Rudolf Rocker - Dem Andenken einer alten Freundin (Emma Goldman)

Es fällt heute so schwer, von jenen zu sprechen, die nicht mehr sind. Fast könnte man sie beneiden, denn sie fühlen nicht länger den Alpdruck, der auf unseren Seelen lastet, fühlen nicht mehr die schwere Not einer Zeit, die so viel stolze Hoffnungen geknickt, so viel Blut, Tränen und namenloses Leid über alle Völker der Erde gebracht hat.

Es war in London zur Zeit des südafrikanischen Krieges, als ich Emma Goldman persönlich kennenlernte, von der ich bereits so manches vernommen hatte. Sie stand damals in der Blüte ihres Lebens, das Herz geschwellt mit tausend Hoffnungen und kühnen Plänen für die Zukunft. Wir wurden damals gute Freunde und sind es geblieben, bis ihr der Tod die Augen zudrückte.

Nicht von besonderen politischen Anschauungen soll hier gesprochen werden, sondern von Emma Goldman als Persönlichkeit und Verkünderin eines neuen Menschentums, das unserem Dasein allein Inhalt und Farbe geben kann. Denn die eigentliche Größe dieser unerschrockenen Frau bestand in ihrem furchtlosen Kampfe gegen begangenes Unrecht, ihrem tiefen Verständnis für das leise Empfinden der Menschenseele und die ringende Sehnsucht nach Freiheit, Schönheit und menschlicher Würde.

Es war ein erschütterndes, von Menschen an Menschen begangenes Unrecht, das Emma auf die dornige Bahn des Rebellen verschlagen hatte. Auf den frischen Lebenslauf ihrer frühen Jugend fielen die düsteren Schatten der Galgen von Chikago (11. November 1887 Hinrichtung der Organisatoren der Chikagoer Achtstundentagbewegung) und mahnten ein junges Menschenherz zur Einkehr und Sammlung. Emma folgte der inneren Stimme, die stärker zu ihrem Gewissen sprach, als der Zwang geschriebener Satzungen und vergilbter Überlieferungen. Doch sie lebte, wie Hoffmanns Kreisler, in einer Welt der Hundertprozentigen, die nur gelten ließ, was durch Alter und Herkommen geheiligt war. Nur Toren und Verkehrtgeborene bauen Brücken nach dem Monde und rütteln mit frevelhafter Hand an der satten Ordnung der von der Vorsehung mit irdischen Lebensgütern Gesegneten.

Und doch hatte diese Ausländerin tiefere Beziehungen mit den besten Überlieferungen ihres neuen Heimatlandes als jene traurigen Philisterseelen, die stets bestrebt sind, alle Äußerungen des Lebens auf bestimmte Normen festzulegen und den geistigen Stillstand und die satte Selbstzufriedenheit in Gesetzen zu verewigen. Denn in ihren Worten glühte noch der lebendige Hauch, der einst Jefferson und Thomas Paine, Thoreau und Emerson und so manche andere beseelte. Wie Walt Whitman, der Seher, so stand auch sie an "the open road", um nach neuen Horizonten Ausschau zu halten, denn sie verachtete die innere Gebundenheit und alles durch die Trägheit des Geistes Geheiligte.

Deshalb ging es ihr wie Multatulis jungem Somojeden. Die Somojeden waren seit Menschengedenken Hundertprozentige. Sie wuschen sich nie und salbten den Leib mit ranzigem Öl, daß man sie schon drei Meilen weit riechen konnte. Für Fremde, die sich in jene Breiten verirrten, war das zwar nicht angenehm, doch es war der Väter Brauch und jeder gute Somojede schwur mit heiligem Eifer, daß es auf Gottes schöner Erde für die Nase nichts köstlicheres gäbe als ehrlicher Dreck und ranziges Öl. Doch da geschah es, daß ein junger Somojede sich vermaß, ein Bad zu nehmen und sich den Leib mit Kölnischem Wasser zu betupfen, das ihm irgend ein ruchloser Ausländer in die Hände gespielt hatte. Woher ihm der verruchte Gedanke gekommen war, das wußte niemand, doch war jeder überzeugt, daß der Teufel dabei seine Hand im Spiel hatte. Da steckten die großen Weisen des Somojedenstammes die klugen Köpfe zusammen, um dem Frevel Einhalt zu gebieten.

"Du bist ein Mensch ohne Sitten!", sagten sie. Doch der junge Verbrecher hörte nicht auf sie, denn sein Herz war verhärtet. Ja, er besaß sogar die Vermessenheit zu behaupten, daß Waschen der Gesundheit dienlich sei und Kölnisches Wasser besser rieche als ranziges Öl. Da schlugen sie ihn in gerechter Entrüstung mit einem alten Seehundsknochen halbtot und verjagten ihn von der geweihten Erde der Väter.

Schlimmeres als jener gottlose Somojede hatte die vielgeschmähte "rote Emma" auch nicht getan; Sie wollte die Welt von der Häßlichkeit des Elends befreien, wollte Sonnenschein und Hoffnung in die müden Seelen der von geistiger und körperlicher Armut Geschlagenen tragen und sie zum Kampfe gegen tausendjähriges Leid und Unrecht anregen. Sie fühlte im eigenen Herzen die Not der Zeiten, die wie ein Fluch aus grauer Vorzeit auf Millionen lastete und ihnen den Platz am Tisch des Lebens versagte. Recht forderte sie in einer Welt, die das Kainszeichen allen Unrechts auf der Stirne trug, Wahrheit in einer Gesellschaft, die nur der Lüge diente und dem Trug der Stunde.

Weshalb sie das tat? Weil sie nicht anders konnte; weil sie nicht zu den Hundertprozentigen gehörte, für die das Bestehende die beste aller Welten ist. Doch die Somojeden sind stark und unerbittlich. Wehe dem, der nicht auf ranziges Öl schwört und nicht von ranzigem Geiste besessen ist! Ein Charakter wie Emma konnte nicht leicht einen Platz in dieser Welt finden. Deshalb mußte sie so oft den alten Seehundsknochen fühlen und so häufig den Fuß auf fremde Erde setzen, um dem Schicksal Trotz zu bieten. Es ist nicht ratsam, gegen den Strom zu schwimmen, besonders nicht in Zeiten der Gefahr, denn der Philister hat nur Hohn für den, der den Mantel nicht nach dem Winde hängt und sich weigert, der öffentlichen Meinung den fälligen Tribut zu zahlen. Emma verstand eben nicht die edle Kunst, die das Gewissen weitet und in derselben Zeit auch Brot verschafft.

Als 1914 das große Völkermorden begann und die Somojeden aller Länder in die Kriegsposaune stießen, da brauchte Emma mit keinem Entschluß zu ringen. Ihr ganzes Menschengefühl bäumte sich auf gegen das Verbrechen, das blinde Habgier und blöder Machtdünkel über die Welt gebracht hatten. Sie hörte das rote Lachen über blutgetränkten Schlachtfeldern geistern, sah unerhörtes Leid zur Lawine anschwellen und stilles Menschenglück millionenfach in Blut und Tränen versinken. Und sie wußte auch, daß all die tönenden Phrasen von einem Kriege für die Demokratie und den ewigen Frieden keine Bohne wert waren, wußte, daß aus der Drachensaat des Hasses und des blutigen Schreckens kein neues Recht erstehen konnte.

Wie immer sprach sie offen aus, was ihren Geist bewegte und ihrem Herzen tiefe Wunden schlug. Und wie immer schrien die Somojeden: "Sie hat Gott gelästert!" Und Emma zahlte den Preis, den jeder zahlen muß, dem es um Recht und Freiheit geht.

Dann kam die Zeit, wo Emma Goldman, zusammen mit Alexander Berkman, nach der alten Heimat eilte, von der ihr stets ein leuchtender Schimmer im Herzen verblieben war. Es war nicht leicht, ein Land zu verlassen, mit dem sie innerlich so tief verwachsen war. Aber drüben streckte Mütterchen Rußland die Arme aus; das machte den Abschied leichter. Der Krieg hatte die Revolution ausgelöst. Unter furchtbaren Zuckungen und schweren Wehen fiel das letzte Bollwerk des fürstlichen Absolutismus, das so lange jeder Erschütterung getrotzt hatte. Von allen Ländern ergoß sich der Strom der russischen Flüchtlinge in die alte Heimat zurück, die der Despotismus einst von dort vertrieben hatte. Die alten Gefängnisse gaben die lebendig Begrabenen dem Leben wieder, und aus den weiten Steppen Sibiriens eilten sie herbei, um mitzuhelfen an dem Bau einer neuen Gesellschaft, für die sie gekämpft, gelitten und dem Tode getrotzt hatten. Aus dem blutigen Wirbel des großen Völkerschlachtens hatte sich die Revolution emporgerungen und stürmte mit eisernen Sandalen durch kriegsverheerte Länder. Eine alte Welt war aus den Fugen geraten, und weit am Himmel strahlte das Frührot einer neuen Zeit. Rußland, so lange die Festung aller Reaktion, schien von der Geschichte auserkoren zu sein, eine neue Epoche der menschlichen Entwicklung einzuleiten.

Die Brust mit tausend Hoffnungen geschwellt, fuhren Emma und ihre Gefährten dem neuen Rußland entgegen. Wie der alte Kasten, die Buford, sich langsam bewegte. Ja, alt war sie, schmutzig, fast gebrauchsunfähig, und überall duftete es wie im Somojedenlande. Achtundvierzig Tage auf der Reise, bis endlich die große Stunde der Heimkehr schlug. Es sah recht bedenklich aus im neuen Rußland. Mager war sie geworden, Matuschka Rosia, in den langen Jahren des Krieges und der bleichen Not. Die Kleider hingen ihr in Fetzen vom dürren Leibe, aber in ihrem großen Herzen brannte die brausende Sehnsucht der Jahrhunderte und der unbändige Glaube an eine neue Zukunft. Zu tun gab es genug dort, um alle Spuren der Vergangenheit zu tilgen und die Fundamente zu legen zum großen Bau der Zukunft.

Zwei Jahre lang war Emma im roten Vaterlande des Proletariats und sah und suchte. Bis ihr allmählich die schmerzliche Erkenntnis aufging, daß hinter all den tönenden Worten, mit denen die proletarischen Machthaber die Welt verblendeten, nur eine neue Gewaltherrschaft lauerte, die sich anschickte, die alte zu ersetzen. Lange sträubte sie sich gegen diese bitterste Erkenntnis ihres Lebens, kämpfte mit sich und mit dem treuen Freund vieler Jahre, der mit der Hartnäckigkeit des ehrlichen Menschen noch immer versuchte, die furchtbaren Umstände für jede Ungerechtigkeit verantwortlich zu machen. Bis endlich die Schüsse von Kronstadt krachten und die Pioniere der Revolution in Reihen niedermähten. Da hatte auch für Berkman und so manchen anderen alles Schwanken ein Ende. Emma wußte jetzt, sah es mit ihren eigenen Augen, daß die Diktatur, die man die proletarische nannte, und die doch nie etwas anderes sein konnte als ein Machtmittel für neue Emporkömmlinge, dem Volke ebensowenig die Freiheit und den Sozialismus bringen konnte, wie die Diktatur des Krieges die Welt für die Demokratie reif gemacht hatte. Denn man kann die Menschen nicht mit den Mitteln des schlimmsten Despotismus befreien. "Der Sozialismus wird frei sein oder er wird nicht sein."

Wahrheitsliebe war stets die herausragende Eigenschaft in Emmas Charakter. Aussprechen, was ist, ohne Furcht, ohne Schwanken. Und sie tat es in einer Zeit, als fast die ganze sozialistische Welt im Banne Rußlands stand. Und wie einst die Somojeden der bürgerlichen Ordnung ihre Mütchen kühlten an der kühnen Ruferin im Streite, so fielen jetzt die roten Somojeden über die mutige Frau her und brandmarkten sie als Verräterin und Überläuferin. Sie, die so lange ihr armes Hirn mit Dialektik und ökonomischem Materialismus eingefettet hatten wie die Somojeden ihre ungewaschenen Leiber mit ranzigem Öl, konnten natürlich nicht verstehen, wie ein aufrechter Mensch der Stimme seiner inneren Überzeugung folgen konnte und das Gesetz der Wahrheit höher stellte als die Belange der Partei. Und heute? So manchem, der Emma einst nicht genug lästern konnte, sind mittlerweile die Schuppen von den Augen gefallen. Die Zeiten nehmen ihren Lauf.

Dann kamen die Jahre in der Fremde: in Schweden, Deutschland und zuletzt in Frankreich in jenem freundlichen Fischerstädtchen am mittelländischen Meere. Es war ein herrliches Fleckchen Erde, jenes kleine Häuschen auf dem Berge, bestehend aus einer größeren Stube, die für alles diente, einer Küche und einer kleinen Kammer, das kommunistische Blätter in die "Prachtvilla der Emma Goldman" umgelogen hatten, um ihren blinden Nachläufern zu zeigen, daß "Verrat an die Bourgeoisie" seine Früchte trägt. Schön war es dort, auf jenem stillen Fleckchen mit dem herrlichen Ausblick aufs Meer und die schneebedeckten Alpengipfel. Doch was nützt selbst ein Paradies, wenn die wunde Seele keine Ruhe findet? Die furchtbaren Erfahrungen in Rußland waren an Emma nicht spurlos vorübergegangen. Eine Saite war zersprungen in ihrem Herzen, die nie wieder klingen sollte. Immerhin ließ es sich leben auf jenem traulichen, weltverlorenen Plätzchen. Man konnte dort träumen, Erinnerungen schreiben und ein reiches, sturmgepeitschtes Menschenleben noch einmal im Geiste vorüberrauschen lassen.

Bis endlich der Schatten des Todes auf jenen stillen Winkel fiel; da war ein Bleiben auch dort nicht länger möglich. Der Schuß, der dem Leben Alexander Berkmans ein Ende setzte, fand in Emmas Seele einen grausigen Widerhall. Ihr war der beste Freund gestorben, den sie im Leben hatte, mit dem sie innerlich verwachsen war wie mit keinem andern. Zwei Menschenleben, grundverschieden in ihren Neigungen, Anlagen und Empfindungen, aber geeint durch ein großes Ziel und die enge Freundschaft eines Menschenlebens. Was Emma damals verlor, wissen nur die, denen sie ihr Herz ganz öffnen konnte. Eine erschütternde Tragödie. Nicht mehr für ihn, der ausgelitten hatte und die Tür selbst ins Schloß warf, als er die Stunde gekommen glaubte; aber erschütternd im tiefsten Seelengrunde für zwei, die nun allein blieben - Emma und die kleine Emmy, Berkmans Lebensgefährtin, die ihm kaum ein Jahr später folgen sollte.

Immer dichter spann die Einsamkeit ihre dünnen Fäden um ein großes Menschenleben. Wer wußte es? - Da brauste ein Sturm im Süden auf und feurige Lohe bedeckte den Himmel. Ein Volk erhob sich gegen eigne und fremde Tyrannen, die seinen stolzen Nacken unter das Joch einer blutigen Gewaltherrschaft beugen wollten. Arbeiter, Bauern und geistig Schaffende griffen zu den Waffen, um dem Unrecht zu wehren, das ihnen angetan wurde. Und während die einen zur Front zogen, das Volk zu schützen, führten die anderen die Kelle, um eine neue Gesellschaft aufzubauen. Da wußte Emma, wo ihr Platz war. Dreimal besuchte sie Spanien, wo sie mit offenen Armen von den kühnen Streitern der CNT-FAI empfangen wurde; war in Barcelona, Madrid, Valencia, besuchte Durruti an der Front, sah die Arbeit des neuen Aufbaus in den Betrieben, in den Schulen, auf dem Lande und wäre am liebsten geblieben, wenn die spanischen Freunde nicht bessere Verwendung für sie im Auslande gefunden hätten.

Sie war nicht blind, auch nicht für die Schwächen ihrer eignen Kameraden. Sie erkannte früh die unheilvolle Rolle, welche Rußland in diesem Kampfe spielte, warnte, beschwor, sah Menschliches und Allzumenschliches, aber fühlte doch mit jedem Schlag ihres großen Herzens, daß der Opfermut, die heroische Entschlossenheit dieses gigantischen Ringens gegen eine ganze Welt alle Schatten überstrahlten und unvergeßlich bleiben werden, solange noch Menschen auf dieser Erde leben, deren Herzen der Freiheit entgegenschlagen. Es war ein furchtbarer Schlag für Emma, als Spanien endlich aus tausend Wunden blutend, von aller Welt verraten und verlassen, röchelnd zusammenbrach und das letzte Licht über Europa in einem düsteren Nebel verglühte. Ein neuer Vorhang war gefallen; ein Schiffbruch mehr im Leben.

Nun schaffte und wirkte die Siebzigjährige für die Versprengten und Vertriebenen, Hilfe sammelnd für die Überlebenden. Sie, die niemals Mutter war, wurde jetzt Mutter den Vielen. Schaffte und mußte schaffen, weil es in diesem von Stürmen geschwängerten Leben niemals Ruhe gab, niemals Ruhe geben konnte. Es war in Kanada, wo der Tod an ihre Pforte pochte. Dort beschloß sie das letzte Jahr ihres Lebens, dem Lande, in dem einst ihre Jugend blühte, so nahe und doch so fern.

Ein großes, arbeitsreiches Leben war dahingegangen, ein Leben reich an Schmerzen und Enttäuschungen, an ungestillter Sehnsucht und suchender Kraft. Und doch ein volles Leben und vor allem ein eignes Leben, das sie auf ihre Weise gelebt hat in ihren besten Tagen und in jeder Zeit der Not. Nun deckt sie Waldheims kühle Erde. Dicht beim Denkmal der Märtyrer von Chikago ist ihre letzte Ruhestätte. Die Worte jener Männer hatten einst den ersten Funken in ihrer jungen Seele entzündet, nun liegt sie im Tode mit ihnen vereint.

Aus: Die Freie Gesellschaft. Monatsschrift für Gesellschaftskritik und freiheitlichen Sozialismus. 4.Jg. (1952), Nr. 36/37, S. 23-26

Originaltext: www.fau-bremen.de.vu