Josef Peukert - Erinnerungen eines Proletariers

Josef Peukert - Kinderarbeit als Glasmacher (1855-70)

Die Erinnerungen aus meiner frühesten Jugendzeit sind traurige Bilder des Proletarierelends, wie sie in tausendfältigen Formen in der modernen Gesellschaft überall zu Tage treten. Bitterste Not und Entbehrung verursachten den frühen Tod meiner Mutter durch die schreckliche Proletarierkrankheit, welche zwei Fünftel der Bevölkerung meiner Heimat dahinraffte, obwohl der ganze Distrikt, im Isergebirge und den Ausläufern des Riesengebirges, von Natur aus ein wahrer Luftkurort für Schwindsüchtige sein sollte. Allein die Glasindustrie, auf welche neun Zehntel der Bevölkerung in den Tälern und Bergen für ihren Lebensunterhalt angewiesen sind, fordert ununterbrochen ihre Opfer, speziell unter den «Schleifern» und «Bläsern». Die Produkte, die in Gestalt von Perlen, Prismen, Knöpfen, Broschen, Ohrgehängen und sonstigem Aufputz für Frauen, Kinder und Männer in der ganzen Welt verbraucht werden, lassen nicht erkennen, welche unendliche Summen von Leiden, Elend und Menschenleben darin krystallisiert glitzern. Besonders in Zeiten geschäftlicher Depression, wenn die Glasarbeiter nicht das Nötigste zum Leben verdienen, wie es gerade in meiner frühen Kindheit der Fall war, wirkt die Schwindsucht entsetzlich.

Mein Vater, an dem ich trotz seiner übergroßen Strenge mit zärtlicher Liebe hing, war ein unermüdlich fleißiger und freisinniger Mann, welcher damals nicht im Stande war, genug zum Lebensunterhalt der Familie zu verdienen. Sowohl die kranke Mutter, wie ich im Alter von 6 Jahren, mußten vom frühen Morgen bis in die späte Nacht arbeiten, um einige Kreuzer dazu zu verdienen. Später, als die Mutter schon gestorben, und ich ungefähr 10 Jahre alt war, hoben sich die Geschäfte, mein Vater machte sich selbständig, schaffte von 4 Uhr morgens bis 9 Uhr abends, und ich mußte desgleichen tun. Nach vollendetem 11. Lebensjahre wurde ich trotz allen Sträubens aus der Schule genommen, um die verschiedenen Zweige des Geschäftes zu erlernen. Meine Lern- und Wißbegierde war so groß, daß ich so etwas wie «Schulschwänzen» gar nicht kannte; und ich erinnere mich, daß ich wiederholt in mit Lumpen zusammengehaltenen Schuhen im tiefsten Schnee noch zur Schule ging, um ja keine Stunde zu versäumen; und es war das schrecklichste Leid für mich, wenn ich einmal aus einem triftigen Grunde nicht zur Schule durfte.

So kam es auch, daß ich mit 11 Jahren meinen Altersgenossen voraus und in der damals noch dreiklassigen Dorfschule kaum noch viel zulernen konnte. Aber ich wollte auf eine höhere Schule, am liebsten «studieren», wovon mein Vater jedoch nichts wissen wollte. Seine Meinung war, ich sollte vor allen Dingen arbeiten lernen, ein tüchtiger Arbeiter werden, nebenbei könne ich - wenn ich fleißig sei - noch Privatunterricht nehmen, um meine Schulkenntnisse zu erweitern, dabei blieb es. Gleich meinem Vater arbeitete ich im Sommer von 4 Uhr, im Winter von 5 Uhr morgens bis 8 und 9 Uhr abends, soweit es meine noch so kindlichen Kräfte erlaubten; und durfte wöchentlich zweimal abends und Sonntags einen Privatlehrer besuchen, der mich in die Geheimnisse der Mathematik, Buchführung, Korrespondenz usw. einweihen sollte.


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Josef Peukert - Aufklärung und Klassenkampf (1874)

In Hannover hörte ich zum ersten Male einen sozialdemokratischen Redner, dessen Ausführungen einen tiefen Eindruck auf mich machten. Ein Gehilfe, der mich in die Versammlung mitgenommen, suchte mich darin weiter zu informieren; ich konnte mich aber nicht viel an der Bewegung beteiligen, da ich die Abendschulen besuchte, konnte also höchstens ab und zu eine öffentliche Versammlung besuchen, aber ich fühlte mich gewissermaßen instinktiv zu diesen Ideen hingezogen.

Im Jahre 1874 wurde ich irrtümlicherweise, von meiner Heimatsbehörde als «Stellungspflichtiger» nach Hause berufen. Bei meinem Eintreffen stellte sich der Irrtum heraus, ich war 1855 geboren, also ein Jahr zu früh ausgeschrieben worden. Seit meiner Abwesenheit hatten sich aber auch in meiner Heimat verschiedene Bildungs-, Fach- und Lese-Vereine mit sozialdemokratischen Tendenzen gebildet, denen ich mich sofort mit allem Eifer jugendlicher Begeisterung anschloß, und von da an datiert meine aktive Teilnahme an der Arbeiterbewegung.

Diese Vereine waren echte und rechte Arbeitervereine, in welchem dem Arbeiter seine Menschenwürde zum Bewußtsein gebracht, sein selbständiges Denken und Fühlen gepflegt und entwickelt, sein Erkennen und Wissen in früher ungeahnter Weise gehoben wurde. Was die deutsche Literatur an aufklärenden und belehrenden Schriften bot, wurde von den Vereinen angeschafft, den Mitgliedern zur freien Benutzung zur Verfügung gestellt, durch Vorträge, Diskussionen und sachliche Unterrichtsstunden popularisiert und verdaulich gemacht; so daß sich in kurzer Zeit eine Menge agitatorische Kräfte ausbildeten, welche die ganze Bewohnerschaft des Fichtelgebirges aus ihrer gewohnten Gleichgültigkeit und geistigen Lethargie aufrüttelten.

Dabei war jedweder Parteigeist oder Parteikultus gänzlich unbekannt. Die Bewohner meiner Heimat bildeten ein jungfräuliches Menschenmaterial, welches bislang allen politischen und Parteikämpfen fernstehend, den Sozialismus als eine Humanitätsidee auffaßte, in welcher Wahrheit und Recht die Pole bilden, um welche sich das Tun und Lassen aller Menschen zu drehen habe. Das hauptsächlichste Bestreben fast jedes Einzelnen war daher, sich selbst soviel als möglich von allen Vorurteilen und geistigen Schranken zu befreien und sich so für einen wahrhaft freien Gesellschaftszustand allgemeiner Menschenverbrüderung vorzubereiten. Wir alle hofften diesen Gesellschaftszustand bald zu erreichen; nach unserer kindlich naiven Meinung bedurfte es ja blos genügender «Aufklärung».

Wohl merkten wir den Widerstand, der diesen Bestrebungen von Seiten der Machthaber entgegengesetzt wurde; allein von der Fülle von Bosheit, Tücke, Grausamkeit und Niedertracht, mit welcher gerade diese edlen Bestrebungen bekämpft werden, hatten wir alle keine rechte Ahnung. Trugen wir uns doch mit der Hoffnung, daß gerade die «gebildetere» Klasse, also die Bourgeoisie vor allen Dingen die Gerechtigkeit der sozialistischen Ideen erkennen und selbstverständlich für deren Verwirklichung eintreten werde. Doch sehr bald wurden wir durch die praktische Erfahrung eines Besseren belehrt.

Für mich gab es keine freie Minute mehr, in welcher ich nicht mit der ganzen Glut jugendlichen Feuereifers mein Wissen zu bereichern und das Gewonnene wieder Andern mitzuteilen gesucht hätte. [...]

In kurzer Zeit machten sich im ganzen Fichtelgebirge die Folgen unserer unermüdlichen Propaganda bemerkbar. Die Kirchen blieben selbst an Festtagen leer; fast bei jeder Kindtaufe, Trauung und Begräbnis kam es zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Geistlichkeit und schließlich zu Massenaustritten aus der Kirchengemeinschaft. Die Pfaffen waren in heller Verzweiflung. Aber auch die Behörden begannen uns zu drangsalieren, obwohl wir uns nicht die geringste Ungesetzlichkeit zu schulden kommen ließen. Schließlich kam es aber auch zu ernsten Konflikten mit den Arbeitgebern, welche unseren Illusionen von der friedlichen Entwickelung ein baldiges Ende machten.

Diesen, speziell den Großkapitalisten, war unsere Bewegung schon längst ein Dorn im Auge und sie gedachten die Arbeiter mit Hilfe der Behörden in festere Fesseln zu schmieden, indem sie dieselben materiell in ein größeres Abhängigkeitsverhältnis zu bringen suchten. Bemerkt sei hierbei, daß sich die Arbeiter der Glasindustrie zu damaliger Zeit und zum Teil heute noch eines sonst anderwärts ungekannten Maßes persönlicher Freiheit ihren Arbeitgebern gegenüber erfreuten. Das sollte nun mit einem Male anders werden. Die Fabrikanten hatten sich organisiert und versuchten nicht nur die Löhne nach ihrem Belieben festzustellen, sondern wollten eine Art Fabrikordnung einführen, durch welche die bisherige persönliche Freiheit der Arbeiter aufgehoben worden wäre.

Natürlich verursachte dieser Anschlag unter der gesamten Arbeiterschaft große Aufregung, wir erkannten darin einen heimtückischen Anschlag gegen unsere bis dahin so friedlichen Bestrebungen und begannen eine Massenorganisation zum energischen Widerstande. Der Kampf entbrannte sofort und wurde lange und von beiden Seiten erbittert geführt.

Die Wortführer der Arbeiter wurden von den Fabriken gemaßregelt und von den Behörden verfolgt. Doch wir ließen uns durch nichts einschüchtern. Es kam auch zu Gewalttätigkeiten, worauf Militär gesandt wurde, auch mit diesem kam es zu Kämpfen, wobei es zwar keine Tote, aber eine Menge Verwundete gab.

Wir hatten einen sehr harten Stand. Alles was wir lehrten und unternahmen: die materialistische Weltanschauung, der soziale Emanzipationskampf, die Arbeiterorganisation, die Auflehnung gegen das bisher Gewohnte, kurz Alles war der Bevölkerung bis dahin neu und fremd; uns selbst, die wir an der Spitze der Bewegung standen, mangelte jedwede persönliche Erfahrung in solchen Situationen und Kämpfen. Wir hatten nichts, als die allerdings mächtige Begeisterung für die gerechte Sache, die wir verteidigten. Trotzdem gelang es uns alle Anstrengungen der Kapitalisten-Koalition, die im Bunde mit den Behörden stand, lahm zu legen, indem sie keine einzige ihrer Maßregeln durchführen konnten.


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Josef Peukert - «La Marseillaise!» (1878)

Ich fand unter der Pariser Arbeiterschaft eine so natürliche ungekünstelte Herzlichkeit und Brüderlichkeit, wie ich sie bis dahin noch nirgends gefunden. Damit hatte aber die offizielle «Gleichheit» und «Brüderlichkeit» nichts zu tun.

Das erste Zeichen ihres solidarischen Freiheitsdranges beobachtete ich gelegentlich der Beerdigung des alten Raspail, des einzigen Volksvertreters, der nach der Niederwerfung der Kommune unentwegt stets die Sache der Unterdrückten verfochten hatte. Der riesengroße Zug war in seiner stillen Art so imposant, daß die kurz darauf mit ungeheurem Pomp und Spektakel aufgeführte Beerdigung des «blutigen» Thiers als reine Blasphemie des Volksgeistes erschien. Aber einige Wochen später hatte ich Gelegenheit, die herrlichen Eigenschaften des Pariser Volkes noch deutlicher kennen zu lernen.

Am 30. Juni 1878 wurde das erste Nationalfest zu Ehren der Republik veranstaltet. Paris lebte bis dahin, seit der Niederwerfung der «Kommune» unter dem Belagerungszustande, wobei sogar schon das Pfeifen der Marseillaise verboten war. Die Vorbereitungen für dieses Fest waren großartig, und so beschloß ich mit einigen Freunden, uns dieses Volksfest genau zu besehen und alle Stadtteile zu besuchen; denn eigentlich war ganz Paris in einen Festplatz umgewandelt worden.

Um fünf Uhr früh begannen wir unsere Rundreise. Straßen, Plätze und Gärten wimmelten bald von Menschen mit hoffnungsfreudigen Gesichtern, als erwarte man ein großes Heil, aber doch dabei ernst und feierlich, sodaß der sonst so leichtlebige Pariser kaum zu erkennen war. Um 2 Uhr Nachmittag war im Tuileriengarten ein Monstre-Konzert (1OOO Musiker und 3000 Sänger und Sängerinnen) angezeigt, wohin wir auch bei Zeiten unsere Schritte lenkten. Daran hatten wir gut getan, denn es kostete uns noch Mühe genug, in die Nähe der Tribüne zu gelangen. Der ganze Tuileriengarten, bis weit hinaus in die Eliséeischen Felder, war dichtgedrängt voll Menschen.

Nach Beendigung des Programms, als Spieler und Sänger unter stürmischem Applaus die Tribüne verlassen wollten, ertönte plötzlich ein heller, durchdringender Ruf: «La Marseillaise!» Dieser Ruf wirkte wie ein elektrischer Funke. Das hunderttausendstimmige Getöse verstummte auf einen Augenblick, um dann den Ruf nach der Marseillaise (dem verpönten Lied) immer und immer wieder ertönen zu lassen. Die Dirigenten waren in offenbarer Verlegenheit, ob sie es vortragen dürften, konferierten und zögerten, während die Volksmassen immer ungestümer darnach riefen. Mit einem Male ging eine Bewegung durch die Künstler. Die Musiker griffen zu ihren Instrumenten, die Sänger stellten sich in Positur und wie ein himmlisch brausender jubelchor erklangen die mächtig ergreifenden Akkorde der Marseillaise durch die Lüfte.

Die Wirkung war unbeschreiblich! — Es war als ginge ein einziger mächtig magnetischer Strom durch die vielen hunderttausend menschlichen Wesen; als hätten mit einem Male nur die Gefühle der Freude, des Glückes und Entzückens Raum in ihrer Brust, als Alt und jung, Groß und Klein in den Refrain mit einstimmte. Es war ein entzückendes Chaos jubelnder, jauchzender, schluchzender, einander umarmender, küssender Menschen; Männer und Frauen im Festkleid und Bluse, Greise und Jünglinge, wie sie der Zufall gerade in unmittelbare Nähe geführt, umarmten und küßten sich im Übermaße ihrer Freude, als seien sie von nun an von dem furchtbaren Alpe der Reaktion und Tyrannei befreit.

Aus: Erinnerungen eines Proletariers aus der revolutionären Arbeiterbewegung. Hrsg. Gustav Landauer. Berlin: Vlg. des sozialistischen Bundes 1913

Originaltext: Emmerich, Wolfgang (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. Band 1. Anfänge bis 1914, rowohlt 1974. Digitalisiert von www.anarchismus.at, Rechtschreibung aktualisiert (Thäler zu Täler etc.)