjunge, sondern gleichzeitig auch als Zeitungsbote. In anderthalb Jahren hatte ich mich vom Provinzler zum Städter entwickelt. Als 1861 die Rebellion der Sklavenhalter ausbrach, schloß ich mich, obwohl ich damals erst dreizehn Jahre alt war, einer örtlichen Kompanie von Freiwilligen an.

Gegen Ende des Krieges kehrte ich nach Waco in Texas zurück. Ich kam mit einem Mann ins Geschäft und tauschte ein gutes Maultier gegen ein 40 Morgen großes Kornfeld ein, das noch abzuernten war. Ich stellte eine Reihe ehemaliger Sklaven ein, zahlte ihnen einen anständigen Lohn (den ersten, den sie überhaupt erhielten), und wir brachten gemeinsam die Ernte ein. Aus dem Verkauf erhielt ich eine Summe, die gerade ausreichte, um für 6 Monate das Schulgeld für die Universität von Waco zu bezahlen. Danach arbeitete ich in einer Druckerei als Schriftsetzer. 1868 begann ich in Waco eine Wochenzeitung, »The Spectator«, herauszugeben. Ich vertrat in meiner Zeitung den Standpunkt, daß man die Kapitulationsbedingungen annehmen sollte und unterstützte die Maßnahmen, die die Rechte der farbigen Bevölkerung sichern sollten. Ich wurde Republikaner und ging in die Politik. Dadurch zog ich mir den Haß und die Verachtung vieler meiner früheren Kriegskameraden, Nachbarn und des Ku Klux Klan zu. Meine politische Karriere war voller Aufregungen und Gefahren. Ich betrieb Wahlpropaganda, um meine Überzeugungen zu verbreiten. Die Sklaven, die in großen Teilen des Landes gerade erst das Wahlrecht erhalten hatten, erkannten und verehrten mich als ihren Freund, während viele meiner früheren Verbündeten mich als Abtrünnigen und Verräter bezeichneten. Der »Spectator« konnte in einer so vergifteten Atmosphäre nicht lange überleben.

Im Jahre 1869 wurde ich Reisekorrespondent und Bevollmächtigter des Houston »Daily Telegraph« und bereiste zu Pferd die nordwestlichen Bezirke von Texas. Auf einer Fahrt durch den Distrikt Johnson traf ich zum ersten Mal das reizende spanische Mädchen indianischen Ursprungs, das drei Jahre später meine Frau wurde [1]. Ich hielt mich so lange wie möglich in ihrer Nähe auf und setzte schließlich meine Reise mit recht gutem Erfolg fort.

1870, im Alter von 21 Jahren, wurde ich stellvertretender Steuereinschätzer der Vereinigten Staaten. Etwa ein Jahr später wählte man mich zum Schriftführer des Senats von Texas, bald darauf zum hauptamtlichen Kassierer der Steuerbehörde der U.S. A. in Austin. Diese Position hatte ich bis 1873 inne und erfüllte meine Aufgaben gewissenhaft. Im selben Jahr begleitete ich eine Gruppe von Zeitungsverlegern auf einer Fahrt durchs Land. Am Ende dieser Reise beschloß ich, mich in Chicago niederzulassen. Ich hatte im Herbst 1872 in Austin geheiratet und traf mich mit meiner jungen Frau in Philadelphia, von wo aus wir dann gemeinsam nach Chicago fuhren. Ich wurde sogleich Mitglied der Buchdruckergewerkschaft Nr. 16 und arbeitete eine Zeit lang inoffiziell für die »Inter-Ocean«, bevor ich offiziell bei der »Times« angestellt wurde. Dort blieb ich etwa 4 Jahre.

Um 1874 begann ich mich mit der »Arbeiterfrage« zu beschäftigen. Die Arbeiterschaft von Chicago machte damals gerade den Versuch, die »Relief and Aid Society« zu zwingen, über den Verbleib riesiger Geldsummen - es handelte sich um mehrere Millionen Dollar, die den Armen zugute kommen sollten - Auskunft zu geben. Das Geld war durch die Spenden der Bevölkerung zusammengekommen, um die durch die große Feuersbrunst von 1871 [2] entstandene Not der Bewohner ein wenig zu lindern. Die Arbeiter behaupteten, daß die Gesellschaft das Geld nicht im Sinne der Spender verwandt habe und daß es von Spekulanten für ihre Zwecke mißbraucht worden sei. Alle Zeitungen der Stadt ergriffen Partei für die Gesellschaft und verurteilten gleichzeitig die unzufriedenen Arbeiter als »Kommunisten, Räuber, Faulenzer« etc. Ich begann mich mit dieser Sache etwas eingehender zu beschäftigen und kam zu dem Schluß, daß die Vorwürfe der Arbeiter berechtigt waren. Darüber hinaus stellte ich fest, daß die Reichen die Presse als Sprachrohr benutzt hatten, um ihre Machtposition gegenüber den Armen genauso zu mißbrauchen, wie es die letzten Sklavenhalter gegenüber den freigelassenen Sklaven getan hatten. Aus dieser Zeit stammt mein Interesse und mein Engagement für die Arbeiterbewegung. Der Wunsch, mehr darüber zu erfahren, brachte mich in Berührung mit Sozialisten und ihren Schriften. Sie waren damals die einzigen, die gegen die von den reichen Unternehmern erzwungene Verelendung und die damit zusammenhängenden Übel wie Unwissenheit, Trunksucht und Kriminalität protestierten und Wege zu ihrer Abschaffung aufzeigten.

Damals gab es in Chicago nur sehr wenige Sozialisten oder »Kommunisten«, wie die Zeitungen sie mit Vorliebe nannten. 1876 fand ein Kongreß organisierter Arbeiter in Philadelphia statt. Ich verfolgte sehr aufmerksam seinen Verlauf. Es kam zu einer Spaltung zwischen Konservativen und Radikalen. Letztere zogen sich zurück und gründeten die »Arbeiterpartei der Vereinigten Staaten«. Im vorausgegangenen Jahr war ich der »Sozialdemokratischen Partei von Amerika« beigetreten. Die beiden Parteien vereinigten sich ein Jahr später zur »Sozialistischen Arbeiterpartei von Nordamerika«.

Diese Organisation wurde von Anfang an von den Monopolkapitalisten unter Druck gesetzt und ihre Mitglieder in den kapitalistischen Presseorganen gebrandmarkt. Ich war überrascht und gleichzeitig so erbittert, daß ich den Drang verspürte, mich direkt an das Volk zu wenden, um ihm die Ziele und Prinzipien zu erläutern und näher zu bringen, denn ich war fest davon überzeugt, daß sie gerecht und notwendig waren. So begann ich mich mit aller Kraft der Aufklärungsarbeit unter meinen Kollegen zu widmen. Zuerst ging es um die ungebildeten und uneinsichtigen Lohnarbeiter, die uns nicht verstanden; dann um die besser gestellten Arbeiter, die ihre Kollegen ausbeuteten und unsere Interessen nicht vertraten. So wurde ich, ohne es selbst zu merken, ein Arbeiteragitator und zog mir den geballten Haß der Kapitalisten zu. Aber diese Beschimpfungen und Verleumdungen konnten mich in meiner Hingabe an das große Werk der sozialen Befreiung nur noch bestärken.

1877 kam es zu dem großen Eisenbahnerstreik. Am 21. Juli fand auf der Market Street in der Nähe von Madison eine Massenveranstaltung statt, zu der etwa 30.000 Arbeiter kamen. Ich wurde beauftragt, zu ihnen zu sprechen. In meiner Rede warb ich für das Programm der Arbeiterpartei, das eine allgemeine staatliche Kontrolle über alle Produktions-, Transport-, Verkehrs- und Kommunikationsmittel vorsah und sie den Händen und der Aufsicht von Privatpersonen, Korporationen, Monopolen und Syndikaten entreißen wollte. Um dieses Ziel zu erreichen, argumentierte ich, sei es zunächst wichtig, daß der Lohnarbeiter der Arbeiterpartei beitrete. Während der Veranstaltung herrschte große Begeisterung unter den Zuhörern, jedoch keine Disziplinlosigkeit. Als ich am nächsten Tag wie gewöhnlich zu meiner Arbeit in die Druckerei der »Times« ging, fand ich meinen Namen aus der Liste der Angestellten gestrichen. Man hatte mich entlassen und auf die schwarze Liste gesetzt.

Noch am selben Abend sprach ich in der Setzerei der »Tribüne« vor, die sich im 5. Stock befand. Mir ging es darum, eine Nachtarbeit zu finden und gleichzeitig mit Männern meines Berufes zusammenzuarbeiten, denn ich hatte das Gefühl, daß sie mit mir sympathisierten. Die Arbeit begann um 7 Uhr abends. Es ging auf 8 Uhr zu, und ich unterhielt mich gerade mit dem Vorsitzenden des Exekutivausschusses unserer Gewerkschaft über den Streik und fragte mich, wie das alles wohl enden würde, als mich plötzlich jemand von hinten packte, mich herumriß und fragte, ob ich Parsons hieße. Zwei Männer hielten mich rechts und links fest und begannen mich zur Tür zu schleifen. Es waren Fremde. Ich protestierte. Sie stießen Flüche zwischen den Zähnen hervor und begannen mich die Treppe hinunterzustoßen. Zuvor hatte mir einer der Männer eine Pistole an den Kopf gesetzt und gemeint: »Ich hätte nicht übel Lust, dir eine Kugel durch den Kopf zu jagen.« Der andere sagte: »Halt's Maul, oder wir werfen dich gleich aus dem Fenster!« Als wir im Erdgeschoß des Hauses angelangt waren, hielten sie an und sagten: »Hau ab! Sollten wir dich jemals wieder hier sehen...«

Bis zum Ausgang waren es nur ein paar Schritte, und ich öffnete die Tür und trat ins Freie. An den beiden folgenden Tagen versammelten sich die Streikenden aus eigenem Antrieb und ohne ersichtlichen Grund an den verschiedensten Plätzen der Stadt. Sie wurden zusammengeknüppelt, beschossen und von Miliz und Polizei auseinandergetrieben. In dieser Nacht wurde eine friedliche Versammlung von 3.000 Arbeitern in der Market Street zerschlagen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Über hundert Polizisten waren auf diese friedliche Versammlung angesetzt worden. Sie feuerten Schüsse ab und schlugen von zwei Seiten auf die Arbeiter ein. Mitglieder der Drucker-, Eisengießer- und anderer Gewerkschaften, die schon seit Jahren regelmäßig wöchentliche oder monatliche Treffen abhielten, fanden nun die Eingänge zu ihren Versammlungsräumen durch Polizisten abgeriegelt, und man erklärte ihnen, daß alle derartigen Zusammenkünfte vom Polizeichef verboten worden seien. Alle Massenveranstaltungen und Gewerkschaftstreffen wurden von der Polizei gesprengt. Es ist sogar vorgekommen, daß die Polizei bei einer Versammlung der Möbelarbeiter-Gewerkschaft, auf der mit den Unternehmern über den Achtstundentag verhandelt werden sollte, die Türen aufbrach, gewaltsam eindrang, die Arbeiter zusammenknüppelte und das Feuer auf sie eröffnete, als sie Hals über Kopf die Flucht ergriffen. Sie töteten einen Arbeiter und verletzten mehrere schwer. Am folgenden Tag schoß das 1. Regiment der Nationalgarde von Illinois am Viadukt in der 16. Straße in eine Ansammlung von mehreren tausend Männern, Frauen und Kindern, die das Geschehen nur am Rande verfolgt und sich zu keinem Zeitpunkt an dem Streik beteiligt hatten. Mehrere Personen wurden getötet.

Nach dem Eisenbahnerstreik und meiner Entlassung stand ich etwa zwei Jahre lang auf der schwarzen Liste und war nicht mehr in der Lage, irgendeine Anstellung zu finden. Meiner Familie fehlte es am Notwendigsten zum Leben. Ich wurde von den Arbeitern Chicagos dreimal in den Stadtrat gewählt, zweimal zum Bezirkssekretär und einmal für den Kongreß nominiert. Die Arbeiterpartei konnte innerhalb von vier Jahren ihren Stimmenanteil von 6.000 auf 12.000 verdoppeln. 1878 konstituierte sich hauptsächlich durch meine Initiative und Bemühungen die Gewerkschaftsvereinigung von Chicago und Umgebung. Ich war ihr erster Präsident und wurde auch in dieses Amt wiedergewählt. Ich bin nachdrücklich dafür eingetreten, daß der Kampf für den Achtstundentag in die Gewerkschaften getragen wurde.

1879 war ich Delegierter auf dem nationalen Kongreß der Sozialistischen Arbeiterpartei in Allegheny City, Pennsylvania, und wurde als Kandidat für die amerikanischen Präsidentschaftswahlen nominiert. Ich verzichtete auf diese Ehre, denn ich hatte damals noch nicht das vorgeschriebene Alter von 35 Jahren. Aber es war das erste Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten, daß ein Arbeiter von Arbeitern für dieses Amt nominiert wurde.

In den Wahlen vom Frühjahr und Herbst der Jahre 1878 und 1880 begannen die Politiker damit, die Wahlurnen mit gefälschten Stimmzetteln zu füllen und andere ungeheure Angriffe gegen die Partei zu führen. Damals wurde mir die Wirkungslosigkeit politischer Reformen klar. Viele Arbeiter verloren allmählich ihren Glauben an die Macht des Stimmzettels und an den Schutz durch das Gesetz für die Armen. Einige sagten, daß politische Freiheit ohne die ökonomische nur eine hohle Phrase sei. Andere behaupteten, daß die Besitzlosen gegenüber den Besitzenden sowieso kein Stimmrecht hätten, denn wenn der Verdienst eines Menschen von einem anderen kontrolliert wird, dann kann dieser andere auch seine Wahlentscheidung beeinflussen. Es setzte sich die Überzeugung durch, daß der Staat mit der Regierung und ihren Gesetzen ausschließlich die Interessen der Kapitalisten vertrete und schütze, daß die Hauptfunktion jeder Regierung darin bestünde, die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters von den Besitzern der Produktionsmittel aufrechtzuerhalten.

1880 zog ich mich von jeglichen politischen Aktivitäten in der Arbeiterpartei zurück, denn ich war zu der Einsicht gelangt, daß die zu lange Arbeitszeit zusammen mit den niedrigen Löhnen praktisch auf den Entzug des Wahlrechts hinauslief. Sie beraubte die Arbeiter als Klasse der notwendigen Zeit und Mittel, um politische Aktionen zu organisieren oder die klassenspezifische Gesetzgebung abzuschaffen. Darüber hinaus hatte mich die Mitarbeit in der Arbeiterpartei gelehrt, daß Bestechlichkeit, Einschüchterung, Heuchelei, Korruption und Terror aus eben den Bedingungen erwachsen, die die Werktätigen arm und die Müßiggänger reich gemacht haben. Deshalb setzte ich mich vor allem dafür ein, die Arbeitszeit auf einen normalen Arbeitstag zu verkürzen, damit die Lohnarbeiter die Möglichkeit erhielten, ihre weiterführenden Interessen zu verwirklichen. Mehrere Einzelgewerkschaften einigten sich, mich in verschiedene Bundesstaaten zu schicken, um den Arbeiterorganisationen des Landes die Frage des Achtstundentages vorzulegen. Im Januar 1880 sandte mich die »Eight-Hour League of Chicago« als Delegierten zur nationalen Konferenz der Arbeitsreformer nach Washington. Die Versammlung verabschiedete eine Resolution, die ich vorgelegt hatte, und die den Kongreß der Vereinigten Staaten darauf hinweisen sollte, daß die Gesetze zum Achtstundentag zwar schon vor Jahren erlassen, bis auf den heutigen Tag aber nicht verwirklicht worden waren.

In eben dieser Zeit fanden viele Diskussionen statt, in denen es hauptsächlich um das Recht auf Eigentum und um die Rechte vom Mehrheiten und Minderheiten ging. Im Laufe dieser Auseinandersetzungen entstand eine neue Organisation, die »International Working People's Association«. Ich war 1881 als Delegierter auf ihrem Gründungskongreß und 1883 in Pittsburgh, wo sie als Teil der »Internationale« auftrat, die schon in Europa Wurzeln geschlagen hatte und ursprünglich auf dem Weltkongreß der Arbeiter 1864 in London gegründet worden war. Nichts verdeutlicht die Ziele der Internationale besser als das Manifest des Pittsburgher Kongresses, dessen Forderungen ich hier zitieren möchte:

»Was wir erreichen wollen ist unmißverständlich dies:

1. Die Zerstörung der bestehenden Klassenherrschaft mit allen Mitteln, d.h. durch machtvolles, unermüdliches, revolutionäres und weltweites Handeln.
2. Die Errichtung einer freien Gesellschaft, die auf einer kooperativen Organisation der Produktion beruht.
3. Freien Austausch gleichwertiger Produkte von und zwischen Produktionsgemeinschaften ohne Zwischenhandel und Profitmacherei.
4. Ein Schulsystem auf säkularer, wissenschaftlicher und gleichberechtigter Grundlage für beide Geschlechter.
5. Gleiche Rechte für alle ohne Unterschied von Geschlecht und Rasse.
6. Die Regelung aller öffentlichen Angelegenheiten durch freie Absprachen zwischen autonomen (unabhängigen) Kommunen und Assoziationen auf föderalistischer Grundlage.

Wer immer mit diesem Ideal übereinstimmt, der ergreife unsere ausgestreckten Hände! Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!«

An all diesen Dingen hatte ich ein aktives, persönliches Interesse. Am 1. Oktober 1884 gründete die »Internationale« in Chicago eine Wochenzeitung, den »Alarm«. Ich wurde auf den Posten des Herausgebers gewählt und blieb es bis zur Beschlagnahmung und Unterdrückung der Zeitung durch die staatlichen Behörden am 5. Mai 1886, im Anschluß an die Tragödie vom Haymarket.

Im Jahre 1881 hatte die kapitalistische Presse damit begonnen, uns als Anarchisten zu brandmarken und als Feinde jeglicher Gesetze und Regierungen zu denunzieren. Sie warf uns vor, »Ruhe und Ordnung« zu hassen und Streit und Verwirrung zu stiften. Überzeugt von der Richtigkeit unserer Ziele ließen wir uns jedoch nicht beirren. Wir waren bereit, zu arbeiten und abzuwarten, bis die Zeit und die Ereignisse unserer Sache Recht geben würden. Allmählich begannen wir uns selbst als Anarchisten zu bezeichnen und diesen Namen, der doch ursprünglich als Schimpfwort gemeint war, zu lieben und mit Stolz zu verteidigen. Was ist schon ein Name? Aber manchmal drücken Namen Ideen aus - und Ideen sind alles.

Die Anarchie wird die Menschheit von allen Ketten befreien und sagen: »Geht! Ihr seid frei! Nehmt alles in Besitz, genießt alles!« Wir sagen nicht zu den Lohnsklaven: »Ihr sollt, Ihr müßt Gewalt anwenden.« Nein. Warum sollten wir so etwas sagen, wo wir doch genau wissen, daß sie einfach so handeln werden müssen; daß sie gezwungen sein werden, mit Gewalt vorzugehen, um sich gegen diejenigen zu verteidigen, die sie unterdrücken, erniedrigen, versklaven und vernichten. Millionen von Arbeitern sind heute schon unbewußt Anarchisten. Unter dem Zwang einer Sache, deren Auswirkungen sie zwar spüren, aber die sie nicht vollkommen begreifen, bewegen sie sich unbewußt und unaufhaltsam auf die soziale Revolution zu. Geistige Freiheit! Politische Gleichheit! Ökonomische Unabhängigkeit!

Eine genaue Analyse der Gesetze des Klassenkampfes zeigt, daß der Kampf für den Achtstundentag zum Scheitern verurteilt sein mußte. Die Internationale hat ihn trotzdem unterstützt, und zwar weil es der Kampf einer Klasse gegen eine andere war - und daher historisch, evolutionär und notwendig. Und zweitens konnten wir nicht abseits stehen, um von unseren Brüdern nicht mißverstanden zu werden. So unterstützten wir diesen Kampf nach besten Kräften. Ich war ständig Akkreditierter der Handwerker- und Arbeitergewerkschaften in der zentralen Gewerkschaftsunion. Ich sprach im Namen von 20.000 organisierten Arbeitern Chicagos und tat alles, was in meiner Macht stand, um den Kampf für den Achtstundentag voranzutreiben. Ich fürchtete, daß es zwischen den Autoritäten, die die Unternehmer vertraten, und den Lohnarbeitern, die nur sich selbst vertraten, zu Konflikten kommen würde. Ich wußte, daß die schutzlosen Männer, Frauen und Kinder unterliegen würden, wenn man ihnen mit Entlassungen, schwarzen Listen und Aussperrung drohen würde, und daß die Furcht vor Hunger und Elend, vor den Bajonetten der Miliz und den Schlagstöcken der Polizei schließlich zu groß sein würde. Ich setzte mich nicht für die Anwendung von Gewalt ein, aber ich verurteile die Kapitalisten, die die Arbeiter gewaltsam in Abhängigkeit zu halten versuchen, und erklärte, daß ein solches Vorgehen die Arbeiter dazu zwinge, dieselben Mittel zu ihrer Selbstverteidigung anzuwenden.

Wer ist nun für die Tragödie auf dem Haymarket verantwortlich zu machen? Sie haben die Meinung der herrschenden Klasse gehört, ich spreche hier für das Volk, für die Unterdrückten. Die Tragödie auf dem Haymarket war das unmittelbare Ergebnis des blutrünstigen Diensteifers des Polizeiinspektors Bonfield. Aber Inspektor Bonfield war bei seinem Verbrechen nur ein williger Mittelsmann und beileibe nicht der Hauptakteur. Er hatte unbeschränkte Vollmachten und unterwarf sich den Befehlen der Geldaristokratie, seiner Auftraggeber, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit der Arbeiter zu unterdrücken.

Lassen wir die Verantwortlichkeit für die Tragödie auf dem Haymarket dort, wo sie hingehört - bei den Monopolkapitalisten, den Aktiengesellschaften und der privilegierten Klasse, die das Volk beherrscht und ausraubt; und die die Arbeiter, wenn sie sich beklagen, durch Entlassungen, schwarze Listen, Verhaftungen, Gefängnis und Hinrichtungen in die Knie zu zwingen versucht. Das Geschehen auf dem Haymarket war zweifellos eine umfassende monopolkapitalistische Verschwörung, die von New York ausging und von Pinkerton-Gangstern eingefädelt wurde. Ihr Ziel war die Zerschlagung des Kampfes für den Achtstundentag. Sie hatten Chicago als geeignetsten Platz ausgesucht, weil es das Zentrum der Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten war.

Wie läßt sich diese Verschwörung nachweisen, der es gelungen ist, die Bewegung zu zerschlagen und uns dem Henker auszuliefern? Vor dem 1. Mai, in der zweiten Aprilhälfte des Jahres 1886, äußerte sich die New York »Herald« zu dieser Frage: »Die Verkürzung des Arbeitstages um zwei Stunden würde für das in die Industrie investierte Kapital und für das Aktienkapital einen Verlust von mehreren Millionen Dollar bedeuten.« Was bedeutet das? Es bedeutet, daß es für die New Yorker und Chicagoer Effektenbörsen, Handelskammern und den Handel das Gebot der Stunde war, die Stabilität des Marktes zu sichern und die falschen, amtlich notierten Werte an den Aktienbörsen aufrechtzuerhalten, die plötzlich unter dem lähmenden Einfluß der drohenden Forderung der gesamten Arbeiterklasse nach dem Achtstundentag von einem Tag zum andern sanken. Mehrere hundert Millionen Dollar standen auf dem Spiel. Was tun, um sie zu retten?

Das Naheliegendste war, die Kämpfe für den Achtstundentag zu unterbrechen, und die New York »Times« hatte sofort einen Plan. Genau vier Tage vor dem großen nationalen Streik und nur eine Woche vor der Haymarket-Tragödie veröffentlichte die »Times«, das führende Presseorgan der Eisenbahn-, Banken-, Telegrafen- und Telefonmonopole in ihrer Ausgabe vom 25. April 1886 einen Artikel über die Marktsituation, die schlechte Wirtschaftslage und die beunruhigenden Symptome:

»Die Frage des Streiks ist gegenwärtig natürlich das Hauptproblem und in vieler Hinsicht äußerst unerfreulich. Eine einfache Möglichkeit, so wie sie auch mancherorts nachdrücklich gefordert wird, besteht darin, jeden streikenden Arbeiter der Konspiration anzuklagen und ihn ohne Umschweife hinter Schloß und Riegel zu bringen. Dieses Vorgehen würde der Arbeiterklasse zweifellos einen heilsamen Schock versetzen. Man könnte auch die Arbeiterführer herausgreifen und an ihnen ein Exempel statuieren, um den Rest abzuschrecken und einzuschüchtern.«

Diese Ansicht fand bei der New York »Tribüne« ein lebhaftes Echo und sie schrieb: »Das Beste wäre, die Arbeiter in einen offenen Widerspruch zum Gesetz zu treiben.«

Die Sprachrohre der Monopole, einschließlich der Chicagoer Presse, stimmten in diesen Ruf mit ein und vertraten diesen diabolischen Plan. Es mußte irgendetwas geschehen, um falsche Anschuldigungen gegen die Anführer erheben zu können.

Am 1. Mai beginnt der große Streik. In Chicago befinden sich etwa 40.000 Arbeiter im Ausstand. Chicago ist die Hochburg, 40.000 weitere Arbeiter drohen sich den Forderungen anzuschließen. Am Donnerstag, den 4. Mai, wird auf dem Haymarket eine Massenveranstaltung zum Achtstundentag abgehalten. Jemand wirft eine Bombe, mehrere Polizisten werden getötet, die Anführer verhaftet und der Verschwörung und des Mordes angeklagt. Sieben von ihnen werden zum Tode verurteilt.

Was folgt daraus? Die ganze Sache ist so abgelaufen, wie die Monopolkapitalisten es vorausgesagt hatten. Der Streik zur Durchsetzung des Achtstundentages ist zerschlagen worden und die Bewegung ist im ganzen Land zusammengebrochen. In einem Kommentar zur wirtschaftlichen Lage, der telegrafisch über »Associated Press« in allen Chicagoer Zeitungen am 8. Mai veröffentlicht wurde, sagte Bradstreet in seinem Wochenrückblick: »Von den 325.000 Arbeitern, die für den Achtstundentag gekämpft haben, konnten 65.000 ihre Forderungen durchsetzen. Chicago war das Zentrum der Streikbewegung, aber die Aktivitäten haben in den letzten Tagen im ganzen Land nachgelassen. Die Aktienwerte waren in den ersten beiden Wochentagen (dem 3. und 4. Mai, als die Unruhen bei McCormick und auf dem Haymarket waren) sehr gefallen, sind jedoch in den letzten Tagen wieder angestiegen.«

Die Streiks für den Achtstundentag sind nach dem Vorfall auf dem Haymarket praktisch beendet. Das gewünschte Ziel ist erreicht. Die Aktienkurse und Wertpapiere sind gerettet. Das wurde mit der fatalen Haymarket-Bombe erreicht.

Wer hat die Bombe geworfen? Wer stand dahinter? John Philip Deluse, der in Indianapolis einen Saloon besitzt, sagte unter Eid aus, daß am Samstag, den 1. Mai, ein Fremder in seinen Saloon gekommen sei. Er habe etwas zu trinken bestellt und dabei eine Tasche, die er mit sich herumtrug, auf den Schanktisch gestellt. Der Unbekannte habe gesagt, daß er aus New York käme und auf dem Weg nach Chicago wäre. Er habe von den Arbeiterunruhen gesprochen. Auf seine Tasche zeigend habe er gemeint: »Ich habe da etwas drin, was funktionieren wird. Warten Sie ab, Sie werden davon hören.« Beim Hinausgehen habe er sich an der Tür noch einmal umgedreht, seine Mappe hochgehalten, erneut darauf gedeutet und gesagt: »Sie werden bald davon hören!«

Die Voraussage des Mannes sollte sich erfüllen. Man hörte es auf der ganzen Welt. Die Beschreibung dieses Mannes stimmt genau mit der Aussage des Zeugen Burnett überein, der den Mann gesehen hatte, wie er auf dem Haymarket die Bombe warf.

Die Anführer wurden gemeinsam mit vielen anderen, die überhaupt nicht auf dem Haymarket waren, verhaftet und verurteilt. Das Einzige, was bewiesen werden konnte und was wir auch nicht leugnen wollen, ist die Tatsache, daß wir Ideen vertreten und eine Lehre verkünden, die sich als gefährlich für die Schandtaten der privilegierten und gesetzgebenden Klassen und für ihre Niedertracht erweist, denen wir mit den Worten der alten Propheten zurufen: »Wohlan nun, Ihr Reichen, weinet und heulet über das Elend, das über Euch kommen wird. Euer Reichtum ist verfault, Eure Kleider sind von Motten zerfressen. Euer Gold und Silber verrostet, und ihr Rost wird wider Euch Zeugnis geben und wird Euer Fleisch fressen wie Feuer. Ihr habt Schätze gesammelt am Ende der Tage.« Jakobus V., 1-3.

Fußnoten:
[1] Anarchistenjäger Captain Schaack gibt in seinem Buch folgende Beschreibung von Lucy Eldine Parsons, geb. Gonzalez: »Mrs. Parsons hatte sich schon frühzeitig mit den Ansichten ihres Mannes identifiziert und mit einigen anderen eine anarchistische Frauengruppe ins Leben gerufen. Sie kann wirksame Ansprachen halten und hatte einen Hauptanteil an dem Anstieg der Mitgliederzahl in ihrer Gewerkschaft. Auf die Frage nach ihrer Geburt, bestand sie darauf, mexikanischer Abstammung zu sein, ohne Negerblut in ihren Adern. Aber ihr dunkelhäutiger Teint und ihre ausgesprochen negroiden Gesichtszüge geben ihren Behauptungen nicht recht. Seit der Exekution ihres Mannes hat sie Reden in verschiedenen Teilen der Vereinigten Staaten gehalten und sie ist noch gewalttätiger denn je.«
[2] Die große Feuersbrunst vom 8. Oktober 1871 zerstörte 17.500 Häuser völlig und machte 100.000 Einwohner obdachlos. Es wurden daraufhin Unterstützungsfonds eingerichtet.

Originaltext: Karasek, Horst: Haymartket! 1886 – Die deutschen Anarchisten von Chicago. Reden und Lebensläufe. Wagenbachs Taschenbücherei 11, Verlag Klaus Wagenbach 1975. Digitalisiert von www.anarchismus.at