Amalie Seidl - Der erste Arbeiterinnenstreik in Wien (1893)

Als die 16jährige, noch nicht organisierte Textilarbeiterin A. Seidl sich unter ihren Kolleginnen für eine Verkürzung der Arbeitszeit sowie eine allgemeine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einsetzt, soll sie entlassen werden. Nicht nur in ihrem Betrieb kommt eine Streikbewegung in Gang, die schließlich 700 Wiener Arbeiterinnen umfasst. Bei der Lektüre ist zu bedenken, daß die Frauen um 1893 noch so gut wie keine politischen Rechte besaßen (z.B. weder aktives noch passives Wahlrecht).

Vor ungefähr 20 Jahren waren die Verhältnisse in den Wiener Textilfabriken erheblich schlechter, als dies jetzt der Fall ist, womit nicht gesagt sein will, daß die Arbeiterinnen heute Grund hätten, zufrieden zu sein. Aber damals, im Jahre 1892, als ich mit 16 Jahren in eine Appreturfabrik kam, war die Arbeitszeit von 6 Uhr früh bis 7 Uhr abends die Regel. Die Arbeiterinnen waren gar nicht organisiert und ließen sich mit Löhnen von 1 Kr. bis Kr. 1.50 abfertigen. Man kann sich vorstellen, auf welcher Höhe die Lebenshaltung der Arbeiterinnen stand. Im Jahre 1893 arbeitete ich in einer Fabrik, wo ungefähr 300 Arbeiter und Frauen beschäftigt waren, von denen die allermeisten nicht mehr als 7 Kr. verdienten. War doch eine der Forderungen, die bei dem folgenden Streik erhoben wurde, die Bezahlung eines Wochenlohnes von 8 Kr. Als Packerin im Magazin hatte ich allerdings die glänzende Bezahlung von wöchentlich 1O Kr. und gehörte mit zu den bestbezahlten Arbeiterinnen. Trotzdem von einer Organisation keine Rede war, gelang es mir doch, den Kolleginnen den Wert der Maifeier begreiflich zu machen und wir erlangten auch die Freigabe des 1. Mai.

Natürlich war der Verlauf der Maifeier am anderen Tag der einzige Gesprächsstoff in der Fabrik und ich bemühte mich während der Jausenpause in einem großen Fabriksaal zu beweisen, daß bei entsprechender Organisation auch wir in der Fabrik unsere Verhältnisse verbessern könnten. Im Laufe der Rede und im Eifer des Zuhörens bemerkten wir alle nicht, daß auch der Chef der Fabrik vielleicht schon einige Minuten zugehört hatte. Selbstverständlich folgte die Strafe, respektive die Entlassung. Kaum in mein Magazin zurückgekommen, erfuhr ich, daß mein Arbeitsbuch schon im Comptoir bereit läge. Da ich Überstunden machen mußte, kam ich nicht gleichzeitig mit den anderen Arbeiterinnen aus der Fabrik, die übrigens schon meine Entlassung erfahren haben mußten. Denn als ich in die Gasse kam, wo meine Eltern wohnten, war ich nicht wenig erstaunt, vor dem Haustor Polizei und das Tor selbst geschlossen zu sehen. Dafür war der ziemlich große Hof angefüllt mit den Arbeiterinnen aus der Fabrik, die mich erwarteten und mir stürmisch zuriefen, daß sie meine Entlassung nicht ruhig hinnehmen wollten. Darauf hielt ich vom Hackstock aus eine «Rede», in der ich den Kolleginnen sagte, daß es ja sehr schön sei, wenn sie nicht still sein wollten, doch sollten sie, wenn sie schon streiken wollten, mehr verlangen als bloß meine Wiederaufnahme. Was wir verlangen sollten, wußten wir alle miteinander nicht, aber streiken wollten wir! Vereinbart wurde bloß, daß ich am nächsten Tag (den 3. Mai) zur Fabrik kommen solle; bis dahin wollten die Arbeiterinnen sich über die Forderungen geeinigt haben, eventuell auch über die Kolleginnen, die der Firma die Wünsche der Arbeiterinnen übermitteln sollten. Ich sollte vor den Fenstern auf das Resultat warten.

Dies geschah alles; die Forderungen aber: Verkürzung der Arbeitszeit von zwölf auf zehn Stunden täglich und meine Wiederaufnahme wurden von der Firma abgelehnt. Und momentan, so wie die Arbeiterinnen gingen und standen, barfuß, der großen Hitze wegen, die in manchen Arbeitsräumen herrschte, nur halb bekleidet, am Arm die Kleider, in der Hand die Körbchen mit dem dürftigen Mittagessen oder die Kaffeekannen, so verließ alles die Fabrik. In einem nahegelegenen Gasthausgarten machten die Frauen Toilette, während ich zur Genossin Dworschak (Popp) stürzte, um ihr die Streiknachricht zu überbringen. Nachmittags schon war die erste Versammlung auf einer Wiese in Meidling, der bald andere folgten. Auch die Arbeiterinnen von drei anderen Fabriken schlossen sich an, so daß nach einigen Tagen gegen 700 Frauen und Mädchen im Streik standen.

Da dies der erste Frauenstreik war, machte er natürlich Aufsehen; auch die bürgerliche Presse beschäftigte sich damit, natürlich um darüber zu klagen, daß nun auch die Arbeiterinnen «aufgehetzt» werden. Es gab auch Ausnahmen. So schrieb der Korrespondent einer englischen bürgerlichen Zeitung, daß «die Streikenden, die die 14 Tage hauptsächlich zu ihrer Erholung in freier Luft benützten, am Ende des Streiks bedeutend besser aussähen als früher».

Es war ja auch kein Wunder! Denn bei 12 bis 13 Stunden täglich arbeiten in Räumen, wo manchmal bis zu 54 Grad Hitze herrschte, oder in der Bleicherei, die von Chlorgestank erfüllt war, oder in der Färberei, wo auch liebliche Düfte das Atmen zu einer Qual machten, konnten ja die Frauen nicht gut aussehen. Dank der Solidarität der Arbeiterschaft konnten die Streikenden so ausreichend unterstützt werden, daß sie nicht viel weniger hatten als sonst in der Fabrik. Daß die Streikenden nicht nachgeben, sondern ausharren wollten, war ganz selbstverständlich. Und so wurden nach einer Streikdauer von 14 Tagen die Forderungen durchgesetzt.

Verlangt wurde: Zehnstündige Arbeitszeit, Bezahlung eines Minimallohnes von 8 Kr. wöchentlich, Freigabe des 1. Mai und bei der Firma Heller, wo ich entlassen worden war, auch noch meine Wiederaufnahme. Eine große Anzahl von Frauen und Mädchen war der Organisation beigetreten, allerdings um bald nach meinem Austritt aus der Fabrik der Organisation wieder den Rücken zu kehren. Auch die «Arbeiterinnen-Zeitung» wurde eine Zeitlang viel und fleißig gelesen.

Während des Streiks mußte ich natürlich reden, so gut ich es eben damals konnte, und kam so in die Arbeiterbewegung hinein. Mitglied des Arbeiter-Bildungsvereines VI war ich schon im Herbst 1892 gewesen und hatte auch schon eine Frauenversammlung besucht, in der ich Genossin Anna Boschek sprechen hörte. Die Tatsache, daß ein junges Mädchen sich zu reden getraute, machte großen Eindruck auf mich und erweckte in mir den Wunsch, selbst auch reden zu können; nur getraute ich mich nicht. Aber am 1. Mai 1893 probierte ich es doch und gleich in einer großen Versammlung der Färber im Mariensaal in Rudolfsheim. Dann kam der Streik und da mußte ich reden. In einigen Versammlungen, die im Sommer und Herbst 1893 stattfanden, holte ich mir durch ein paar Reden auch eine Anklage wegen verschiedener Vergehen gegen das Strafgesetz, wofür ich dann zu drei Wochen Arrest verurteilt wurde, die ich im Februar 1894 im Landesgericht «verbüßte».

Heute noch erinnere ich mich daran, wie angenehm überrascht ich war, als ich die «Zelle» betrat. Groß, hell, freundlich war der Raum, den ich, je nach Umständen, mit 12 bis 17 Sträflingen zu teilen hatte. Da man im Wiener Landesgericht auf «politische Weiber» nicht eingerichtet war, bekam ich keine Einzelzelle. Übrigens wußte ich auch nicht, daß ich eine solche hätte verlangen können, und wahrscheinlich hätte ich mich auch nicht getraut. Sonst war es ja nicht schlecht in der Haft und von Haus aus war ich durchaus nicht verwöhnt. Und sicher ging es mir im Landesgericht besser als zu jener Zeit, wo ich mit 6 Kr. Monatslohn Dienstmädchen gewesen war.

Aber eine «staatsgefährliche Person» muß ich damals gewesen sein. Mein Verteidiger, Dr. Ornstein, mußte intervenieren, weil die Polizeibehörde, trotzdem ich bei meinen Eltern wohnte, mich in die Heimatsgemeinde meines Vaters, ein böhmisches Dorf, abschieben wollte. Und nach der Haftentlassung mußte ich auf der Polizeidirektion einen Revers unterschreiben, der der Polizei das Recht gab, mich bei einer neuerlichen Verurteilung von Wien zu entfernen.

Seit der Zeit haben in Österreich die Verhältnisse sich doch so weit geändert, daß wir heute viel mehr Redefreiheit genießen, und so blieb dies meine einzige «Strafe», obwohl sie natürlich nicht abschreckend gewirkt hatte. Denn seither habe ich in Hunderten von Versammlungen gesprochen, ohne mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten. In der Partei betätigte ich mich eben, soweit es meine Familienverhältnisse erlaubten; am meisten in den letzten Jahren, wo meine Kinder mich weniger brauchten und ich mich besonders für die Genossenschaftsbewegung interessierte, die so wie die gewerkschaftliche und politische Bewegung notwendig ist für den Aufstieg und den endlichen Sieg der Arbeiterklasse.

Aus: Der erste Arbeiterinnenstreik in Wien. In: Gedenkbuch. Zwanzig Jahre österreichische Arbeiterinnenbewegung. Hrsg. Adelheid Popp im Auftrag des Frauenreichskomitees. Wien 1912., S. 66-69

Originaltext: Emmerich, Wolfgang (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. Band 1. Anfänge bis 1914, rowohlt 1974. Digitalisiert von www.anarchismus.at