Peter Kropotkin - Abschied von William Morris

William Morris war so eine große Figur in der sozialistischen Bewegung und er besetzte sie einer so einzigartigen Position, dass ich fürchte, im Moment bei meinem Gesundheitszustand und mit den wenigen Zeilen, die ich schreiben kann, seinem Andenken nicht voll gerecht werden zu können.

Als Poet stand er ganz allein in der modernen Dichtung. Unter den weinerlichen und morbiden Poeten unserer Zeit, die in Selbstanalyse und Selbstmitleid versinken und denen jegliche Energie zum Kämpfen fehlt, war er fast der einzige Dichter der schönen Seiten des Lebens – des Vergnügens, das man findet im Streben nach Freiheit, in der vollen Ausübung all seiner Kräfte, in der Arbeit – der Arbeit von Händen und Gehirn. Es ist kein anderer moderner Dichter bekannt, der die Menschen inspirierte mit ähnlicher Liebe zur Freiheit und zur Arbeit; mit ähnlicher Vitalität und Hoffnung und Vertrauen in die menschliche Natur; ähnlicher Zuversicht auf das Glück, das die Menschen in dem Streben nach Freiheit und freier Assoziation mit ihresgleichen finden werden. Ein wahrer Poet der Wikinger, der freien Arbeiter, der freien Menschen. Die gleichen Elemente brachte er in die sozialistische Bewegung.

Als er sich ihr anschloss, suchte er für sich, wie alle wirklich kraftvollen Menschen, nicht eine Position als Drahtzieher oder Führer. Nicht einmal die eines Lehrers. Er unternahm es einfach, das auszudrücken, was die Massen denken und wonach sie unklar streben. Er reihte sich in die Mannschaft ein und brachte seinen Hass auf jede mögliche Form von Herrschaft mit und seine Liebe zu Gleichheit und Freiheit – die er in ihrem weitesten Sinne auffasste. Aus diesem Grunde schuf er, als er es unternahm, seine Version eines Zukunftsromans zu schreiben – News from Nowhere – die vielleicht gründlichste und tiefste anarchistische Konzeption der zukünftigen Gesellschaft, die jemals geschrieben wurde. Da er in sich den breiten Blick des Denkers mit einer wunderbaren Personifizierung des guten praktischen Verstands im kollektiven Bewusstsein (die Geistesstimmung der Massen, wenn sie gelegentlich, in revolutionären Zeiten, frei ans Werk gehen) vereint, ist seine ideale Gesellschaft zweifellos die, die am meisten frei von allen staatlichen und monarchistischen Traditionen ist; die am meisten durch das Gefühl für Gleichheit und humanistischer Liebe inspirierte; der impulsivste und temperamentvollste Auswuchs eines freien Verstandes.

Zwei Tendenzen kämpfen gegeneinander in der heutigen Gesellschaft. Auf der einen Seite die Tradition des zentralisierten Staates des römischen Imperiums und der Kirche, die auf demselben Stammboden errichtet wurden: der Tradition von Sklaverei, Unterwerfung, Unterdrückung, militärischer und gleichgeschalteter Disziplin; und auf der anderen Seite die Tradition der Massen, die sich ihre Gesellschaft außerhalb des Staates bauen wollten – die Tradition des Gewohnheitsrechts gegenüber dem römischen Recht; der freien Gilden und Brüderschaften; der freien Städte, die gegen Bischof und König rebellierten; der Handwerker und Bauern, die sich gegen Kirche und Reich erhoben. Morris gehörte zu dieser zweiten Tradition, absolut und ohne jeden Vorbehalt. Er war der Träger des skandinavischen, keltischen, germanischen, slawischen Geistes, wie er das letzte Jahrzehnt gegen die römische Herrschaft kämpfte. Und deswegen wurde er so wenig verstanden von all den unbewussten Anhängern der Kirche-und-Staat-Tradition.

Die letzten Jahre seines Lebens hatte sich Morris aus der sozialistischen Bewegung zurückgezogen, und er erklärte in einem Vortrag, den er 1893 für die Anarchisten hielt*, offen seine Gründe. Wenn die Bewegung weitergegangen wäre und England zu einer sozialen Revolution gebracht hätte, wäre Morris zweifellos unter der roten Fahne soweit mitgegangen, wie sie die Massen getragen hätten. Aber die Duldungsfähigkeit der Arbeiter, die geduldig jede kapitalistische Unterdrückung auf sich nahmen, betraf ihn tief.

Mehr noch: Morris, der jeden Weg mit den Massen gegangen wäre, konnte nicht mit den Parteien gehen und als die sozialistische Bewegung in England zu einem Untereinander-Feldzug der Parteien wurde mit allen Schiebereien und bürgerlichen Ambitionen, die er so hasste, da machte er es wie Garibaldi, als er in einem Gefecht zwischen seinen italienischen Freiwilligen und den Monarchisten verwundet wurde. Er zog sich in sein Caprera zurück.

Aber die Liebe der Massen ist ihm auf seinem Rückzug gefolgt und die tiefen Spuren seines Handelns bleiben in uns. Wenn die sozialistische Bewegung in England nicht den autoritären und funktionellen Charakter angenommen hat wie in Deutschland, dann war es der Einfluss von Morris, der dieses Verhängnis verhütet hat und dieser Einfluss wird mehr und mehr fühlbar werden in demselben Maße, in dem seine sozialistischen Schriften und alle seine Schriften mehr und mehr von der Masse der sozialistischen Arbeiter gelesen werden.

Anmerkungen:
* Im März 1893 hielt Morris für die Zeitschrift Freedom in der Grafton Hall seinen Vortrag “Kommunismus”, der auch auf dieser Webseite zu finden ist.

Artikel aus “Freedom”, Journal of Anarchistic Communism, November 1896. Abgedruckt als “An anarchist tribute to Morris” in “William Morris, The Critical Heritage”, herausgegeben von Peter Faulkner, London, 1973. Eigene Übersetzung von http://williammorristexte.wordpress.com 2013

Originaltext: http://williammorristexte.wordpress.com/2013/02/23/peter-kropotkin-abschied-von-william-morris/