Pierre Ramus - Der Antimilitarismus als Taktik des Anarchismus

Referat, gehalten auf dem internationalen Amsterdamer Kongreß der »Internationalen antimilitaristischen Assoziation« am 30. und 31. August 1907.

I. Die Anarchisten und die allgemeinen Friedensbestrebungen

Als Anarchisten, also Männer und Frauen, die einen staatslosen Zustand gesellschaftlichen Friedens erstreben und erst in seinem Aufgehen das Dämmern einer wahren, menschheitlichen Kulturperiode erkennen, begrüßen wir es mit Freude, daß die Erörterung der sogenannten Friedensprobleme, der Abrüstung, des Weltfriedens eine allgemeine, internationale Bedeutung gewonnen und Beachtung gefunden haben. Denn wir erblicken darin ein unfreiwilliges Zugeständnis unseren Ideen und Bestrebungen gegenüber.

Während heute im Lager der Friedensfreunde auch noch die Meinungen über die Durchführbarkeit, über die zeitliche und umständliche Möglichkeit der Entbehrung des Militarismus sehr auseinandergehen, hat es unter den Anarchisten stets und immerdar nur eines gegeben: Unbedingteste Verneinung des Militarismus, das unbedingte Streben nach seiner gänzlichen Beseitigung! Wir, die wir verachtet und verfolgt werden, geächtet als "Mörder", als "Feinde der Gesellschaft" von den Gewaltsherrschern und Unterdrückern, wir, die man stets darstellte als die einzig kriegführende Macht innerhalb der Gesellschaft — wir waren stets und werden immerdar sein, ganz im Einklänge mit unseren Idealen menschlichen Glückes, menschlicher Freiheit, die Apostel des Friedens; und wenn wir Krieg führen, einen Krieg, der uns aufgenötigt wird, so tun wir, in weit bedeutenderem Sinne nur das, was alle sogenannten Friedensfreunde tun sollten, was aber nur wir mit dem genügend energischen Nachdruck tun: Wir Anarchisten führen Krieg nicht wider die wahren Friedensapostel der Menschheit, wie es der Staat in seiner ganzen gleißnerischen Brutalität tut; wir führen Krieg unserer Aufklärung nur gegen die Anstifter des sozialen wie militaristischen Krieges. Diese Kriegsorganisation allein bekämpfen wir, sonst leben wir im Frieden mit allen Menschen, soweit sie nicht beteiligt sind an dem Privateigentumsraub der heutigen Gesellschaft und an der tyrannischen Institution innerhalb der Gesellschaft, dem Staate.

Eines aber wollen wir nicht verschweigen: unser Antimilitarismus ist ein ganz besonderer Antimilitarismus und unterscheidet sich von dem der Bourgeoisie, soweit sie auch antimilitaristisch, jenem der Sozialdemokratie, dadurch, daß er eine ganz andere Auffassung, ein ganz anderes Strebensziel besitzt, als jene es haben. Wie wir im Laufe dieser Darlegung beobachten werden können, hat es bislang stets zwei Formen antimilitaristischer Betätigung gegeben, und erst die Anarchisten sind es, die diesen gegebenen und noch heute allgemein maßgeblichen Formen eine dritte Form hinzugefügt haben, nämlich den anarchistischen Antimilitarismus.

Die nicht-anarchistischen Auffassungen des Antimilitarismus erblicken in dem Kriege eine für sich und durch sich allein bestehende Brutalität, Roheit und Bestialität des Menschen und der Menschen. Das Gesellschaftsbild, die Grundlage unseres wirtschaftlichen Lebens treten zurück, werden überhaupt nicht beachtet vom bürgerlichen Friedensschwärmer. Er schwärmt für den Frieden, wie die Religionspropheten vom Hereinbruche des tausendjährigen Reiches schwärmten. Er sieht in der modernen Gesellschaft und ihrer wirtschaftlichen Grundlage nichts Kriegeerzeugendes und -benötigendes, glaubt vielmehr, daß Kriege durch die Schlechtigkeit dieses oder jenes Individuums, dieser oder jener Kategorie von Individuen angezettelt werden. Hat er mit letzterem nicht durchwegs Unrecht, so bleibt noch immer die Frage bestehen, welche Motive und Veranlassungen es sind, die diese oder jene Kategorie von Individuen zu Chauvinisten, zu absichtlichen oder unabsichtlichen, zu berechnenden oder unberechnenden Kriegshetzern machen.

Bei denjenigen Friedensfreunden, die zu den sogenannten radikalen Parteien des öffentlichen Lebens gezählt werden — also von den liberalisierenden Strömungen an bis zu der linksliberalen der Sozialdemokraten — treten wieder andere Momente in den Vordergrund. Kehrt sich der Bourgeois nur und ausschließlich gegen die einzelnen Individuen, in denen er Jingos und Kriegshetzer erblickt, so erkennen diese Parteien sehr wohl die heutige wirtschaftliche Bedingtheit des Krieges an. Sie begreifen auch seine Unvermeidlichkeit und durchschauen deutlich genug die Heuchelei der "friedensschwärmenden" Bourgeoisie. Allein sie gehören zu den nach Macht und Gewalt im modernen Staatsleben strebenden Tendenzen. Und so verneinen sie, den Übelstand in der bestehenden Staatsform zu erblicken. Die Änderung dieser Staatsgewalt bedeutet stets das eine: die herrschende Klasse wird verdrängt und eine andere Klasse ergreift das Ruder der Staatsgewalt. Eine jede dieser nach Macht strebenden Parteien sieht sich gedanklich schon als die zur Herrschaft Gelangte. Dann wollen sie, dies ihr Versprechen, durch die rechtliche Festlegung ganz besonderer Bestimmungen für den Krieg, durch die Veränderung des Heerwesens und dessen Vervollkommnung, wie auch Beschränkung auf Verteidigungskriege, als eine zur staatlichen Macht gelangte Partei den modernen Krieg aufheben.

Während die bourgeoisen Friedensfreunde somit die Aufhebung des Krieges von den guten Entschlüssen mächtiger Staatsmänner, Potentaten und Persönlichkeiten erwarten — man erinnere sich nur des Jubels vonseiten dieser Kreise über die Auslassungen des russischen, verbestialisierten Zaren —, hegen die anderen, die radikalen und sozialdemokratischen Friedensfreunde und "Antimilitaristen" die Hoffnung, mittels der Staatsmaschine, mittels ihres Mechanismus, den Krieg abschaffen zu können. Sie glauben nicht an die Besserungsfähigkeit der gegenwärtigen Staatsrepräsentanten, meinen jedoch, selbst besser zu sein, anders zu handeln, sobald sie zur Macht gelangt sind.

Es ist das nur eine erweiterte Auffassung der ersteren. Tatsache ist auch, daß beide Richtungen in ihren praktischen Vorschlägen sich ziemlich intim und verwandt berühren. Schiedsgerichte, internationales Recht, Abstimmungen über die Eventualität eines Krieges durch das Volk oder durch die gesetzgebende Körperschaft usw. — es sind dies samt und sonders Vorschläge, die sowohl von den einen, wie den anderen anerkannt werden. Der Bourgeois hofft nämlich auf die Besserungsfähigkeit des Staatsmannes, der Sozialdemokrat — wir wollen ihn des Argumentes halber als den politisch extrem Radikalen betrachten — hofft auf die Besserungsfähigkeit des Staatssystems. Logischer ist vielleicht noch der Bourgeois, denn einerseits vermag die Initiative des Einzelnen sehr viel, andererseits besteht ein Staatssystem aus den es konstituierenden Menschen. Unlogisch sind sie alle beide, weil sie gemeinsam der Meinung sind, daß die Macht ihre eigene Wesensäußerung: den Krieg, vernichten würde.

Demgegenüber bieten die Anarchisten eine ganz eigenartige Meinungsanschauung dar. Sie betrachten den Krieg nicht als ein besonderes Schreckgespenst des gesellschaftlichen Lebens; sie wissen, daß er sich in der Weltgeschichte in allen gesellschaftlichen Formen der staatlichen Autorität vorfand und suchen nach dem Grund dafür. Ihr Antimilitarismus beschäftigt sich sowohl mit dem Kriege selbst, wie mit dem System, welches den Krieg gebärt. In ihrer universalen Auffassung gelangen sie zu Konklusionen, die sich mit den Auffassungen der übrigen Friedensbestrebungen manchmal parallel laufend finden, in ihren Zielen aber zu ganz anderen Schlüssen gelangen als diese.

Um diese Schlüsse zu begreifen, ist es notwendig, zwei Probleme schärfer ins Auge zu fassen: erstens die Entstehung des Krieges, zweitens den Antimilitarismus selbst, dessen führende Ideen erst die Anarchisten zu harmonischen Zielen und zu einer logischen Taktik gelangen lassen.

II. Staat und Militarismus

Das charakteristische Moment eines Krieges findet sich darin, daß eine Gemeinschaft von Menschen die Individuen einer anderen Gemeinschaft angreift oder von diesen angegriffen wird. Es ist klar, daß wir, wollen wir überhaupt erkennen können, was der Krieg, uns zurück zu begeben haben in das Urzeitalter primitiver menschheitlicher Existenzbedingungen. Nur dann, wenn wir nicht verwirrt und befangen werden in unserem Urteil von der Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit moderner sozialer Einrichtungen, uns darauf beschränken können, die wenigen Momente der Veränderung, die in der primitiven Menschheitsorganisation auftreten, klar und deutlich zu beobachten, werden wir zu einer wahrheitsgemäßen Betrachtung unseres Problems gelangen.

Krieg bedeutet Massengewalt gegen Massengewalt. Um den Krieg zu begreifen, müssen wir das Ursprüngliche des Gewalt-Prinzips zu erforschen suchen.

Die anthropologische und biologische Wissenschaft hat uns einerseits den Kampf ums Dasein, wie auch die Entwicklungsgeschichte des Menschen gelehrt, daß der primitive Mensch in seinem bitteren Daseinskampfe wider die Naturelemente, wie auch in der Überwindung des Mangels gegen seinesgleichen Gewalt anwandte, mögen wir füglich zugeben. Obgleich wir sofort hinzufügen müssen, daß, wie Kropotkin uns so großartig weitblickend lehrt, dieser Kampf des Menschen wider den Menschen nicht den hauptsächlichsten Teil seiner Lebensbetätigung ausfüllt, sondern daß es weit eher gegenseitige Hilfe und Vereingung der primitiven Menschen waren, die sie durch die verschiedenen Stadien der Wildheit bis hinauf zu den ersten Ansiedlungen kulturellen Lebens gelangen ließen. Hätte es im primitiven Menschenleben nur den Daseinskampf wider die eigene Art gegeben, so wäre ihm letztere Hinauf- und Emporentwicklung nie gelungen, das Menschengeschlecht wäre höchstens dazu gelangt, sich gegenseitig aufzureiben. Davor bewahrte es der Faktor der Solidarität oder richtiger: Die solidarische Notwendigkeit.

Doch es kann zugegeben werden, daß es hier und da zu Zusammenstößen gewaltsamer Natur zwischen Mensch und Mensch kam. Wir können der Wissenschaft — ist sie auch nicht immer sehr objektiv — das Zugeständnis machen, daß es sogar vorgekommen sein mag, daß sich zuweilen einige gegen einen oder mehrere Menschen verbanden und im gegenseitigen Kampfe ihren wilden, barbarischen Instinkten freien Lauf ließen, Totschlag und Mord verübten. Aber im Ganzen und Großen wird man nicht umhin können, einzusehen, daß es sich in all diesen Fällen vornehmlich um den Einzelkampf zwischen Mensch und Mensch handelte. Es war das, was wir heute noch sehen in der Form von Duellen bei den "Feinsten und Edelsten" der Nation. Solche Einzelkämpfe bilden aber noch lange keinen Krieg, auch waren sie außerordentlich selten und wurden ziemlich vermieden im primitiven Kommunismus des Menschengeschlechtes.

Allen diesen Einzelzusammenstößen fehlte das kennzeichnende Merkmal des Krieges: der organisierte Kampf von Gemeinschaft wider Gemeinschaft, organisiert von einem bewußt dirigierenden Zentrum. Und letzteres charakteristische Merkmal taucht erst viel später auf. Es fällt zusammen mit dem Aufkommen einer organisierten Macht innerhalb der sozialen Gemeinschaft: des Staates. Erst mit ihm erfolgt das, was wir da nennen Militarismus, und erst der Militarismus ergibt und nur der Militarismus kann ergeben: den Krieg.

Es ist heute eine feststehende, wissenschaftlich unwiderlegbar gestützte und bewiesene Tatsache, daß der Staat erstanden ist durch die Gewalt. Die Stärksten vereinigten sich und in der Aufpflanzung der Autorität, die in letzter Instanz stets auf physische Gewalt zurückgreift, bemächtigten sie sich der Vorteile und Lebensquellen der Gemeinschaft. Diese Stärksten waren zuerst die Priester, diejenigen, die in dem unklaren Geist des primitiven Menschen den Wahnglauben der Religion pflanzten. Ihre Stärke bestand anfangs mehr in ihrer List und Schlauheit, als in ihrer physischen Übermacht. Diejenigen, die sich so aufwarfen zu Beherrschern der Gemeinschaft, vernichteten die ursprüngliche Freiheit und Gleichheit der Menschen und sie stützten ihre Herrschaft vornehmlich dadurch, daß sie die Beute unter sich verteilten. Berauscht von den Wahnideen der Metaphysik, die die Priester — die ersten Könige — sie lehrten, brachten die Menschen ihre Opfergaben dar, die sich im Laufe der Zeit zu festbestimmten Abgaben und Steuern erweiterten.

In dem Wesen einer jeden Autorität liegt es begründet, daß sie nach Machterweiterung strebt, zu einer Vergrößerung ihrer Herrschaftssphäre getrieben wird. Sowohl im eigenen, selbstisch-materiellen Interesse, wie auch im Interesse der Aufrechthaltung ihrer Macht im eigenen Grenzgebiete. Letzteres ist höchst wichtig, und es kann nur geschehen, wenn der auf das Übernatürliche gerichtete Sinn der Menschen eine stets neue Nahrung dadurch findet, daß ihm die Autorität, also der Staat, in immer neuen Manifestationen des Übernatürlichen entgegentritt. Der menschliche Geist muß so gedrillt werden, daß er sich nur als Werkzeug, als Mittel höherer, überirdischer Zwecke betrachtet. Die Autorität kann sich nur erhalten, wenn sie im Stande, sich dem Menschen als eine mit überirdischen Kräften ausgestattete, von Übernatürlichem beschirmte Macht darzustellen. Um dies zu erreichen und um die Menschen für ihre materiellen Interessen, deren Zwecken gemäß zu züchten, wurde aus dem ehemaligen Führer der Jagd, der den Segen übernatürlicher Kräfte auf das Vorhaben seiner Gruppierung herabflehte, ein König, ein Kriegsführer, der die Begriffe: Vaterland, Patriotismus, Nationalismus im Laufe der historischen Entwicklung lehrte und lehren ließ. Und da ein jedes Herrschertum danach trachtet, sich als das allein zu Recht bestehende angestaunt zu sehen, dann auch nach dem Reichtum der Nachbarn lüstern blickt, wurde das Volk gelehrt, sein eigenes Herrscherhaus, dessen Funktionen und Mithelfer, als die dem Willen eines übernatürlichen Wesens Entsprungenen zu betrachten und jene abergläubische Verehrung vor der Autorität, die auch heute noch existiert, entstand und entwickelte sich. (1)

Es ist ein solcher Geisteszustand des Volkes, welcher dem Herrscher die Allmacht über die einzelnen Glieder der Gesellschaft verleiht. Nun erst, so entsteht das, was wir unter Krieg verstehen können. Die Gemeinschaft hatte ein bewußt wirkendes Zentralorgan, den Staat, erhalten. Und eben so, wie die Bibel es versucht, im Gemüt des unwissenden Menschen das Gefühl der Ehrfurcht vor Gott dadurch zu wecken, daß sie ihn uns in seinem Zorne und Zerstörungseifer zeigt, so wußte auch die irdische Macht sehr wohl, daß das Gemüt des Menschen sich dauernd nur dadurch übermannen lasse, wenn es die Autorität in unendlich vergrößerter Machtentfaltung und Gewaltsmanifestation erblickt. Nur so ist jene Fanatisierung, jener religiöse Eifer möglich und erklärlich, die wir im Chauvinismus sehen müssen, dort, wo er noch echt ist. Der Krieg, besonders der siegreiche Krieg und die Vorstellung, über den Feind zu siegen, umstrahlt den Staat mit sinnberückender Gloriole, und so ist das Kriegführen diejenige weltlich-religiöse Macht des Staates, die ihm zu seiner Aufrechterhaltung dient.

Denn was ist eigentlich der Staat? Eigentlich ist der Staat nichts anderes als Militarismus en miniature. Militarismus ist systematisierte Waffengewalt; der Staat existiert nicht, wenn er nicht nach Außen, wie nach Innen hin eine Gewalt repräsentiert. Noch krasser ließe sich das Problem so stellen: Militarismus ist die Funktionsäußerung des Gewaltprinzips; dieses ist eben der Staat, denn diese Funktionsäußerung kann niemals stattfinden ohne der organisatorisch primären und demonstrativ den Krieg proklamierenden Ordre des Staates. Darum ist der Militarismus als Organismus des Gesellschaftslebens nur der vergrößerte Staat, denn die Macht des Staates ist repräsentiert durch seine Bewaffnung. Wir sehen also, wie lächerlich, wie heimtückisch es ist, wenn die modernen Staaten das Wort "Abrüstung" im Munde führen. Sie wissen ganz gut, daß ihnen dies nur Phrase sein muß, denn eine wirkliche Abrüstung, d.h. Überwindung des militaristischen Prinzips wäre gleichbedeutend mit dem Selbstmord des Staatsprinzips. Das Dämonische dieses letzteren Prinzips, sein Genieprodukt ist gerade die Erzeugung des militärischen Geistes in den breitesten Schichten des Volkes; und dies ist dem Staate nur möglich durch die Großzüchtung von sozialen, philosophischen und religiösen Irranschauungen, durch die allein er seine Existenz zu rechtfertigen vermag. Sie aufzugeben, bedeutet allerdings den Tod des Militarismus, bedeutete aber auch den Tod des Staates.

Man sieht, wir Anarchisten betrachten die ganze Frage sehr nüchtern und klar. Deshalb haben wir auch ganz andere Meinungen über das Wesen des Krieges als die bürgerlichen Friedensschwärmer. Für diese existiert nur eine Störung in einer sonst sehr trautlich von ihnen gehüteten und gehegten Weltharmonie: eben der Krieg. Und sie glauben, ihn innerhalb der Gegenwartsgesellschaft abschaffen, diese jedoch in ihren Hauptbestandteilen erhalten zu können. Dies ist eine törichte Illusion, töricht dort, wo sie ehrlich gemeint, verbrecherisch dort, wo sie demagogisch gemeint ist.

Wir Anarchisten haben eine ganz andere Auffassung über das Wesen des Krieges. Wir hassen ihn als human gesinnte Menschen, aber wir wissen zur gleichen Zeit, daß er innerhalb der heutigen Gesellschaftsunoranung nichts mehr oder minder ist als der im Großen ausgedrückte,- ununterbrochen im Kleinen tobende und wütende Kampf der Einzelindividuen und der Klasse wider einander. Dieser Konflikt wird hervorgerufen durch die juristisch-legale Ausbeutung, die der Besitzende an dem Besitzlosen verübt, durch die Niederwerfung jeden Versuches, jeden Vorstoßes vonseiten des Unterdrückten, sich sein Lebensrecht zu erobern, welche Vereitelung vom Staate herbeigeführt, durchgesetzt wird. Solange es Hunger, Elend und Not gibt, gibt es auch einen Kampf innerhalb derjenigen Gesellschaft, in der sich diese Furien befinden. Und da die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sehr oft das Leben und die Existenz von unendlich vielen Menschen opfert, ist es nur Sentimentalitätssache, sich wider den im Großen geführten Krieg aufzulehnen, den im Kleinen geführten, seinem Opferumfange gemäß aber oftmals verlustreicheren Kleinkrieg jedoch ruhig gewähren zu lassen.

Der Staat führt einen ununterbrochenen Krieg gegen den Besitzlosen. Dieser Guerillakrieg ist die Keimzelle des Krieges zwischen den Nationen. Zwei Arten von Armeen sind bereit, den Arbeiter niederzuschlagen in seinen gerechten Lebensansprüchen, und sie tun es auch nur zu oft: auf industriellem Gebiet hält sich die moderne Gesellschaft ihre ökonomische Reservearmee zurecht,-auf politischem den offiziellen Militarismus. Auch dies ist ein Kampf zwischen zwei Gemeinschaften: auf der einen Seite steht die Welt der Arbeit, auf der anderen der Staat mit seinem Soldatentum, seinen sonstigen Elementen: Polizei, Spione, Zuchthauswächter und Henker. Und wenn wir oben sagen, der Staat führe einen ununterbrochenen Krieg gegen den Besitzlosen, weil Schwächeren, so haben wir hier wieder eine Fülle von Analogien im Kriege. Jeder Krieg ist nämlich nichts anderes als der Angriff einer Macht durch eine andere, welche sich für die Stärkere hält und da glaubt, die schwächere unterjochen zu können. Wie also im modernen Staatenleben der Militarismus immer nur herrisch ist gegen den Unbewaffneten, dem natürlicherweise Schwächeren, so ist der Krieg selbst nichts anderes, als der Fehdezug einer von brutalen, schrecklichen Instinkten und Trieben erfüllten Masse oder Volksmenge, angestachelt von den aus kühler Berechnung im Hintergrunde wirkenden sozialpolitischen Mächten, wider ein schwächeres Volk oder eine schwächere Herrschaftssippe. Somit deklariert sich der Krieg selbst als die Vergewaltigung des offenkundig Schwächeren; der Krieg ist also die große sozialpolitische Feigheit des Staates.

Gehen wir nun über zur Betrachtung des Militärismus, wie er heute ist, sich herausschälte während der letzten zwei Jahrhunderte, denn er ist in seiner modernen Form nicht viel älter.

Thibaudeau teilt uns folgenden Ausruf Napoleons mit, den dieser während der Beratungen des Staatsrates machte: "Die Konskription ist das abscheulichste und für die Familien hassenswerteste Gesetz, obschon es leider nötig ist für die Sicherheit des Staates". Diese Sicherheit des Staates, die sich um das Abscheuerregende und Hassenswürdige also nicht bekümmert, sondern ruhig ihren gemein-egoistischen Selbstzweck verfolgt, können wir in der ganzen Entwicklungsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte des Militarismus beobachten. Es ist die Geschichte der Groß-Staaten, die Geschichte der Allianz der Staaten wider, besonders im letzten Jahrhundert, das aufstrebende Bürgertum und Proletariat, eine Geschichte, deren historische Prozesse sich nur vollziehen können auf Grundlage der Errichtung einer  immer stärkeren, immer konzentrierteren Militärmacht, welche nachgerade eine solch' polypenartige Aussaugung und Umfangung der Menschheit erreicht hat, daß sie jährlich rund 6 Milliarden Kronen zur Aufrechterhaltung ihrer militaristisch-maritimen Kräfte aus eben dieser Menschheit schlagen kann. Heute haben die Völker die Zechen der Kriege zu bezahlen, und deshalb führt ein jeder Krieg in seinen Folgeerscheinungen einen größeren Druck und eine noch größere Steuerbelastung für die unglücklichen Volksmassen mit sich.

Der moderne Militarismus ist hervorgegangen aus dem Volksheer, der sogenannten Bürgerwehr und dem Söldner- und Landsknechtwesen. Die letzteren waren die verachtetsten Volkskreise, aus ihnen rekrutierte sich der Ruhm des mittelalterlichen Krieges. Es gibt mehrfache Unterschiede zwischen dem Militarismus des Altertums, sagen wir z.B. Athens, jenem des Mittelalters und der Neuzeit. Vor allem ist das Volksheer eine demokratische Einrichtung, eben dadurch, daß ihm die eine, alles überragende Persönlichkeit des allein maßgebenden Tyrannen mangelt, der ausschließlich entscheidend ist über Krieg oder Frieden. Das Volksheer des Altertums, auch die Bürgerwehr des Mittelalters waren unzweifelhaft demokratische Verteidigungs- und Angriffsmilitarismen, indem die Kämpfenden, besonders im Altertum, wirklich ihre eigenen, materiell-persönlichen Interessen zu verteidigen hatten oder zu fördern suchten. Sonst aber — und das muß ganz entschieden betont werden — ist das Volksheer (auch Miliz genannt) eine genau so unterjochende, kulturfeindliche, alle Schäden des modernen Militarismus, des stehenden Heeres, darweisende Macht, wie dieser selbst. Denn — und es ist ein Akt der Ehrlichkeit, den wir durch diese Entlarvung vollziehen! —, in Wahrheit besteht, wie oben ersichtlich, nur ein Formunterschied zwischen dem Volksheer und dem modernen stehenden Heer. Dort, wo das letztere den einen Maßgeblichen hat, befindet sich beim Volksheer allerdings nicht eine Persönlichkeit, sondern eine staatliche Körperschaft von Persönlichkeiten. Es läuft auf dasselbe hinaus, denn der Bestand der Macht und der Waffenrüstung und der verallgemeinerten kriegerischen Erziehung allein sind schon ganz genügend, um ein Volk sehr kriegerisch werden zu lassen, was im gegebenen Falle dann vom Staat, dem Repräsentanten der Besitzinteressen, ausgenützt wird. Weitere bedeutende Unterschiede existieren zwischen dem Volksheer und dem stehenden Heer nicht. Wir sprechen hier stets vom Volksheer innerhalb der Monarchie oder Republik. Bezeichnend für die Kurzsichtigkeit der Sozialdemokratie in ihrem lächerlichen Enthusiasmus für das Volksheer ist allerdings, daß der moderne Militarismus entwicklungsgemäß aus jenem hervorging, solches ganz logisch geschehen mußte, da ihm mit der Zunahme der staatlichen Zentralisation und ihrer Machtsphären einfach ein Kopf geboten wurde. Das stehende Heer des modernen Militarismus ist eigentlich nur das mit dem Haupte des Despotismus versehene Volksheer.

Bis ins 17. Jahrhundert hinein brachten die Fürsten und überhaupt Herrschenden allein die Kosten der Kriege auf. Wollten sie nicht tiefer in den eigenen Säckel greifen, so verlegten sie sich eben auf das Plündern. Doch noch war der Krieg ihre Sache und wurde um ihretwillen geführt und für die Führung hatten sie dem Bürgertum und den Söldnern gut zu zahlen. Man besaß noch nicht jene entsetzliche Ironie, in diesen Dingen mit dem Volke kommunistisch zu verfahren und es gesetzmäßig zu verfügen, daß das Volk alle die Kosten bestreiten müsse, die ein Krieg verursacht. Erst die Neuzeit trat in dieser Hinsicht bahnbrechend auf. Und es war — schon damals eine düstere Vorbedeutung, ein böses Omen für die Rolle, die dieser Name in den zukünftigen Geschicken der Völker von ganz Europa spielen sollte — ein Preußen, das es sich zuerst leisten konnte, dieses Tartuffeprinzip, diese diabolische Methode, die das Leben der Völker und deren Gut und Eigentum für die Interessen der Machthaber involviert, einzuführen und zur Anwendung zu bringen. Es wird behauptet, daß Preußen in seinem Vorgehen ein edles, würdiges Vorbild in der Türkei besaß, deren riesige Janitscharenkaserne zu Konstantinopel anspornend wirkte. Somit können wir zu den Ahnen des europäischen Militarismus sehr wohl einen solchen von asiatischer Abkunft hinzuzählen.

"Das Gesetz des Rechtes auf allgemeine Vergewaltigung", wie der passendste Ausspruch eines bekannten Denkers die moderne Institution des Militarismus, seinen allgemeinen Dienstzwang, nannte, ist eine Schändung jedes ethischen und humanen Prinzips der Menschheit. Der Militarismus besitzt keinerlei rationelle Verteidigungs- und Begründungsargumente, er ist dasjenige Verbrechen der Gewaltsausübung im Großen, das uns im Kleinen als verachtungswürdig und hassenswert erscheint, das wir aber lernen müssen, auch im Großen zu bekämpfen. Kein Geringerer als Häckel hat dies ausgeführt: Junge, blühende, kräftige Männer werden, sobald sie eine gewisse Altersstufe erreicht haben, aus ihren Familien gerissen und einem Zustande willenlosester, demütigendster Unterwerfung überantwortet. Diesen Zustand nennt man Militarismus. Es wird den Menschen gezeigt, wie sie ihre Mitmenschen töten und morden können, man weist ihnen die Methoden der Zerstörung dessen, was man als die Früchte produktiver Arbeit bezeichnen kann, man lehrt sie, die Verwüstung blühender Landstrecken, die Vernichtung des Glückes von ungezählten Tausenden von Familien als eine kaltblütig hinzunehmende Selbstverständlichkeit zu betrachten, die ihre Motivierung und Apologie in dem Wörtchen "Krieg" findet. Aus Menschen werden so reißende Bestien für einen Kriegsfall gemacht, zu Friedenszeiten werden sie zu solchem Tun abgerichtet, und der Soldat darf sich nie weigern, eine ihm sittlich als schändlichste Tat geltende Handlung zu begehen. Von dem Momente an, wo er dies täte, wäre er ein schlechter Soldat, und es ist Tatsache, daß das System des Waffendrilles es so weit gebracht hat, daß Millionen von Menschen an einer eigentümlichen Krankheit leiden: man nennt sie Willen- und Urteilslosigkeit; und alle diese Millionen sind keine schlechten, sondern gute Soldaten.

Der Soldat ist eben ein anderer Mensch als der Zivilist. Eine neue Ehre entsteht für ihn aus dem Umstände verschiedener Kleidung, die, so erzählt man ihm, ein Abzeichen des Schutzes des Vaterlandes, des häuslichen Herdes, der höchsten "Güter der Nation" gegenüber dem Nachbarlande ist; und jenseits der Grenzen wird wieder das Gleiche gelehrt. So hört der Soldat auf, ein Mensch unter Menschen zu sein; er wird Soldat unter Menschen, also ein Gewaltswesen, das nur die Gewalt als regulativen Faktor in den Beziehungen zwischen Menschen anerkennt.

Wozu alle die Hekatomben von Opfern an Leben, Glück, Frieden, Kulturarbeiten, die ein Krieg kostet? Man spricht uns vom Patriotismus und nationalem Gefühl. Aber das sind doch nur heuchlerische Phrasen, da es ja so etwas wie eine reine Nation nicht gibt. Überdies können wir es jeden Tag beobachten, daß der Staat Nationalismus und Patriotismus nur vom Volke verlangt; Staat und Kapital sind längst international und internationalistisch geworden. Der Staat ist ja ureigentlich das Prototyp internationaler Vermählung. Es gibt keinen nationalen Staat, es gibt nur die Staatenwelt, welche, die Massen als Werkzeuge ihrer Eroberungsgier betrachtend, die Erde und ihren Reichtum unter sich in entsetzlich blutigen Kämpfen aufteilt und nun bestrebt ist, die unterjochten Völker glauben zu machen, sie müßten sich als streng gesonderte, abgegrenzte Gruppe von den übrigen Völkern und Stämmen betrachten — im gegebenen Fall wider diese kämpfen sollen!

Der Krieg ist der Mord auf Kommando. Wir können den Mord verstehen und erklären, welcher der Überzeugung, der Leidenschaft, pathologischen Momenten, kurz, der all dem entfließt, was überwiegende Gefühlsmacht über den Menschen gewonnen hat. Den Mord, ausgeheckt von einigen, in sicherer Entfernung sich Befindenden, ausgeführt von Individuen, die, nur dem Zwange gehorchend, morden müssen, gerichtet gegen Individuen, die dem Volke der kriegführenden Nationen nie das Geringste zu Leide taten, nur der Förderung gemein-egoistischer Interessen der Herrschenden dienend diesen Mord verdammen, verurteilen die Anarchisten aufs schärfste. Sie rufen mit vereinten Kräften: Gegen die Urheber von Kriegen! Krieg denen, die im Blute der Völker waten wollen und denen er ein Beruf, ein Bereicherungszweck ist!

Darin besteht im allgemeinen der Antimilitarismus der Anarchisten!

III. Die bürgerlichen friedensfreunde und der sozialdemokratische Antimilitarismus

Wir haben den Kreislauf aller früheren bürgerlichen Ideengänge des Antimilitarismus und des Friedensstrebens kennen gelernt; (2)  wir wollen in Nachstehendem die Gedankengänge der modernen bürgerlichen Friedensbestrebungen und ihres Kumpanen, der modernen Sozialdemokratie, kennen lernen.

Es würde uns zu weit führen, ist auch ganz unnütz für unseren Zweck, wollten wir ins Einzelne gehen und aus den Worten von Frau Berta von Suttner, aus den Schriften eines D'Estournelles etc., überhaupt aus der ganzen, ungeheuer großen Literatur dieser Friedensbewegung schöpfen. Für unseren Zweck genügt es vollständig, uns auf eine kleine, zusammenfassende Schrift des Herrn Alfred H. Fried zu stützen, der als Mitglied des internationalen Friedensinstitutes und als Herausgeber der "Friedenswarte" (3) eine publizistisch internationale Bedeutung besitzt.

Der Name der kleinen Schrift lautet: "Die Friedensbewegung, was sie will, und was sie erreicht hat." (Felix Dietrich, Leipzig, 1905)- Diese Broschüre, wie auch ihr Verfasser, verfällt in diejenige irrtümliche Methode der antimilitaristischen Aktion, die die gesamte Vergangenheit des Antimilitarismus auszeichnet und erst in der Gegenwart durch die Anarchisten allmählich beseitigt wird: — sie besteht in einer fortwährenden Herumarbeiterei an und mit dem Staate. So erblickt Fried das Ziel echt kultureller Entwicklung darin, daß die Staaten sich organisieren und vereinigen sollen "zur sozialen Einheit der internationalen Kulturgemeinschaft." Man verlangt also etwas, das erfahrungsgemäß nie war, nie sein kann, denn der Einzelstaat kann sich selbst nicht überflüssig machen lassen durch eine etwaige Staatengemeinschaft, die dann eventuell eine internationale Staatengilde der Volksunterjochung bedeuten würde. Dies kann nicht unser Ziel sein.

Die bürgerliche Friedensbewegung sieht eben die Ursache der Kriege, wie wir schon eingangs darlegten, sehr idiologisch an und glaubt sie in der persönlichen Feindschaft der herrschenden Staatsrepräsentanten zu einander gelegen. Dies ist irrtümlich, denn die persönliche Feindschaft ist erst Folge, nicht Ursache der Kriegserklärung. Der wahre Grund des Krieges liegt heutzutage in rein materiellen Ursachen, in den ökonomischen Wirtschaftskämpfen und Eroberungsnotwendigkeiten von Nationalsystem gegenüber Nationalstem. Eines ist freilich richtig: auch hier kann eine Harmonisierung der Interessenkonflikte zwischen Staat und Staat dadurch geschaffen werden, daß die Erkenntnis politischer Zwangsnotwendigkeiten den diversen Staaten eine solche Harmonisierung aufzwingt. Ist dies dann die "höchste soziale Einheit der internationalen Kulturgemeinschaft?" Keineswegs! Sonst wäre z.B. der Dreibund eine solche; auch der Zweibund; sonst wäre die heilige Allianz eine solche gewesen!! Sie alle sind aber nur Verstärkungen der Zentralgewalt gegenüber den unterjochten Völkern — Vergrößerungen der Opferkonsequenzen eines etwa ausbrechenden Krieges.

Einfügend wollen wir es präzise ausdrücken: Es besteht tatsächlich die Tendenz unter den Staaten, sich gegenseitig fest zu verbinden und zusammenzuschließen, um Kriege nach außen zu verhindern. Es geschieht dies aber nicht etwa aus Humanität, aus Kulturgewissen; solches geschieht angesichts der bewegten sozialen oder politischen Verhältnisse im Innern fast aller Länder, angesichts der enorm steigenden Staatsschulden und hauptsächlich dank der revolutionären Nötigung, welche die Arbeiterklasse der meisten Länder den Staaten auferlegt. Es ist aber grundfalsch, nun anzunehmen, daß dies einer Schwächung des Militarismus gleichkomme; im Gegenteil: die Vermeidung äußerer Konflikte durch den Staat wird einfach deshalb besorgt um eine Verstärkung und Erhöhung des Militarismus zum Gebrauch gegen das rebellische Proletariat des eigenen Landes, des Inlandes zu ermöglichen. Hier haben wir den wahren Zweck der Haager Friedenskonferenz u. dgl. m. zu sehen!

Wir haben einen ganz anderen Begriff von der "höchsten sozialen Einheit der internationalen Kulturgemeinschaft"; wir haben eine andere Auffassung über den Internationalismus. Für uns hebt er erst dann an, wenn die Worte "Kultur" und "Gemeinschaft" in freiheitlicher Läuterung sich internationalisieren. Eine Internationalisierung der Bestialität, gehoben aus jedem nationalen Rahmen, wäre die Internationalisierung der Staaten; mehr als es wünschenswert, haben wir sie schon... Wir hingegen internationalisieren die Kulturelemente und darum Volkselemente; eine solche Internationalisierung der Kulturgemeinschaft bedeutet die Überwindung des Staates auf Grund der Vereinigung und Harmonisierung der Völker!

Der beste Beweis dafür, wie heillos verworren die Auffassungen unserer modernen Friedensfreunde sogar bester Sorte sind, leuchtet aus dem einen Umstand hervor, daß Herr Fried in seinem Streben nach Frieden gegen die "Anarchie der Staaten" kämpft — als ob es nicht schon längst ein internationales Staatenrecht gäbe! — und in der Beseitigung dieser Anarchie die beste Gewähr für den Frieden erblickt.

Es ist traurig, diese ziellose Herumschweiferei des geistigen Ausblickes beobachten zu müssen; es ist traurig zu sehen, wie die Anarchie, die staatenlose Ordnung des Gesellschaftslebens, hier ganz unverantwortlich für das verantwortlich gemacht wird, was die Archie, das Staatentum, verbricht und verübt. Wie unlogisch klingt es, wenn Fried sagt: "Die Friedensrüstungen bestehen in der Herstellung einer Organisation der Staaten, innerhalb welcher sie die Gewalt ausschalten und Vernunft und Recht an deren Stelle treten lassen." Wir fragen: Wie kann der Staat sich seiner Gewalt entschlagen, ohne sich selbst aufzuheben? Er, der doch selbst Urheber, Anstifter und Vollstrecker aller gesellschaftlichen Gewalt ist! Dann, nach dieser eigenartigen Apotheose des Idealismus sagt Fried wieder etwas anderes: daß die Friedensbewegung nicht die direkte Beseitigung des Krieges, sondern die "Beseitigung seiner Ursachen" herbeiführen wolle. Wer aber ist eigentlich die Hauptursache, wenn nicht der Staat an und für sich? Übrigens befindet sich Fried hier mit uns auf halbem Wege, Freilich nur auf halbem, denn wir wollen beides: die direkte Unmöglichmachung des Krieges, wie auch seiner Ursachen. Der Staat ist uns schon deshalb Hauptverursacher des Krieges, da alle wirtschaftlichen Ränkesüchteleien einen Krieg nicht ermöglichten, gäbe nicht der Staat seine technisch-organisatorischen Mittel dazu her.

Als "ultimo ratio" wollen die bürgerlichen Friedensfreunde, die also die "Anarchie der Staaten" abschaffen wollen, ein über allen Staates thronendes, alle Kompetenzbefugnisse über diese besitzendes, international wirkendes Schiedsgericht. Also wieder der Staat über den Staaten; dies die Abschaffung der "Anarchie der Staaten."

Es ist nur natürlich, daß ein ohne Machtbefugnisse wirkendes Schiedsgericht einer anarchischen Zukunft, durch seinen begütigenden Rat in Konfliktfragen viel Gutes und Schlichtendes stiften können wird. In unserer, nur auf Gewalt basierten Gesellschaftsordnung der Gegenwart spielte dasselbe dagegen die Rolle eines blut- und fleischlosen Gespenstes an der Wand. Nur die ehernste Machtvollkommenheit und weitreichender Zwang könnten ein solches Schiedsgericht zu einem gebieterischen Faktor gestalten. Diese Eigenschaften lassen sich aber nur durch eine neuerliche und eventuell noch vergrößerte Etablierung von — Militärgewalt zu Gunsten, behufs Gehorsamserzwingung der zu erlassenden Schiedssprüche in Streitfällen gewinnen. Ein wirklich idealer "Frieden", der höchstens zu Kriegskoalitionen der "rechtlich" unterliegenden Mächte wider das Schiedsgericht führte!

So bildet denn ein Schiedsgericht innerhalb den heutigen Verhältnissen ein grotesk-komisches Zerrbild des Unvermögens und der Unfähigkeit. Die Erfahrung beweist das schlagend genug. Schiedsgerichte existieren seit dem Jahre 1794. Sie wurden zum ersten Mal auf Grund eines zwischen England und Amerika abgeschlossenen Vertrages etabliert. Bis zum Jahre 1904 — also innerhalb von 110 Jahren — gelangten 241 Fälle zum Austrag vor einem Schiedsgerichte. Welch trivialer Art diese Fälle gewesen sein müssen, wird man begreifen, wenn man nur ganz flüchtig die ausgebrochenen Kriege während dieser letzten 11O Jahre überfliegt! Daß sich 241 Fälle friedlich zum Austrag bringen ließen, ist erklärlich, wenn man erstens weiß, daß es sich um Kleinigkeiten oder aber um Streitfragen von internationaler Bedeutung handelte, die ein jeder Staat sehr gerne einem Schiedsgericht übergibt, um den sonstigen Ausbruch eines Weltkrieges zu verhindern, der unvermeidlich so manchen scheinbar unverrückbar feststehenden Thron ins Wanken brächte.

Die gesamte bürgerliche Friedensbewegung ist eine solche, die sich auch moralisch zum Tode verurteilt hat, seitdem sie gemeinsame Sache mit dem Staatentum, den Regierungen, gemacht hat, auf das lächerlich impotenten Demagogenzeichen gekrönter Tyrannen hin mit fliegenden Fahnen in das Lager der Staaten überging, mit diesen, wie ja auch erst unlängst zur Langeweile und zum Gespött der ganzen gebildeten Welt, im Haag, mitsprach und mittat. (4) Wie einflußlos diese ganze Bewegung ist, geht schon aus dem Umstände hervor, daß die Haager Konferenz, die ja eigentlich keine Friedenskonferenz war, sondern nur über die Humanisierung des Krieges (!!) beriet — Macchiavelli nannte ihn den "Austragsweg der Bestien" — so wirklich gar keinem öffentlichen Interesse begegnete. Besonders bemerkenswert ist auch, daß sogar die Presse es verschmähte, ausführliche Berichte über ihre inhaltslosen, leeren Beratungen zu bringen! So allgemein ist das Gefühl, daß die Haager Konferenz nur Komödie, das Gefühl für ihre Impotenz und Bedeutungslosigkeit verbreitet!

Die bürgerliche Friedensbewegung darf sich, Hand in Hand mit den Staaten, rühmen, für ihren Antimilitarismus jene geflügelten Worte in sarkastischer, blutig höhnender Ironie verwirklicht zu haben, die der ungarische Ministerpräsident Dr. Wekerle in anderem Zusammenhang vor einiger Zeit äußerte: "Der Sozialismus", so sagte er, "ist ein Ideal, dem wir dasjenige entnehmen und von dem wir all das verwirklichen müssen, was unseren Bestrebungen entspricht und was mit der Berücksichtigung der wahren Verhältnisse auch durchgeführt werden kann..."

Nicht den Frieden, nicht die Humanität und Gerechtigkeit, nicht den Antimilitarismus berücksichtigen diese Herren Bourgeois und Politiker und Staatsmatadoren. Maßgebend für ihren Antimilitarismus und brauchbar ist nur das — "was unseren Bestrebungen entspricht..."

"Genosse Bebel hat schon betont, daß selbstverständlich im Falle eines Angriffes die Sozialdemokraten die Flinte auf den Buckel nehmen würden, und ich behaupte, daß es keinen deutschen Sozialdemokraten gibt, der eine andere Auffassung ausspricht." (Der sozialdemokratische Abgeordnete Noske (5) im deutschen Reichstag, am 25. April 1907.)

"Ich akzeptiere die Versicherung des Vorredners, daß die sozialdemokratische Partei entschlossen sei, im Falle eines Angriffskrieges auf das Deutsche Reich es mit derselben Treue und Hingabe zu verteidigen, wie die anderen Parteien." (Lebhafte Zurufe bei den Sozialdemokraten: Selbstverständlich! Haben wir immer gesagt.) (Kriegsminister von Einem im deutschen Reichstage, am 25. April 1907.)

Beide Zitate sind wörtlich dem Berliner "Vorwärts" vom 26. April 1907 entnommen.

Haben wir uns in einer Besprechung der bürgerlichen Friedensfreunde an das unter vielen bekanntere Schriftchen von Fried gehalten, so haben wir nur eines, das wir gebrauchen können, wenn wir die "antimilitaristische" Stellungnahme der Sozialdemokratie — und da gilt nur die deutsche, die Mutterpartei, wie sie sich gerne nennen hört — gebührend charakterisieren wollen. Es handelt sich um das bekannte, in Deutschland konfiszierte Werk von Dr. Karl Liebknecht über "Militarismus und Antimilitarismus" (Verlag der Leipziger Buchdruckerei-Aktiengesellschaft, Leipzig 1907).

Bevor wir auf eine generelle Kritik des Buches selbst eingehen und an der Hand einer solchen die falschen Urteile desselben über den Anarchismus und den von diesem beseelten Antimilitarismus richtig stellen, den anarchistischen Antimilitarismus darstellen, handelt es sich um eine einleitende Präzisierung all jener Gesichtspunkte, die für eine Beurteilung der Sozialdemokratie maßgebend sind.

Belehrt durch eine über fünf Dezennien währende und hiedurch gewonnene Erfahrung, erkannte das europäische Proletariat schon seit 1848 zu einem großen Teil, daß es bislang für die Bourgeoisie nichts anderes gewesen war, als dasjenige Hilfsmittel, um für sie, für die Bourgeoisie, die ihr eigentümlichen und notwendigen Lebensbedingungen einer expansive vorgehenden Wirtschaftsmethode zu erkämpfen, die den industriellen Fortschritt bourgeoiser Technik, Industrie und des Handels beschleunigte, damit die Bourgeosie einerseits bereichernd, anderseits folglich zur politisch ausschlaggebenden Macht erhebend. Das Proletariat erkannte, daß es betrogen worden. Und so sehen wir denn, daß die alte "Internationale Arbeiterassoziation" (1864) uns ein Bild eines zum ersten Mal großzügig international organisierten, wirtschaftlich kämpfenden Proletariats bietet, das abseits von der Bourgeoisie seine eigenen sozialen Forderungen aufstellt und anstrebt. Den wirklich kampfestüchtigen Teil des Proletariats, seinen Geisteskern offenkundig der Bourgeoisie zurück zu gewinnen, war seit dieser Zeit und ist Sache der Unmöglichkeit. Doch auf andere Weise ist diese Unmöglichkeit zum größten Schaden des Proletariats, glänzend realisiert geworden. Ihre Verwirklichung hat die Sozialdemokratie durchgeführt.

Von dem Augenblicke an, da es im Proletariat hieß: parlamentarisch "kämpfen", behufs Erringung der "parlamentarischen Macht", hätte die Bourgeoisie, verstünde sie nur ein ganz klein wenig die Psychologie von Massenbewegungen und deren Forderungen, ruhig sein können, denn damit wurde der Klassenkampf des Volkes ein Scheinkampf. Die Sozialdemokratie mußte werden, was sie heute ist: die letzte Ausläuferin der bürgerlichen Demokratie, die, um das Proletariat an diese und ihre für dasselbe entweder belanglosen oder erst in zweiter Linie wichtigen Forderungen zu ketten, auch einige sozialistische Zukunftsausblicke und Brocken mit in Kauf nimmt. Von dem Moment an, da die Sozialdemokratie nach Parlamentarismus und Wahlrecht und Repräsentationssystem rief, erkannte sie nämlich die Grundbedingungen des modern bürgerlichen Staates, als zu Recht bestehend an und hörte, durch die rechtliche Anerkennung und Hochschätzung der ihr von diesem gebotenen gesetzlichen Mittel auf, eine revolutionäre Bewegung zu sein. Sie wurde damit eine demokratische Reformpartei.

Nur als eine solche können wir sie verstehen; nur als eine solche begreift sie sich selbst. Dasjenige, was an idealistischen Zukunftsausblicken noch in ihr ist, besitzt eine jede Bewegung — auch die konservative, die ja die Etablierung oder Konservierung des Despotismus ebenfalls idealistisch zu verklären vermag — besitzt jeder Mensch, ganz gleich welcher Parteirichtung er angehört. Ihr sogenannter oberster Programmgrundsatz — die Überführung sämtlicher privateigentümlich geeigneten Produktionsmittel in kollektivistischen Besitz — ist durchaus nichtig geworden, indem sie für denselben überhaupt nicht mehr kämpft. Dieser oberste Grundsatz ist in Wahrheit Theorie geworden. Gekämpft wird seitens der deutschen Sozialdemokratie nur um die tristen und trockenen Notwendigkeitsbehelfe, deren sich der bürgerliche Staat bedienen muß, um das durch seine Existenz an dem Proletariat und dessen Produktivität verübte Unrecht, seine Ausbeutung und Unterdrückung tunlich zu verdecken. So etwas nennt sich dann "Sozialreform".

Was die Sozialdemokratie wirklich anstrebt, drückt Karl Liebknecht (p. 118) knapp, aber außerordentlich deutlich und einmal wahrheitsgemäß in folgendem aus: Beseitigung des gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses der kapitalistischen Oligarchie gegenüber dem Prole-tariate und seine Ersetzung durch ein demokratisch-proletarisches Herrschaftsverhältnis. Dies ist die berühmte "Eroberung der politischen Macht" und weit zutreffender, vor allen Dingen ehrlicher ausgedrückt, als es bislang geschah. Daß aber ein "demokratisch-proletarisches Herrschaftsverhältnis" mit dem Begriff sozialer wie individueller Freiheit ebensowenig zu tun hat, wie ein Herrschaftsverhältnis der "kapitalistischen Oligarchie" sollte einem jeden Einsichtigen klar sein. Ein jedes Herrschaftsverhältnis setzt Beherrschte, damit Unfreie, voraus.

Nun erst sind wir an die Quelle der Erkenntnis gelangt, was die Haltung der Sozialdemokratie gegenüber dem Militarismus betrifft. Die Sozialdemokratie kann keine grundsätzliche Gegnerin des Militarismus sein, sie ist Gegnerin desselben und seiner Formen nur insoferne, als der Militarismus eine Stütze der "kapitalistisch-oligarchischen Macht" ist.

Damit wird uns vieles erklärlich und begreiflich.

Auf der einen Seite ist die Sozialdemokratie gezwungen, dank der unablässigen Propaganda der anarchistischen Bewegung, die ihr die denkend werdenden Arbeitermassen abspenstig zu machen droht, zu erklären, daß sie "prinzipielle Gegnerin" des Militarismus sei, wie es Liebknecht in seinem Buche auch noch, kühn genug, ausspricht, während ihm schon zwei Monate nach dem Erscheinen desselben — im April — die offiziellen Wortführer der Partei eines anderen belehrten; und dies längst nicht mehr zum ersten Mal. (6) Der Grundirrtum jener, die die Sozialdemokratie als prinzipiell antimilitaristisch auffassen, beruht darin, daß sie eines nicht bemerken: die gesamte Theorie der Sozialdemokratie, wie sie Marx und die marxistische Schule ausarbeiteten, ist überhaupt nicht darauf zugeschnitten, irgend einer Sache, und wäre es die drangsalierendste, prinzipielle Gegnerschaft entgegenzusetzen. Dies verbietet die Hegelei, diese, "in unseren Tagen berühmt gewordene Charlatanerie", wie sich Schopenhauer so vorzüglich über sie äußert. Die Sozialdemokratie ist allen kapitalistischen und staatlichen Erscheinungen des modernen Lebens gegenüber ganz identisch mit den übrigen bürgerlichen Parteien, indem sie sie nicht unbedingt verneint, sondern nur nach politischer Beute giert und sie ihren Zwecken anpassen möchte. So ist sie nicht gegen den Militarismus, sondern ist nur gegen jene Form desselben, die ihren besonderen Zwecken nicht zuträglich ist. Eine besondere Erscheinung bildet die Sozialdemokratie höchstens deshalb, weil sie danach strebt, das Proletariat von den bürgerlichen Parteien loszulösen und ihren eigenen Parteizwecken, die in einer Eroberung der "demokratisch-proletarischen Herrschaft" bestehen, willfährig zu machen.

Um aber letzteres zu können, dazu bedarf es des Militarismus, d.h. eines wohldisziplinierten und gedrillten Massenwahnes, der dem Befehle eines Vorgesetzten durchaus gehorcht. Ist die Hoffnung auch vollständig illusorisch, so wird sie dennoch von den offiziellen Parteigrößen systematisch genährt, daß die Sozialdemokratie eines Tages als politische Herrscherin auftreten würde und dann den Flinten, Gewehren und Kanonen im gegebenen Falle werde gebieten können, nie zu schießen ... Dazu ist der Militarismus nötig, denn eine wie immer geartete "Diktatur des Proletariats", wie das schöne Wort von Marx lautet, ist anders undenkbar; nur daß diese Diktatur, die eine neue Menschheitssklaverei bedeuten würde, glücklicherweise überhaupt undenkbar ist.

Erst nun werden wir es begreifen, weshalb die deutsche Sozialdemokratie sich dem Antipatriotismus von Herve so hartnäckig widersetzt. Der Patriotismus ist allerdings nichts anderes als das ödeste der öden Schlagworte im Wörterbuch der Bourgeoisie, wie es Dr. Michels sehr richtig in seiner von der Sozialdemokratie totgeschwiegenen, logischen Broschüre "Patriotismus und Ethik" (7) darlegt, hat keinen Raum im Vorstellungsvermögen des Internationalismus, der wie alles Kulturelle allumspannend ist. Aber eine Partei, die sich aus niederer Mandatsjägerei an der Haushaltungspolitik des bestehenden Systems beteiligt, die die politische Macht gewinnen und deshalb politischen Stimmenfang betreiben muß, kann sich ihres Nationalismus und Patriotismus nicht entschlagen. Ein jeder Staat ist national, und wer ihn erringen will, muß selbstredend vor allem nationalistisch sein; so kommt der Patriotismus auch in der Sozialdemokratie zu seinem Recht, muß zu demselben gelangen.

Je nachdem die in der Sozialdemokratie zu Worte kommenden entweder mehr Sozialisten oder mehr Demokraten sind, desto mehr oder weniger sind sie Patrioten. Und indem die Sozialdemokratie vornehmlich die Demokratie unserer Tage darstellt, ist es nur logisch, wenn die Sozialdemokraten im Parlament dem Ausspruch Noskes, den wir oben zitierten, lebhaft zustimmten. So wird auch der Haß, die giftsprühende Wut über die antipatriotische Propaganda Herves begreiflich, die aus jeder Zeile des "Vorwärts" spricht, die sich damit beschäftigt. Entblödete sich dieses Blatt denn doch nicht, in seiner Ausgabe vom 16. September 1905 den Antimilitaristen und sozialistischen Antipolitikern an den Kopf zu werfen, daß sie für die "antisozialistischen Politiker" arbeiteten. Dieser verleumderische Ingrimm rührt daher, daß die Sozialdemokratie in all ihrem Vorgehen der Unterstützung der Bourgeoiselemente bedarf, die sie aber einzubüßen fürchten muß, falls sie eine direkt antipatriotisch-antimilitaristische Haltung einnähme. Aus diesem Grunde haben die Bebel und Konsorten die These des sogenannten Abwehr- und Angriffskrieges aufgestellt, obwohl es bisher geschichtlich auch nicht ein einziges Mal unanfechtbar festzustellen ist, wer eigentlich der ursprünglich "schuldige Teil" in all den Kriegen der Weltgeschichte war. Dies gilt für alle — von Attila angefangen bis zu den Feldherren und Kriegsführern und Staatenhäuptern unserer Tage. (8)

So lautet das Problem für jeden ehrlichen Sozialisten und Antimilitaristen, Ihr Herren Bebel, Liebknecht etc., etc., denn wir verteidigen nur das, was Yvetot vorzüglich folgendermaßen ausdrückte: "Das Vaterland ist überall da zu finden, wo es Menschen gibt, die Streben, Dulden, Leiden, Arbeiten, Hoffen und sich gegen das Unrecht auflehnen!"

Als Vertreterin des Gewallsprinzips staatlicher Zentralisation stellt die Sozialdemokratie eine durchaus ideologische Auffassung über das Wesen des Militarismus vor, wie unter anderem auch der sehr beschränkte Satz Liebknechts "Der Besitz der Waffen ist politische Macht" es beweist. Wäre dem wirklich so, dann müßten die Soldaten aller Länder ihre Tyrannen längst aufs Haupt geschlagen haben. Nach Liebknechts Auffassung könnte eine im Parlament ans Ruder gelangte Partei die Waffen und das Heer für sich ausnützen, was zu behaupten, ein politischer Betrug ist. Denn so lange dieses Heer überhaupt einem Befehle gehorcht und nicht aus sich heraus, durch seine Geistesaufklärung gegenüber dem Bestehenden passiv wird, wird es stets denjenigen eher gehorchen, die die wirtschaftliche und exekutive Macht im Staate besitzen und auf Grund derselben herrschen. Parlamentsmajoritäten sind aber weder wirtschaftliche noch exekutive Macht. Rußland hat uns dies am deutlichsten gezeigt; in allen übrigen Staaten schon der Umstand allein, daß nicht das Parlament, sondern überall das "obere Haus" herrscht und das Militär befehligt. In Deutschland im Bundesrat, in Österreich im Herrenhaus, hier verschmilzt sich logisch die ökonomische mit der politischen Macht, also der militärischen Macht.

Der sozialdemokratische Antimilitarismus ist entstanden unter der anspornenden Betätigung des Anarchismus; in allen seinen Wesensäußerungen, Beschlüssen und Bestrebungen knüpft er an die Vorstellungen bürgerlicher Bestrebungen an und versucht es, dieselben auch seinen Zwecken nützlich zu machen; er leistet in dieser Entwicklung bourgeoiser Ziele, die notwendigerweise sich nur um die Erringung der Staatsgewalt oder Ausnützung derselben zu gewissen Zwecken drehen, die höchsten seiner Geistesleistungen. (9) Denn, indem er den Staat erobern will, erkennt der sozialdemokratische Antimilitarismus vornehmlich eines nicht: daß es sich bei ihm nicht um eine Befreiung der Menschheit von einer der furchtbarsten Geißeln handelt, sondern bloß um eine Übernahme der Staatsgewalt - und sie ist Militarismus — durch die Sozialdemokratie. Auch die Sozialdemokratie versucht es, den Individualwillen der wirkenden Persönlichkeiten zu beeinflussen, doch während der anarchistische Antimilitarismus in den Kampf des Einzelindividuums selbst die Bedingungen der Befreiung legt, versucht es die Sozialdemokratie nur, das einzelne Individuum soweit zur Aktion aufzurufen, als dieses Individuum sich nicht wider die Staatsgewalt auflehnt, (10) sondern es nur soweit bringt, einzelne Repräsentanten seiner Klasse in die gesetzgebenden Körperschaften hinein zu delegieren, woselbst diese dann mit den bestehenden Staatsgewalten unterhandeln sollen, dabei jedoch nur ihren Vorteil herauszuschlagen vermögen.

Während der Anarchismus in seinem Kampfe gegen den Militarismus diesen als das Ureigene und Eigentümliche des gesamten Gesellschaftssystems erkennt, ihn nur besonders bekämpft, weil er in dieser Bekämpfung einen Hauptfaktor zur Umwälzung des Gesamtsystems erblickt, faßt die Sozialdemokratie den Militarismus als eine Erscheinung der bürgerlichen Welt auf, die ganz für sich und besonders, durch seine Umwandlung in einen Milizmilitarismus seine speziellen Übel abstreift und dann zur Verteidigung des "Vaterlandes" hinreicht. Somit faßt sie den Militarismus als eine Notwendigkeit zur Verteidigung des Vaterlandes auf, hört damit auf, sozialistisch zu sein, denn der Begriff des "Vaterlandes" fällt unbedingt zusammen mit dem staatlichen Ausdruck Nation, was allen Prinzipien des Sozialismus zuwiderläuft. Der Sozialismus ist internationalistisch, der Sozialismus hat kein Vaterland und bedarf keines Militarismus.

Was hat der sozialdemokratische Antimilitarismus geleistet in den letzten paar Jahren seines internationalen Bestandes? Wir wissen, daß eine jede individuelle oder kollektive Aktion des Antimilitarismus der letzten Jahre nur der anarchistischen Propaganda, ihrem geistigen Einfluß entsprang. Was haben mittlerweile die Sozialdemokraten geleistet?

Die antimilitaristische Tätigkeit der Sozialdemokratie aller Länder beschränkt sich auf die Bekämpfung und Ablehnung des Militärbudgets; oder eigentlich nicht einmal, denn Herr Bebel hat schon des öfteren erklärt, daß nur die Art der Anwendung des Budgets nicht zweckmäßig sei, er aber sehr gerne für "bessere Waffen", für "Erhöhung der Löhne der Mannschaften und Unteroffiziere" — dies der deutsche sozialdemokratische Antrag für 1908, der unter andern auch die Unterstützung des Grafen Oriola gefunden —, für "warmes Abendbrot für die Soldaten", für "dunkle Knöpfe" eintreten würde. Dies ist eine direkte Konservierung des Militarismus, wie jeder Sachkundige zugeben muß. Die Mißachtung für eine Institution erhöht man nicht, indem man sie mit Firniß überdeckt und erträglicher macht. - Doch sehen wir einmal zu, wie weit es der Sozialdemokratie überhaupt gelungen, in ihren Budgetbekämpfungen den Militarismus zu behindern, zu beschränken.

Es gibt in Europa über 400 sozialdemokratische Abgeordnete, es gibt Millionen Menschen, die durch ihre Stimmabgabe bekundet haben, daß sie hinter diesen ihren Vertretern stehen. Nach einer Aufstellung, die der englische Friedensjournalist und Zarenschwärmer William Stead in seinem während der Haager Kriegskonferenz herausgegebenen "Courier de la Conference" darbietet, sind die Ausgaben für den Militarismus und Marinismus nur während der letzten 10 Jahre in nur den sechs Großmächten Europas — Italien, Österreich-Ungarn, England, Frankreich, Rußland, Deutschland - um rund 2000 Millionen Francs gestiegen!

Gehen wir nun speziell zu Deutschland über und lassen wir Liebknecht selbst reden und sich selbst widerlegen. Er sagt (p. 43): "Von 1899 bis 1906/7 ist aber allein in Deutschland das militärische Budget von rund 920 Millionen auf rund 1300 Millionen, also über 40 Prozent gewachsen".

Wir fragen: Welche Bedeutung, welchen Einfluß hat die Sozialdemokratie Deutschlands im Parlament, wo macht sich ihr Antimilitarismus fühlbar? Wo äußert sich der parlamentarische Antimilitarismus der Sozialdemokratie auf dem weiten Erdenrund?

Die Sozialdemokratie bildet in ihrer parlamentarischen Betätigung ein direkt konservierendes Element des Militarismus, das muß jeder eingestehen, der die Reden der Bebel — und Noske sagte nichts anderes als dieser! — und seiner internationalen Kollegen liest und begreift. Sie kämpfen gegen die "Mißbräuche" des Militarismus, während er selbst ein einzig großer Schaden ist; überdies kämpfen auch bürgerliche Parteien gegen jene, denn es ist im Interesse der herrschenden Klassen gelegen, daß der Militarismus so wenig Anstoß als möglich erregen soll. Was die Sozialdemokratie aus-und kennzeichnet, ist ihr Mangel an Erkenntnis und tiefer ursächlicher Auffassung des Problems, ist ihr Unverständnis für jede anders geartete individuelle Initiative, als die parlamentarische — nur dieses Spiel lassen sie als individuelle Initiative gelten, da es doch keine ist!, ist die Demagogie ihrer Führer und der vollständig bourgeoise Geist der Kleinmütigkeit und behäbigen Gesetzlichkeit, der die Partei und ihre Spitzen beseelt.

Noch eines, bevor wir zum Schlusse eilen.

Es herrscht eine falsche Auffassung über die Stellung mancher sozialdemokratischer Antimilitaristen zum Problem des Antimilitarismus. Besonders trifft dies zu auf Karl Liebknecht, dessen Hochverratsprozeß, den ihm der Terrorismus des deutschen Staates aufbrannte, ganz falsche Meinungen über den Verfasser des Buches über den "Militarismus und Antimilitarismus" aufkommen ließen. Zudem hat Herr Bebel durch seine heimtückische Methode hilfreicher Beispringung dem Kriegsminister gegenüber, indem er erklärte, daß auch er gegen "solche Bücher" wie das Liebknechtsche war und sie auf dem Parteitag bekämpfte, (11) die ganz irrtümliche Meinung aufkommen lassen, als ob etwa Liebknecht ein Antimilitarist im französischen syndikalistischen, oder im Hervéschen Sinne sei. Das ist unwahr, dies zu behaupten ist unehrlich. Zwischen Liebknecht und Bebel besteht höchstens der eine Unterschied, daß Liebknecht einen jüngeren, frischer denkenden Geist besitzt, als der alte, recht greisenhaft gewordene Bebel. (12) In der Theorie unterscheidet sich der eine vom anderen ebenso wenig wie in der Taktik; vollkommen oder fast vollständig ist er mit letzterer einverstanden.

Der ganze Streit, worum es sich handelt - Liebknecht ist auch gegen Kasernenagitation! - dreht sich um folgendes: Er lernte vom Beispiel anderer Länder und versuchte es, in Deutschland eine rege antimilitaristische Propaganda unter der Jugend in Fluß zu bringen. Das ist ohne Zweifel verdienstvoll, wenn wir auch der rein sozialdemokratisch verballhornisierten Erziehungsmethode widerstreben müssen. Aber eine solche Erziehung findet immerhin darin unsere Zustimmung, weil wir wissen, daß es gilt, Kämpfer zu schaffen; weil wir mit Liebknecht darin übereinstimmen, wenn er (p. 122) sagt: "... Es ist ein ganz gewaltiger Unterschied, einen sozialdemokratischen Stimmzettel abzugeben oder wirklicher Sozialdemokrat oder gar bereit zu sein, alle die persönlichen Gefahren auf sich zu nehmen, die der Antimilitarismus in der Armee mit sich bringt." Solche Sozialdemokraten hören allerdings bald auf, Sozialdemokraten zu sein; ganz so, wie wir alle aufhörten, Sozialdemokraten zu sein, sobald ein tieferes Verständnis für den Sozialismus und dessen Ziele sich bei uns einstellte.

Die Sozialdemokratie vertritt auf antimilitaristischem Gebiete nur rein bürgerliche Forderungen. Sie neigt in allen ihren antimilitaristischen Betätigungen mehr der Bourgeoisie zu, als dem Anarchismus. (13) Aus diesem Grunde ist ihr gesamtes antimilitaristisches Streben vollständig fruchtlos geblieben. Ganz bürgerlich ist sie in ihrem Rechten und Fordern von dem Staat, dessen historische Wesensbedingungen sie vollständig verkennt. Sie fordert von ihm Reformen solcher Art, die, wenn ausgeführt, nur eine größere Elastizität und Vervollkommnung des bestehenden Systems bilden, für das Proletariat aber nie eine vollständige Befreiung bedeuten könnten. Als einen einzigen Beweis für viele können wir hier die Gesetzentwürfe der österreichischen Sozialdemokratie in Sachen des Militarismus zitieren. (Vgl. Wiener "Arbeiter-Zeitung", vom 24. Juli 1907). Dort wird auf Umwandlung des Heeres in eine Miliz gedrungen, weil ein solches "Volksheer" es "mindestens ebenso gut vermag, eine auf demokratischer Grundlage organisierte und durch obligatorische Vorbildung der männlichen Jugend für den Waffendienst ergänzte Volkswehr die notwendige Sicherung des Staates nach außen zu gewährleisten; und eine solche Wehrverfassung ist es, welche die Sozialdemokratie anstrebt". Also nicht Abschaffung des Militarismus gilt es, sondern Eindrillung der Jugend, behufs notwendiger "Sicherung des Staates nach außen". Und um zu dem Tragischen auch das Heitere zu gesellen, lassen wir nur einige Zitate aus dem von der Sozialdemokratie Österreichs propagierten Gesetzentwurf folgen. Da heißt es u. a.:

Die Abänderung des Wehrgesetzes. Artikel I.

Der erste Absatz des § 8 des Gesetzes vom 11. April 1889 wird hiemit in seiner gegenwärtigen Fassung außer Kraft gesetzt und hat von nun an zu lauten wie folgt:

Die Dienstpflicht dauert:
1. Im Heere:
a) zwei Jahre in der Linie und acht Jahre in der Reserve;
b) zehn Jahre in der Ersatzreserve für die unmittelbar in diese Eingereihten.

2. In der Kriegsmarine:
zwei Jahre in der Linie, sieben Jahre in der Reserve und drei Jahre in der Seewehr.

3. In der Landwehr, beziehungsweise in ihrer Ersatzreserve:
a) zwei Jahre für jene, welche nach vollstreckter Dienstpflicht im Heere in die Landwehr übersetzt werden;
b) zwölf Jahre für die unmittelbar in die Landwehr Eingereihten.

Ganz abgesehen davon, daß diese Demagogen es doch sehr wohl wissen, daß sie nicht einmal mit dieser Farce und Travestierung jeder antimilitaristischen Gesetzesbeeinflussung durchdringen — ganz abgesehen davon, fragen wir: Ist dies Antimilitarismus? Verlohnt es sich für den Proletarier, dafür zu kämpfen, sich ins Schlepptau solch rein bürgerlicher Forderungen nehmen zu lassen? Wir müssen dies auf das entschiedenste verneinen. Es ist dies dieselbe Politik, die die Staaten- und Friedensideologen im Haag betrieben haben, eine Politik, die nichts zu tun hat mit der Befreiung des Proletariats vom Moloch des Militarismus.

Resümieren wir kurz: Der Antimilitarismus der Sozialdemokratie ist die Heuchelei ehrgeiziger Politiker. Seine Verwirklichung würde nicht Abschaffung des Militarismus bedeuten, sondern nur Veränderung seiner Formen und seiner Funktionen; heute beherrscht und geleitet von einer "kapitalistischen Oligarchie", würde der Militarismus, im Triumphesfalle der Sozialdemokratie in Milizform verwandelt, beherrscht und dirigiert werden von den demokratisch-proletarischen Herrschern des sozialdemokratischen Zukunftsstaates, die an Unduldsamkeit, Herrschsucht und Willkür in nichts den gegenwärtig Herrschenden nachgeben und in deren demagogischen Händen der Militarismus ganz ebenso eine Macht zur Niederhaltung jeder ihrer Herrschaft gefährlichen Volksbewegung wäre, wie es auch gegenwärtig der Fall ist.

IV. Der Antimilitarismus als Taktik des Anarchismus

Vorstehend haben wir die Gesamtidee und Bewegung des Antimilitarismus kennen gelernt. Wir haben die Entstehung des Militarismus, wie auch der ihm widerstrebenden Tendenzen historisch verfolgt, haben die verschiedenen taktischen Mittel aller Friedensbewegungen geprüft und gelangen nun zum Ergebnis unserer Untersuchung.

Auf dem Höhepunkt dieser Untersuchung handelt es sich darum, zu zeigen, in wie ferne die Anarchisten den einzig logischen Antimilitarismus vertreten.

Als Anarchisten fassen wir den Militarismus nicht auf als eine gesonderte Erscheinung des kapitalistisch-staatlichen Lebens, sondern als eine Hauptäußerung der Macht dieses ganzen Lebenssystemes der staatlichen und wirtschaftlichen Gewalt überhaupt. (14) Wohl richten wir unsere Angriffe, wenn wir von antimilitaristischer Aktion reden, vornehmlich auf den Militarismus, aber nur, weil er in eklatantester Weise das Gewaltsprinzip als den Leitfaden aller Wesensbetätigungen dieser Gesellschaft aufwirft. Sonst ist unser Antimilitarismus ein universaler, ganz wie, um Proudhon zu paraphrasieren, unser Atheismus ein universaler ist. Als anarchistische Antimilitaristen bekämpfen wir nicht nur das stehende Heer, sondern auch die Gesamtorganisation aller Gewaltsfunktionen. Wir bekämpfen einheitlich jede bewaffnete Gewalt im bestehenden Gesellschaftslebens, also auch die Gendarmerie, das stehende Heer von Gefängnis- und Zuchthauswächtern; wir bekämpfen das Heer der Justiz: Richter, Staatsanwälte, weil alle ihre Funktionen sich auf Gewalt — wir erinnern "nur" an den Scharfrichter! — begründen. Kurz, wir bekämpfen die Gesamtorganisation des Staates, der ja nichts anderes ist, als das Haupt eines in Waffen starrenden Militarismus. — In diesem direkten, unmittelbaren Aufklärungskampfe und dessen rein geistiger Führung wider den Militarismus als Staat sind wir Anarchisten. So ist der Militarismus und seine Aktionen nicht nur im Sinne der Abwehr und des Angriffes zu erwägen, wie dies die Sozialdemokratie tut; vielmehr ist der Militarismus: — die heutige Gesellschaft und alle Prinzipien, auf denen sie fußt.

Wir sind Antipatrioten, weil wir die der Macht, der kriegerischen Willkür und Vergewaltigung entsprungenen, von den Nationalstaaten gezogenen Grenzen nicht anerkennen. Die jenseits der sog. Grenzen weilen und arbeitend sich ausbeuten lassen müssen, unterdrückt sind, sie alle sind unsere Brüder und Kampfesgefährten. Zwei Welten gibt es, und die sind unverrückbar und unüberbrückbar von einander getrennt: die Welt der versklavten Arbeit und jene der schmachvoll handelnden Tyrannei und Ausbeutung. Unser Vaterland ist nicht zu bezeichnen durch den Boden unserer Geburt, nicht durch den Namen eines Landes, nicht durch die Sprache einer Rasse oder Nation; unser Vaterland, um Dantes Worte zu erweitern, ist die Welt der Not, des Elends, des Leides. Sie zu erlösen von all dem Schändenden das auf ihr lastet, das ist der einzige Krieg, den wir anerkennen. Die Kampfesbegeisterung für ihn, das ist unser Patriotismus.

* * *

Wenn wir uns den praktischen Kampfesmitteln zuwenden, welche wir, die anarchistischen Antimilitaristen besitzen, fallen uns zwei Gruppierungen von Aktionstendenzen in die Augen. Es sind dies die Kampfesmittel, die einerseits die französische revolutionäre Gewerkschaftsbewegung anerkennt, die anderseits von der "Internationalen antimilitaristischen Assoziation" aufgestellt wurden. Es sind u.a. folgende:

I. Die Taktik der französischen revolutionären Gewerkschaften. Sie besteht:
a) aus dem Soldatengroschen und allgemeiner Solidarität gegenüber Soldaten und Kameraden;
b) aus öffentlicher Propaganda in aufrüttelndem Sinne.

II. Die Resolutionsbeschlüsse der antimilitaristischen "Internationale"; dieselben zerfallen in:
a) Anerkennung der obigen Taktik der französischen Gewerkschaftsbewegung;
b) die Resolution Girault (Frankreich), die die Gewerkschaften zur Gründung von Jugendorganisationen zum Zwecke antimilitaristischer Propaganda auffordert;
c) der Generalstreik als Mittel der Bekämpfung des Krieges (Resolution des Genossen Nieuwenhuis);
d) eine holländische Resolution, die die Propaganda unter den Müttern der heranwachsenden Jugend und unter dieser selbst fordert. (15)
e) Persönliche Initiative und persönliches Gewissen.

Wir sind uns klar darüber, daß es noch lange Wege vor sich hat, bevor die Arbeiter aller Länder die Ideen des Antimilitarismus und Antipatriotismus, also des anarchistischen Antimilitarismus klar und konsequent durchgeführt akzeptieren werden. Noch herrscht eine große Unwissenheit in den Köpfen des Proletariats und die Feinde des Proletariats, wie auch seine falschen Freunde — vornehmlich die politischen Ehrgeizlinge der Sozialdemokratie sind keineswegs erpicht darauf, dem Proletariat tatsächlich reinen Wein einzuschänken. Aber dies darf uns weder als Einzelne noch als Gruppen irgendwie hindern, unserer Gewissenspflicht zu genügen und überall antimilitaristische Grundsätze des Friedens und der Freiheit zu propagieren.

* * *

Im Frühjahr 1907 haben wir in London im Bezirk Woolwich eine eigenartige Situation gesehen. Die dortigen Arsenalarbeiter wurden langsam und allmählich vom englischen Staate entlassen, weil derselbe zu wenig Arbeit für sie hatte. Da beriefen die Arbeiter große Versammlungen ein und wandten sich gegen die englische Regierung, laut protestierend wider die Entlassungen, mehr Arbeit verlangend. Diese Situation bringt uns Angesicht zu Angesicht mit einem hochwichtigen Problem: Wie haben sich die anarchistischen Antimilitaristen gegenüber jenen Arbeitern zu verhalten, welche Munition und sonstige Gebrauchsgegenstände des Mordes für einen Krieg produzieren?

Die Beantwortung dieser Frage ist schwierig. Doch wir wollen nicht vergessen, daß der Krieg im modernen, gesellschaftlichen Leben auch deshalb so unendlich fest seine Wurzeln geschlagen hat, weil weite Kreise der Bevölkerung ein materielles, ein Bereicherungsinteresse an seiner Führung haben. Der Chauvinismus ist eben eine sehr einträgliche und rentable Sache...

Im vorliegenden Fall haben wir uns prinzipiell und außerparlamentarisch gegen die Steigerung der Produktion von Mordwerkzeugen auszusprechen. Eine solche Steigerung der Produktion ist indirekt eine Provokation zum Kriege. Wir müssen den Arbeitern klar machen, eine wie gräßliche Schmach es für sie ist, sich in einem Produktionszweige zu betätigen, der augenscheinlich nur zwecks Hervorbringung derjenigen Werkzeuge besteht, die ihren Brüdern den Garaus bereiten sollen. Wir müssen vor einer solchen Prostitution der menschlichen Arbeitskraft, ihrer Verwendung für solche Zwecke Abscheu und Ekel erregen.

* * *

Es liegt in der Natur der Sache, die wir hier behandeln, daß wir nicht gewisse, fast unbegrenzte Maximen für die Aktion eines jeden antimilitaristisch sich betätigenden Anarchisten aufstellen können. Sowohl die Freiheit der individuellen Persönlichkeit, wie auch die Betätigungsart des Antimilitarismus schließen dies völlig aus. Mehr als jede andere Taktik des Massenkampfes hängt der Antimilitarismus in seiner Manifestation von der Einzelpersönlichkeit ab. Und deshalb bezwecken wir hier nicht, irgend welche Methoden vorzuschreiben; unser Zweck an dieser Stelle ist es, den Lesern aller Geistesrichtungen des Antimilitarismus die Auffassungen und Überzeugungsmomente des anarchistischen Antimilitarismus vorzuführen, da wir der Meinung, daß der Antimilitarismus im Anarchismus eben die Krönung seines Geistesbaues, seines Idealzieles gewinnt.

Diejenigen, die die Resolution des internationalen sozialdemokratischen Kongresses von Stuttgart über den Militarismus aufmerksam und als Kenner durchlesen, wissen, daß diese Resolution vollständig nichtssagend, hin- und herschwankend ist. Die Worte Vollmars auf dem Essener Parteitage, daß es nicht wahr sei zu behaupten, diese Resolution gebe der deutschen Sozialdemokratie "einen ordentlichen Stoß nach vorwärts", sind vollkommen richtig. Und es wäre in der Tat mehr als naiv, anzunehmen, daß diese oder jene Redewendung der Resolution, scheinbar den "ordentlichen Stoß nach vorwärts" gibt, Vollmar Lügen strafe. Sie tut dies schon deshalb nicht, weil die Sozialdemokratie international in allen antimilitaristischen Fragen eine ganz andere Gesinnung hegt als die Anarchisten. Darauf kommt es an, darauf muß Nachdruck gelegt werden.

Es liegt ein Stück tragischester Wahrheit darin, wenn Bebel, Vollmar usw., sich mit dem Hinweis wider den französischen Antimilitarismus kehren, daß er, in Deutschland propagiert, den "Ruin der deutschen Sozialdemokratie" brächte. Tragisch deshalb, weil damit in nackten, nüchternen Worten ausgesprochen ist, daß der deutsche "revolutionäre" Sozialismus, nach über 40jähriger Sozialdemokratie, noch in den Kinderschuhen steckt. Anders wäre kein Gesetz der Welt im Stande, ihn zu brechen, wenn er wirklich drei Millionen Anhänger besäße! Ist dies auch eine Selbsterkenntnis bedauernswerter Schwäche, so soll nicht übersehen werden, daß man der Sozialdemokratie zugestehen müßte, sie habe recht, wenn sie nicht Unmögliches unternehme und nur im Rahmen prinzipieller Gesinnungspropaganda den Antimilitarismus konsequent propagiere. Man müßte ihr wenn letzteres zuträfe — dies zugestehen, da auch die reichsdeutschen Anarchisten, ganz wie wir in Österreich, in öffentlicher und jeder Aktivität nicht in der Weise vorgehen können, wie es die französischen Genossen tun. Hier aber liegt gerade der Kern der Frage, liegt die ganze Selbstverdammung der Sozialdemokratie und der taktische Unterschied zwischen ihrem und dem anarchistischen Antimilitarismus.

Trotzdem man von einer Dreimillionenpartei zu allererst berechtigt wäre, Taten zu fordern, tun wir dies nicht, verdammen wir die Sozialdemokratie nicht wegen dieses Ausbleibens von Aktionen. Dieselben mögen und könnten später erfolgen. Aber die Sozialdemokratie verübt einen Hochverrat an den wahren Interessen des Proletariars vornehmlich deshalb, weil sie ihrer Aufgabe, eine prinzipiell erschöpfende Gesinnungspropaganda des Antimilitarismus zu betreiben, nicht nur nicht nachkommt, sondern jeden Versuch dazu zu verleumden, zu belächeln, zu erdrosseln sich anmaßt. Die Lehren ihrer neueren Werke über Staat, Militarismus, Soldateska, Krieg, Soldatenpflicht usw., sind rein bürgerlich-liberale und haben nichts mit dem Grundprinzip des Sozialismus gemein; und wie ihre Lehren, so ihre Taten.

Hier kommen wir zum fundamentalsten Gegensatz zwischen sozialdemokratischem und anarchistischem Antimilitarismus. Leicht möglich, daß die Sozialdemokratie einmal in die Lage kommen könnte, einzelne Aktionsmittel des anarchistischen Antimilitarismus zu gebrauchen, wie sie auch den Generalstreik der Rüstkammer des Anarchismus entlehnte, als sie es tun mußte. Dadurch würde sie aber noch immer nicht identisch sein mit dem anarchistischen Antimilitarismus.

Unser Antimilitarismus ist deshalb so außerordentlich einzig gegenüber jedem anderen, weil es sich ihm vor allem anderen — selbst vor allen Aktionen! — darum handelt, eine prinzipiell richtige, klare, logische und unzweideutige Gesinnungspropaganda im Sinne sozialer Gewaltlosigkeit zu entfalten. Der anarchistische Antimilitarismus steht in prinzipieller Hinsicht grandios einheitlich da, in allen den obgenannten Fragen über Staat, Militarismus usw., gibt es für ihn keine theoretische Zerklüftung, ist seine Propaganda identisch mit seinem Enziel: Staats-, also Herrschaftslosigkeit, somit Selbstentleibung jeder Gewaltsorganisation.

Um die Propaganda dieser Gesinnung handelt es sich den Anarchisten. Denn diese anarchistisch-antimilitaristische Gesinnung schafft sich ihre eigenen Betätigungswege, taktischen Mittel, die jene, die wir weiter oben besprochen, sehr oft übertreffen und so mannigfaltig sind, daß es unmöglich, sie zu gruppieren. Sie liegen begründet in dem humanen Freiheitsgeist des Anarchismus, der diese Antimilitaristen beseelt; und wie die Offenbarung eines Geheimnisses sind diese Aktionen des Friedensgeistes überall, dürfen ähnlich der Freiligrathschen Revolutionsfigur, es mit erhabener Miene von sich behaupten, trotz tausendfältiger Verfolgung, versuchter Unterdrückung und Einkerkerung: "Ich war, ich bin und werde sein! ..." Sie sind unfaßbar; sie werden erst verschwinden mit dem Verschwinden jeder Art des staatlichen Militarismus.

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Es verbleibt uns noch, unsere Stellungnahme gegenüber den christlichen Antimilitaristen und Anarchisten darzulegen, bevor wir zum Schlüsse eilen. Wir beziehen uns hiermit vornehmlich auf das wie ein Programm sich ausnehmende, kondensierende Buch von Hermann Wetzel über "Die Verweigerung des Heerdienstes und die Verurteilung des Krieges und der Wehrpflicht in der Geschichte der Menschheit." (Im Selbstverlage, Spandauerstraße 28, Potsdam, 1905).

Unsere Stellung zu den christlichen Antimilitaristen und Tolstoianern unterscheidet sich in dieser Frage von diesen bloß in taktisch prinzipiellen Auffassungen, nicht aber praktisch und überhaupt in der alltäglichen Praxis. Den Hauptscheidungsgrund bildet: Die christlichen Antimilitaristen anerkennen die Obrigkeit, soweit sie ihnen "nichts Sündhaftes" befiehlt. Ihr Standpunkt zu ihr ist, wenn auch prinzipiell gegensätzlich, so in der Praxis nur passiv ablehnend, aber dennoch freudig gehorchend, soweit sie nicht in direkten Konflikt mit ihrem religiösen Bewußtsein gelangen, indem sie aus dem Martyrium die Läuterung von Mensch und Gemeinschaft hervorgehen sehen. Dagegen sind wir grundsätzliche Gegner aller Wesensäußerungen des Staates, erblicken keine einzige seiner Handlungen ohne Protest. Unser Bestreben richtet sich darauf, eine sich stetig vergrößernde Menschenmenge von der zu Unrecht bestehenden Wesensart des Staates als solchen zu überzeugen, darauf hinzuwirken, daß eine sich beständig vermehrende Anzahl von Menschen seine Nutzlosigkeit und Verwerflichkeit durchschaut und ihm ihr Gefühls- und Geistesleben in allen Dingen des sozialen Lebens aufkündigt.

Dies der prinzipiell-taktische Unterschied in der Theorie, wenn man will, auch gelegentlich in der Praxis zwischen uns, die wir einfach Anarchisten sind auf Grund unserer naturwissenschaftlichen und soziologischen Erkenntnis und den christlichen Antimilitaristen und christlichen Anarchisten.

Stückweise Entfernung der Staatsgewalt aus dem gesellschaftlichen Leben, stückweises Abtragen all ihrer Gewaltsfunktionen und Entziehung des Menschenmaterials ihnen gegenüber durch rationelle Aufklärung, Widerstand gegenüber allen ihren Gewaltsbetätigungen — das ist die Aufgabe des anarchistischen Antimilitaristen.

Dem Anarchisten ist der Antimilitarismus somit eine politische Taktik, bedeutet er die edelmütige Selbsterziehung zum herrschaftslosen Individuum im sozialen Sinne, zur herrschaftslosen Gemeinschaft. Mit dem Verschwinden des Bollwerkes des staatlichen Prinzips — des Militarismus — verschwindet dieses Prinzip selbst auch aus dem Völkerleben, aus der menschlichen Gesellschaft. Die Gewalt als fest fundierte Einrichtung ist verbannt aus dem Bereiche des menschlichen Tun und Wirkens, an ihre Stelle ist die menschliche Vernunft getreten, die in der friedlichen Schlichtung und frei sich verändernden Gruppierung, der wirtschaftlichen Ermöglichung dieser Veränderung, der Ausschaltung aller staatlich-nationalen Grenzbegriffe, die Lösung aller Streitfragen im föderativen, staatslosen, also autonomen Zusammenschluß der menschlichen Gruppierungen erblickt. Der Antimilitarismus ist somit eine taktische Methode des Anarchismus, weil er uns unmittelbar und direkt einführt in jene Periode des Kampfes um die freie Gesellschaft der Zukunft, deren brausender Triumphesgesang uns in den Worten des Russen Tschertkoff (16) entgegentönt:

Hinweg die Grenzen, die uns trennen!
Bei Brüdern sind wir stets zu Haus.
Stoßt um die Trone der Tyrannen!
Die Zeit der Knechtschaft sei uns aus!
Reißt ein die düstern Kerkermauern!
Des Hasses Fackel nun erlischt
Im Liebes-Lenzhauch, der erfrischt
Die Herzen und soll ewig dauern!
Zerbrecht die Waffen all!
Löst auf den Kriegerstand!
Reicht euch die Hand! Die ganze Welt
Sei unser Vaterland!


Fußnoten:
(1) Sie, diese Verehrung, unbedingte Untertänigkeit unter den Geboten des angestammten Herrscherhauses, die Entwertung des eigenen Lebens zu Gunsten der Autorität, bildet den Hauptinhalt jeder Religion, und Religion im dogmatischsten Sinne ist jede autoritäre Lehre von der Staatsoberhoheit. Bezeichnend dafür, wie ausschließlich zweckdienlich die Religionen von den weltlichen Autoritäten zu Nutz und Frommen ihrer eigensten Interessen umgestaltet wurden, das zeigt uns der Japaner Tamenaga Schunsui tot seit 1342 — in seinem Nationalroman "Treue über alles", in dem eine Verherrlichung der Vasallentreue geboten wird, Treue gegen den Herrn, den angeborenen, wie den auserkorenen, ist nach der von den Japanern schon früh übernommenen Ethik des chinesischen Lehrers Confuzius die eine der fünf Tugenden, die der Mensch vor allen anderen zu üben verpflichtet sei. Diese Treue gebietet nicht nur unbedingten Gehorsam, sondern auch freudige Hingabe des eigenen Lebens und des Lebens aller Glieder der eigenen Familie im Dienst des Herrn. Hier haben wir den philosophischen Grundstein der Autoritätslehre vor uns, gleich, unverändert geblieben bis auf den heutigen Tag. Selbstverständlich schließt der unbedingte Gehorsam jede Widerrede aus. So heißt es auch: "Die Tat ist stumm, der Gehorsam blind!" Und wie nun, wenn der Herr eine Tat verlangt, die den Geboten der Moral und der Vernunft widerspricht? In diesem Dilemma, so lehrt uns die obige Autoritätsdoktrin, gibt es für den Diener nur einen Ausweg: er muß sich selbst entleiben! Sein stummer Mund mochte dann den Herrn veranlassen, über das Unsittliche oder Törichte seines Ansinnens nachzudenken. Die japanische Geschichte ist reich an ergreifenden Beispielen dieser sklavischen Unterwürfigkeit und Treue.
(2) Der Verfasser meint hier die Broschüre »Die historische Entwicklung der Friedensidee und des Antimilitarismus", ein Kapitel aus vorliegendem Referat, das im Verlag Felix Dietrich, Gautzsch bei Leipzig (Kregelstraße 5), erschienen und zum Preise von 30 Heller erhältlich ist. Die Redaktion
(3) Wien, I., Spiegelgasse 4. Die Redaktion
(4) An was für Komödien sich die "Friedensfreunde" ohne Protest beteiligen, geht hervor aus folgender, von der Haager Konferenz an den russischen Zaren gesandten Depesche, welche unter allgemeinem lebhaften Beifall angenommen wurde: »Die zur Schlußsitzung vereinigte 2. Friedenskonferenz richtet in höchster Ehrerbietung den Ausdruck ihrer tiefen Dankbarkeit an den erhabenen Anreger und Förderer des humanitären Friedenswerkes, an dessen Förderung sie gearbeitet hat unter dem Vertreter Eurer Majestät." Charakteristisch für ewigst Zeiten, auch ohne Kommentar!
(5) Im Hinblick darauf, daß mir entgegenhalten werden könnte, daß gerade diese Rede Noskes eine "Ablehnung" durch die Partei erfahren habe, fühle ich mich genötigt, einschaltend zu bemerken, daß der ganze Sturm auf dem Parteitag zu Essen (1907) nur Bühnenregie gewesen, insoferne, als er erst nachträglich wohldurchdacht arrangiert wurde. Ist es nicht bezeichnend für die Richtigkeit meiner Behauptung, wenn Bebel auf dem Parteitag sagen konnte: "Zunächst muß ich sagen, daß die Rede Noskes in der Fraktion von keinerlei Seite kritisiert worden ist und weiter, daß die Rede Noskes an einer großen Anzahl von Stellen eine gute Rede war und ihr infolgedessen nicht allein von der Fraktion im Allgemeinen, sondern speziell auch von mir an einer ganzen Reihe von Stellen Zustimmung und Unterstützung zu Teil geworden ist." Unter sich waren die Herren also ganz ungeschieden und ungeteilt in ihrer Obereinstimmung mit Noskes Ausführungen.
(6) Im "Handbuch für sozialdemokratische Wähler" (1906) heißt es: "Daß die Völker (!! P. R.) unter gegenwärtigen Verhältnissen nicht wehrlos sein können, erkennt auch die Sozialdemokratie an". Und weiter: "Daß die deutschen Soldaten ohne Unterschied des Ranges in einem Kriege ihre volle Schuldigkeit tun, bezweifelt auch kein Sozialdemokrat."
(7) Verlag Felix Dietrich, Gautzsch bei Leipzig (Kregelstraße 5).
(8) Ein geradezu drastisches Beispiel für diese unsinnige Methode, die antimilitaristische Aktion des Proletariats von der Eventualität des Angriffs oder der Abwehr abhängig zu machen, bot sich erst wieder in jüngster Zeit. Die englischen Sozialdemokraten Hyndman (strammer Marxist) und Blatchford erklärten in patriotischen Jingoartikeln, England müsse sich wappnen und für einen Krieg bereit sein, der ihm mit Deutschland drohe, das bereits seine Kriegsmaßregeln treffe. Demgegenüber erklärte wieder Bebel, daß Deutschland wegen seiner "ökonomischen Krise" nicht daran denken könne. Man sieht, wie uneinig die Brüder in St. Marx darin sind, wer in diesem Falle der angreifende, wer der sich verteidigende Teil wäre. Eine vorzügliche Gedankenleistung über diese Frage bietet der Roman von V. E. Teranus "Der letzte Krieg; ein Zukunftsbild", Verlag Continent, Berlin W. 50.
(9) Kriegsminister von Einem: "... Der Abgeordnete Bebel hat auf dem Jenaer Parteitag von der Fähigkeit der Deutschen zur Organisation gesprochen und dabei auch das deutsehe Kriegsheer ein Meisterwerk der Organisation genannt... Trotzdem wollen Sie dieses Heer abschaffen! (Abgeordneter Bebel ruft: Umwandeln!) Reichstagsbericht des Berliner "Vorwärts" vom 26. April 1907.
(10) Um wie viel gemeiner in dieser Hinsicht die Sozialdemokratie als selbst eine bürgerliche Partei ist, wollen wir nur an einem Beispiel beleuchten. Während wir ohne weiters zugestehen, daß man ganz gut geteilter Meinung über die Zweckmäßigkeit der persönlichen Dienstverweigerung in Ländern mit despotischer oder halbdespotischer Verfassung sein mag, bedingt es doch das Prinzip der Selbstachtung, daß man einem solch selbstaufopfernden Entschluß einer Individualität gegenüber nicht in gemeine, nur selbst erniedrigende und schmachvolle Beleidigungen und Verleumdungen ausbricht. Sehen wir zu, wie die Sozialdemokratie diese Selbstverständlichkeit befolgt:

Über den österreichischen Infanteristen Nemrawa berichtete ein bürgerliches Blatt, die Wiener »Zeit«, am 23. Oktober 1907, wie folgt:
"Der Tolstoi-Jünger Nemrawa. Der Infanterist Nemrawa, der seit vielen Jahren die Militärgerichtsbehörden beschäftigte, da er sich trotz wiederholter empfindlicher Abstrafungen beharrlich weigerte, ein Gewehr zu berühren und zuletzt im hiesigen Garnisonsspital behufs Untersuchung seines Geisteszustandes sich befand, wurde gegen Revers seinen Angehörigen überleben."

Am gleichen Tage berichtete die sozialdemokratische Wiener "Arbeiter-Zeitung" über denselben Fall, wie folgt: "Der Nazarener Infanterist Nemrawa wurde kürzlich in das hiesige Garnisonsspital zur Prüfung seines Geisteszustandes gebracht. Damit hat das Kriegsministerium den einzig richtigen Weg eingeschlagen, diese lästige Affaire aus der Welt zu schaffen. Vorgestern wurde der Mann aus dem Garnisonsspital entlassen und gegen Revers seinen Angehörigen übergeben. Hoffentlieh ist er als zu jeder militärischen Dienstleistung vollkommen untauglich klassifiziert und demnach aus dem Heeresverband gestrichen worden. Mag auch Nemrawas Geist gesund und der Schritt, welchen die Militärbehörden in dieser Sache getan haben, ein Kompromiß sein, das man schloß, um den Mann nicht zum Märtyrer einer hirnrissigen Anschauung zu machen, man muß diesen Schritt klug nennen. Allerdings wäre es besser gewesen, wenn er gleich gemacht worden wäre, statt daß man Nemrawa zweimal im Kerker für seine Überzeugung leiden ließ, mag seine nazarenische Überzeugung noch so lächerlich sein."

Das Urteil darüber, welches Blatt einem politischen Gegner gegenüber anständiger war, überlassen wir getrost dem Urteil des Lesers. Hoffentlieh vergaß das k. k. Kriegsministerium es nicht, sich bei der "Arbeiter-Zeitung" für das ihm erteilte mehrfache Lob gebührend und verständnisvoll zu bedanken!
(11) Reichstagsbericht des Berliner "Vorwärts" vom 25. April 1907.
(12) Hat doch Liebknecht es selbst im Laufe seines Prozesses konstatiert, daß es eigentlich zwischen ihm und Vollmar nur einen Temperamentsunterschied gibt.
(13) Wir begnügen uns mit dieser Feststellung und übergehen, im Interesse der möglichsten Kürze dieser Abhandlung, eine weitschweifige Widerlegung all jener Angriffe, die Dr. Liebknecht auf den "anarchistischen Antimilitarismus" in seinem Buche macht. Möge überdies ein Anhänger seiner eigenen Richtung, der Sozialdemokrat Robert Michels einen Urteilsspruch fällen. Michels sagt ("Le Mouvement Socialiste", 9. Jahrg., Nr. 189 und 190) in einer Besprechung des Buches: "Die Seiten, auf welchen Liebknecht, schwitzend aus allen Poren, sich bemüht, einen Unterschiedscharakter zwischen "Sozialismus" und "Anarchismus" zu konstruieren, sind insgesamt diejenigen, welche am wenigsten beweiserbringend sind in der Literatur über diesen Gegenstand. Sie bieten uns den bedauernswerten Anblick von hunderten, besonders konventionellen Phrasen und alle überdies wenig konklusiv. ... Der Verfasser dieser Zeilen, der sich schmeichelt, ... die anarchistische Literatur genügend gut zu kennen, kennt nicht ein einziges Beispiel, das die Behauptungen Liebknechts gegen die Anarchisten stützen könnte. Ähnliche Erfindungen können ja wohl diejenigen interessieren, die die Tatsachen nicht kennen, aber sie leisten auch nichts anderes, als die theoretische Konfusion zu vergrößern, die ohnedies schon herrscht in dem traditioneilen Sozialismus."
(14) In seiner Besprechung des Liebknechtschen Buches äußert sich Robert Michel (»Le Mouvement Socialiste", Paris, September 1907) gegen des Verfassers Annahme, es gäbe zweierlei Antimilitarismen, den anarchistischen und den sozialdemokratischen. Michels bekämpft diesen Standpunkt und sagt: "Der Antimilitarismus ist wesentlich eine Kategorie des Arbeiters, proletarisch, revolutionär, und hat weder mit der marxistischen Doktrin noch mit den Theorien von Bakunin oder Jean Grave irgend etwas zu tun. Der Antimilitarismus ist einheitlich und unteilbar, ganz wie ... die revolutionäre Arbeiterbewegung ..."
Diese ganze Auffassung ist falsch. Der Antimilitarismus ist nichts als eines der vielen Mittel, eine der taktischen Methoden des sozialen Kampfes wider den Staat und Kapitalismus, oftmals auch ihren Auswüchsen. Inwiefern sich sein Kampf mit dem Wesen seiner Kampfesobjekte befaßt, in wie fern er sie theoretisch verneint und durch Heranziehung diverser sozialpolitischer Theorien zu ersetzen geneigt ist, in eben diesem Maße kann der Antimilitarismus bürgerlich, sozialdemokratisch oder anarchistisch sein. Der Antimilitarismus selbst ist Taktik, und jede Taktik dient irgend einer Theorie oder theoretischen Gruppierung.
(15) Um jeder Weitschweifigkeit und Wiederholung vorzubeugen, verweisen wir den Leser zwecks weiterer Information auf das "Offizielle Protokoll des antimilitaristischen Kongresses" im "Wohlstand für Alle", Jahrg. 1.
(16) Zitiert nach der Übertragung von Joh. (iuttzeit, Leutnant a. D. Erschienen im Verlag des "Groden Michl" (St. Petersgaise 89, II. Stock, Graz, Österreich).

Aus: "Wohlstand für Alle", 1. Jahrgang, Nr. 17, 19, 20 (1908). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat, Krapotkin zu Kropotkin usw.) von www.anarchismus.at.