Bakunin statt Marx!

Ein ‚Satan der Revolte’ – oder „ein Abgrund von statistischer und ökonomischer Kenntnis“?

Die heftigen, persönlichen Auseinandersetzungen zwischen Karl Marx und Michael Bakunin sind sicherlich nicht allen bekannt; vor allen denjenigen im anarchistischen Spektrum nicht, die allzu gerne Marx-Zitate bringen – weniger die ökonomischen als die politischen – und damit ein Terrain betreten, das sie besser meiden sollten. Denn wer sich Marx als zitierfähigen Politiker heraussucht, sollte sich der Tatsache bewußt sein, daß er/sie einen politisch extrem perfiden Machtmenschen zitiert.

Wir zitieren hier nicht aus Bakunins Text „Das knutogermanische Kaiserreich und die soziale Revolution“ vom 29. September 1870, wichtiger war uns die Fußnote zu den „Historischen Sophismen der doktrinären Schule der deutschen Kommunisten“, das die gemeinen Verleumdungen der marxistischen Führer der 1. Internationale deutlich macht. Es ging allein darum, Kritik mundtot zu machen, Bakunin zu desavouieren. Hierum geht es in dieser kleinen Veröffentlichung – Verleumdungen und unglaubliche Gemeinheiten, die wir heute ja nicht mehr kennen …

Entkräften konnten Marx/Engels den panslawischen Revolutionär Bakunin nicht. Vielmehr propagierten Marx/Engels seit 1848 einen Vernichtungskrieg gegen das reaktionäre zaristische Rußland und andere minderwertige, nicht-staatsfähige, „un-historische“ Völker (wie die Tschechen, Slowaken, Ukrainer, Bulgaren), während Bakunin die slawischen Völker zum Widerstand gegen den Zaren und das deutsch-preußische „knutogermanische“ Kaiserreich aufrief. Wohlbemerkt vor der Niederschlagung der Pariser Kommune (18. März 1871 bis 28. Mai 1871) – und vor der Ausrufung des preußischen Königs Wilhelm I. zum alldeutschen Kaiser am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal des französischen Schlosses zu Versailles. Sie folgte dem Sieg über den Erzfeind Frankreich, den Marx seinerzeit so pronounciert forderte: „Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so die Zentralisation der state power, nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht wird ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis heute in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehen, daß die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unserer Theorie über die Proudhons etc.“

[Karl Marx am 20. Juli 1870 an Friedrich Engels (1)]

Aber Bakunin beweist trotz aller Niederträchtigkeit die Größe, den wissenschaftlichen Wert der marxistischen Kapitalismuskritik und –analyse zu loben, und wird zum Agitator der Arbeiterklasse – statt weiterhin für die Befreiung der Völker (wie es noch heute in der „Internationale“ heißt: „Völker hört die Signale …“) zu kämpfen. Daraus wurde dann – politisch korrekt: „Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein!

Als schöner Einstieg dient das Vorwort von Erwin Rholfs, das den Band 1 von Michael Bakunins Gesammelten Werken einleitet.

Folkert, Oktober 2013

Michael Bakunin – Gesammelte Werke – Band 1 (2)

Vorwort

Das verflossene Jahrhundert ist bestimmt durch das Ringen des werdenden und erkennenden Proletariats um seine Menschenrechte. An seiner Schwelle standen Männer wie der geniale Saint-Simon, Charles Fourier, Pierre Proudhon und Robert Owen, der Pionier des Sozialismus in England.

Doch das eigentlich Entscheidende geschah um die Mitte des Jahrhunderts. Zwei große Geister waren es, die ihre ganze Kraft in den Dienst des kämpfenden Proletariats gestellt, Vertreter zweier Welten, die im Letzten gemeinsam, im Nächsten aber abgrundtief verschieden waren: Marx und Bakunin. Diese beiden Männer mußten im Lauf ihrer Entwicklung aufeinanderprallen, ihre Gegensätze mußten einen Austrag verlangen.

Worin lag dieser Gegensatz?

Beiden, Marx und Bakunin, schwebte als Ziel vor: eine trete Gesellschaft freier Menschen, die allen die freieste Entwicklung ihrer Anlagen und Fähigkeiten gewährt, in der das Ausbeutungsverhältnis der kapitalistischen Epoche aufgehoben, an seine Stelle die Solidarität aller getreten ist; eine Gesellschaft, in der aus der dunklen Tiefe des menschlichen Innern Persönlichkeit, Menschentum machtvoll hervorbricht.

Dem gleichen Ziel standen diametral entgegengesetzte Wege gegenüber, die in den verschiedenen Charakteren begründet lagen.

Marx, der Wissenschaftler, hatte mit unendlichem Fleiß, mit ungeheurem Scharfsinn eine große Wahrheit gefunden und ausgebaut: Die materialistische Geschichtsauffassung, nach sind alle politischen, rechtlichen und religiösen Lebensäußerungen letzten Endes bestimmt sind durch die Produktionsweise, durch wirtschaftliche Ursachen. Diese Wahrheit ist für ihn eine unumstößliche, eine Tatsache des Weltgeschehens und ebenso wie das Weltgeschehen, die schicksalsbestimmte Verkettung unendlicher Ursachen und Wirkungen, absolut, autoritär ist, ebenso ist auch seine Wahrheit, ist auch er, ihr Verkünder, absolut und autoritär.

Wer diese Wahrheit nicht anerkennt, vor ihr nicht bedingungslos kapituliert, lehnt sich auf gegen die Allmacht des Weltgeschehens; sein Standpunkt ist deshalb für ihn ganz undiskutierbar. Dieses Erkennen der Gesetze des Weltgeschehens zwingt ihn despotisch in seinen Dienst gegen Unvernunft und Philistertum; er ist der Verkünder der Weltgesetze, wer sie nicht anerkennt oder nur einschränkt und sie nicht als Richtlinien seines Handelns gelten läßt, ist sein Feind, den er bekämpfen muß.

Dieser Marx sah im Proletariat die Klasse, welche die neue Welt aus der alten entwickeln werde, welche im Ablauf der Weltgeschichte die Aufgabe hatte, der alten kapitalistischen Weit den Todesstoß zu versetzen, die neue sozialistische aufzubauen.

Er glaubte, dieses Proletariat zu kennen; er glaubte zu wissen, daß es nicht in stürmischem Kampf sein Ziel erreichen werde; er traute ihm alles zu, nur nichts Revolutionäres, aus eigenen Impulsen Geborenes; und deshalb mußte es geführt werden, wie eine Herde von ihrem Hirten geführt wird.

Anders Bakunin: Er, der Mensch voll Leben und Temperament, voll loderndem Feuer und rastlos schaffender Willenskraft, wußte, daß jeder Mensch in sich einen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung habe, wie er ihn in sich fühlte. Deshalb suchte er in allen diesen Trieb aufzustacheln, aufzupeitschen aus träger Ruhe und Gleichgültigkeit zu glühender Begeisterung und begeisterten Taten. Der elementare Drang nach Freiheit, der aus seinem ganzen Wesen sprach, schlummerte auch In allen anderen, er wußte es; deshalb ist sein ganzes Leben nur eine Agitation, nur ein rastloses Aufreißen, Aufstacheln zu Kampf und Sieg. Er ist der große, unermüdliche Revolutionär, der keine nationalen Grenzen, der nur nach Freiheit lechzende Menschen kennt.

Aus dem Gesagten ergibt sich die Taktik von Marx und Bakunin. Marx sah den Menschen wie er oft ist, schläfrig, träge, unbeweglich, ohne Initiative, ohne Feuer, und diesen Menschen setzte er In seine Berechnungen ein. Damit eine Aktion überhaupt möglich war, so dachte er, mußte dieser Mensch von „Führern” geleitet und beherrscht werden.

Mit welchem Erfolg?

Dieser Mensch, der sich daran gewöhnte, geführt zu werden, wurde noch träger, noch schläfriger, noch unbeweglicher, als er ohnehin schon war, er verlor Jeden Rest schöpferischer Initiative. Marx hatte das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte. Aus dem Philister wollte er einen freien Menschen machen und machte doch nur einen noch größeren Philister, der unfähig war, selbständig zu handeln. Und Bakunin? Er wußte, daß in jedem Menschen, scheine er noch so träge, ein revolutionärer Drang wohnt, ein Feuer glimmt, das nur Unwissenheit, Knechtung und Sklaverei verhindere, emporzulodern.

Nicht wie Marx löschte er dieses glimmende Feuer aus, nein, e r entfachte es zur lodernder Flamme. Aus dem scheinbar so trägen Menschen war ein Revolutionär geworden, der sich nicht ängstlich nach „Führern“ umsah, der über sein Tun und Lassen selbst entschied, der Persönlichkeit war.

In Marx und Bakunin verkörpern sich der Geist des Zentralismus und des Föderalismus, autoritärer und antiautoritärer Sozialismus. Es ringt Freiheit gegen Despotismus, Wille gegen Schicksal. Wir, die wir Bakunin nachfolgen wollen und müssen seinen Geist, den Geist der Freiheit, verteidigen gegen alle Versuche der Unterdrückung, der Knechtung und Sklaverei. Wir wollen und müssen kämpfen gegen Kirche und Staat, für Gleichheit und Freiheit!

Wir glauben nicht an Konstitutionen und Gesetze. Wir wollen etwas anderes:

Sturm and Leben! Und eine neue Welt freien Selbstbestimmung!

Im September 1921.

ERWIN RHOLFS.

Michael Bakunin: Historische Sophismen (3) der doktrinären Schule der deutschen Kommunisten

Anderer Meinung ist die doktrinäre Schule der deutschen Sozialisten oder vielmehr der autoritären Kommunisten, die kurz vor 1848 gegründet wurde und die, wie man anerkennen muß, nicht nur der Sache des deutschen Proletariats ungeheure Dienste geleistet hat, sondern auch der des europäischen. Ihr gehört hauptsächlich die große Idee einer Internationalen Arbeiterassoziation und die Initiative zu ihrer ersten Verwirklichung an. Heute befindet sie sich an der Spitze der sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, deren Organ der Volksstaat ist.

Es handelt sich also um eine ganz achtenswerte Schule, was sie nicht hindert, manchmal einen sehr bösartigen Charakter zu zeigen*) und vor allem ihren Theorien ein Prinzip zugrunde zu legen, das in seinem wirklichen Licht betrachtet, d. h. von einem relativen Gesichtspunkt aus gesehen, vollkommen richtig ist, das aber vollständig falsch wird, wenn es absolut betrachtet und gestellt wird, als die einzige Grundlage und erste Ursache aller anderen Prinzipien, wie es diese Schule tut.

Dieses Prinzip, das übrigens die wesentliche Grundlage des positiven Sozialismus bildet, wurde erstmals von Herrn Karl Marx, dem Oberhaupt der Schule der deutschen Kommunisten, wissenschaftlich formuliert und entwickelt. Es bildet den Leitgedanken des berühmten kommunistischen Manifestes, welches ein internationales Komitee französischer, englischer, belgischer und deutscher Kommunisten in London 1847 mit dem Titel: Proletarier aller Länder, vereinigt euch! herausgab. Dieses bekanntlich von den Herren Marx und Engels abgefaßte Manifest wurde die Grundlage aller weiteren wissenschaftlichen Arbeiten der Schule und der später von Ferdinand Lassalle in Deutschland ins Leben gerufenen Volksbewegung.

Dieses Prinzip ist das unbedingte Gegenteil des von den Idealisten aller Schulen anerkannten. Während die Idealisten alle geschichtlichen Vorgänge, die Entwicklung der materiellen Interessen und der verschiedenen Stufen der wirtschaftlichen Einrichtung der Gesellschaft einbegriffen, von der Entwicklung der Ideen herleiten, wollen die deutschen Kommunisten im Gegenteil in der ganzen Menschheitsgeschichte, in den idealsten Äußerungen des gemeinschaftlichen und persönlichen Lebens der Menschheit, in allen geistigen und moralischen, religiösen, metaphysischen, wissenschaftlichen, Künstlerischen, politischen, juridischen und sozialen Entwicklungen der Vergangenheit und Gegenwart, nur Reflexe oder notwendige Gegenschläge der Entwicklung der wirtschaftlichen Vorgänge sehen, während die Idealisten behaupten, daß die Ideen herrschen und die Tatsachen hervorbringen, sagen dagegen die Kommunisten, in Übereinstimmung übrigens mit dem wissenschaftlichen Materialismus, daß die Tatsachen der Ursprung der Ideen sind, die stets nur der ideale Ausdruck geschehener Tatsachen sind, und daß unter allen Tatsachen die wirtschaftlichen, materiellen Vorgänge, die wichtigsten Tatsachen, die wesentliche Grundlage, die Hauptgrundlage bilden, aus der alle anderen geistigen und moralischen, politischen und sozialen Vorgänge notwendig herrühren.

Fußnote

*) Ich kann davon etwas erzählen. Es sind jetzt vier Jahre her, seit ich den gehässigsten Angriffen, den gemeinsten Anschuldigungen und den schmutzigsten Verleumdungen von selten der einflußreichsten Männer dieser wissenschaftlich-revolutionären Partei ausgesetzt bin, die ihren Hauptsitz in London hat. Ich kenne ihre Führer seit langem und habe immer für ihre Intelligenz, die außer Frage steht, eine große Achtung bewiesen, ebenso für ihre wirkliche, lebendige, ebenso umfassende wie tiefe Wissenschaft und für ihre unveränderliche Hingabe an die Sache der Befreiung des Proletariats, der sie wenigstens 25 Jahre lang, ich wiederhole es noch einmal, die größten Dienste erwiesen haben. Ich erkenne sie also in jeder Beziehung als unendlich achtenswerte Männer an; keine noch so schreiende und verdammenswerte Ungerechtigkeit von ihrer Seite wird mich die Dummheit begehen lassen, die Nützlichkeit und die geschichtliche Wichtigkeit ihrer theoretischen Arbeiten and ihrer praktischen Unternehmungen zu leugnen.

Unglücklicherweise hat, wie ein altes Sprichwort sagt, jede Münze eine Kehrseite.

Diese Herren sind sehr schlechte Genossen: jähzornig, eitel und selbstsüchtig wie Deutsche und, was noch schlimmer ist, wie deutsche Schriftsteller, die sich bekanntlich durch vollständiges Fehlen von Geschmack, Menschenachtung und sogar von Selbstachtung, auszeichnen. Sie haben den Mund immer voller Beleidigungen, gehässigen und hinterlistigen Andeutungen, tückischen Bosheiten und der gemeinsten Verleumdungen gegen alle, die das Unglück haben, nicht unbedingt in ihrem Sinne sich zu gehen und so wollen, die vor ihnen nicht die Flagge streichen können. Ich verstehe und finde es vollkommen gerechtfertigt, nützlich und notwendig, wenn man mit Energie und Leidenschaft nicht nur die gegnerischen Theorien, sondern auch die angreift, die ihnen m allen ihren öffentlichen und sogar privaten Handlangen beitreten, wenn diese letzteren, gebührend feststellt und bewiesen, gehässig sind. Denn ich bin der größte Gegner jener ganz bourgeoisen Heuchelei, die eine unüberschreitbare Mauer zwischen dem öffentlichen und privaten Leben eines Menschen aufrichten will. Diese Trennung ist eine leere Fiktion, eine Lüge und zwar eine sehr gefährliche. Der Mensch ist ein unteilbares, ganzes Wesen und wenn er in seinem Privatleben ein Schurke, wenn er in seiner Familie ein Tyrann, in seinen sozialen Beziehungen ein Lügner, ein Betrüger, ein Bedrücker und ein Ausbeuter ist, muß er das sich in seinen öffentlichen Handlungen sein; wenn er da sich anders gibt, wenn er sich den Anschein eines liberalen Demokraten oder Sozialisten gibt, der die Gerechtigkeit, die Freiheit und Gleichheit liebt, so lügt er wieder und er muß ganz klar die Absicht haben, die Massen auszubeuten, wie er die Individuen ausbeutet. Es ist also nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht, ihn zu entlarven, dadurch, daß man die schmutzigen Taten seines Privatlebens feststellt, sobald man unumstößliche Beweise erhalten hat. Die einzige Überlegung, die in diesem Falle einen gewissenhaften und anständigen Menschen zurückhalten kann, ist die Schwierigkeit sie festzustellen, die bei den Tatsachen des Privatlebens unendlich viel größer ist, als bei denen des öffentlichen Lebens. Das ist aber die Sache des Gewissens, des gerechten Urteils und Geistes dessen, der glaubt irgendeine Persönlichkeit dem öffentlichen Tadel preisgeben zu müssen. Wenn er es tut, nicht gedrängt von einem Gerechtigkeitsgefühl, sondern von Boshaftigkeit, von Eifersucht oder Haß, um so schlimmer für ihn. Es darf aber niemand erlaubt sein, eine Persönlichkeit zu denunzieren, ohne Beweise in den Händen zu haben und je mehr eine Anklage ernsthaft ist, um so mehr müssen es auch die Beweise sein, auf die sie sich stützt. Derjenige, welcher also einen anderen Menschen der Gemeinheit anklagt, muß selbst als ein gemeiner Mensch betrachtet werden, und er ist es in der Tat, wenn diese schreckliche Anklage sich nicht auf unwiderlegliche Beweise stützt.

Nach dieser notwendigen Erklärung komme ich zu meinen lieben und sehr achtenswerten Freunden von London und Leipzig zurück. Ich kenne die Hauptführer seit langem und muß sagen, daß wir nicht immer Feinde waren. Weit entfernt davon, vor 1848 hatten wir sehr enge Beziehungen. Sie wären von meiner Seite aus noch viel enger gewesen, wenn ich nicht zurückgestoßen worden wäre vor jener negativen Seite ihres Charakters, die mich immer verhindert hat, ihnen volles und ganzes Vertrauen zu schenken. Gleichwohl blieben wir bis 1848 Freunde. Im Jahre 1848 hatte ich in ihren Augen das große Unrecht begangen, gegen sie die Partei eines ausgezeichneten Dichters — warum sollte ich ihn nicht nennen — die Partei Georg Herwegh’s zu ergreifen, für den ich eine tiefe Freundschaft empfand und der sich von ihnen in einer politischen Sache getrennt hatte, in welcher, wie ich jetzt glaube und offen sagen werde, das Recht, die richtige Würdigung der allgemeinen Lage auf ihrer Seite war. Sie griffen ihn an mit der Ungeniertheit, die ihre Angriffe auszeichnet; ich verteidigte ihn in seiner Abwesenheit mit Wärme persönlich in Köln. In der „Rheinischen Zeitung”, die sie zu dieser Zeit leiteten, erschien ein „Brief von Paris“, der mit jener ganzen feigen Tücke und Jener hinterlistigem Verleumdung geschrieben war, deren Geheimnis nur die Korrespondenten der deutschen Zeltungen besitzen.

Der Korrespondent schob Frau George Sand sehr befremdende und mich ganz und gar entehrende Reden unter: sie hätte gesagt, ich sei ein russischer Spion — ich weiß nicht und der Korrespondent selbst wußte natürlich nicht wo, noch zu wem, noch wie, da er alles erfunden hatte und aller Wahrscheinlichkeit nach der Brief in Köln abgefaßt wurde. Frau Sand protestierte edel, energisch. Ich sandte ihr einen Freund. Mehr als dieser Protest, als dieses formelle Dementi von Frau Sand und mehr als meine Forderung nach Erklärung, hat, glaube ich, ihr eigenes Gerechtigkeitsgefühl und ihre Selbstachtung sie gezwungen, in ihrer Zeitung einen vollständig zufriedenstellenden Widerruf arauFhin einzurücken.

Als ich im Jahre 1861, nachdem ich glücklich aus Sibirien entwichen war, nach London kam, war das erste, was ich aus dem Munde von Herzen hörte: Sie hatten meine zwölfjährige erzwungene Abwesenheit (von 1849 bis 1861), von denen ich acht Jahre in verschiedenen sächsischen, österreichischen und russischen Festungen und vier in Sibirien verbrachte, benutzt, um mich in gehässigster Weise zu verleumden, indem sie jedem, der es hören wollte, erzählten, daß ich keineswegs gefangen sei, sondern im Gegenteil volle Freiheit genieße und mit allen irdischen Gütern überhäuft und der Liebling des Zaren Nikolaus sei. Mein alter Freund, der ausgezeichnete polnische Demokrat Worzel, der um 1860 in London starb und Herzen hatten alle Mühe, mich gegen diese gemeinen und verleumderischen Lügen zu verteidigen. Ich suchte mit jenen Herren wegen all dieser deutschen Liebenswürdigkeiten keinen Streit, ich besuchte sie aber nicht, das war altes.

Kaum in London angekommen, wurde ich in einer Reihe von Artikeln in einer kleinen englischen Zeitung begrüßt, die augenscheinlich von meinen lieben und edlen Freunden geschrieben oder veranlaßt worden waren, von den Führern der deutschen Kommunisten; diese Artikel trugen aber keine Unterschrift. In diesen Artikeln wagte man zu sagen, daß ich nur mit Hilfe der russischen Regierung hätte entfliehen können, die, indem sie mich in die Lage eines Emigranten und eines Märtyrers der Freiheit versetzte — ich verabscheue diesen Titel, weil ich die Phrasen hasse — mich leichter ihre Dienste leisten, d. h. mich für sie das Spionenhandwerk betreiben Lassen konnte. Als ich in einer anderen englischen Zeitung dem Verfasser jenes Artikels erklärte, daß man auf solche Verleumdungen nicht mit der Feder in der Hand antwortet, sondern mit der Hand ohne Feder, entschuldigte er sich, indem er behauptete, er hätte nicht sagen wollen, daß ich ein bezahlter Spion sei, sondern, daß ich dem russischen Kaiserreich so ergeben sei, daß „ich freiwillig alle Qualen des Gefängnisses und Sibiriens getragen hätte, um später der Politik dieses Kaiserreichs besser dienen zu können.“ Auf solchen Unsinn gibt es nichts zu erwidern. Das war auch die Ansicht des großen italienischen Patrioten Guiseppe Mazzini und die meiner Landsleute Ogaref und Herzen. Um mich zu trösten, sagten mir Mazzini und Herzen, daß sie ungefähr auf dieselbe Weise und wahrscheinlich von denselben Leuten angegriffen worden waren, und daß sie allen diesen Angriffen nur ein verächtliches Stillschweigen entgegengesetzt hätten.

Als ich im Dezember 1863 Frankreich und die Schweiz durchfuhr, um mich nach Italien zu begeben, veröffentlichte eine kleine Basler Zeitung, ich weiß nicht mehr welche, einen Artikel, in welchem sie gegen mich alle polnischen Emigranten aufbrachte durch die Behauptung, daß ich viele ihrer Landsleute in den Abgrund gerissen hätte, während ich meine eigene Person immer gerettet hätte.

Während meines Aufenthalts in Italien von 1863 bis 1867 wurde ich von vielen deutschen Zeitungen fortgesetzt beleidigt und verleumdet. Sehr wenige dieser Artikel wurden mir bekannt, da man in Italien wenig deutsche Zeitungen liest. Ich erfuhr nur, daß man mich weiter mit Verleumdungen und Beleidigungen überschüttete und schließlich kümmerte ich mich so wenig darum, wie um die Schmähungen der russischen Presse gegen mich.

Mehrere meiner Freunde behaupteten und behaupten, daß meine Verleumder von der russischen Diplomatie gedungen seien. Das wäre nicht so unmöglich, und ich mußte um so mehr gehalten sein dies zu glauben, als ich bestimmt weiß, daß Im Jahre 1847 nach einer Rede, die ich in Paris in einer polnischen Versammlung gegen den Kaiser Nikolaus hielt und wegen der Herr Guizot, der damalige Minister des Auswärtigen, mich aus Frankreich ausgewiesen hatte, Herr Kisselef, der Vertreter Rußlands, auf die Forderung des Minister durch die Vermittlung Herrn Guizots, dessen guten Glauben er zweifellos hinterging, versucht hatte, unter den polnischen Emigranten die Auffassung zu verbreiten, daß ich nur ein russischer Agent sei. Die russische Regierung ebensowohl wie ihre Beamten scheuen natürlich vor keinem Mittel zurück, um ihre Gegner zu venichten. Lüge, Verleumdungen, Beschimpfungen aller Art machen ihre Natur aus und wenn sie diese Mittel anwenden, machen sie zur von ihrem unbestreitbaren Recht als offizielle Vertreter all dessen, was an Schurken auf der Erde existiert, Gebrauch, ohne Schaden für das patriotische, bourgeoise, adlige, nichtamtliche und amtliche Deutschland, das heute, wie ich ergebenst bezeugen muß, die ganze politische, moralische und menschliche Höhe des Kaisers aller Reußen reicht hat.

Nun, offen gesprochen, glaube ich nicht, daß einer meiner Verleumder — die übrigens sehr wenig ehrenwert sind, da die Verleumderei ein elendes Handwerk ist — oder wenigstens die hauptsächlichsten unter Ihnen mit der russischen Diplomatie je, wenigstens wissentlich, Beziehungen unterhalten hat. Sie ließen sich in der Hauptsache von ihrer eigenen Dummheit und Bosheit antreiben, das ist alles, und wenn es je eine fremde Veranlassung gab, so kam sie nicht aus Petersburg, sondern aus London. Es waren immer meine guten alten Freunde, die Führer der deutschen Kommunisten, die Gesetzgeber der zukünftigen Geschichte, die, vom Londoner Nebel umgeben, wie Moses von den Wolken des Sinai, auf mich, wie eine Meute von Kläffern, eine Menge kleiner deutscher und russischer Juden hetzten, von denen der eine dümmer und gemeiner war als der andere.

Ich lasse jetzt die Kläffer, die kleinen Juden und alle elenden Personen bei Seite und gehe zu den Anklagepunkten über, die sie gegen mich formulierten.

1. Sie wagten in einer Zeitung, die sonst sehr anständig, sehr ernsthaft ist, die aber dieses Mal ihren anständigen und ernsthaften Charakter verleugnete, indem sie sich als Organ einer gemeinen und dummen Verleumdung gebrauchen ließ, im „Volksstaat“, zu drucken, daß Herzen und ich zwei panslavistische Agenten seien, die große Geldsummen von einem Moskauer panslavischen Komitee, das von der russischen Regierung eingerichtet sei, erhielten. Herzen war Millionär; was mich anbetrifft, so wissen alle meine Freunde, alle meine guten Bekannten, und ihre Zahl ist ziemlich groß, sehr gut, daß Ich mein Leben in harter Armut zubringe. Die Verleumdung Ist gemein, zu plump; ich gehe weiter.

2. Sie klagten mich des Panslavismus an; um mein Verfahren zu beweisen, fährten sie eine Broschüre an, die ich in Leipzig gegen Ende des Jahres 1848 veröffentlichte and in der ich mich bemühte, den Slaven zu beweisen, daß sie, weit entfernt davon, ihre Befreiung durch das russische Kaiserreich zu erreichen, diese Befreiung mir durch seine vollständige Zerstörung erreichen könnten, da dieses Reich nur ein Zweig des deutschen Kaiserreichs sei, nichts als die verhaßte Herrschaft der Deutschen über die Slaven. „Es ist ein Unglück für euch“, sagte ich ihnen, „wenn ihr auf das kaiserliche Rußland, auf dieses tatarische und deutsche Reich baut, das nie etwas slavisches hatte. Es wird euch verschlingen und quälen, wie es Polen erfährt, wie es alle rassischen Völker erfahren, die in Ihm gefangen sind.“ Es ist wahr, daß ich in jener Broschüre zu sagen wagte, daß die Zerstörung des österreichischen Kaiserreiche and der preußischen Monarchie zum Triumphe der Demokratie ebenso notwendig sei, wie die des Zarenreichs; das konnten mir die Deutschen, selbst die sozialistischen Demokraten Deutschlands, nie verzeihen.

In dieser Broschüre fügte ich noch hinzu: „Trauet den nationalen Leidenschaften nicht, die man in euren Herzen zu beleben sucht. Im Namen jener österreichischen Monarchie, die nie etwas anderes getan hat, als alle ihrem Joche unterworfenen Nationen zu unterdrücken, spricht man euch jetzt von euren nationalen Rechten. Zu welchem Zweck? Um die Freiheit der Völker zu vernichten, indem man einen Bruderkrieg zwischen ihnen entfesselt. Man will die revolutionäre Solidarität zerbrechen, die sie vereinen soll, die ihre Kraft, ja die Voraussetzung ihrer gleichzeitigen Befreiung ausmacht, man will sie zerbrechen, indem man im Namen eines engen Patriotismus sie gegeneinander aufhetzt. Reichet also den Demokraten, den revolutionären Sozialisten Deutschlands, Ungarns, Italiens, Frankreichs die Hand, haßt nur eure ewigen Bedrücker, die bevorrechteten Klassen der Nationen; vereinigt euch aber in Herz und Tat mit ihren Opfern, den Völkern.“

Das war der Geist und Inhalt jener Broschüre, in der die Herren die Beweise meines Panslavismus suchen gingen. Das ist nicht nur gemein, das ist dumm: was aber gemeiner als dumm ist, ist, daß während sie diese Broschüre vor sich hatten, sie natürlich entstellte oder verstümmelte Stellen anführten, aber nicht eines jener Worte, mit denen ich das russische Kaiserreich verfluchte und brandmarkte. Indem ich die slavischen Völker beschwörte, auf der Hut zu sein und von solchen Stellen war die Broschüre voll. Das gibt den Maßstab für die Anständigkeit dieser Herren.

Ich gestehe, daß als ich zum erstenmal jene Artikel las, die von meinem Panslavismus sprachen, den die Broschüre so gut bewies, ich, wie man sieht, bestürzt war. Ich verstand nicht, wie man die Unanständigkeit so weit treiben konnte. Jetzt beginne ich zu verstehen. Nicht nur der ausnehmend schlechte Glaube des Verfassers diktierte diese Artikel, sondern dazu noch eine Art nationaler und patriotischer, sehr dummer Naivität, die aber in Deutschland sehr gemein ist. Die Deutschen haben in ihrer geschichtlichen Sklaverei so lange und so gut geträumt, daß sie schließlich sehr naiv ihre Nationalität der Menschheit gleichsetzen, so daß nach ihrer Auffassung die deutsche Herrschaft verabscheuen, ihre freiwillige Sklavenkultur verachten, der Feind des menschlichen Fortschritts sein heißt. Panslavisten sind in ihren Augen alle Slaven, die mit Widerwillen und Zorn die Kultur zurückweisen, die sie Ihnen aufzwingen wollen.

Wenn das der Sinn ist, den sie dem Wort Panslavist geben, so dann bin ich aus vollem Herzen Panslavist. Denn es gibt wirklich wenige Dinge, die ich so tief verabscheue und hasse, als die gemeine Herrschaft und jene bourgeoise, adlige, bürokratische, militärische und politische Kultur der Deutschen. Ich werde immer fortfahren, den Slaven im Namen der allgemeinen Befreiung der Volksmassen den Frieden, die Brüderlichkeit, die solidarische Aktion und Organisation mit dem deutschen Proletariat zu predigen, aber nicht anders als auf den Ruinen jener Herrschaft und jener Kultur und zu keinem anderen Zwecke als dem der Zerstörung aller Kaiserreiche, der deutschen und der slavischen. (M. B.) • [S. 89-93]

Bakunin über Marx:

„Marx als Denker ist auf dem rechten Wege. Er hat das Prinzip festgelegt, daß alle politischen, religiösen und juridischen Entewicklungen in der Geschichte nicht die Ursachen, sondern die Folgen ökomomischer Entwicklungen seien. Das ist ein großer und fruchtbare Gedanke, den er durchaus nicht erfunden hat; er wurde erahnt, teilweise ausgedrückt durch viele vor ihm; aber ihm kommt die Ehre zu, ihn dargelegt und als Basis seines ganzen ökonomischen Systems genommen zu haben. Anderseits hatte Proudhon den Gedanken der Freiheit viel besser verstanden und gefühlt als Marx. Proudhon, wenn er nicht in Doktrin und Metaphysik machte, hatte den wahren Instinkt der Revolutionäre; er verehrte Satan und proklamierte die Anarchie. Es ist möglich, daß ein Marx sich theoretisch zu einem viel vernünftigerem System der Freiheit erhebe, aber der Instinkt der Freiheit fehlt ihm; er ist von der Zehe bis zum Scheitel ein Autoriät.“

Und in einem Brief an Marx, „seinen alten Freund“, versichert ihm Bakunin, daß er „gewiß“ weiterhin sein Freund sein will, „weil ich mehr als je verstehe, wie Recht Du hattest, als Du den Weg der ökonomischen Revolution einschlugst und uns einludest, dasselbe zu tun, als Du die von uns heruntermachtest, die sich verloren in nationalen ode ausschließlich politischen Unternehmungen. Ich tue jetzt, was Du zu tun begonnen bereits vor 20 Jahren. Seit dem feierlichen, öffentlichen Abschied, den ich von den Bourgois auf dem Kongreß in Bern nahm, kenne ich keine andere Gesellschaft, keine andere Umgebung mehr als die Welt der Arbeiter. Mein Vaterland ist jetzt die Internationale, von der Du einer der wichtigsten Begründet bist. Dir steht also, mein lieber Freund, daß ich Dein Schüler bin und stolz bin, es zu sein.“ (Brief aus Locarno 1868)

- Zitiert nach: Fritz Brupbacher – Marx und Bakunin, München 1913 — Quellen: Der Pionier, Nr. 12 vom 25.3.1914 resp.der Neuauflage im Karin Kramer Verlag, Berlin 1976 [S. 89]

Fußnoten:
(1) Rudolf Rocker – Absolutistische Gedankengänge im Sozialismus (S. 42/43), Darmstadt 1950
(2) Verlag „Der Syndikalist“, 1921 – Nachdruck Karin Kramer Verlag 1975 [uns liegt ein Original von 1921 vor]
(3) Ein Sophismus, ‚klug‘, ist ein Argument, das scheinbar einen logisch gültigen Beweis führt, tatsächlich aber ein unabsichtlicher Trugschluss ist.

Originaltext: http://syndikalismus.wordpress.com/2013/10/14/eingesandt-bakunin-statt-marx/