Thesen zur AG "Antipädagogik - oder die Kraft der Negation" (Libertäre Tage 1993)

I. Es gibt in der pädagogischen Diskussion seit den 70er Jahren in der BRD wohl keine Ideen und Konzepte, die die Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung, sprich: Pädagogik, mehr herausgefordert, provoziert und in Frage gestellt haben, wie die Antipädagogik und Kinderrechtsbewegung.

Entgegen den späten 70er und frühen 80er Jahren, ist es derzeit jedoch eher ruhig in der Auseinandersetzung "Antipädagogik contra Pädagogik" geworden. Es scheint, als ob die "Sturm und Drang-Jahre" dieser Diskussion vorüber sind und der pädagogische Alltag mit mehr "Mut zu Erziehung" wieder die Diskussion prägt:


Diese zwei Aspekte prägen heute, nach ca. 20 Jahren Kinderrechtsbewegung (in den USA) und Antipädagogikdebatte (in der BRD seit 1975), den Stand der Auseinandersetzung. Das heißt: Weder "vom Ende der Erziehung" noch vom "Ende der Antipädagogik" kann heute gesprochen werden. Eine Tendenz wird jedoch immer deutlicher: In dem Maße, wie die gesellschaftliche und politische Entwicklung die heutige Wissenschaften vor neue Aufgaben, Erklärungen und Lösungen stellt und diese einklagt, in dem Maße täte die Pädagogik gut daran, "heilige Kühe" zu schlachten, wenn sie weiterhin daran interessiert ist, öffentliche Legitimation zu erlangen. Pädagogik und Erziehungswissenschaft sind ein hoch subventioniertes Konstrukt, von dem behauptet wird, das es einen wichtigen gesellschaftlichen Nutzen erfüllt. Jedoch: Ist die Welt seit der "Erfindung der modernen Pädagogik" vor etwa 400 Jahren besser, gerechter und lebenswerter geworden? Das Problem der heutigen Pädagogik ist vor allem eine Legitimationskrise im Zeitalter der "Postmoderne". Es muß heute mehr denn je die Frage gestellt werden, ob Pädagogik in der Lage ist, die an sie gestellten Aufgaben mit dem traditionellen Instrumentarium und den klassischen Werten lösen zu können.

Pädagogik hat eine Verpflichtung übernommen und trägt das Banner des Edlen, Guten und Wahren stets und gerne vor sich her um sich zu rechtfertigen. Die Pädagogik und die PädagogInnen legitimieren sich mit gesellschaftlicher Verantwortung und entsprechend muß diese Verantwortung auch ständig überprüft werden. Die Pädagogik kann sich momentan jedoch immer weniger hinter einer Ideologie (Scheintheorie) oder einen Beamteneid zurückziehen - sie wird von der Öffentlichkeit zunehmend in die Pflicht genommen und gerät unter Legitimationsdruck.

In diesem Sinne könnte die Antipädagogik mehr sein als "nur" eine Herausforderung an die Pädagogik: Sie wird zum notwendigen Bestandteil pädagogischen Denkens und Handelns um Bildung und Erziehung vor den gröbsten Fehlern zu bewahren. Die Pädagogik selbst - dies lehrt die Geschichte - kann dies aus eigener Kraft nur selten erfüllen. Das heißt: Antipädagogik als kritische Instanz und Praxis wird maßgeblich zum Überleben der Pädagogik im Zeitalter der "Postmoderne" beitragen können, gewollt oder nicht, bewußt oder unbewußt. So stellt sich nach "20 Jahren Antipädagogik" in erster Linie die Frage, wie der erziehungsfreie Impuls gesellschaftlich umgesetzt werden kann, welche Praxis aus der Theorie folgt. Der Streit um die Theorie und Semantik, der vor allem publizistisch ausgetragen wurde, ist heute sinnlos geworden. Die Praxis muß überzeugen - und hier tun sich sowohl PädagogInnen als auch AntipädagogInnen nach wie vor schwer.

Ulrich Klemm

September 1992

Originaltext: http://www.anarchismus.de/libertaere-tage/lt1993/infomappe/klemm2.htm