Pierre Ramus - Dem toten Freiheitshelden zur Erinnerung (Francisco Ferrer)

Zerbrich Feder — denn dessen, wessen das Herz übervoll ist, kannst du keinen Ausdruck geben: Francesco Ferrer ist tot! Ein Held des freien Gedankens ist nicht mehr. Eine Leuchte des idealistischen Menschengeistes ist nicht mehr. Am 13. Oktober wurde Francesco Ferrer Guardia im Standgraben der Festung Montjuich standrechtlich ermordet.

Ein Mord ist verübt worden, der nach Sühne schreit. Nicht eher wird das vergossene Blut des hehren Toten vom Erdboden der Festung Montjuich getilgt sein, als bis der spanische Staat für sein Verbrechen, für seinen gemeinen Meuchelmord an Ferrer gebüßt hat. Der 13. Oktober ist ein schwarzer Tag im Schuldbuche des erbärmlichen Regierungssystems Spaniens und ein Gesunkener an Charakter, eine lebende Entwürdigung und Entweihung der Kultur, erwartet seine Strafe. Frevelnd, allem Edelsinn der Menschheit Hohn sprechend, allen beschwörenden Ermahnungen von Seiten der Leuchten menschlichen Wissens taub, hat ein Ehrloser die Hand wider einen Edelmann an Charakter und Herzensgüte erhoben; frevelnd, und als wärs sein gutes Recht, menschliches Leben mutwillig ausgelöscht; im Bewußtsein schmachvollsten Unrechtes der Menschheit einen Pfadfinder, einen Vertreter ihrer Hoheit geraubt, einer Bewegung ihren heldenmütigen Vorkämpfer; unzähligen Familien des Proletariats ihren Freund und deren Kindern ihren zweiten Vater, der sie geistig zu ganzen Persönlichkeiten werden ließ, mit despotischer Gewalt entrissen. Und so etwas sollte ungesühnt bleiben? Der Pesthauch der Existenz dieses Hochverräters an den edelsten Menschheitsgütern auch weiterhin noch ausharren dürfen? Wir glauben es nicht! Ein Bibelwort mag wieder zu Ehren kommen, davor es Alfons XIII. grauen wird: „Aug um Aug, Zahn um Zahn!" — bis daß der Alpdruck seiner Existenz und Persönlichkeit von der Brust einer ganzen Kulturepoche behoben ist. Wehe über Alfons XIII., dem Folterer von Alcala del Valle, dem mörderischen Bundesgenossen eines Maura, wehe über den Fluchbeladenen; sein Leben ist verwirkt, von überall her raunt es die Zeit unheilverkündend zu: König Alfons XIII. hat sein eigenes Todesurteil besiegelt, als er jenes über Francesco Ferrer unterfertigte.

Die Revolution von Barcelona hat in Ferrer nur einen ihrer Märtyrer geopfert. Hunderte andere sind ihm voran gegangen, werden ihm noch folgen. Aber keiner ist so  offenkundig der brutalen Mordwillkür des weißen Schreckens zum Opfer gefallen, wie Ferrer. In ihm müssen wir den Mann einer Idee erblicken, der um dieser willen stirbt. Sohn einer Proletarierfamilie, gelangte er durch Schenkung in den Besitz großen Vermögens; als Sohn des Proletariers vergaß er seine Heimstätte nicht, und mit hochfliegender Seelengröße widmete er seine Kräfte seiner Klasse. Sein Vermögen war ihm nicht ein Mittel, in niederer Geilheit und materiellen Ausschweifungen zu fröhnen; er fühlte sich als Sachwalter dieses Vermögens zugunsten des Proletariats. Ein glänzender Geist, weit- und scharfsichtig und begabt mit dem feinfühligen Instinkt für das Richtige zwecks Befreiung des Proletariats, erkannte er als einzigen Weg normaler Entwicklung revolutionärer Menschentypen die Erziehung einer neuen Generation. Eine freie Generation wollte er schaffen, eine Generation von Frauen und Männern, die schon im Kindesalter neue Geistesbahnen schreiten, schon als Kinder nur im Geisteslichte der Vorurteilslosigkeit, der Freiheit von jedem Religionsaberglauben, der stolzen Selbständigkeit des Denkens und der Verachtung jeder Autorität und Versklavung heranwüchsen.

Er wußte, die heutige Welt erzieht sich ihr Menschenmaterial nach ihren Maximen; die Sklavenwelt der Gegenwart besteht, weil die versklavten Generationen aus Knechts- und Sklavenseelen, Wahngläubigen bestehen, die sich beugen und fügen, weil sie unwissend sind, die noch im Stadium des Tiermenschlichen leben und glauben, es müsse so und könne nicht anders sein. Ferrer wußte, daß, wenn die Gesellschaft der Freiheit und ökonomischen Gerechtigkeit ernstlich kommen soll, mit dem Fundamente begonnen werden muß, mit den neuen Menschen, die in die neuen Anschauungen möglichst früh eingeführt werden müssen. Er wollte eine Welt der Herrschaftslosigkeit, die Anarchie; und so lehrte er die Kinder des Proletariats jede Herrschaft verabscheuen, die Gewaltstützen der Autorität nicht zu gebrauchen oder zu ehren, sondern zu bekämpfen. Die Kinder seiner Escuela Moderna, der modernen Schule,   die er errichtete, wurden konfessionslos, antimilitärisch, antipatriotisch, sozialistisch erzogen. Er war fürwahr ein Lehrer der gesamten Geistes- und Revolutionsbewegung unserer Zeit, denn er wies uns den Weg einer solchen Erziehung, die die mündig gewordenen Mannet und Frauen für und zu Taten reif sein läßt, dieweil wir heute den Erwachsenen erst die einfachsten Grundbegriffe des Freiheitsringens beizubringen haben, die sie schon als Kinder hätten lernen und empfangen müssen. Und seine Schulen blühten, gediehen, über fünfzig an der Zahl ragten sie stolz in die Höhe, immer mächtiger und verderblicher werdend für das schwarze Pfaffentum, für Staat, Kapital und Kirchenaltar.

Wie wunderbar erweist sich in Ferrer's Persönlichkeit und Wirken die unaufhaltsame Kraft einer Idee, ihre zerstörende und dennoch so stille Wirkung gegen das Böse und Verruchte, das sie bekämpft. In Ferrer's Leben ist nichts bekannt, das ihm als Terroristen erscheinen ließe. Er war einer jener Menschen, von denen Mateo Morral, der 1906 zu Paris das Attentat auf König Alfons beging, in einem Briefe geschrieben hat: „Ich habe wenig Vertrauen in Ferrer, Tarrida, Lorenzo und alle diese einfachen Leute, die da glauben, daß man irgend etwas mit Reden vollbringen kann!" Ein stiller, innerlich ideal durchglühter Mensch, lebte Ferrer, sobald es seine Verhältnisse gestatteten, ganz seiner Idee. Er gründete seine Schulen, etablierte ein großes Verlagsgeschäft, übersetzte alle revolutionären, sozialistisch-, anarchistischen und atheistischen Werke der Weltliteratur des freien Gedankens und gab sie in spanischer Sprache in fabelhaft hohen Auflagen und zu noch fabelhafter geringen Preisen heraus. Mit dieser Literatur drangen er und seine Mitkämpfer ins Volk — und dieses Tun ist es, das ihn, den Mann, dem selbst die spanische Kriegsgerichts-Inquisition keine einzige verbrecherische Handlung nachzuweisen vermag, das ihn zum gefürchtetsten Mann Spaniens machte.

Nichts fürchteten diese Schakale der Gewalt mehr als die prinzipiell strenge und alle Folgerungen der Wahrheit erschöpfende Aufklärungspropaganda. Sie wissen, daß selbst die blödeste Vernunft sich dem unablässigen Andrang des Tageslichtes nicht auf die Dauer verschließen kann. Und so versuchten sie, Ferrer mit allen Verlockungen und Versuchungen in alle möglichen Verbrechen hineinzuzerren, versuchten es, ihn mit dem einmal mißglückten Attentat auf Alfons XIII. in Verbindung zu bringen, nahmen die erste beste Gelegenheit wahr, den Barcelonaer Aufstand, der überhaupt von keiner Partei organisiert, sondern von der namenlosen Volksmasse einfach inszeniert wurde, um Ferrer zu morden. Wie eine Art Verzweiflung seitens des spanischen Staates war dieses Sich stürzen auf Francesco Ferrer, es war die Tat ruchloser Raserei, die sich darin erschöpfte, daß sie ihr Leben aufgab, aber durch dieses tolle Wüten auf irgend einen rettenden Zufall hoffte. 0 eitle Täuschung, die ihr eigener, beflügelter Totengräber wurde!

Wer wagt es noch zu leugnen, daß die Justiz die feige Handmagd der organisierten Ungerechtigkeit des Staates ist? Hier war ein Fall gegeben, um zu beweisen, daß der Staat nur der Ausdruck des Allbewußtseins eines Volkes sei, daß seine Urteilssprüche die moralische Gutheißung durch sein Volk erfahren. Bei Ferrer wäre es an der Zeit gewesen, durch sachliche Beweise, durch praktische Demonstration im Gerichtssaale, der aller Welt weit offen hätte stehen müssen, die Unsinnigkeiten des Anarchismus, das Unzweckmäßige eines freiheitlichen Erziehungssystems, das Unrechtmäßige der Empörung gegen das bestehende System gesellschaftlicher Ordnung aufzuweisen; hier hätte sich eine glänzende Gelegenheit geboten, an Hand der moralischen Verderbtheit dieses Anarchisten und Atheisten und Sozialisten den erhabenen Edelmut der Vertreter der staatlichen Gesellschaft, überhaupt der Archisten aller Arten zu offenbaren und die Vorzüglichkeit der heutigen Weltordnung darzutun. Aber etwas anderes trat ein. Die, die richten sollten, fühlten innerlich ihre Nichtigkeit vor der Hoheit dieses Idealisten; sie fühlten die Niedertracht ihrer Positionen, sie wußten, daß ihre Stellung, ihr Handwerk, ihr persönliches wie öffentliches Leben, ihre ganze Weltordnung den kritischen Erkenntnislehren des Anarchismus niemals standhalten würde, wenn sie sich mit Ferrer in eine ernste Erwägung einließen. Von vornherein zerschmettert vom durchbohrenden Gefühl ihrer Infamie, beseitigten sie rasch den ersten Untersuchungsrichter, weil er ihnen zu gerecht schien, warfen sie sich auf den Austragweg von berufsmäßigen Meuchelmördern, die sich auf ihr Opfer stürzen, ihm die Kehle zudrücken und denen ihr Recht nur in ihrer Macht gelegen ist. Ja, so sehr fühlten sie sich in ihrem geschichtlichen Berufselement, daß sie alles Verfeinerte und von der aufsteigenden Kultur Abgeschliffene und Verbesserte mit kreischendem Barbarengegröhle von sich abstreiften, sich wie echte, rechte Räuber auf Ferrer's Besitz stürzten und diesen an sich rissen, unter sich aufteilten.

Niemals hat die geschändete Menschheit schmerzlicher getroffen aufgestöhnt als angesichts des Justizmordes an Francesco Ferrer, niemals ist sie mehr geschändet worden als diesmal. In Nacht und Nebel, in heuchlerischer Überrumpelung wurde das ganze Verfahren gegen Ferrer eingeleitet, mit Hinweglassung auch der elementarsten Legalitätsformalitäten wurde es binnen 24 Stunden durchgejagt. Ein perfider Meuchelmord, ein Justizmord. Und bis zur Stunde ist die spanische Regierung nicht imstande, auch nur den armseligsten Umstandsbeweis wider Ferrer anzuführen, der sich nicht spielend leicht als schwindelhafter Lug und Trug erweisen ließe. Ist es nun doch begreiflich, weshalb dieses ganze Geheimverfahren gegen Ferrer! Das also war die schlaue Taktik, ihre fälschende Depeschenzensur nach dem Ausland! Sie bezweckte, daß das Proletariat der ganzen Welt, wie aus einer Betäubung emporgeschreckt wurde, als die Nachricht von der stattgehabten Hinrichtung, die nicht mehr ungeschehen zu machen war, in dürftigen, spärlichen Einzelheiten zuerst durchsickerte. Nächstesmal, da gilt es vorsichtiger zu sein! Nicht erst nach der Verurteilung darf die internationale Protestbewegung anheben, sondern sofort nach Verhaftung eines Justizopfers staatlicher Tücke muß der Protestkampf oder die wirtschaftliche Boykottierung des betreffenden Staates beginnen. Aber möge die spanische Regierung nicht frohlocken über die ihr gelungene Hintergehung der Wachsamkeit des Proletariats; es ist eine teure Lektion, die die Arbeiter der ganzen Welt diesmal erteilt erhielten, sie wird sich nicht mehr wiederholen.

Francesco Ferrer ist tot. So unglaublich brutal dieser Gedanke ist, wir müssen uns an ihn gewöhnen. Nur so können wir seine Testamentsvollstrecker im höchsten Sinne sein. Als ihm das Todesurteil vom Staatsanwalt verlesen wurde, da sagte er: „Ehre dem Ehre gebührt! Ich werde erschossen, gut, aber auch Ihr werdet den Tod finden!" Wahrlich, sie werden und müssen den gebührenden Tod finden; Ferrer's Geist, Ferrer's ausdrucksvoller Tod, das himmelschreiende Schmachunrecht, das sich an diesen Tod knüpft, werden dafür Sorge tragen, daß die Verüber dieser grauenhaften Untat der gerechten Strafe nicht entgehen. Unbarmherzig und rücksichtslos, so wie sie es zu Ferrer waren, so wird der Tod sie alle aufspüren, die hier ein edles Leben auslöschten, sie, deren Leben ein Unfug ist im Vergleich zu dem soeben verstorbenen Lebensjuwel.

Vergebens versucht ihr, spanische Henker, den Gedankengang der Freiheit aufzuhalten! Gerade Ferrer hat es klar erwiesen. Nach ihm ist kein zweiter Ferrer-Fall in dieser Gräßlichkeit mehr möglich! Das beweist die internationale Empörung, das beweist die Verachtung, die sich überall gegen die Justiz kundgibt, die Ferrer gerichtet, das ergibt sich aus dem vollständig veränderten Massenempfinden gegenüber den Märtyrern der Freiheit von heute und jenen von vor nur zweiundzwanzig Jahren zu Chicago. Damals gab es keine nichtsozialistische Meinung, die sich rückhaltslos für unsere Fünf ausgesprochen hätte, alle waren ihre Gegner, hießen den Justizmord von 1887 gut; heute aber steht der gesamte anständige Teil der bürgerlichen Presse für Ferrer ein und gegen seine staatlichen und pfäffischen Mörder. Das ist ein ungeheuerer Fortschritt, den die spanischen Henker nicht geglaubt hätten, ein Fortschritt, der noch bei weitem vermehrt wird durch die enorme Propaganda für die Ideale des Anarchismus, die Ferrer durch seinen Tod geleistet. Ideale, für die Menschen freudig die Unvermeidlichkeit des Todes erdulden, Ideale, die von den Herrschenden so gefürchtet werden, daß sie, wie weiland die römischen Zäsaren die ersten kirchenlosen Christen, Unschuldige, unschuldige Bekenner und Apostel solcher menschheitsbefreiender Ideale morden müssen, um sich ihrer Überwindungskraft zu entziehen — solche Ideale müssen groß, erhaben und gerecht sein. Das sagen sich Millionen von Menschen; gegenwärtig zieht dieses Empfinden in die Psyche von Hunderttausenden, die bisher dem Anarchismus ferngestanden.

Was sein Leben nie vermocht hätte, das vollbringt Ferrers Tod: Der Samen seiner Lehre hält Einzug in die breiten Massen. Sie werden der Grundstein für das Wiederaufblühen seiner freiheitlichen Schulbewegung sein, trotz aller Staatsmeuchelei und Pfaffentücke. Das internationale Volk wird für die proletarische Kindheit und Jugend den Ferrer'schen Grundsatz: „Gebet dem Kind die glückliche und freie Kindheit!" verwirklichen und damit diejenige freie Generation heranbilden, die Ferrer's edelstes Ziel und sein reinster Traum war, und die in den Freibündnissen der anarchistischen Zukunft seinem Namen ein ewiges Leben liebender Verehrung bieten wird.

Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 21 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.