H. (FAU - Bremen) - Rudolf Rocker in seinem Hauptwerk "Nationalismus und Kultur" über die Möglichkeiten und Perspektiven für eine neue Gesellschaft

„Ja, diesem Sinne bin ich ganz ergeben, Das ist der Weisheit letzter Schluss: Nur der verdient die Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muss. Und so verbringt umrungen von Gefahr, hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn." (Johann Wolfgang Goethe)

Befreiung des Menschen durch die Beseitigung jeglicher Machtverhältnisse und Einsetzung des Naturrechts an deren Stelle

Die Ideen vom Naturrecht reichten Jahrhunderte lang durch alle gesellschaftlichen Strömungen in Europa, die der Macht des Staates das Recht der Individuen entgegensetzten. Über das Naturrecht gelange der Mensch schließlich zur Freiheit und schlussendlich solle der Gedanke Verbreitung finden, „dass nicht die Formen der Macht, sondern die Macht als solche die Quelle alles Übels ist, die trockengelegt werden muss, um der Menschheit neue Ausblicke für die Zukunft zu erschließen". Ziel müsse nach Rocker vom Naturrecht ausgehend, die „Lösung aller machtpolitischen Bindungen" sein, „die immer wieder die freie Entfaltung aller schöpferischen Kräfte des kulturellen Lebens gelähmt und in ihrer natürlichen Entwicklung beeinträchtigt" habe. Und „erst, wenn der Glaube des Menschen an seine Abhängigkeit von einer höheren Macht überwunden sein wird, werden auch die Ketten fallen, welche die Völker bisher in das Joch geistiger und sozialer Sklaverei geschlagen haben. Bevormundung und Autorität sind der Tod alles geistigen Strebens und gerade deshalb das größte Hindernis für jede innere gesellschaftliche Verbundenheit, die nur der freien Erwägung der Dinge entspringt und bloß in einer Gemeinschaft gedeihen kann, die weder durch äußeren Zwang, noch durch weltfremde Dogmengläubigkeit und wirtschaftliche Unterdrückung in ihrem natürlichen Gange gehemmt wird."

Die wirksamere Waffe im „Kampf ums Dasein" verortet Rocker in dem „gesellschaftlichen Zusammenschluss der schwächeren Gattungen" bei gegenseitiger Hilfe. Folglich werde „die höhere Form der geistigen und seelischen Entwicklung über die brutale Gewalt politischer Herrschaftsgebilde" siegen, zumal jene „bisher nur lähmend auf jede höhere Kulturgestaltung gewirkt haben".

Und ohne für den Partikularismus vor der Reichsgründung zu sprechen, drückt Rocker seinen Willen folgendermaßen aus: „Was wir erstreben, ist die völlige Ausschaltung des Machtprinzips aus dem Leben der Gesellschaft und folglich die Überwindung des Staates in jeder Form durch eine höhere Kultur, die auf der Freiheit des Menschen und der solidarischen Verbundenheit mit seinen Mitmenschen begründet ist." Das Fundament hierzu bilden „Föderationen freier Gemeinden auf der Basis gemeinsamer gesellschaftlicher Belange".

Dazu notwendig ist nach dem von Rocker zitierten La Boetie, den „Geist der freiwilligen Knechtschaft" zu überwinden, der in den Köpfen der Untertanen steckt und gipfelt in dessen Aussage: „Seid fest entschlossen, nicht länger Knechte zu sein - und ihr seid frei !...".

Das Recht: Naturrecht und positives Recht

Ein Staat ist umso stärker, desto mehr er die „Nation" teilhaben lässt - ein wesentliches Element moderner Demokratien. Der religiöse Glaube an den Nationalstaat wird dadurch gefestigt. Der Nationalstaat „im vollsten Sinne" ist demnach derjenige, der „alle Einwohner eines Landes als gleichberechtigte Glieder eines Ganzen politisch erfasst und zusammenschmiedet". Entscheidend für die Herausbildung des Nationalstaates war im Gegensatz zur liberalen- die demokratische Ideenströmung, welche vom Kollektivbegriff mit Zwangscharakter ausging. Die Nation und der gemeine Wille mussten stets dazu herhalten, die Machtinteressen der jeweiligen staatlichen Führungsschicht zu verdecken, wie Rocker es exemplarisch für die Napoleonische Ära anschaulich verdeutlicht. Den französischen Herrschern von Danton bis Napoleon war es in Windschatten der Revolution von 1789 gelungen, die erste moderne Nation im Sinne von Teilhabe und Demokratie zu errichten, was sich auch auf die militärische Schlagkraft der französischen Armeen entscheidend auszuwirken begann. Die Motivation im Kampf gegen den fürstlichen Absolutismus in den Staaten der antinapoleonischen Koalition rührte daher. Die Stein/ Hardenbergschen Reformbestrebungen zielten lediglich auf die Stärkung der Nation ab; hatte mit humanistischen Gedankengängen nichts zu tun. Der moderne Nationalstaat war Voraussetzung für das europäische Gleichgewicht der Kräfte. Zu einer europäischen Großmacht wurde Deutschland erst mit der Reichsgründung von 1871, welche dem Absolutismus ein Ende setzte.

Als Puffer im Konflikt zwischen Macht und Kultur fungiert das Recht, so in einer freien Gesellschaft das Naturrecht als Ergebnis freier Vereinbarungen zwischen freien und gleichen Menschen. Für die Klassengesellschaft innerhalb eines Staatsgefüges gilt das „positive Recht". Stets haben die Menschen versucht, das letztere Recht in den Gesetzen des Staates zu verankern, welcher dagegen versucht, die Rechte der Gemeinschaft auf ein Minimum herabzusetzen. Alle Rechte und Freiheiten wurden letztendlich vom Volke erkämpft und nie in gesetzgebenden Körperschaften erworben - „Große Massenbewegungen, ja ganze Revolutionen waren nötig, um den Vertretern der Macht jedes kleine Zugeständnis abzutrotzen, zu welchem sie sich freiwillig nie bequemt hätten". Recht wird nur festgeschrieben zur Befriedung von Konflikten. Wenn die Regierungen glauben, in der Bevölkerung keinen Widerstand mehr dagegen zu finden, werden bestehende Rechte auch wieder teilweise oder ganz rückgängig gemacht. Rechte bestehen also nur solange, als sie von ihren Nutznießern auch verteidigt werden. Dagegen helfe nach Rocker auch keine parlamentarische Opposition oder die Berufung auf die Verfassung.

Psychologische Voraussetzungen

Eine neue Entwicklungsphase der Menschheit mit einer neuen sozialen Kultur könne erreicht werden durch den „Ausgleich zwischen den Eigentumsbestrebungen des Einzelwesens und den allgemeinen gesellschaftlichen Lebensbedingungen, (einer) Art Synthese von persönlicher Freiheit und sozialer Gerechtigkeit durch solidarisches Zusammenwirken aller, das der Gesellschaft wieder Inhalt gibt und die Grundlagen zu einer neuen Gemeinschaft legen wird, die keines äußeren Zwanges mehr bedarf, da sie ihr inneres Gleichgewicht in der Wahrnehmung der Interessen aller findet und für politische und wirtschaftliche Machtbestrebungen keinen Platz mehr hat."

Der Mensch solle nicht länger in nationalen Kategorien denken und dadurch „den Einblick in das eigentliche Kulturgeschehen" trüben lassen. Nationale „Einteilungen schaffen nur künstliche Grenzen, die mit den allgemeinen sozialen Bestrebungen wenig gemein haben und verwischen das Gesamtbild einer Epoche oft so gründlich, dass dem Beschauer alle inneren Zusammenhänge verloren gehen". „Erscheinungen des sozialen Lebens" dürften nicht länger „durch die Brille philosophischer Voraussetzungen" betrachtet werden. Vielmehr müsse gelernt werden, „den Dingen selbst wieder unmittelbarer gegenüberzustehen".

Das schließe auch die Ablehnung sozialistischer Parteien mit ein, in welchen "jene fatalistische Denkweise" vorherrschte, „die den Willen der Massen lähmte und Deutschland in den Abgrund stürzte". Der Faschismus wurde als „eine notwendige Entwicklungsform des modernen Kapitalismus (wahrgenommen), die letzten Endes dem Sozialismus den Weg vorbereiten müsse." Damit sei „nur bewiesen worden, dass eine Bewegung, die eine vollständige Umgestaltung und Erneuerung des gesellschaftlichen Lebens erstrebt, diesem Ziele nie näher kommen kann, ja sogar gezwungen ist, sich immer weiter von ihrem Ausgangspunkte zu entfernen, je mehr sie versucht, in den alten Institutionen der staatlichen Ordnung Fuß zu fassen, um ihrerseits die politische Maschine in Gang zu setzen, die auf Grund ihres Mechanismus nur in einer bestimmten Richtung arbeiten kann, wer immer ihre Hebel in Bewegung setzt."

Im Laufe der Generationen sei dem Menschen in allen Lebensbereichen, wie u.a. Wirtschaft, Politik, Erziehung, Rechtsleben der Glaube beigebracht worden, „dass das ganze Leben nichts anderes sei, als ein automatisches, ruckweises Bewegen am laufenden Band des Geschehens. Nur aus einem solchen Geisteszustande konnte jener herzlose Egoismus hervorgehen, der über Leichen schreitet, um seiner Gier zu frönen, und jenes ungezügelte Machtgelüste, das mit dem Schicksal von Millionen spielt, als wären es tote Zahlenreihen und nicht Wesen aus Fleisch und Blut. Und dieser Zustand ist auch die Ursache jener sklavischen Ergebenheit, der seine eigenen Opfer dazu bewegt, jede Demütigung ihrer Menschenwürde mit stumpfer Gleichgültigkeit und ohne nennenswerten Widerstand hinzunehmen."

Wirtschaftliche Voraussetzungen

Im kapitalistischen Wirtschaftssystem seien viele Menschen nicht in der Lage, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, während anderswo „unter der direkten Anleitung der Regierung ungeheure Quantitäten von Lebensmitteln (vernichtet wurden), für die sich kein Absatz fand, weil die Kaufkraft der Ärmsten im Volke zu gering war." Doch nicht nur die Verteilung der Güter stimmt nicht, denn außerdem habe man „den Menschen rücksichtslos der Technik geopfert, ihn zur Maschine degradiert, zur wesenlosen Produktionskraft umgeschaffen, ihn aller Züge seines Menschentums entkleidet, damit der Arbeitsprozess sich möglichst reibungslos und ohne innere Hemmungen vollziehe." Dabei seien die Produktionsmöglichkeiten nahezu unbegrenzt. Im Kapitalismus verkomme jedoch jeder technische Fortschritt zu einer Waffe gegen die Menschheit. Nach Rocker müsse eine gründliche Umgestaltung des kapitalistischen Wirtschaftssystems vorgenommen werden, „die eine wirkliche Lösung des Problems im Auge hat. (Diese) lässt sich nur durch die Beseitigung sämtlicher wirtschaftlicher Monopole und Privilegien erwirken, die heute einer kleinen Minderheit in der Gesellschaft zugute kommen und diesen Auserwählten die Möglichkeit verschaffen, ihre brutale Interessenswirtschaft den breiten Massen des Volkes aufzuzwingen. Nur durch eine gründliche Reorganisation der Arbeit auf genossenschaftlicher Grundlage, die keinem anderen Zweck dient, als die Bedürfnisse aller zu befriedigen, anstatt wie heute die Gewinne einzelner zu häufen, kann das heutige Wirtschaftschaos überwunden und der Weg zu einer höheren sozialen Kultur freigelegt werden. Es gilt, den Menschen von der Ausbeutung des Menschen zu befreien und ihm die Frucht seiner Arbeit zu sichern. Nur dann wird es möglich sein, jede neue Errungenschaft der Technik dem Wohle aller dienstbar zu machen und zu verhindern, dass das, was allen zum Segen gereichen sollte, den meisten zum Fluche wird."

Bodenschätze und Rohstoffgebiete müssten internationalisiert werden, wozu eine nach „freiheitlichen und solidarischen Grundsätzen aufgebaute Gesellschaftsordnung" vonnöten sei. Die Nutznießung erfolge durch gemeinschaftliche Verträge und gegenseitige Vereinbarungen. Der Kapitalismus sei zu überwinden. Militärausgaben, welche in vielen Staaten ca. 50 % am Jahresetat ausmachten seien in der neuen Gesellschaft überflüssig.

Abschaffung der Staaten

Rocker führt aus: „Wer angesichts dieses ungeheuerlichen Tatsachenmaterials noch immer nicht glaubt, dass der Staat mit seinen bis an die Zähne bewaffneten Armeen, seinem Heere von Bürokraten, seiner Geheimdiplomatie und seinem unzähligen, auf die Verkrüppelung des Menschengeistes eingestellten Institutionen dem Menschen zum Schutze dient, dem ist überhaupt nicht zu helfen. In Wirklichkeit ist die Existenz der modernen Großstaaten eine stete Gefahr für den Frieden, eine ständige Anregung zum organisierten Völkermord und zur Verwüstung aller kulturellen Errungenschaften. Außer diesem kostspieligen Schutz, den der Staat seinen Bürgern gewährt, schafft er nichts Positives; wohl aber stellt er jede kulturelle Errungenschaft sofort in den Dienst der Zerstörung, so dass sie den Menschen nicht zum Segen, sondern zu einem fortgesetzten Fluche wird (...) Je tiefer der Staat mit seinen unzähligen Organen in alle Betätigungsgebiete des gesellschaftlichen Lebens eindringt, je mehr es seinen Trägern gelingt, die Menschen in geistlose Automaten seines Willens umzuformen, desto unabwendbarer gestaltet sich die Welt zu einem großen Gefängnis, in dem zuletzt kein Hauch der Freiheit mehr zu verspüren sein wird (...) Was heute am gesellschaftlichen Horizont Europas und der Welt heraufzieht, ist die Diktatur des Ungeistes, der da glaubt, die ganze Gesellschaft auf das tote Räderwerk einer Maschine einstellen zu können, deren Gleichgang alles Organische erstickt und die Seelenlosigkeit der Mechanik zum Prinzip erhebt (...) Je weiter diese Zustand der Dinge schreitet, desto schwerer wird es sein, die Menschen zu einer neuen Gemeinschaft zusammenzufassen und sie zu einer Erneuerung ihres sozialen Lebens anzuregen. Der Wahnglaube an die Diktatur, der sich heute wie eine Pest über Europa verbreitet, ist nur die reife Frucht jener geistlosen Staatsgläubigkeit, die man den Menschen seit vielen Jahrzehnten eingepflanzt hat. Nicht das Regieren der Menschen, sondern des Verwalten der Dinge ist das große Problem, das unserer Zeit gestellt ist und das innerhalb der großen Staatsverbände nie gelöst werden kann. Nicht darauf kommt es an, wie wir regiert werden, sondern dass wir regiert werden; denn dieses ist ein Zeichen unserer Unmündigkeit, die uns verhindert, unsere Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Wir erkaufen den Schutz des Staates mit unserer Freiheit, um wenigstens das Leben zu erhalten, und sehen nicht ein, dass es dieser Schutz ist, der uns das Leben zu Hölle macht, dem nur die Freiheit Würde und innere Kraft verleihen kann."

Die föderalistische/ freie Gesellschaft

„Wenn es heute wirklich noch eine Wahl gibt, so ist es nicht die zwischen Faschismus und Kommunismus, sondern die Wahl zwischen Despotismus und Freiheit, zwischen brutalem Zwange und freier Vereinbarung, zwischen menschlicher Ausbeutung und kooperativer Wirtschaft für die Interessen aller (...) Nur ein föderalistischen Gesellschaftsgebilde, das sich auf gemeinsame Interessen aller stützt und dem das freie Übereinkommen aller menschlichen Gruppierungen zugrunde liegt, kann uns vom Fluche der politischen Maschine befreien, die sich vom Schweiße und Blute der Völker nährt. Föderalismus ist organisches zusammenwirken aller gesellschaftlichen Kräfte von unten nach oben für ein gemeinschaftliches Ziel auf Grund frei eingegangener Verträge. Föderalismus ist nicht Zersplitterung der schöpferischen Betätigung, ist kein chaotisches Drunter und Drüber, sondern gemeinsames Arbeiten und Wirken aller Glieder für die Freiheit und das Wohlergehen aller. Es ist die Einheit des Handelns, welche der inneren Überzeugung entspringt und in der lebendigen Solidarität aller seinen Ausdruck findet. Er ist der Geist der Freiwilligkeit, der von innen nach außen wirkt und sich nicht im geistlosen Nachahmen toter Formen erschöpft, die keine persönliche Anregung aufkommen lassen. Zusammen mit dem Monopol des Besitzes muss auch das Monopol der Macht verschwinden, damit der Alpdruck von den Menschen weiche, der wie ein Berg auf unseren Seelen lastet und unserem Geiste die Schwingen bricht. Befreiung der Wirtschaft vom Kapitalismus! Befreiung der Gesellschaft vom Staate! (...) Und mit den Zwangseinrichtungen des Staates wird auch die Nation verschwinden, die nur Staatsvolk ist; damit wird der Begriff der Menschheit wieder einen neuen Sinn erhalten, der sich in jedem ihrer Teile kundgibt und aus der reichen Mannigfaltigkeit des Lebens sich erst das Ganze schaffen wird."

Originaltext: www.fau-bremen.de.vu