Max Nacht - Die revolutionäre Bewegung in Russland (1902)

Vorwort

Bei der Behandlung dieses Gegenstandes, der gerade jetzt so aktuell geworden ist, leitete den Verfasser nicht das Bestreben etwas Neues, auf eigener Forschung der Originalquellen Beruhendes zu schaffen, sondern einfach die Absicht, auf Grund älterer Werke, die zum Teil bereits aus dem Buchhandel verschwunden sind, eine Lücke in der revolutionären Broschürenliteratur auszufüllen; ist doch letztere für weite Kreise der Arbeiter oft die einzige Quelle, aus der sie sich über Dinge, die für sie Interesse haben, informieren können, weder Mittel noch Zeit haben sich umfangreiche Bücher anzuschaffen und dieselben zu lesen.

Zu den Werken, welche für das vorliegende Schriftchen als Quellen gedient haben, gehören - abgesehen von anderen in nicht-deutscher Sprache erschienenen - zunächst Alphons Thun's „Geschichte der revolutionären Bewegungen in Russland“, die in erster Linie (für die Zeit 1825 - 81) benutzt wurde, weiter P. Axelrod: „Entwicklung der Sozialrevolutionären Bewegung in Russland“, Stepniak: „Das unterirdische Russland“, Peter Kropotkin: „Memoiren eines Revolutionärs" u.a.

Sollte dies Büchlein durch Vorführung des heroischen Kampfes auch nur zum Teil dazu beitragen, den Mut vieler Genossen zu heben, die infolge der beklagenswerten Versumpfung der Arbeiterbewegung in Deutschland begreiflicherweise Pessimisten geworden sind, so hat es seine Aufgabe erfüllt.

Der Verfasser

Die revolutionäre Bewegung in Russland

Schon seit längerer Zeit kommen aus Russland täglich Nachrichten über Studenten- und Arbeiterdemonstrationen, Bauernunruhen, Militärrevolten und endlich Attentate gegen verhasste Minister und Gouverneure. Diese Tatsachen deuten klar darauf hin, dass es im Reiche des Autokraten gärt und kocht, dass dieser Riesenkessel, genannt zarischer Despotismus, dem Explodieren nahe ist, mit einem Worte, dass Russland am Vorabende einer Revolution steht.

Zum besseren Verständnis dieses Kampfes, der sich vor unseren Augen abspielt, und dessen Folgen für das übrige Europa von ungeheurer Tragweite sein werden, müssen wir einen Blick auf die geschichtliche Entwicklung der revolutionären Bewegung von ihren ersten Anfangen bis zum heutigen Tage werfen; dann werden wir aus der Vergangenheit und Gegenwart Schlüsse für die Zukunft ziehen können.

Wie die meisten politischen Ereignisse des XIX. Jahrhunderts, so hatte auch die revolutionäre Bewegung in Russland ihre Wurzeln in der großen französischen Revolution. Die napoleonischen Kriege hatten eine Annäherung Russlands an den Westen und namentlich die französische Kultur herbeigeführt und den neuen Ideen, die in der Revolution zum Ausdruck kamen, in dem halbasiatischen Lande Eingang verschafft. Diese Ideen wurden nun von denjenigen Schichten, in denen das Bewusstsein der Menschenwürde, das Bedürfnis nach Freiheit lebendig war, den Gelehrten, Künstlern und vielen Offizieren mit Begeisterung aufgenommen und von den hervorragendsten Männern der damaligen wissenschaftlichen und literarischen Welt eifrig getragen. Der Militäraufstand, der im Jahre 1826 von Pestel zur Erringung der Konstitution organisiert worden war, genannt der Aufstand der Dekabristen, wurde jedoch unterdrückt und die Führer Pestel, Murawiew, Rylejew u. a., die Blüte der Nation, hingerichtet. Totenstille trat im Reiche, ebenso wie in den übrigen Teilen Europas ein und erst der Revolutionssturm dos Jahres 1848, der alle europäischen Throne erschütterte, vermochte die Gemüter aus der Erstarrung zu erwecken.

Um Petraschewski, einem Beamten des auswärtigen Amtes, sammelte sich eine Gruppe von Männern - darunter auch der berühmte Schriftsteller Dostojewski - die zum Teile die sozialistischen Theorien Fouriers vertraten. Sie wurden jedoch schon im Jahre 1849 verhaftet, zum Tode verurteilt und schließlich zu lebenslänglicher Zwangsarbeit „begnadigt“.

Erst als nach dem Tode des grausamen Nikolaus I. - des gekrönten Idioten, wie ihn Kropotkin nennt - der liberal schillernde Alexander II. die Herrschaft übernahm - die frischgebackenen Herrscher sind bekanntlich alle liberal - konnten die sozialistischen Ideen, die allmählich nach Russland gedrungen waren, aus dem engen Kreis der Gelehrten heraustreten, um Anhänger in erster Linie in der Intelligenz zu werben, und dies um 80 eher, als die bedeutendsten Männer die Propaganda mit Begeisterung aufnahmen. Diese Männer waren im Lande selbst der berühmte Soziologe Tschernyschewski und der Kritiker Dobrolubow, sowie in England die Dichter Herzen und Ogarew, die seit 1857 in London in ihrer eigenen Druckerei das erste freie russische Blatt „Kolokol“ (Die Glocke) herausgaben, das auf die öffentliche Meinung in Russland einen bedeutenden, Einfluss ausübte.

Die Hauptforderung aller fortschrittlichen Elemente war die Aufhebung der Leibeigenschaft. Gedrängt durch die Furcht vor einem allgemeinen Bauernaufstand gab Alexander II. im Jahre 1861 nach und erteilte den Bauern die „Freiheit“. Was man diesen aber mit der einen Hand gab, nahm man ihnen mit der andern. Es wurden ihnen für die Zuweisung des Grundes solch ungeheure Lasten als Abzahlung aufgelegt, dass sie in ein noch viel größeres Elend gestürzt wurden. Unter solchen Umständen verloren alle Sozialisten alles Vertrauen in den guten Willen des Zaren und erhoben gegen ihn einen energischen Kampf. Im Jahre 1863 wurde der Bund „Land und Freiheit“ gegründet, der sich jedoch aus vielen Ursachen nicht rasch genug entwickeln konnte. In dasselbe Jahr fiel nämlich die Erhebung der Polen.

Die hervorragendsten russischen Sozialisten Bakunin, Herzen und viele andere drückten den Aufständigen offen ihre Sympathien aus und hatten eine Zeitlang die öffentliche Meinung Russlands hinter sich. Bald aber wandte sich diese gegen die Polen und mithin auch gegen ihre Freunde. Politische Verfolgungen begannen aufs neue, Tschernyschewski und viele seiner Genossen wurden verhaftet und nach Sibirien zur Zwangsarbeit verschickt. In der sozialistischen Bewegung trat ein Stillstand ein, der mit geringen Unterbrechungen vom Jahre 1863 bis 1872 anhielt.

In der Jugend hatte inzwischen eine neue Strömung platzgegriffen, eine revolutionäre Bewegung auf geistigem Gebiete: Der Nihilismus. Die Hauptvertreter dieser Richtung waren die Schriftsteller Pissarew und Saizew, die ihre Anschauungen in dem Blatte „Russkoje Slowo“ (Das russische Wort) darlegten. Der Nihilismus - das Wort wurde von Turgeniew in seinem berühmten Roman „Väter und Söhne“ geprägt - erstrebte die Beseitigung des Überkommenen auf allen Gebieten, in erster Linie auf religiösem und philosophischem, in weiterer Folge auf gesellschaftlichem, politischem und wirtschaftlichem. Gegenüber der Religion wurden die Lehren von Feuerbach, Darwin, Buckle, Büchner, gegenüber den Fesseln der Familie und Ehe das freie Zusammenleben der Geschlechter, die vollständige Freiheit und Selbständigkeit der Frau verfochten.

Diese Bewegung darf mit dem späteren Terrorismus nicht verwechselt werden, dessen Vertreter man in der Regel irrtümlicherweise Nihilisten nennt. Der Nihilismus war keine politische Strömung, sondern vielmehr eine Philosophie, allerdings eine echt anarchistische Philosophie, deren Grundsatz lautete: Sich vor keiner hundertmal geheiligten Autorität beugen, kein Prinzip annehmen, das nicht durch die Vernunft gerechtfertigt ist. (1)

Da trat im Jahre 1866 ein Ereignis ein, das für die weitere Entwicklung der revolutionären Bewegung von großer Bedeutung war. Der junge Student Karakosow - Mitglied des Geheimbundes „Hölle“ - gab gegen den Zaren einige Schüsse ab, um durch diese Tat die revolutionäre Leidenschaft des Volkes zu entfachen, um durch dieses Beispiel das Signal zu einer allgemeinen Volkserhebung zu geben. Das Attentat misslang zwar, Karakosow wurde nach grausamen Foltern hingerichtet, das Ziel jedoch, welches dem Märtyrer vorschwebte, wurde, wenn auch nur indirekt, teilweise erreicht. Die Polizei begann die Nihilisten zu verfolgen und das Resultat dieser Razzia war, dass die Studenten, die sich bis dahin von der Politik fernhielten, in die Arme des Sozialismus zum Kampf gegen die Regierung getrieben wurden.

Die erste Gelegenheit, die sich dazu bot, war die Verschwörung Netschajews im Jahre 1869.

Diesem geschickten Organisator, dessen Anschauungen ein Gemisch von bakunistisch-anarchistischen und blanquistisch-terroristischen Ideen darstellte, gelang es in Petersburg und anderen Städten geheime Studentenzirkel zu gründen; durch seine vielen Mystifikationen und Rücksichtslosigkeiten brachte er jedoch der Sache nur Schaden. Bakunin, der ihn anfangs unterstützte, bemerkte zu spät seine Betrügereien, er erkannte, dass Netschajew sich seiner nur als Werkzeug bedient hatte und sagte sich daher von ihm los, indem er wiederholt seinen Widerwillen gegen Netschajews zentralistisch-jesuitisches Vorgehen äußerte.

Eine gute Lehre brachte das traurige Ende dieser Verschwörung, nämlich das Misstrauen der späteren Revolutionäre gegen jede zentralistische Organisation. Die ganze Verschwörung, die mit der Verhaftung sämtlicher Teilnehmer und der Verurteilung Netschajews im Jahre 1872 zu lebenslänglicher Einzelhaft in der sagenhaft furchtbaren Peter-Pauls-Festung ihren Abschluss fand, war jedoch nur eine Episode geblieben: die eigentliche sozialistische Bewegung - wobei in der Bezeichnung Sozialismus der Anarchismus mit einbegriffen ist, der ja während der ganzen Zeit vorherrschend war - nahm ihren Anfang erst um das Jahr 1872.

Nicht lange vorher erschien aus der Feder Peter Lawrows, eines ehemaligen Professors der Kriegs-Akademie, ein Werk, betitelt: „Historische Briefe“, in dem der Verfasser darlegte, dass es die Pflicht der Intelligenz sei, für den Fortschritt der Kultur, für die Befreiung der arbeitenden Bevölkerung einzutreten und auf diese Weise ihre große Schuld an das Volk abzuzahlen. Seine Worte verhallten nicht wirkungslos, die Geister wurden aufgerüttelt, die Jugend drängte zur Tat, wollte dem Volke nützlich sein, ihm dienen, wusste jedoch nicht wie.

Viele Studenten begaben sich, teils zur Fortsetzung der Studien, teils um die moderne Arbeiterbewegung näher kennen zu lernen, nach dem Westen, insbesondere nach Zürich, wo die Hauptvertreter des russischen Sozialismus sich aufhielten. Es war dort der eben erwähnte Lawrow, der Herausgeber des „Wperiod“ (Vorwärts), der wegen seiner freiheitlichen Gesinnung nach dem Innern Russlands verschickt, von Lopatin befreit wurde und der die Anschauung vertrat, die Jugend müsse zuerst sich selbst tüchtig ausbilden, ehe sie im Volke die Agitation für den Sozialismus beginne. Dies klang zwar sehr schön und einleuchtend, musste aber in Wirklichkeit dahin führen, dass der Student über seine „Ausbildung“ seine Ideale - die er während der langen Studienzeit an den Nagel hängen sollte - vergaß und sich nach einer guten Stelle umsah. Doch der revolutionäre Instinkt der Jugend siegte, Lawrow gewann nur sehr wenige Anhänger. Den meisten Einfluss erlangte der ebenfalls in Zürich weilende unermüdliche Verkünder des Anarchismus Michael Bakunin, der das berühmte Wort: „Idti w narod“ („Ins Volk gehen“) als Losung ausgegeben hatte.

Dank seiner berühmten Vergangenheit - Teilnahme an fast allen Aufständen der Jahre 1848/49, dreizehnjähriger Gefangenschaft in den furchtbaren russischen Gefängnissen und in Sibirien - seinem mächtigen Temperament, seiner gewaltigen Rednergabe, gelang es ihm die Herzen aller zu erobern und die Jugend zu überzeugen, der einzig mögliche Weg für den Sozialismus Propaganda zu betreiben sei der, die Studien aufzugeben und sich ganz dem Volke zu widmen, mit ihm zusammen auf dem Felde, in den Werkstätten und Fabriken zu arbeiten, es aufzuklären und zum letzten Kampfe vorzubereiten. (2)

Die russische Regierung beschleunigte selbst unwillkürlich die buchstäbliche Ausführung dieser von Bakunin ausgegebenen Losung. Als sie nämlich den Einfluss der Emigranten auf die Studenten sah, befahl sie den letzteren, sofort nach Russland zurückzukehren. Diese nahmen nun nach ihrer Rückkehr sofort den Kampf um die Verwirklichung ihrer Ideale auf. Es entstanden einige Gruppen, welche auf verschiedenen Wegen zu demselben Ziele strebten. Die Anhänger Lawrows („Lawristy“) trachteten, der Lehre ihres Meisters treu, sich zunächst ein möglichst großes Wissen anzueignen und beschränkten sich im übrigen bloß auf die friedliche Agitation unter den städtischen Arbeiter. Da ihre Theorie in der Praxis darauf hinauslief, die Hände in den Schoss zu legen und die allmähliche Zersetzung der Gesellschaft abzuwarten, vermochten sie weder auf die Studenten noch auf die Arbeiter einen Einfluss zu gewinnen und waren im Jahre 1876 schon gänzlich verschwunden.

Die wichtigste Gruppe, diejenige, aus der die späteren und hervorragendsten Führer der revolutionären Bewegung hervorgingen, war die der Tschajkowzen, die ihren Namen ihrem geistigen Leiter, dem Studenten Nikolaus Tschajkowski, verdankte. Ursprünglich sollte die Agitation nur auf Gewinnung der Studenten für die Sache gerichtet sein, unter dem Einflüsse der Sophia Perowskaja entschloss man sich jedoch bald, eine lebhafte Propaganda unter den Bauern und Arbeitern aufzunehmen, mit einem Worte „ins Volk zu gehen“. In enger Verbindung mit den Tschajkowzen befanden sich die Bakunisten, genannt „Buntary“ (Putschmacher), die in Südrussland tätig waren, Ihre Aufgabe, Putsche und Bauernrevolten hervorzurufen, gelang ihnen wegen ihrer unbedeutenden Zahl nur in sehr geringem Maße.

Die Propaganda war zweiseitig: die einen zogen von Dorf zu Dorf - natürlich als Bauern verkleidet (3) - um das Volk kennen zu lernen, hier und da eine Rede zu halten und Schriften zu verbreiten. Der Friedensrichter Kowalik, der sein ganzes Vermögen (40.000 Rubel = 80.000 Mark) der Sache geopfert hatte, bereiste mit Erfolg neun Provinzen; die ehemaligen Offiziere Rogatschew und der berühmte Sergei Stepniak-Krawtschinski, der Verfasser des „Unterirdischen Russland“ durchwanderten als Holzsäger das Land, überall aufklärend und aufreizend. Doch auch die Frauen Hessen es an Mut und Aufopferungsfähigkeit nicht fehlen, ja viele Mädchen und Frauen, wie z. B. Sophia Perowskaja, Barbara Batiuschkowa, Natalie Armfeld - alle aus der höchsten Aristokratie stammend - wirkten oft mit viel größerem Erfolge als ihre männlichen Genossen.

Andere wieder Hessen sich an bestimmten Orten nieder, gründeten in den Dörfern und Städten Geschäfte und Werkstätten, die gewissermaßen Arsenale für die Agitation bildeten. Es wurden dort Bücher, Flugschriften, Schlüssel für chiffrierte Briefe u.s.w. aufbewahrt. Über der Bauernagitation wurden jedoch die städtischen Arbeiter nicht vergessen. Scheljabow - einige Jahre später die Seele der terroristischen Partei - wirkte unter den Fabrikarbeitern in Odessa, Axelrod in Kiew; Peter Kropotkin, der große Vorkämpfer des Anarchismus, war zwei Jahre hindurch, 1872 bis 74, unter dem angenommenen Namen eines Arbeiters Borodin in Petersburg unter den Arbeitern unermüdlich tätig, bis er von der Polizei ausspioniert, verhaftet und in der schrecklichen Schlüsselburg eingesperrt wurde, in der er wohl lebendig begraben worden wäre, wenn ihm nicht die Flucht, die nach zwei Jahren (1876) von seinem Freunde Stepniak bewerkstelligt wurde, die Freiheit gebracht hätte.

Die Propaganda, deren Anfänge in das Jahr 1872 fielen und die mit einem Idealismus, einer Begeisterung durchgeführt wurde, wie sie in der Geschichte anderer Völker ohne Beispiel dasteht, neigte nach 3 Jahren (1875) ihrem Ende zu. Die Ursachen des geringen Erfolges sind in verschiedenen Umständen zu suchen. Die Sozialisten waren jung und ungestüm, Überschätzten ihre Kräfte und idealisierten den Bauer; die wenigsten waren mit den Lebensbedingungen und Anschauungen des Volkes bekannt. Infolge der Unvorsichtigkeit^ mit der sie oft minder Bekannte in ihre Mitte aufnahmen, verfielen nicht selten ganze Vereine der Denunziation, Ja es kam sogar vor, dass die Bauern selbst die Agitatoren fesselten und der Gendarmerie übergaben, da die Regierung durch die Popen (Geistlichen) den Glauben hatten verbreiten lassen, die Studenten strebten die Wiedereinführung der Leibeigenschaft an. Die schriftliche Agitation war auch sehr erschwert, weil die Mehrheit der Bauern überhaupt des Lesens unkundig war.

Dennoch blieb die Agitation nicht ganz ohne Erfolg, wovon am besten die Reden Zeugnis ablegen, welche Bauern und Arbeiter vor Gericht im Jahre 1877 in den Prozessen der 50 und der 193 hielten, Reden, so voll Begeisterung und Verständnis der Dinge überhaupt, dass die Rede des Bauern Alexiejew und des Schlossers Malinowski noch heute als wirksame Agitationsbroschüren verbreitet werden.

Im Verlaufe dieser 3 Jahre waren über 3.000 Männer und Frauen ins Volk gegangen, die Mehrheit wurde jedoch nach und nach von der Polizei verhaftet und die Organisation zertrümmert.

In Anbetracht dieser Umstände kamen die Sozialisten zur Überzeugung, dass es unmöglich sei, den Kampf in dieser Form weiterzuführen und schritten zur vollständigen Revision der Taktik.

Anstatt des kosmopolitischen Sozialismus stellten sie als Programm die Erfüllung der vom Volke selbst gehegten Ideale auf (norodnitschestwo - Volkstümelei), die fliegende Propaganda wurde gänzlich aufgegeben und ausschließlich ständige Ansiedlungen im Volke gegründet; endlich begnügte man sich nicht mit bloßer Aufreizung, sondern organisierte Kampfscharen und veranstaltete Putsche. Das Endziel dieser Partei, welche Narodniki-Buntary (Volkstümler-Putschmacher) genannt wurde, blieb dasselbe, wie das ihrer Vorgänger: der anarchistische Sozialismus.

Die neue Bewegung hatte zuerst in M. Natanson und nach dessen Verhaftung in Alexander Michailow ihre tatkräftigsten Vorkämpfer. Organ der Partei war die in der Petersburger Geheimdruckerei herausgegebene Zeitschrift „Semlja i Wolja“ („Land und Freiheit“), nach der später die Partei selbst benannt wurde. In enger Verbindung mit dieser Richtung steht die Verschwörung der Jakob Stephanowitsch im Jahre 1877. Diesem gelang es im Kiewer Gouvernement durch Vorweisung eines gefälschten kaiserlichen Schriftstückes die Bauern sozusagen im Namen des Zaren zu einem Aufstande zu organisieren. Der Bund zählte schon über 1.000 Mann und es wäre sicherlich zu einer ernsten Erhebung gekommen, die auch andere Gegenden mit sich gerissen hätte, wenn nicht die ganze Sache durch die Trunkenheit eines Mitgliedes knapp vor dem Ausbruche verraten worden wäre. Dieses Vorgehen des Stephanowitsch hätte, wenn es auch von Erfolg gekrönt worden wäre, eine umso nachteiligere Wirkung gehabt, als es nur noch zur Stärkung der zarischen Autorität beitragen müsste und wurde daher von den Sozialisten selbst verurteilt. Stephanowitsch wurde verhaftet, vermochte jedoch bald zu fliehen: anfangs der 1880er Jahre fiel er wieder in die Hände der Polizei und wurde für immer nach Ostsibirien verbannt, wo er sich jetzt noch aufhalten soll.

Die Organisation des Narodniki zerfiel in zwei Gruppen; die eine war am Lande, die andere in den Städten tätig. Die Verschiedenheit der Verhältnisse, in welchen beide lobten und kämpften, führte nach und nach zu einer immer größeren Scheidung zunächst in taktischen und schließlich in prinzipiellen Fragen, die bald eine vollständige Spaltung der Partei zur Folge hatte.

Die städtische Gruppe, die in ständigem Kampfe mit dem Regierungsmechanismus lag und unter den asiatischen Brutalitäten und Grausamkeiten desselben zu leiden hatte, sah sich in einer Art Notwehr gezwungen, den weißen Schrecken von oben, mit dem roten Schrecken von unten zu beantworten.

Waren die ersten Taten der Revolutionäre eher Racheakte, so kam man nach und nach auf den Gedanken, den systematischen Terror als Kampfmittel gegen die Regierung zu benützen. Diesen Gedanken drückte auch Morosow in der Broschüre „Tod für Tod“ aus, in der er ausführte (4) dass es einer so barbarischen Regierung gegenüber, wie es die russische ist, keine anderen Kampfmittel gibt, als die Terrorisierung ihrer Repräsentanten. So lange die Sozialisten keine bürgerlichen Rechte im russischen Staate besitzen, solange keine Einrichtungen getroffen werden, welche die Existenz der Bürger vor der zügellosen Willkür der Administration wenigstens einigermaßen sichern, solange werden die Sozialisten ihre Schläge gegen die höheren Würdenträger des Reichs, wie gegen eine Bande alleinherrschender Räuber richten. Wenn auch Morosow ausdrücklich betonte, dass der Terrorismus mit der sozialen Revolution nichts gemein habe und sie nicht ersetzen könne, so gewann doch schließlich die rein politische Strömung in dieser Gruppe die Oberhand, der Sozialismus trat vorläufig in den Hintergrund: als die erste Aufgabe wurde die Erkämpfung der Konstitution betrachtet. Diese Stellungnahme der einen Gruppe veranlasste im Jahre 1879 den gänzlichen Bruch zwischen beiden Richtungen.

Die Terroristen gründeten ein eigenes Organ „Narodnaja Wolja“ („Volkswille“) und nahmen von nun an den Namen Narodowolzy an; die ländliche Gruppe schuf sich ebenfalls ein eigenes Blatt „Tschornyj Peredjel" (Schwarze Verteilung) (5). Die Unterschiede dieser zwei Parteien lassen sich in folgenden Schlagworten ausdrücken. Die Partei des „Volkswillens“: politisch-terroristisch, zentralistisch, zu Kompromissen geneigt, die Partei der „Schwarzen Umteilung“: Sozialrevolutionär, agitatorisch föderalistisch, für den Fabrik- und Agrar-Terror eintretend, ihrem Vorgehen nach zum Teile der irischen Agrarliga verwandt. Diese Richtung erlangte jedoch keinen nennenswerten Einfluss, die ganze Zeit von 1878 - 1884 steht im Zeichen des Terrorismus.

Das Signal zu diesem heroischen Kampfe gab am 24. Januar 1878 die Studentin Wera Sassulitsch, indem sie gegen den allgemein verhassten Moskauer Polizeidirektor Trepow ihren Revolver abfeuerte und ihn schwer verwundete, weil er einen jungen Sozialisten Boguljubow - der ihr übrigens persönlich ganz unbekannt war - hatte auspeitschen lassen. Diese Tat weckte den lautesten Wiederhall in den Herzen aller, so dass sogar das Schwurgericht, vor das sie gestellt wurde, ein freisprechendes Urteil abgab. (6) Nach diesem Schusse ergoss sich ein förmlicher Kugelregen gegen die verhassten Repräsentanten der Regierung und besonders viele Spitzel fielen als Opfer der Erbitterung der Revolutionäre.

Am 14. August desselben Jahres (1878) erdolchte Stepniak auf einer der belebtesten Strassen Petersburgs, bei helllichtem Tage Mesenzew, den Vorstand der berüchtigten III. Abteilung (Politische Polizei) und vermochte sich noch 2 Jahre in der Stadt aufzuhalten, bis er im Jahre 1880 gezwungen war, sich nach dem Auslande zu begeben. Der Gedanke, den Zaren zu töten, tauchte erst im Jahre 1879 auf. An das Exekutiv-Komitee, dessen hervorragendste Mitglieder Michailow, Scheljabow und Tichomirow waren, meldete sich im Frühling des genannten Jahres der Lehrer Solowiew und der Student Goldenberg, der gerade nach der glücklich gelungenen Erschießung des verruchten Gouverneurs von Charkow, Fürsten Kropotkin (7) nach Petersburg gekommen war, beide mit dem Anerbieten, den Zaren zu töten. Es wurde beschlossen, von der Wahl Goldenbergs abzusehen, da die Ermordung des Zaren durch einen jüdischen Studenten für seinen ganzen Stamm Verfolgungen zur Folge hätte.

Am 2. April 1879 feuerte Solowiew einige Schüsse gegen Alexander II. ab, ohne ihn jedoch zu treffen. Jetzt wurde in Russland ein wahres Schreckensregiment unter Gurko und Totleben eingesetzt. Wer gefangen wurde, ward ohne Pardon gehenkt, darunter der tüchtigste Agitator des Südens, der Apollo der Revolution, Valerian Ossinski. Ja, für das „Verbrechen“ einem Bekannten eine Proklamation übergeben zuhaben, wurde der 19-jährige Rosowski hingerichtet.

Dass diese Greueltaten den Kampf nur noch verschärften, versteht sich von selbst. Im November wurden gleichzeitig 3 Minen unter die Eisenbahn bei Odessa, Alexandrowak und Moskau gelegt - bei denen die hervorragendsten Revolutionäre wochenlang unter den ärgsten Entbehrungen in der grimmigsten Kälte, bis über den Bauch im gefrorenen Schlamm watend arbeiteten - der Zar entging aber in allen Fällen durch Zufall dem Tode. Bald darauf, im Februar 1880, wurde vom Arbeiter Stephan Chalturin mit Hilfe eingeschmuggelten Dynamits der Speisesaal in die Luft gesprengt, wobei eine Anzahl Gendarmen das Leben verloren, Alexander II. selbst hingegen, der gerade in diesem Augenblicke den Saal verlassen hatte, wieder unbeschädigt hervorging.

Während man sich mit Vorbereitungen zu neuen Anschlägen beschäftigte und der geniale Erfinder Kibaltschitsch, ein ruthenischer Student, der seinen Geist in den Dienst der Partei gestellt hatte, neue Versuche mit der Erzeugung von Nitroglyzerin und Bomben anstellte, benützte Scheljabow - die Seele der Bewegung in Petersburg - die Zeit, um die Organisation in dieser Stadt vollständiger auszugestalten, Spezial-Vereine zur Agitation im Heere, unter den Studenten und Arbeitern zu gründen und Kampfscharen zu bilden, jede bestehend aus höchstens zehn Genossen, die jederzeit bereit waren, ihr Leben in die Schanze zu schlagen.

Als der 13. März 1881 herannahte, an dem das Attentat auf Alexander II. stattfinden sollte, meldeten sich 47 Freiwillige, von denen Scheljabow eine Anzahl auswählte. An diesem Tage wurden, ebenso wie am 19. November 1879 drei Anschläge vorbereitet. Bogdanowitsch sollte vor einer Käsebude eine Explosion bewerkstelligen, Scheljabow hatte die steinerne Brücke in die Luft zu sprengen und auf der Newa-Brücke selbst, die der Zar bei der Fahrt passieren sollte, stellten sich 6 Bombenwerfer auf.

Sophia Perowskaja gab mit ihrem Schleier das Zeichen. In diesem Augenblicke warf Ryssakow eine Bombe unter den kaiserlichen Schlitten, die wohl einige Kosaken verwundete, ohne jedoch Alexander zu treffen; dieser sprang vom Schlitten, wurde aber im selben Moment, als er sich Ryssakow näherte, durch die Bombe des polnischen Studenten Hrynjewjezki (8) getötet.

Das nächste Ziel der Revolutionäre war erreicht, doch wie teuer erkauft. Die edelsten Streiter, die besten Köpfe, die Leiter der ganzen Bewegung, Scheljabow, die Perowskaja, Alex Michailow, Kibaltschitsch und andere wurden alsbald nach dem Attentat verhaftet und hingerichtet. Die Regierung dachte vor der Hand nicht daran, irgend welche Zugeständnisse zu machen; als aber die Sozialisten, die Herausforderung zum Kampfe annehmend, neue Anschläge bewerkstelligten - so im Jahre 1882 die Erschießung des Militärgouverneurs Strjelnikow durch Schelwakow -und weitere vorbereiteten, trat sie mit ihnen durch Mittelspersonen im Ausland in Unterhandlungen.

Diese Unterhandlungen wurden jedoch unterbrochen, als einige für die Partei „Narodnaja Wolja“ verhängnisvolle Ereignisse eintraten, so der Verrat des mit dem Tode bedrohten Degajew, die Verhaftung Lopatins im Jahre 1884, bei dem einige hundert Adressen gefunden wurden, sowie endlich eine Spaltung in der Partei selbst, welch alle Umstände ihren Niedergang herbeiführten. Zwar wurde noch einmal am 6. Jahrestage des Todes Alexander II. ein Attentat auf Alexander III. vorbereitet, doch war dies nur das letzte helle Aufflackern des Terrorismus vor seinem Ende, und seitdem gewann, nachdem eine Zeit lang überhaupt Stillstand geherrscht hatte, die dem Terrorismus und der Politik im allgemeinen abholde Richtung die Oberhand. Die erste und hauptsächlichste Aufgabe dieser Partei war die Aufklärung und Organisierung der Arbeiter.

Diese vieljährige und langwierige Arbeit, die nach außen hin über ein Jahrzehnt kein Lebenszeichen von sich gab, hat doch unter dem Einflusse der ökonomischen Entwicklung, des riesigen Anwachsens der Industrie, unerwartete Resultate hervorgebracht. Dies zeigte sich zum ersten Male während des Riesenstreiks im Jahre 1896, wo in Petersburg allein 200.000 Arbeiter wie ein Mann die Arbeit niederlegten.

Inzwischen war auch eine neue Generation der Studenten entstanden, die die glorreichen Traditionen ihrer Vorgänger vor 20 Jahren auf ihre Fahnen geschrieben hatte.

Im Jahre 1899 setzten die Studenten einen allgemeinen Streik ins Werk, um die schändliche polizeiliche Überwachung der Universitäten abzuschütteln, und von da ab kam es zu immer heftigeren Demonstrationen, da die Erbitterung der Studenten infolge der zwangsweisen Einreihung vieler Kollegen zu mehrjährigem Militärdienst nur noch gestiegen war. Anders gestaltete sich das Bild im Jahre 1901, als die Bewegung auf die Strasse überging und es in Petersburg, Moskau, Kiew, Charkow zu förmlichen Straßenkämpfen zwischen Kosaken und Studenten kam. Hier nämlich, bei diesen Kämpfen, zeigte es sich, welch große Umwälzung sich während der letzten 20 Jahre in der arbeitenden Bevölkerung vollzogen hatte. Dieselben Schichten, die in den 1870er und 1880er Jahren bei den Kämpfen zwischen Studenten und Polizei sich auf Seite der letzteren stellten und ihr Handlangerdienste leisteten, dieselben unterstützen jetzt offenkundig die Studenten und kämpften in allen Städten bei den Demonstrationen Arm in Arm mit der studierenden Jugend und Intelligenz. Unter dem Einflüsse des erneuten Kampfes lebte auch wieder der Terrorismus auf.

Bogoljepow, derselbe, welcher die Zwangseinreihung der Studenten ins Militär verschuldet hatte, wurde von den Schüssen Karpowitschs niedergestreckt und das Haupt der Reaktion, Pobiedonoszew, entging nur durch Zufall der Kugel Lagowskis. Als die Regierung sah, dass die Arbeiterschaft und die Intelligenz gemeinsame Sache mit den Studenten machte, suchte sie die letzteren vom Kampfe und von den Bundesgenossen zu trennen.

Als Entgegenkommen bot man den Studenten das Vereins- und Versammlungsrecht. Die Jugend nahm jedoch diese Abschlagszahlung nicht an, sondern trat mit der Forderung gleicher Rechte und Freiheit für Alle hervor.

Und wieder erneuerten sich im Jahre 1902 die Demonstrationen und Straßenkämpfe in noch viel gewaltigerem Maßstabe als früher. Hunderte von Männern und Frauen, Studenten und Arbeitern wurden von den vertierten Kosaken verstümmelt. Doch die Brutalitäten vermochten die Kämpfer nicht abzuschrecken, oder sie in ihrem Eifer zu erlahmen, sie erzeugten nur noch größere Verbitterung und Kampfeslust.

Der Kampf gewann an Ausdehnung und Bedeutung, als die Bauern und zwar die Kleinrussen (Ruthenen - Ukrainer) von ihrem tausendjährigen Schlafe erwachend, endlich, getrieben durch die Not, Verzweiflung und Hunger, sich gegen ihre Bedrücker erhoben. Sie überfielen die Güter der Grundbesitzer und nahmen das Getreide fort.

Schon seit langem gärte es in der gänzlich verarmten Landbevölkerung und es bedurfte nur irgend eines Impulses, eines Funkens "der Aufreizung“, um die Unzufriedenheit in eine offene Revolte umzusetzen. Eine Gruppe junger Enthusiasten setzte sich die Agrarpropaganda zum Ziele und ging ins Volk. Bald darauf brachen in der Provinz Poltava und Charkow Unruhen aus und schon stand die ganze Ukraine (Kleinrussland) in hellem Aufruhr.

Soldaten wurden aufgeboten; doch was geschah? Die Militärabteilung die zur Unterdrückung des Aufstandes ausgerückt war, weigerte sich auf den Befehl des Offiziers zu schießen. Ja, dieser wurde von den Soldaten selbst bedroht und musste die Kompanie zurückführen. Nebenbei bemerkt ist dies kein vereinzelter Fall, in vielen anderen Gegenden beobachteten die Soldaten dieselbe Haltung. Ohne Zweifel hat an diesem Vorgehen der Soldaten ein großes Verdienst die antimilitaristische Propaganda Tolstois, welcher folgenden Aufruf an die Soldaten erlassen hat:

„Man führt dich in ein Dorf oder Fabrik und du siehst von weitem das Wimmeln der Bevölkerung auf dem Platze: Männer, Frauen, Kinder, Greise. Gouverneur, Staatsanwalt, Polizei nähern sich der Menge und sprechen. Anfangs schweigt die Menge, dann beginnt sie lauter und lauter zu schreien und die Behörden entfernen sich. Du errätst, dass jene Leute Bauern oder Fabrikarbeiter sind, die sich empören und dass man dich hergeführt hat, um sie zu unterdrücken. Die Befehlshaber nähern und entfernen sich wiederholt von der Menge: die Schreie werden immer lauter, jene sprechen unter sich und man befiehlt dir dann, scharf zu laden. Du siehst vor dir ganz eben solche Leute wie jene, aus deren Mitte man dich zum Rekruten machte, Männer in Blouson, kurzen Hemden, Bundschuhen, Frauen, ebenso gekleidet wie deine Frau oder deine Mutter. Man befiehlt dir, zuerst über die Köpfe der Menge weg zu schießen, doch die Menge zerstreut sich nicht, sondern schreit immer lauter, und nun befiehlt man dir im Ernst, mitten in die Menge hinein zu schießen.

Man hat dir gesagt, dass du für deinen Schuss nicht verantwortlich bist. Doch du weißt, dass du und kein anderer jenen Mann getötet hast, der blutend zusammenstürzte, du weißt, dass er noch lebte, hättest du nicht geschossen. Was sollst du tun?

Es ist wenig, wenn du in solchem Fall deinen Gewehr ablenkst und dich weigerst auf deinen Bruder zu schießen, denn morgen kann sich dasselbe wiederholen; und darum musst du, ob du willst oder nicht, überlegen, was dieser Soldatenstand eigentlich ist, der dich zwingt, auf deine waffenlosen Brüder zu schießen.

Man lügt grob, wenn man dir sagt, dass die Befehlshaber für deine Handlungen verantwortlich sind und nicht du. Kann dein Gewissen wo anders sein, als in dir selbst? Beim Fähnrich, Korporal, oder wem immer?

Nein, niemand kann für dich entscheiden, was du zu tun oder zu lassen hast, denn der Mensch ist für seine Handlungen immer selbst verantwortlich.

Wenn der Soldat vor Ausführung der Befehle seiner Vorgesetzten entscheiden muss, ob diese Befehle nicht gegen den Zaren sind, wie viel mehr wird er sich nicht fragen müssen, ob sie nicht wider den höchsten Zaren, wider Gott, sind? Nun ist aber der Mord dem Willen Gottes am meisten zuwider. Und darum kannst du den Menschen nicht gehorchen; gehorchst du und tätest du dennoch, so tust du das nur zu deinem persönlichen Vorteil um nicht bestraft zu werden.

Wenn du also auf Befehl eines Vorgesetzten tätest, so bist du eben so gut ein Mörder, wie der Räuber, der einen Kaufmann umbringt, um ihn zu berauben.

Der Räuber wurde vom Golde verführt und du handelst, um von deinen Vorgesetzten nicht bestraft, vielmehr belohnt zu werden. Aber immer ist der Mensch für seine Handlungen selbst verantwortlich vor Gott. -

Und keine Macht der Welt kann, wie es die Vorgesetzten wollen, aus einem lebenden Menschen ein totes Werkzeug machen, dessen man sich beliebig bedient. Christus lehrte die Menschen, dass sie alle gleichmäßig Gottes Kinder sind, und deshalb darf der Christ sein Gewissen nicht in den Dienst anderer Menschen stellen, wenn sie sich auch Zar, König, Kaiser nennen.

Die Tatsache, dass gewisse Menschen, welche sich Macht über dich anmaßen, von dir den Brudermord verlangen, beweißt, dass diese Menschen Betrüger sind, und dass du ihnen nicht gehorchen darfst.

Schmachvoll ist die Lage der Prostituierten, die immer bereit sein muss, ihren Körper der Unreinheit hinzugeben, demjenigen, der sich zu ihrem Herrn macht; doch schmachvoller noch ist die Lage des Soldaten, der immer zum höchsten Verbrechen bereit sein muss: zum Mord jedes Menschen, welchen ihm sein Vorgesetzter bezeichnet.“

Neue Truppen wurden aufgeboten und von diesen wurde unter den Bauern ein furchtbares Gemetzel angerichtet. Die Kosaken feierten förmliche Orgien von Bestialität, die den Tartaren alle Ehre gemacht hätten. Sie fielen in die Hütten der Bauern ein, raubten, plünderten alles und vergewaltigten deren Frauen und Töchter. Der Gouverneur von Charkow Fürst Obolenski (9) ließ Hunderte von Gefangenen auspeitschen wobei viele unter den Knuten ihr Leben liessen.

Die verschiedenartigsten Legenden und Gerüchte kreisen, wie der Kiewer Korrespondent des „Naprzod“ erzählt, unter den Bauern. In allen Legenden figurieren die Studenten als Sachwalter des Volkes. Hier und da spukt noch die Kunde vom Zaren, dass er den Bauern helfen wolle, dass sich ihm aber darin die Minister, der Synod und der Adel widersetze. Doch sogar in solchen Versionen treten als Vertreter der Unterdrückten neben dem Zaren die Studenten auf. Es bestehen jedoch Versionen, dass „die Studenten, d.h. sehr kluge Leute, die auf den höheren Anstalten Unterricht genießen, zur Wahrheit gelangt sind.“ Da die Regierung nichts wert sei, beschlossen sie ihre Beseitigung. Sie wollen Ordnung machen, so dass es jedem gut gehe. Zur Unterdrückung rufen sie die Bauern und Arbeiter auf. Die Bauern seien auch an vielen Orten aufständig, und es hätten sich vielleicht alle angeschlossen, wenn nicht das Militär, das so dumm sei auf die eigenen Brüder zu schießen.

Aus diesen Versionen, die alle authentisch sind, ersieht man, dass der Glaube an den Zaren, dieses unüberwindliche Hindernis, an dem alle revolutionären Bewegungen scheitern mussten, nach und nach schwindet, um einem vernünftigen Verständnis der Dinge Platz zu machen.

Waren die Schüsse Karpowitschs (1901) bloß das Pronunciamento [span.: Putsch], so sorgte die Regierung durch ihre Brutalitäten, durch den weißen Schrecken, die Auspeitschung der Häftlinge, dafür, dass bald der terroristische Kampf regelrecht auf allen Linien entbrannte. Wieder war es Trepow in Moskau, gegen den die ersten Schüsse - jedoch erfolglos - fielen. Bald darauf - am 14. April 1902 - tötete der Kiewer Student Balmaschew den Nachfolger Bogoljepows in der Brutalität und Drangsalierung der Revolutionäre, den Minister des Innern Seipiagin.

Die revolutionären Sozialisten Russlands, die eine starke Organisation und mehrere Geheimdruckereien im Lande besitzen, erließen daraufhin einen Aufruf, der die Stimmung aller freiheitlich denkenden Menschen klar zum Ausdruck bringt. Es heißt darin:

„Russland überlebt eine finstere historische Nacht, eine Zeit des Kampfes um Leben und Tod. Es gibt keine Sphäre des Lebens, die nicht vom Schmutze der Reaktion besudelt worden wäre. Alles, was von Menschen und Gerechtigkeit spricht, erleidet Tod und Verbannung. Alles ist dem Moloch des Absolutismus zum Opfer gebracht: Hunger, Tränen und Jammer. Das lebendig begrabene Russland rührt sich unter dem Grabesdeckel, es fleht um Leben und Freiheit, und es erhält Schläge und Kerker. Der Schreck lässt die menschliche Seele erstarren, die Verzweiflung über die Zukunft des Heimatlandes erfüllt das Herz, und unschätzbar ist das Verdienst des Helden, der in dieser schweren Zeit den Glauben an den Sieg der Wahrheit gibt und diese Atmosphäre der Finsternis und der Verzweiflung mit der Größe seiner Heldentat beleuchtet. Auch unser Leben schafft Helden. Am 15. April ist der Minister des Innern getötet worden. Das geschah im Namen der Freiheit des Menschen, im Namen dessen, was allein das Leben vergeistigt und ihm Sinn und Wert verleiht. Er musste sterben, weil er das Leben geschändet hatte. Das war die Vergeltung für die Verfolgung der menschlichen Gedanken, für die Zertretung der Menschenrechte. Das wurde getan, zur Entgeltung für die Erniedrigung Russlands zu den Füssen der absolutistischen Bande. Es war die Antwort auf die Legalisierung der Knute. Es war die Rache für die Verbannung der besten Menschen Russlands, für die Metzelei auf den Strassen. Es war die Antwort auf die Selbstmorde in den Gefängnissen, auf alle Demütigungen und Beleidigungen mit denen die Wände der Kerker gefüllt sind. Wenn die Heimat, jetzt noch eine Sklavin, einst das Wort spricht: „Es werde Licht“, dann wird sie auch mit Stolz ihres Helden gedenken und wird seine Heldentat auf die Blätter ihrer Geschichte eintragen."

Andererseits sucht die Regierung durch die härtesten Maßregeln - Auspeitschung und Hinrichtung der Gefangenen - der Bewegung Herr zu werden, natürlich mit gerade entgegengesetztem Resultate, da durch die Grausamkeiten nur noch neue Rächer und Märtyrer geschaffen werden, wie z. B. Hirsch Lekuch, der im Mai auf den Wilnaer Gouverneur Wahl einige Schüsse abgab.

Die gegenwärtige Situation, der gewaltige Kampf der Revolutionäre findet den besten Ausdruck in folgenden Worten, die Kropotkin schon vor ungefähr 20 Jahren niedergeschrieben hat:

„Männer von Herz, die nicht nur reden, sondern handeln wollen, reine Charaktere, welche Gefängnis, Verbannung und Tod einem Leben vorziehen, dass ihren Grundsätzen widerspricht, kühne Naturen, die wissen, dass man wagen muss, um zu gewinnen” das sind die verlorenen Posten, die den Kampf eröffnen, lange bevor die Massen reif sind, offen die Fahne der Empörung zu erheben und mit Waffen in der Hand ihr Recht zu suchen. Mitten in dem Klagen, Schwätzen, Erörtern, erfolgt durch einen oder mehrere eine aufrührerische Tat, die die Sehnsucht aller verkörpert.

Vielleicht bleibt die Masse zuerst gleichgültig und glaubt den Klugen, welche die Tat „verrückt“ finden, aber bald jauchzt sie den Verrückten heimlich zu und tut es ihnen nach. Während die ersten von ihnen die Zuchthäuser füllen, setzen bereits andere ihr Werk fort. Die Kriegserklärungen gegen die heutige Gesellschaft, die aufrührerischen Taten, die Racheakte vermehren sich. Die allgemeine Aufmerksamkeit wird rege, der neue Gedanke dringt in die Köpfe und gewinnt die Herzen. Eine einzige Tat macht in wenigen Tagen mehr Propaganda als tausend Broschüren. Die Regierung wehrt sich, sie wütet erbarmungslos, aber hierdurch bewirkt sie nur, dass weitere Taten von einem oder mehreren begangen werden, und treibt die Empörer zum Heldenmut. Eine Tat gebiert die andere. Gegner schließen sich dem Aufruhr an; die Regierung wird uneins; Härte verschärft den Streit; Zugeständnisse kommen zu spät; die Revolution bricht aus."

Jawohl, eine Revolution bricht aus in Russland und nichts wird ihr unerbittliches Herannahen aufhalten können. Unsere Brüder haben nicht das erste Mal schon den Beweis erbracht, dass sie sich nicht durch Gefängnis, Verbannung, Folter oder Tod einschüchtern lassen und bis zum letzten Atemzug für ihre Ideale, für die Freiheit zu kämpfen und im Notfalle zu sterben wissen.

Eine Sache, die solche Vorkämpfer hat, kann nicht besiegt werden.

Ihr gehört die Zukunft, ihr der endliche Triumph!

Fußnoten:
1) Peter Kropotkin: „Anarchistische Moral.“
2) Der Vollständigkeit halber sei hier noch ein dritter hervorragender russischer Schriftsteller genannt,
der Blanquist und Jakobiner Peter Tkatschew, der die Notwendigkeit der politischen Revolution und
Ersetzung der gegenwärtigen Regierung durch eine andere betonte - der jedoch nie irgend welchen
Einfluss auf die Taktik der russischen Sozialisten erlangte.
3) Da der russische Bauer gegen jeden europäisch gekleideten Menschen Misstrauen hegt und ihn -
teilweise mit Recht - als seinen Feind und Ausbeuter betrachtet.
4) Zitiert nach P. Axelrods „Entwicklung der sozial-revolutionären Bewegung“
5) Diese Worte sind der Ausdruck der Sehnsucht des Volkes nach einer gerechten Verteilung des
Bodens (Axelrod).
6) Sie sollte dann zwar trotzdem administrativ nach Sibirien verschickt werden, wurde aber von den
Studenten den Gendarmen entrissen und floh ins Ausland.
7) Vetter Peter Kropotkins.
8) Derselbe starb einige Stunden später an den Verletzungen, die die Bombe auch ihm beigebracht
hatte.
9) Obolenski wurde, wie berichtet wird, bereits von der rächenden Hand eines Revolutionärs getroffen.

Originaltext: Anarchosyndikalistische Flugschriftenreihe Nr. 312 (PDF). Bearbeitet von www.anarchismus.at