Warum eigentlich lassen Menschen sich regieren?

Ein sozial-psychologischer Erklärungsansatz aus Rudolf Rockers Werk „Nationalismus und Kultur“ nicht nur für die „Phänomene“ Hitler und Stalin. Dieser Text ist ein thematisch eingegrenzter Zusammenschnitt aus der bei FAU-MAT erschienenen Broschüre „Der Kampf der Kulturen gegen Macht und Staat in der Geschichte der Menschheit – Eine Ausarbeitung zu Rudolf Rockers Werk „Nationalismus und Kultur“.

In seinem Hauptwerk „Nationalismus und Kultur“ äußert sich Rudolf Rocker zu der Frage der Entstehung von Herrschaftsverhältnissen nicht alleine aus einer materialistischen Sichtweise heraus. Er geht auch auf die Frage ein, wie sich im Verlaufe der Geschichte die Akzeptanz von Autorität und Herrschaft in den Köpfen der Menschen festsetzen konnte. Welches sind die sozial-psychologischen Voraussetzungen für Massenverehrungen, Führerkulte oder schlicht Staatlichkeit ?

Ich verstehe diesen Text als Beitrag zur Ausformung einer anarcho-syndikalistischen Geschichtsbetrachtung, welche wir benötigen, um - von den Geschichtsverklärern von rechts und links unabhängig - auf unseren Erfahrungen und die unserer VorgängerInnen aufbauend, die zukünftige Gesellschaft in einem freiheitlich-emanzipatorischen Sinne gestalten zu können. Damit möchte ich das Buch „Nationalismus und Kultur“ sehr empfehlen und noch mal darauf hinweisen, dass der folgende Artikel nur eine sehr komprimierte Darstellung bietet. Die Anmerkungen beziehen sich auf die 1999 in Münster erschienene Ausgabe der Bibliothek Theleme.

Um Missverständnissen vorzubeugen:

Rockers Begriff der „politischen Religion”

„Der Staat muss weg ! Bei der Revolution tue ich auch mit ! Untergrabt den Staatsbegriff, stellt die Freiwilligkeit und das geistig Verwandte als das für ein Bündnis einzig Entscheidende auf - das ist der Anfang einer Freiheit, die etwas wert ist ! Ein Wechsel der Regierungsform ist weiter nichts als eine Pusselei mit Graden - ein bißchen mehr oder ein bißchen weniger Torheit alles zusammen... Der Staat hat seine Wurzeln in der Zeit, er wird seinen Gipfel in der Zeit haben. Es werden größere Dinge fallen als er; alle Religion wird fallen.” (Hendrik Ibsen)[1]

Nationale Staaten sind nach Rocker „politische Kirchengebilde“. Und „das sogenannte Nationalbewusstsein, das dem Menschen nicht angeboren, sondern anerzogen wird, ist eine religiöse Vorstellung; man ist Deutscher, Franzose oder Italiener, wie man Katholik, Protestant oder Jude ist”.[2] Religion ist die Einbildungskraft des Menschen, welche stets dieselbe geblieben sei, denn „immer war es der Schein, dem das wirkliche Sein des Menschen als Opfer dargebracht wurde”.

Rocker versteht Religion dabei im weiteren Sinne: Angewandt auch auf Staaten und Herrscherdynastien, welche sich mit dem Schein der Göttlichkeit umgaben, um durch den „Glauben an die Unvermeidlichkeit der Macht” seitens der Untertanen ihre eigene Autorität zu stabilisieren. Rocker zieht daraus den Schluss, das jede Politik letztendlich Religion ist, welche danach strebt, bei den Untertanen nicht bloß materielle, sondern auch geistige Abhängigkeit zu erlangen. Religion ist für Rocker ein „beharrende(s) Prinzip in der Geschichte”, welches den Geist des Menschen bindet und sein Denken in bestimmte Formen zwingt, „so dass er sich gewohnheitsmäßig für die Erhaltung des Überlieferten einsetzt und jeder Neuerung misstrauisch” gegenübersteht. Die Furcht ist dabei der Antrieb des Menschen, an den „alten Formen des Bestehenden” festzuhalten. Alexander von Makedonien ist es gewesen,[3] der nach seinem Besuch der Oase von Siwah als erster das Gott-Königtum nach Europa getragen hatte. Napoleon Bonaparte ließ sich als Atheist gerade,[4] weil er erkannte, dass „keine Macht auf die Dauer bestehen kann, wenn sie nicht fähig ist, im religiösen Bewusstsein der Menschen Wurzel zu schlagen”, sich 1804 vom Papst zum Kaiser krönen. Mussolini stellte gar den Kirchenstaat wieder her,[5] um sich den Frieden mit dem Vatikan zu erkaufen, den er für sein Ansehen im Ausland als eine „moralische Stütze für seine imperialistischen Pläne” dringend brauchte.

Auch in den Reichseinheitsbestrebungen im römischen Sinne traten viele Herrscher als „von Gottes Gnaden” berufen auf, von Karl dem Großen bis hin zu Wilhelm II.[6] Jedem Regierungssystem, ohne Unterschied der Form, liegt nach Rocker „ein gewisser theokratischer Charakter zugrunde”. Die Religion tritt im Laufe der Weltgeschichte immer stärker im Gewande staatlicher Unabdingbarkeit auf: „Wie in der Religion Gott alles, der Mensch nichts ist, so ist in der Politik der Staat alles, der Untertan nichts.” Genauso, wie die Kirchen im Kampf um deren Psyche den gottgläubigen Menschen über Jahrhunderte einredeten, sie seien Sünder, so tut dies der Staat genauso, indem er dem Menschen immer wieder einredet, „im Grunde seines Wesens mit den dunklen Trieben des geborenen Übeltäters behaftet” zu sein, „der nur durch das Gesetz des Staates auf den Pfad der offiziell festgelegten Tugend gelenkt werden könne.” Mit seinem Zitat: „Der Glaube an die Nichtigkeit und das Sündhafte des eigenen Daseins war von jeher das stärkste Fundament aller göttlichen und weltlichen Autorität... Gebot und Gesetz sind nur verschiedene Ausdrücke desselben Begriffes”, bringt Rocker seine These von der Gleichheit von Religion und Politik auf den Punkt.[7]

Gegenüber der Nation ist „jede gesellschaftliche Bindung... ein natürliches Gebilde, das sich auf Grund gemeinsamer Bedürfnisse und gegenseitiger Vereinbarung organisch von unten nach oben gestaltet, um die allgemeinen Belange zu schützen und wahrzunehmen”. Dagegen ist „jede staatliche Organisation aber... ein künstlicher Mechanismus, der den Menschen von irgendwelchen Machthabern von oben herab aufgezwungen wird und der nie einen anderen Zweck verfolgt, als die Sonderinteressen privilegierter Minderheiten in der Gesellschaft zu verteidigen und sicherzustellen”. Die Nation kann ohne Staat nicht existieren, ist dessen künstliches Gebilde und „eines der gefährlichsten Hindernisse für die soziale Befreiung”. Das Volk dagegen ist das „natürliche Ergebnis gesellschaftlicher Bindungen...”.[8]

Jedes politische Machtgebilde hat das Bestreben, alle Gruppierungen des gesellschaftlichen Lebens seiner Aufsicht zu unterstellen. So versucht es, alle Beziehungen der Menschen unter sich durch die Vermittlungsorgane der staatlichen Macht zu regeln. In einer freien Gesellschaft dagegen erscheint dem Menschen „jeder äußere Zwang sinnlos und unverständlich, fühlt er doch selbst die volle Verantwortung, die sich aus den gesellschaftlichen Beziehungen zu seinen Mitmenschen für ihn ergibt, und die er seinem persönlichen Handeln ohne weiteres zugrunde legt”.[9] Daher besteht Freiheit „nur dort, wo sie vom Geiste persönlicher Verantwortung getragen ist”.[10]

Mittelalter

Die Kirche präsentierte die „wahre Stellvertreterin des göttlichen Willens auf Erden”. Sie war von jeher darauf bedacht, der „Logik des Verstandes” keinen Raum zu lassen und an ihre Stelle den Glauben an ein unentrinnbares Schicksal zu setzen. Die Expansionsbestrebungen der Kirche kollidierten unter Papst Gregor VII vollends mit der weltlichen Obrigkeit,[11] da jener das „Vorrecht der Kirche über jede weltliche Macht” offen anstrebte. Papst Innocenz III „fühlte sich als Papst und Cäsar in einer Person”,[12] bei Herabwürdigung der weltlichen Herrscher zu „Vasallen seiner Macht”. Die Macht werde auch den Ausübenden zum Verhängnis, da sie selbst nur Sklave seiner Idee würden, was „jedem gesunden menschlichen Empfinden” widerspräche.[13] Die germanischen Stämme, einst von Volksversammlungen und anderen basisdemokratischen Elementen charakterisiert, polarisierten sich zunehmend in Mächtige und Hörige. Der „Wille zur Freiheit” machte allmählich dem „Willen zur Macht” platz. Auch hier ortet Rocker eine neue Religion im weiteren Sinne, welche die Menschen daran gewöhne, sich mit den Machtverhältnissen abzufinden.[14] Die größte Machtentfaltung gelang immer dann, wenn weltliche und geistliche Führer in Einklang miteinander waren, wie Karl d. Große oder Chlodwig mit dem Papst.[15] Doch es liege „im Wesen jedes Machtwillens, dass er eine gleichberechtigte Macht nur so lange duldet, als er glaubt, sie seinen eigenen Zwecken dienstbar machen zu können, oder so lange er sich noch nicht stark genug fühlt, den Kampf um die Vormacht mit ihr aufzunehmen.”[16] So geschah es unter Gregor VII/ Innocenz III gegenüber der weltlichen Herrschaft.

Reformation

Im Zeitalter der Reformation gerieten soziale Interessen auch mit den kirchlichen Interessen in Konflikt. Das Bestreben der Reformatoren und im besonderen Martin Luthers war es,[17] das Gewissen der Menschen zwar von der Vormundschaft der römischen Kirche zu befreien, es dann jedoch an den Staat zu binden, welcher Luthers Willen nach alle von Gott gegebene Macht verkörpern sollte. Damit verriet er „die Sache des Volkes an die deutschen Fürsten” und ”verkuppelte die Religion mit der Politik des Staates...”. Dabei wurde das „positive Recht” „zur göttlichen Offenbarung, der Staat selbst zum Stellvertreter Gottes auf Erden”. Des weiteren geht Rocker in diesem Sinne auf die Entwicklung der Reformation in England, Böhmen und anderen Ländern ein.[18] Dabei kommt er zu dem Schluss: „Überall, wo der Protestantismus zu irgendwelchem Einfluss gelangte, bewährte er sich als getreuer Diener des aufkommenden Absolutismus und billigte dem Staate alle Rechte zu, die er der römischen Kirche abgesprochen hatte”. Das Autoritätsprinzip ist dabei dasselbe geblieben. Am Beispiel von Calvin benennt Rocker deutlich die rücksichtslose Brutalität der neuen Glaubensform als Despotismus.[19] Der Protestantismus zeigte sich äußerst wissenschaftsfeindlich und somit dem menschlichen Geist und seiner Logik gegenüber und wollte alle Erscheinungen streng nach dem Inhalt der Bibel deuten. Folglich standen auch die Träger des aufkommenden Humanismus dieser Dogmatik kritisch gegenüber und wandten sich zum Teil ab.[20]

Rousseau [21]

Ausführlich beschreibt Rocker die Herausbildung der Demokratie in Frankreich nach 1789. Deren Ausgangspunkt war im Gegensatz zum Liberalismus ein Kollektivbegriff. Sie bildet automatisch eine Zwangsgemeinschaft, während der Liberalismus die Stellung der einzelnen Menschen als gegeben setzt. Rocker spricht im folgenden vom Liberalismus nicht von einer wirtschaftlichen Anschauung, sondern als einer sozialpolitischen Ideenströmung, eines „organischen Geschehens, das sich aus den natürlichen Bedürfnissen der Menschen ergibt und zu freiwilligen Bindungen führt, die so lange bestehen, als sie ihren Zweck erfüllen und sich wieder lösen, wenn dieser Zweck gegenstandslos geworden ist”.[22] Hierbei hat der Staat lediglich die Funktion, die Freiheiten der Individuen zu schützen. Der bedeutendste Vordenker demokratischer Ideen war Rousseau, welcher ebenso vom Gesellschaftsvertrag, dem sozialen Kontrakt, ausging und eine abstrakte Staatsidee erdachte, einen Idealstaat, den Rocker als „künstlich konstruiertes Gebilde” charakterisiert, hinter dessen mechanischer Demokratie der Mensch als Individuum verschwindet, da er es ist, der sich der Form des Staates anpassen müsse. Rousseaus „Gemeinwille” (contrat social) umfasst dabei nicht den Willen aller, sondern ist nur das Ergebnis aus dem bereits geschlossenen Gesellschaftsvertrag. Dieser ist unumstößlich richtig, wie der Papst unfehlbar. In den Jahren der Französischen Revolution war der jakobinisch geführte Nationalkonvent Hüter des volonte generale („allgemeine Wille“) und duldete keine Macht neben sich. Versuche französischer Arbeiter, sich in Gewerkschaften zu organisieren, wurden mit dem Tode bestraft. Der Idee des Gemeinwillens entsprang somit eine neue Tyrannei. Deshalb ist Rousseau laut Rocker zu unrecht als „Apostel der Freiheit” gefeiert worden. Sein Freiheitsbegriff befinde sich in einer „Zwangsjacke der Staatsgewalt”. Sein Menschenbegriff „war ein in der Retorte erzeugtes Kunstprodukt, der Homunkulus eines politischen Alchimisten, der allen Anforderungen entspricht, die der Gemeinwille für ihn vorbereitet hat. Er zielte dabei auf die völlige Zerstörung der Persönlichkeit eines jeden Menschen ab. Der Mensch ist nach Rocker jedoch kein Automat, der sich in jede beliebige Form einpasst, sondern beseelt von natürlichen individuellen Eigenschaften und Bedürfnissen. [23]

Französische Revolution

Die Diktatur Robespierres,[24] welche ideell auf den Ideen Rousseaus fußte, setzte die Gewaltenteilung außer Kraft, zentralisierte alle öffentlichen Bereiche, wie Verwaltung, Religion, Gesetzgebung oder die Exekutive. Rousseau kann somit als Vordenker der Jakobiner und des Staatssozialismus angesehen werden. Der Übergang von der Demokratie zur Diktatur ist hierbei fließend. Ebenso schwerwiegend sind die sozial-psychologischen Folgen einer solchen Herrschaft. Das natürliche Vertrauen der Menschen in ihre eigene Kraft wird systematisch unterminiert, was ein geistiges Abhängigkeitsverhältnis schafft. Endprodukt dessen ist der hörige Mensch, dessen Gedanken in der Hand der weltlichen Herrscher sind, wie ehedem unter Kontrolle des Klerus. Die natürliche soziale Gemeinschaft der Menschen wurde somit entwurzelt.[25]

Die Jakobiner und besonders Robespierre umgaben sich und ihren neuen Staat ausgehend von Rosseaus Werk vom „Gesellschaftsvertrag” mit göttlichem Schein. Wer sich der Staatsgläubigkeit offen widersetzte, musste mit der Todesstrafe rechnen.[26]

Rockers Begriff von der „politischen Religion” kommt auch hier voll zur Geltung; „die große Revolution (hat nur) eine neue Phase religiös-politischer Abhängigkeit eingeleitet”, wie er betont. Die Abgeordneten im Konvent (Jakobiner genauso wie Girondisten oder Dantonisten) schlüpften zum Teil nur in die Rolle von Monarchen, indem sie die politische Zentralisation übernahmen und einem französischen Nationalismus Vorschub leisteten. Die Nation wurde anstelle des Königs zur eigentlichen Trägerin des Gemeinwillens. Die Despotie der modernen Nation ersetzte den König als Tyrannen. Die Volksvertretung nahm den Charakter des Priestertums an, welches statt „Gottes Willen” nun den „Willen der Nation” vermittelte. Der Machtkampf der Konventsparteien untereinander, sowie der spätere Aufstieg Napoleons ist hinreichend bekannt und stützt Rockers These des „Willens zur Macht” als Motiv für Morde und Kriege. Unter jeder Regierung trat dasselbe Ergebnis zutage: „Die Nation (war) alles, der Mensch nichts !” Der moderne Nationalismus als religiös-politische Kraft entstand[27] Napoleon, selber Atheist, wusste dies für seine Pläne zu nutzen und sprach: „Ich liebe die Macht wie der Künstler, wie der Geiger seine Geige liebt...”.[28]

Romantik

Kennzeichnend für die Epoche der Romantik war nach Rocker die Entwicklung von der Heimatliebe über die „poetische Verklärung der deutschen Vergangenheit” bis hin zum aggressiven Sendungsbewusstsein bei gleichzeitigem Franzosenhass und Deutschtümelei. Exemplarisch für das letztgenannte verweist Rocker ausführlich auf Arndt, Kleist und Jahn,[29] welchen er verschiedener ähnlicher Eigenschaften wegen als Ahnherren Hitlers charakterisiert.

Die Romantiker (Rocker nennt auch Görres, Schenkendorf, Schleiermacher, Eichendorff und Gentz) wandten sich ganz klar gegen die aufklärerischen Gedanken eines Lessing, Herder oder Schiller und „träumten... von einer höheren Einheit des Lebens, in der alle Gebiete menschlicher Betätigung - Religion, Staat, Kirche, Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Ethik und Alltag - wie Strahlenbündelei in einem Brennglas zusammengefasst werden.”[30] Ausgehend von einer wiederentdeckten „glänzenden Vergangenheit” der Deutschen tauften die Romantiker selbiges zum „auserwählten Volk”. Damit befanden sie sich ganz im Einklang mit Fichte, der in den Deutschen ein „Urvolk” sah, welches als einziges Charakter besäße und zur Freiheit berufen wäre in Form des alten Reiches unter Führung Österreichs. Ihm lag der Großteil der deutschen Jugend als neue Generation zu Füßen, der von aufklärerischen Gedanken nicht mehr erfasst wurde, wozu Rocker den militaristisch-konservativen Heinrich von Treitschke folgendermaßen zitiert:[31] „Es blieb ein krankhafter Zustand, dass die Söhne eines geistreichen Volkes einen lärmenden Barbaren als ihren Lehrer verehrten.” Von diesem Geiste waren nach Rocker auch die deutschen Burschenschaften erfüllt. Vom reaktionären Charakter der Romantik seien auch Wilhelm und Friedrich Schlegel, Steffens, Tieck, Adam Müller, Brentano, Fouque, Zacharias Werner und viele andere erfasst worden.[32]

Moderne Diktaturen

Im Faschismus als „eine primitive religiöse Massenbewegung im politischen Gewande” erreicht die politische Religiosität u.a. in der Staatsverehrung ihren Höhepunkt. Diese Tatsache und die hinzukommende Massenausbeutung trägt dazu bei, „alle natürlichen Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen systematisch (zu unterbinden) und das Einzelwesen gewaltsam aus dem Kreise einer Gemeinschaft” zu reißen, indem er „in allen Dingen als Vermittler auftritt und versucht, jeden auf dieselbe Norm zu bringen, die für seine Träger das Maß aller Dinge ist”. „Das Gefühl der sozialen Verbundenheit und die inneren Beziehungen von Mensch zu Mensch”, welche stets auf Freiwilligkeit basieren und den Bedürfnissen der Menschen entspringen, könne kein Staat erzwingen. Dagegen werde versucht, „den mechanischen Menschen zu konstruieren... Automaten in Menschengestalt, die sich auf eisernen Gliedern hin und her bewegen, gewisse Dienste verrichten...” Das gilt für Rocker auch für den kapitalistischen Staat ohne faschistische Ausprägung.

Die Nation, religiös verehrt und egal ob faschistisch oder nicht, kann „alles verbergen: die nationale Fahne deckt jedes Unrecht, jede Unmenschlichkeit, jede Lüge, jede Schandtat, jedes Verbrechen. Die kollektive Verantwortlichkeit der Nation erstickt das Gerechtigkeitsempfinden des Einzelwesens und bringt den Menschen so weit, dass er begangenes Unrecht überhaupt übersieht, ja ihm dies sogar als verdienstvolle Tat erscheint, wenn es im Interesse der Nation begangen wird”. So würden „alle technischen und wissenschaftlichen Errungenschaften in den Dienst des organisierten Massenmordes” gestellt, die „Jugend zu uniformierten Totschlägern” erzogen, „die Völker der geistlosen Tyrannei einer lebensfremden Bürokratie” ausgeliefert, die „Menschen von der Wiege bis zum Grabe unter Polizeiaufsicht” gestellt, „überall Gefängnisse und Zuchthäuser” errichtet und „jedes Land mit ganzen Armeen von Angebern und Spionen” bevölkert. Es werde, um damit den „Geist der Abhängigkeit” zu stärken, ein System von Vorgesetzten und Untergebenen konstruiert. Diese „fortgesetzte Bevormundung” des Handelns habe die Menschen schwach und verantwortungslos gemacht, woraus letztendlich der „Ruf nach dem Diktator” entstanden sei, als „ein Beweis der inneren Haltlosigkeit und Schwäche”: „Weil man sich selber zu schwach fühlt, setzt man sein Heil an die Stärke des anderen; weil man selber zu feige oder zu eingeschüchtert ist, die eigenen Hände zu regen, um seines Schicksals Schmied zu werden, vertraut man sein Schicksal anderen an.” Jeder Diktatur liegt nach Rocker somit ein „auf die Spitze getriebenes Abhängigkeitsverhältnis” zugrunde, welches die schöpferischen Kräfte lähme, welche „sich nur in der Freiheit ungestört entfalten können”.[33] Hinter der Nation stehe jedoch nur das „eigennützige Interesse machtlüsterner Politiker und beutelustiger Geschäftsleute”.

Den Glauben „an ein unvermeidliches Schicksal in der Vorstellungskraft des Menschen zu vertiefen” war dabei das vornehmste Ziel von Machtpolitik.[34] Die „Wundergläubigkeit”, ein „religiöse(r) Massenwahn” und ein „primitives Anbetungsbedürfnis der Massen”, verstärkt durch ihre Enttäuschung über die anderen Parteien, habe auch dem Nationalsozialismus erst die Massenbasis geschaffen.[35] Rocker betont: „Der Staat kann Untertanen oder... Bürger heranzüchten, doch kann er nie freie Menschen heranbilden, die ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen, denn selbständiges Denken ist die größte Gefahr, die er zu fürchten hat.”[36]

Auch in Richtung Marxismus stellt Rocker fest: „Man kann ein Volk nicht befreien, indem man es lediglich einer neuen und größeren Gewalt unterstellt und so den Kreislauf der Blindheit von neuem beginnt.” Vielmehr gälte es, „den Menschen vom Fluche der Macht, vom Kannibalentum der Ausbeutung zu befreien, um alle schöpferischen Kräfte in ihm zu lösen, die seinem Leben fortgesetzt neuen Inhalt geben können.” Erst durch die Erlösung der Menschheit von Staat und Nation wachse die von Rocker definierte Gemeinschaft heran, welche auf Freiheit und Selbstverantwortung basiert. Das wäre der tatsächliche Beginn eines „neuen Menschentums”.[37]

H. (FAU-Bremen)

Fußnoten:
[1] Brief an Georg Brandes vom 17. Februar 1873. Briefe von Henrik Ibsen, Berlin 1905, zit. N. S. 426
[2] Vgl.: S. 196
[3] Alexander III. („der Große“) von Makedonien (356-323 v.Chr.) war der Sohn Philipps II. und Schüler von Aristoteles. Er stieg zum König von Makedonien auf und eroberte das Perserreich.
[4] Napoleon Bonaparte/ Napoleon I. (1769-1821) war zunächst französischer Feldherr, dann ab 1804 Kaiser der Franzosen. Scheitert bei der angestrebten militärischen Eroberung Europas (Leipzig 1813/ Waterloo 1815) und wird zunächst auf die Insel Elba, dann nach St. Helena verbannt.
[5] Benito Mussolini (1883-1945) engagierte sich zunächst als Sozialistenführer und Direktor des sozialistischen Zentralorgans „Avanti“ in Italien. Nach Ende des ersten Weltkrieges wurde Mussolini Begründer der europäischen faschistischen Bewegung, übernahm 1922 die Regierungsgewalt in Italien. Er wurde nach der italienischen Kapitulation 1943 im noch faschistisch besetzten nördlichen Teil Italiens als Regent eingesetzt, bevor er im April 1945 von italienischen Partisanen hingerichtet wurde.
[6] Karl der Große (742/3-814) war fränkischer König als Nachfolger Pippins III. und ab 800 Kaiser. Er schuf den größten Machtkomplex seit Untergang des Weströmischen Reiches und gilt als Erneuerer des abendländischen Kaisertums. Wilhelm II. (1851-1941), seit 1888 König von Preußen und Deutscher Kaiser, entließ 1890 Reichskanzler Otto von Bismarck aus seinem Amt und betrieb gezielte Kriegspolitik, bis er 1918 durch die Novemberrevolution in Deutschland zur Abdankung gezwungen wurde und seither als reicher und „entschädigter“ Mann mit Familie im holländischen Exil lebte.
[7] Vgl.: S. 36-51
[8] Vgl.: S. 193 ff.
[9] Vgl.: S. 109 f.
[10] Vgl.: S. 87
[11] Gregor VII (um 1023-1085) führte die Kirche im Investiturstreit gegen Kaiser Heinrich IV auf den Gipfel ihrer weltlichen Macht.
[12] Innocenz III (Papst von 1198-1216) war in der Folge Gregors VII einer der mächtigsten Päpste der Geschichte überhaupt und Vormund Kaiser Friedrichs II. Er personifizierte den Höhepunkt kirchlicher Macht im Mittelalter.
[13] Vgl.: S. 56 ff.
[14] Vgl.: S. 60 ff.
[15] Chlodwig I (ca. 466-511) war seit 481 König der Franken und Gründer des fränkischen Reiches.
[16] Vgl.: S. 66 f.
[17] Martin Luther (1483-1546) war der Begründer der reformatorischen Bewegung durch seinen Thesenanschlag an die Schlosskirche zu Wittenberg 1517. Predigte er auch gegen den Ablasshandel, so wurde er doch ein erbitterter Gegner der Unterdrückten im Bauernkrieg von 1524-1526. Als erster übersetzte er 1522 das Neue Testament und 1534 die ganze Bibel ins Deutsche.
[18] Vgl.: S. 96 ff.
[19] Johann Calvin (1509-1564) war einer der einflussreichsten Reformatoren nach Luther, wich von diesem jedoch in der Abendmahlslehre ab, weshalb seine Lehre auch Calvinismus genannt wurde und besonders in der Schweiz, Frankreich, den Niederlanden und den angelsächsischen Ländern Verbreitung fand.
[20] Vgl.: S. 102 ff.
[21] Jean Jaques Rousseau (1712-1778) betätigte sich als Schriftsteller und Philosoph und gilt als der geistige Wegbereiter der Französischen Revolution durch die Formulierung des Contrat social.
[22] Vgl.: S. 153
[23] Vgl.: S. 156 ff.
[24] Maximilien de Robespierre (1758-1794) amtierte als führender Jakobiner während der Französischen Revolution und übte als Vorsitzender des Wohlfahrtsausschusses diktatorische Vollmachten aus, bis er 1794 vom Konvent angeklagt und hingerichtet wurde.
[25] Vgl.: S. 159 ff.
[26] Vgl.: S. 48 f.
[27] Vgl.: S. 167 ff.
[28] S. 173
[29] Ernst Moritz Arndt (1769-1860) gilt als geistiger Führer der deutschen Nationalbewegung. Er engagierte sich als patriotischer und antinapoleonischer Dichter, sowie als Historiker und Publizist. 1820 wurde er seines Lehrstuhles als Professor für Geschichte in Bonn als „Demagoge“ enthoben. 1848 wirkte er als Abgeordneter im Parlament in der Frankfurter Paulskirche. Heinrich von Kleist (1777-1811) gilt als einer der bedeutendsten deutschen Dramatiker und Erzähler, vermochte es jedoch wider eigener Ansprüche zu Lebzeiten nicht, aus Goethes Schatten herauszutreten. Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) war Sprachforscher und fungierte als eine der patriotischen Idealfiguren in der deutschen Nationalbewegung. Er wurde 1819 als „Demagoge“ verhaftet und wurde 1848 Mitglied der Deutschen Nationalversammlung.
[30] Joseph von Görres (1776-1848) war Publizist und Vorkämpfer der deutschen katholischen Bewegung. Max von Schenkendorf (1783-1817) Dichter, Friedrich Schleiermacher (1768-1834) wirkte als evangelischer Theologe, Prediger und Philosoph, Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857) ist wohl der bekannteste Dichter in dieser Aufzählung, Friedrich von Gentz (1764-1832) betätigte sich als politischer Schriftsteller und Mitarbeiter Metternichs.
[31] Heinrich von Treitschke (1834-1896) ist als Historiker und Vertreter des deutschen Reichsgedankens bekannt geworden.
[32] Vgl.: S. 211 ff., August Wilhelm von Schlegel (1767-1845) übersetzte Shakespeare und hielt Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Friedrich von Schlegel (1792-1829) war dessen Bruder und betätigte sich als Dichter, Philosoph und Historiker in der Frühromantik. Er begründete die indische Sprachforschung. Henrik Steffens (1773-1845) nahm an den Antinapoleonischen Kriegen teil, war Naturforscher und als Schüler von Schelling ein bekannter Philosoph. Ludwig Tieck (1773-1853) gilt als einer der bedeutendsten Dichter der Romantik, vollendete die Shakespeare-Übersetzung Schlegels. Adam Müller (1779-1829) arbeitete als Ökonom und romantischer Staatsphilosoph. Zusammen mit Heinrich von Kleist gab er den „Phöbus“ heraus. Clemens von Brentano (1778-1842) dichtete romantische Lieder und Märchen. Er war der Bruder von Bettina von Arnim. Friedrich Fouque (1777-1843) war deutscher Dichter de Romantik. Zacharias Werner (1768-1823) verfasste als Dichter Schicksalsdramen.
[33] Vgl.: S. 241-250
[34] Vgl.: S. 70
[35] Vgl.: S. 245
[36] Vgl.: S. 184
[37] Vgl.: S. 250

Aus: Direkte Aktion Nr.150 März/April 2002

Originaltext: www.fau-bremen.de.vu