Ein Leben lang war sie der schwarzen Fahne treu

1990 starb Liesel Albrecht (1903-1990), Vorsitzende des Anarchistischen Frauenbundes Deutschlands und letzte Freundin von Erich Mühsam.

Im Jahr der Wende hat sie Abschied genommen von ihren alten Freunden. Von Erich Mühsam, der auf dem Dahlemer Waldfriedhof begraben liegt, seit 57 Jahren. Von Fritz Scherer, der 70 seiner 85 Jahre unter der schwarzen Fahne der Anarchie gelebt hat. Abschied genommen vom Reichstag, dort ist 1918 die Republik ausgerufen worden; vom Scheunenviertel hinterm Alexanderplatz, wo einst die schwärzesten aller Anarchisten wohnten; schließlich vom Wittenbergplatz und dem kleinen Café, in dem sie sich vor sechs Jahrzehnten heimlich mit Erich Mühsam traf, dem großen Anarchisten, erfolglosen Revolutionär und sanften Poeten. Ihn haben die Nationalsozialisten 1934 auf der Toilette des KZs Oranienburg erhängt.

Liesel Albrecht fühlte, dass der Tod nahe war. 1903 in Moabit geboren, hat sie alle namhaften Anarchisten dieses Jahrhunderts gekannt - und alle überlebt. 1926 wählte man sie zur Vorsitzenden des „Anarchistischen Frauenbundes Deutschlands“. Die Zeit ist fern. Kaum einer erinnert sich noch daran, dass damals die Anarcho-Zeitschrift „Der Syndikalist“ in Berlin eine Auflage von gut 100.000 hatte (mehr als die Taz heutzutage). In ihrer Jugend glaubte sie an ein Reich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und daran, dass sie den Anbruch dieser anarchistischen - das heißt wörtlich: herrschaftsfreien - Gesellschaft noch erleben werde. Daraus wurde nichts.

Die Anarchie ging unter, als Liesel Albrecht der schönen Utopie ihr Leben geweiht hatte, schon in den zwanziger Jahren. Damals traf man sich im Neuköllner Lokal „Köhler“, Zietenstraße 64. Erich Mühsam, 1919 ein bayerischer Räterepublikaner, danach Festungshäftling, war der gute Geist der „Anarchistischen Abende“. Die waren immer donnerstags, ihr Organisator hieß Gustav Lübeck (der 1897 der polnischen Jüdin Dr. Rosa Luxemburg durch eine Pro-forma-Heirat zur preußischen Staatsbürgerschaft verholfen hatte). Mit von der Partie waren aber auch so „zwielichtige“ Gestalten wie Herbert Wehner, der 1926 Liesel Albrecht mit dem Vortrag „Zurück zu Bakunin“ belehrte. Kurz darauf machte er sich mit der Portokasse auf zu den Kommunisten/Stalinisten.

Liesel Albrecht hatte den „Verräter“ trotzdem in guter Erinnerung. Der sächsische Herbert war nämlich höflich zu den Frauen, das waren die anderen Anarchisten nicht, und er konnte sanft Mundharmonika spielen, nur er allein. Liesel Albrecht verliebte sich in einen anderen Anarchisten, „einen Freund der Frauen“, wie sie sich später erinnerte, vieler Frauen. Der hieß Paul Albrecht, wurde aber „Sitten-Paul“ genannt, weil er so feurig von der freien Liebe und dem Tod der Ehe reden konnte. Als ein Kind unterwegs war, heiratete die schöne Elisabeth den beredten Paul. Die Ehe ging schief. Auch politisch lief man auseinander. Paul Albrecht wurde wie Wehner KPD- Mann, Mitglied des Reichstags, später KZ-Insasse, nach dem Krieg in Halle Vorsitzender des Gewerkschaftbundes, ein SEDist.

Liesel Albrecht blieb der schwarzen Fahne treu. Der Anarchistische Frauenbund, deren Vorsitzende die Mühsam-Vertraute war, gedieh allerdings nicht recht, obwohl sich Liesel Albrecht redlich mühte, die Grenzen des Lokals Köhler zu sprengen. Gemeinsam fuhr man in den Thüringer Wald, dort gab es die Bakunin-Hütte. Gemeinsam agitierte man gegen NSDAP, KPD, Kapital und Kirche. Die Losung hieß: „Die Regierung des Menschen über den Menschen ist Sklaverei“ und stammte vom französischen Altanarchisten Pierre-Joseph Proudhon. In den großen Zeiten, Ende der zwanziger Jahre, hatte der Anarchistische Frauenbund Deutschlands (so erinnerte sich Frau Albrecht im Jahr vor ihrem Tod) im ganzen Reich alles in allem 26 Mitglieder. MitgliederInnen? Das hätte Liesel Albrecht weder geschrieben noch ausgesprochen. Sie hielt es bis zum Ende mit dem russischen Anarchisten Fürst Kropotkin: „Wir wollen keinen Kompromiß mit den Umständen schließen.“

Als die Nazis an die Macht kamen, verhaftete man ihren Freund Erich Mühsam. Liesel Albrecht verlor ihre Arbeit als Sprechstundenhilfe bei einem jüdischen Gynäkologen. Die Anarchisten wurden in die KZs eingeliefert, ins Exil getrieben oder in die innere Emigration. Liesel Albrecht bezog eine Einzimmerwohnung in Mitte, Hinterhof. Unter dem Bauschutt, der den Dachboden vom obersten Stockwerk isolierte, versteckte sie die Papiere der „Roten Gewerkschaftsopposition“ (eine Freundschaftstat für ihren geschiedenen Mann) und die anarchistischen Bücher. Das konnte den Kopf kosten. Der Volksgerichtshof hat wegen sehr viel weniger die Todesstrafe verhängt. Vier Bücher haben unter dem Schutt die Nazis, den Bombenkrieg und die SED-Herrschaft überlebt. Zwei sind von Rudolf Rocker, eines von Johann Most (Das Leben eines Rebellen), das vierte ist ein Band der gesammelten Schriften des großen Anarchisten Michael Bakunin.

Seinem Glaubenssatz „Die Freude an der Zerstörung ist eine schöpferische Freude“ hat Liesel Albrecht nichts abgewinnen können. Sie war schließlich eine vitale Berlinerin aus dem Arbeiterviertel Moabit, aufgewachsen mit vier Geschwistern, Alkohol und Nikotin abgeneigt, noch mit 85 Jahren als Schwimmerin aktiv. Ihre Ideale galten dem Aufbau. Nach 1945 hoffte sie auf das Verfügungsrecht des Produzenten bei der Produktion, auf die Selbstbestimmung des einzelnen. Auch daraus wurde nichts.

Junge Anarchisten, die das große A im Kreis sprühen, haben niemals Kontakt zu ihr gesucht. Wie hätte man sich auch verständigen sollen? War Liesel Albrecht nicht ein Fossil aus längst vergangenen Zeiten? Dem Gustav Landauer – „Nie kommt man durch Gewalt zur Gewaltlosigkeit“ - zugetan und nicht dem „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. So hielt sie nur Verbindung mit den Mitstreitern aus längst vergangenen Tagen, die mit ihr alterten und vor ihr starben.

Sie war die letzte aus großer Zeit. Liesel Albrecht starb den Tod der armen, alten, einsamen Frauen. Im 87. Lebensjahr, auf 490 DM Ostrente gesetzt, stürzte sie am 13. März 1990 in ihrer Einzimmerwohnung, Ostseestraße 56. Rettungssanitäter brachten sie mit einem gebrochenem Bein in das Krankenhaus Prenzlauer Berg. Liesel Albrecht kannte dort niemanden, und niemand kannte sie. Am 26. März 1990 starb sie. Man hat ihren Körper verbrannt und die Asche auf dem Zentralfriedhof am Baumschulenweg beigesetzt. Dort deckt sie der grüne Rasen. Einen Grabstein hat Liesel Albrecht sich verbeten.

Hans H., Taz-Berlin vom 04.04.1991, Seite 28

Originaltext: http://www.free.de/schwarze-katze/texte/a05.html