Vorwort Rudolf Rockers in "Hinter stekhige droht un grates: erinerungen fun der krigs-gefangenshaft in england"

Es ist mir ein ganz besonderes Vergnügen für die jiddische Übersetzung meines Buches ein paar Worte zu schreiben. Dabei befinde ich mich in einer ungewöhnlichen Situation, die nicht jeder leicht verstehen und begreifen wird. Durch einen Zufall geriet ich in die Gassen der jüdischen Welt. Früher wusste ich nicht, wie es dort ist.

Als mich die politische Verfolgung zwang das Land zu verlassen in dem ich geboren wurde und ich später dann erstmals die Bekanntschaft jüdischer ArbeiterInnen aus Polen, Russland und Eretz Israel machte, war das für mich eine ganz neue Erscheinung.

Das Judentum war für mich bloß eine Religion, genau wie der Katholizismus und Protestantismus. Dass es aber eine eigene Bevölkerungsgruppe darstellt, habe ich nicht gewusst. Als ich sah, dass es unter den jüdischen ArbeiterInnen eine Bewegung mit sozialistischen und freiheitlichen Strömungen, eine Bewegung mit eigener Presse, Literatur und Propaganda gab, wie woanders auch, hat das auf mich einen ungewöhnlichen und fremdartigen Eindruck gemacht.

Noch in jener Zeit konnte ich nicht ahnen, dass ich eines Tages selbst ein aktiver Teil dieser Bewegung werden würde und ein bekannter Aktivist zwischen den jüdischen Massen. Ich kam nach London, wo das Wunder eintrat, dass ein Nicht-Jude der Chefredakteur einer jiddischen Zeitung wurde und über zwanzig Jahre lang seine ganze Kraft für die jüdische Arbeiterbewegung einsetzte.

Es waren die besten Jahre meines Lebens, die ich unter der jüdischen ArbeiterInnenschaft verbrachte und deshalb sind auch die Eindrücke davon so frisch und unzerstörbar geblieben.

Ist ein Mensch jung und voller Begeisterung für eine große Idee, dann hat das Leben für ihn eine ganz besondere Bedeutung. In den jungen Jahren kennt man keine Unmöglichkeiten, man findet leicht Freunde und GesinnungsgenossInnen und man schafft sich seine eigene Welt, die einem für immer im Gedächtnis bleibt.

So war das auch bei mir. Ich fand in diesen zwanzig Jahren viele FreundInnen, viel Sympathie und Liebe. Die besten Freunde erkennt man in der Not, wenn man alleine ist, hilflos und verlassen von der Welt. Das wurde mir in den finsteren Jahren des Krieges klar, als die ganze Welt voller Hass, Mord und Feigheit gewesen ist. Als ich damals ruhig zuschauen musste, wie die Arbeit vieler Jahre innerhalb weniger Monate zerstört worden ist, erst damals verstand ich was es bedeutet gute und liebe FreundInnen in der Not zu besitzen, die sich damals nicht von den finsteren Mächten beeinflussen ließen, welcheüber die ganze Welt hereingebrochen waren.

Wer sich die Mühe macht über mein Buch nachzudenken, das eines der dunkelsten Kapitel menschlichen Mordens beinhaltet, wird meine Gedanken verstehen und begreifen, warum ich in Stunden des Schmerzes und Unglücks dennoch glücklich gewesen bin.

Wenn ein Mensch auf so viel Liebe und Sympathie in seinem Leben traf, wie ich es im Kreis meiner jüdischen Freunde und Kameraden während den zwanzig Jahren meiner Tätigkeit erleben durfte, dann hat er kein Recht sich zu beklagen, auch dann nicht, wenn er durch die Hand eines grausamen Schicksal leiden muss. Gute und ehrliche Freunde zu haben, Menschen, die mit einem fühlen und sich in die Seele des anderen versetzen können - ist das höchste Glück, dass sich ein Mensch wünschen kann.

Die Kriege und ihre Folgen beeinflussten meinen eigenen Lebensweg. Man gab mir überhaupt keine Zeit mich von meinen lieben Freunden, mit denen ich über so lange, lange Jahre eng verbunden war, zu verabschieden.

Das Schicksal führte mich wieder in das Land, in dem meine Wiege stand, wo ich auf die gleiche Arbeit und die gleichen Ideen traf, wie zu jener unvergesslichen Zeit in England. Ich befinde mich jetzt in einem Land und zwischen Menschen, deren Geschichte, Traditionen und deren Sprache mir sein Kindheitstagen vertraut sind. Und auch heute bin ich von guten Freunden und alten Kameraden umgeben, die mir teuer sind.

Doch ich sehne mich mehr und mehr zu jener glücklichen Zeit in London zurück und denke immer öfter an die vom Schicksal zerstreuten lieben Freunde, die ich überall auf der Welt zurücklassen musste . Es war zwar eine Zeit mit viel Ärger und materiellen Sorgen, und doch zugleich war sie voller nobler Gefühle, Ideale und außergewöhnlichen Stimmungen.

In der Jugend fallen einem tiefe Beziehungen von Mensch zu Mensch leichter und das Band der Freundschaft knüpft sich einfach. In den späteren Jahren ist das schwerer, man sucht und sucht, doch selten findet man etwas etwas, das einem zu Herzen geht. Daher bleiben die Eindrücke aus der Jugend so frisch und lebendig wie ein schöner Garten, in dem es keinen Herbst und keine verwelkten Blätter gibt.

Als ich im Jahr 1925 nach Amerika fuhr, um dem Ruf meiner jüdischen Kameraden zu folgen, war das für mich ein besonderes Ereignis. Damals fühlte ich das erste Mal richtig, dass die lange schwere Arbeit in England nicht umsonst gewesen ist. Es gab keine Stadt in Kanada oder den Vereinigten Staaten, wo ich nicht auf alte, liebe Bekannte traf. Und überall nahm man mich mit so viel Freundschaft und ehrlicher Liebe auf, dass ich mich oftmals schämte , da ich wusste, dass ich so viel Sympathie wirklich nicht verdient habe.

Doch ich fühlte auch, dass es nicht nur der Wert meiner eigenen Person gewesen ist, der überall so viel natürlichen Enthusiasmus hervorrief. Es waren die Erinnerungen an die prachtvolle Jugend mit ihren Idealen, ihrer innerlichen Schönheit, welche die Herzen aller aufmunterte, die ich wiedersah. Für sie war ich die lebendige Verkörperung einer Zeit, die für sie die schönste Periode in ihrem Leben gewesen ist. Ich löste bei ihnen Erinnerungen an die eigene Jugend aus. Die meisten von ihnen leben heute in besseren Umständen wie damals in den Londoner Jahren, als sie das schwere Joch der Armut und Schmerzen auf sich trugen. Trotzdem sehnt es sie zu jener Zeit, da sie so reich an neuen Eindrücken und schönen Gedanken gewesen ist. Die Tatsache, dass diese Sehnsucht bei ihnen noch nicht erloschen ist, ist der beste moralische Kredit für jene vergangenen Jahre, zu deren Glanz ich ein wenig beitragen durfte.

Dieser Sehnsucht ist es zu verdanken, dass mein Buch heute auf dem jiddischen Buchmarkt erscheint. Die Genossen in Toronto brachten den Plan zur Herausgabe meiner Schriften erneut auf, ein Plan, mit dem sich bereits vor dem Krieg Freunde aus Los Angeles beschäftigt hatten. Doch der Krieg zerstörte alle Pläne. Als ihn die GenossInnen aus Toronto dann erneut ans Tageslicht holten, traf das insgesamt auf sehr viel Widerhall, so dass ein Komitee gegründet wurde, das sich zum Ziel genommen hat die Schriften, die in den vergangenen Jahren von mir erschienen sind, in jiddischer Sprache zu veröffentlichen.

Ob sich diese Arbeit gelohnt hat, kann nicht ich, sondern müssen die LeserInnen entscheiden. Ich aber denke, dass die vielen hundert jüdischen ArbeiterInnen, mit denen ich früher, während meiner Tätigkeit für den "Arbeter fraynd" und "Zsherminal", eng befreundet war, sich auch heute noch für die Entwicklung meiner Anschauungen und Ideen interessieren.

Daher bedanke ich mich herzlich bei all denjenigen, welchen an der Verwirklichung des Planes mitgeholfen haben und zukünftig mithelfen werden, den sich das Komitee in New York vorgenommen hat.

Berlin, Februar 1927

Rudolf Rocker

Quelle: Rudolf Rocker. Hinter stekhige droht un grates: erinerungen fun der krigs-gefangenshaft in england. Bd.1, i. Jid. übers. v. Avraham Frumkin. New York: Rudolf roker shriften komitet, 1927.

Originaltext: http://rockerrevisited.blogspot.de/2012/02/vorwort-rudolf-rockers-zu-hinter.html