Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865)

Von Anbeginn der libertären oder anarchistischen Sozialismustradition an, die auf dem Kontinent in Pierre-Joseph Proudhon ihre erste Verkörperung fand, hatte sie auch den Konflikt mit dem autoritären Sozialismus auszutragen. Dabei wollte es Marx zunächst so scheinen, als sei ihm in Proudhon ein möglicher Gefolgsmann begegnet. In „Der Heiligen Familie“ (1845 schreibt er Proudhons Schrift „Was ist Eigentum? - Das Eigentum ist Diebstahl“ (1840) die gleiche Bedeutung für das Proletariat zu, die der Schrift des Abbé Sieyès „Was ist der dritte Stand?“ für das Bürgertum zukomme. Er ist des Lobes voll über den „herausfordernden Trotz“, den „revolutionären Ernst“, der das ökonomische „Allerheiligste“ der Bürgerwelt anzutasten wagt. Proudhon habe das Privateigentum „der ersten entschiedenen, rücksichtslosen und zugleich wissenschaftlichen Prüfung unterzogen“ und damit die Voraussetzung geschaffen für eine „Wissenschaft der Nationalökonomie“. Und doch wird schon in dieser Frühschrift deutlich, daß es Proudhon nicht um Abschaffung des Eigentums geht, sondern um seine Bändigung durch Beachtung des ihm zugrunde liegenden Gleichheitsprinzips. So hat er auch seine erste Aussage über das Eigentum nicht zurückgenommen, sondern lediglich konsequent weitergedacht, wenn er in seinem „System der ökonomischen Widersprüche oder die Philosophie des Elends“ (1846) formuliert: „Das Eigentum ist eine Institution der Gerechtigkeit und das Eigentum ist Diebstahl“. In dem Augenblick, da die Gleichheit aller verwirklicht ist, wird das Eigentum zum Motor der Gerechtigkeit des sozialen Systems, fällt ihm doch die Funktion zu, die Freiheit des Individuums gegenüber der Autorität der Gruppe zu sichern (Theorie des Eigentums, 1965). Mit der „Philosophie des Elends“ wird Proudhon für Marx zum Gleichgewichts- und Harmoniedenker, zur Ausgeburt des „Bourgeoissozialismus“. Seine Gegenschrift über „Das Elend der Philosophie“ (1847) besiegelt den Bruch zwischen den beiden Denkern, die in einem Winter intensiver Diskussion in Paris (1844/45) versucht hatten, zueinander zu finden. Noch nach seiner Ausweisung aus Frankreich hatte Marx sich bemüht, Proudhon durch einen Brief vom 5. Mai 1846 für eine internationale sozialistische Korrespondenz zu gewinnen. Proudhons Antwort war der Anfang vom Ende der Beziehungen zwischen beiden: Einer „guten und loyalen Polemik“ will Proudhon sich nicht verschließen, warnt aber davor, daß die Häupter einer Bewegung sich zu den „Führern einer neuen Intoleranz“ machen, zu „Aposteln einer neuen Religion“, mag es gleich die „Religion der Vernunft“ sein. Gleichzeitig lehnt er die revolutionäre Gewaltanwendung ab. Trotzdem versteht er sich als Revolutionär und in den „Bekenntnissen eines Revolutionärs“ (1849) hat er seinen evolutionären Revolutionsbegriff formuliert, der schon vorwegnimmt, was später von Kropotkin vor dem Hintergrund darwinistischer Theoreme als „Mutation im Evolutionsprozeß“ verstanden wird. Proudhon nennt die Revolution eine „Explosion der organischen Kraft, eine Evolution der Gesellschaft von innen und außen.“ Ihre Legitimität mißt er daran, ob sie „natürlich, friedlich und historisch begründet ist“. Sie zu unterdrücken erscheint ihm ebenso tyrannisch, wie sie mit Gewalt zu machen.

Was Proudhon von Marx trennt, ist nicht nur die Ablehnung revolutionärer Gewaltanwendung, nicht einmal nur der typisch anarchistische Vorrang, den er der sozialen vor der politischen Revolution zuerkennt (wodurch er auf Sorel und den revolutionären Syndikalismus einwirkte), sondern schon sein Denkansatz an sich. Die monistische, materialistische Geschichtsauffassung von Marx ist mit Proudhons philosophischem Dualismus nicht zu versöhnen, der einen Parallelismus von Philosophie und Ökonomie annimmt. Proudhon denkt in Antinomien, die unaufhebbar sind und aus deren Kampf die ewige Bewegung der Gesellschaft hervorgeht. Man muß auf die französische Revolution mit ihrer Trias von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zurückgreifen, will man ihn verstehen. Da 1789 nur die formale Gleichheit vor dem Gesetz verwirklicht wurde, ist sein ganzes Streben darauf gerichtet, die Realisierung auch der materiellen Gleichheit zu bewirken, d.h. er kämpft um die ökonomische Gleichstellung aller Mitglieder der Gesellschaft. Doch will er nicht auf einen Kollektivismus oder Kommunismus hinaus, er hält fest an der individualistischen Tradition der französischen Revolution. Er ist, wie Woodcock sagt, ein „Sozialindividualist“, und in dieser antinomischen Begriffsbildung läßt sich der ganze Proudhon in seiner prekären Stellung zwischen den Fronten von bürgerlicher Demokratie und Kommunismus fassen. Gegen den autoritären Sozialismus, der die Freiheit des einzelnen dem Kollektiv unterordnet, empört sich sein Individualismus, gegen die bürgerliche Demokratie, in der formal alle gleich sind, real aber die „Reichen mehr gleich sind als die Armen“, empört sich sein Sozialismus. Föderalismus auf politischem Sektor, Mutualismus auf wirtschaftlichem Sektor, so heißen die beiden Zauberworte, durch die Proudhon glaubt, die Gerechtigkeit in der Gesellschaft, d.h. ein dynamisches Gleichgewicht der Kräfte, herstellen zu können. Die Konzeption der Gesellschaft als eine lockere Föderation autonomer Kommunen läßt sich darauf zurückführen, daß sich Proudhons Gedankenwelt im vorkapitalistischen Frankreich formte. Der Sohn eines Küfers und einer Köchin aus der Gegend von Besancon, dessen Ahnen Bauern waren, hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß ihm die einfache Lebensweise eines selbständigen Bauern- und Handwerkertums als gesellschaftliches Idealbild vorschwebte. Seine Ablehnung jedes Zentralismus, jeder Bürokratie und sein Wunsch, die Selbständigkeit von Kleinproduzenten zu bewahren, haben hier ihren Ursprung. Und doch wäre es zu einfach, Proudhons Föderalismus im Sinne eines Verhaftetseins in überkommenen Wirtschaftsstrukturen zu interpretieren. Worauf es ihm ankommt und wodurch er weiter wirkt, ist, daß der gesellschaftliche Aufbau an der Basis zu beginnen habe und das heißt für ihn eben beim Individuum als Mitglied einer überschaubaren Gruppe. Die Selbstverwirklichung des Individuums, um die es letztlich geht, und die sich nur innerhalb der Gesellschaft vollziehen kann, ist nach Proudhon im Föderativsystem deshalb am ehesten zu garantieren, weil in ihm das aus dem Patriarchat hervorgegangene natürliche Prinzip der Autorität, und das auf die Rebellion des Individuums gegen die väterliche Autorität zurückführende vernünftige Prinzip der Freiheit, im Sinne gesellschaftlichen Fortschritts gebändigt sind. In überschaubarem Rahmen der Kommune wird dem Individuum seine soziale Verantwortung unmittelbar einsichtig und so sein Egoismus geläutert. Der Prozeß der Vermassung, der zur „Herrschaft der Straße“ einerseits, zu ihrem Korrelat der „Herrschaft der Tribunen“ andrerseits führt, soll durch die Selbstorganisation der Gesellschaft von unten nach oben aufgehalten werden.

Man mag gewisse Bedenken gegenüber der Effizienz des Föderalismus für ein spätkapitalistisches Gesellschaftssystem hegen, auf keinen Fall aber ist zu leugnen, daß er Proudhon zu einer Zeit, da das Lied des Nationalismus gerade erst komponiert war, davor bewahrte, in seine inhumane Melodie miteinzustimmen. Sein Internationalismus, der von dem Gedanken der Konföderation von Konföderationen lebt, ließ ihn, den polnischen und italienischen Bestrebungen um nationale Einheit gegenüber, eine ablehnende Haltung einnehmen.

Wie schwer es jedoch ist, Proudhon, der die Systemlosigkeit zum System erhoben hat, gerecht zu werden, dürfte schon daraus hervorgehen, daß nicht nur Teile der französischen Linken sich noch heute auf ihn berufen, sondern auch die Action francaise (Rechtsextreme französische Strömung, Anm.) ihn unter ihre Heiligen einreihte. Fortschritt und Reaktion sind in Proudhon eine eigenartige Verbindung eingegangen. Er, der die Autorität von Staat und Kirche so lautstark in Frage stellt, daß er dafür ins Gefängnis wandert, ist auf familiärem Gebiet von seltener Engstirnigkeit. Eine Gleichheit der Geschlechter kennt er nicht. Die Frau, „von Natur unzüchtig und provozierend“, wird erst durch die Ehe „heilig und unverletzlich“. „Hausfrau oder Dirne“, eine andere Alternative kann es für sie nicht geben. Ehescheidung fördere den Verfall der Sitten. Mit der beißenden Ironie des enttäuschten Freundes beschreibt Alexander Herzen, wie alles Freiheitsstreben Proudhons letztlich auf das Ideal einer „Zuchthäuslerfamilie“ hinlaufe, in der über der Pflicht zu Arbeit und Askese, die Freude am Leben vergessen werde.

Auch ein zumindest für seine Zeit so fortschrittliches Prinzip wie das der „Gleichheit der Löhne“ regt ihn zu einer seltsam reaktionären Konsequenz an. Da bei der Annahme ungefähr gleicher geistiger Fähigkeiten man die niedrigste gesellschaftliche Arbeit am höchsten bezahlen müßte, weil sonst niemand bereit wäre, sie zu erledigen, die „Gleichheit der Löhne“ demnach unmöglich gemacht wäre, muß die Natur es eben so eingerichtet haben, daß genau so viele verschiedenartige Talente geboren werden, als gesellschaftliche Funktionen zu vergeben sind. Man wird also zum Dichter wie zum Straßenkehrer geboren.

So reaktionär solche Gedankengänge klingen mögen, man darf ihnen bei Proudhon keinen allzu hohen Stellenwert zuschreiben. Man darf über dem Kleinbürger nicht den unermüdlichen Kämpfer für „Freiheit in Gleichheit“ vergessen. „Selbstbefreiung der Massen, Selbstorganisation der Gesellschaft von unten nach oben, Selbstverwirklichung des Individuums“, mit diesen Parolen antiautoritären Geistes hat er sich seinen Platz in der Geschichte des Anarchismus gesichert. Seine wichtigsten Werke sind:

Was ist das Eigentum? (1840)
* Über die Kreation der Ordnung in der Menschheit oder Prinzipien politischer Organisation (1843)
System der ökonomischen Widersprüche oder Philosophie des Elends (1846)
* Bekenntnisse eines Revolutionärs (1849)
* Die allgemeine Idee der Revolution im 19. Jahrhundert (18 51)
* Die soziale Revolution, dargestellt am Staatsstreich vom 1. Dez. 1851 (1852)
* Über die Gerechtigkeit in der Revolution und in der Kirche (1858-1860)
* Krieg und Frieden (1861)
* Über das Prinzip des Föderalismus (1863)
* Über die politische Fähigkeit der Arbeitermasse (1865)

Die Gesamtausgabe seiner Werke ist noch nicht abgeschlossen: Œuvres completes de P.-J. Proudhon. Nouvelle Edition publiee avec des notes et des documents inedits, M. Reviere, Paris 1923 ff.

An deutschen Übersetzungen liegen vor (Stand: 1970):

* Philosophie der Staatsökonomie oder Notwendigkeit des Elends, edit. von Karl Grün, 2 Bde., Darmstadt, 1847, Aalen 1966
* „Ausgewählte Schriften“, hrsg. v. A. Rüge und Darimon, 3 Bde., Leipzig 1850/51
* Proudhon und der Sozialismus, hrsg. u. eing. v. Gottfried Salomon, Berlin 1920
* P.-J. Proudhon, Ausgewählte Texte, hrsg. u. eing. v. Thilo Ramm, Stuttgart 1963 (ausführliche Bibliographie)

Anmerkung:
Die Autorin der Biographie geht bereits auf die seltsame Mischung emanzipativer und reaktionärer Gedankengänge bei Proudhon ein. Neben seinen extrem reaktionären und sexistischen Ansichten zu Geschlechterfragen ("Lieber die Frau hinter Schloß und Riegel als Emanzipiert!") wäre hier vor allem sein offener Antisemitismus zu nennen, der in dieser Biographie leider nicht beachtet wird. Seine üble antisemitische Haltung ("Man muß diese Rasse [gemeint sind Juden und Jüdinnen] nach Asien zurückschicken oder sie ausrotten") kommt nicht von ungefähr - sie ist vielmehr in der Verbindung mit Proudhons auf das Geld fixierte Kapitalismuskritik zu sehen. Proudhon ortete das Problem des Kapitalismus hauptsächlich in der Zirkulationsphäre, Geld und Zins als "Wurzel allen Übels". Die Verbindung des "Geldes" mit "DEN JUDEN" als grundlegende Denkfigur des Antisemitismus liegt da bei der europäischen Geschichte des Antisemitismus nahe - eine "Kapitalismuskritik", wie sie später als Grundlage des Weltbildes der Nazis diente. Ähnliche personalisierende Erklärungsmuster des Kapitalismus ("böse" ist nur das Geld, "böse" sind nur die "globalen Konzerne" usw.) finden sich auch heute noch in der Linken. Lesenswert sind hierzu z.B. die Beiträge von Peter Bierl (einfach mal googeln).

Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970. Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s

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