Michael Bakunin - Der Kampf gegen die Gesellschaft (1)

Nur dann bin ich wahrhaft frei, wenn alle Menschen, die mich umgeben, Männer und Frauen, ebenso frei sind wie ich. Die Freiheit der anderen, weit entfernt davon, eine Beschränkung oder die Verneinung meiner Freiheit zu sein, ist im Gegenteil ihre notwendige Voraussetzung und Bejahung.

Nur durch die Freiheit anderer werde ich wahrhaft frei, derart, daß, je zahlreicher die freien Menschen sind, die mich umgeben und je tiefer und größer ihre Freiheit ist, desto weiter, tiefer und größer auch die meine wird. Es ist im Gegenteil die Sklaverei der Menschen, die meiner Freiheit eine Schranke setzt oder, was dasselbe ist, ihre Bestialität ist eine Verneinung meines Menschentums, weil, um es noch einmal zu sagen, ich nur dann frei sein kann, wenn meine Freiheit, oder, was das gleiche heißen will, wenn meine Menschenwürde, mein Menschenrecht, das darin besteht, daß ich keinem anderen Menschen gehorche und meine Handlungen nur durch meine eigenen Überzeugungen bestimmen lasse, widergespiegelt in dem gleichmäßig freien Bewußtsein aller, mir durch allgemeine Anerkennung bestätigt wird. Meine auf diese Weise durch die Freiheit aller bestätigte persönliche Freiheit erstreckt sich ins Unendliche.

Man sieht, daß die Freiheit, so wie sie von den Materialisten aufgefaßt wird, eine sehr positive, sehr vollständige und vor allem eine äußerst soziale Sache ist, weil sie nur in der Gesellschaft und nur in der strengsten Gleichheit und Solidarität aller verwirklicht werden kann. Man kann bei ihr drei Entwicklungsmomente, drei Elemente unterscheiden, von denen das erste im höchsten Grade positiv und sozial ist; es ist die volle Entwicklung und der volle Genuß aller menschlichen Fähigkeiten und Kräfte eines jeden durch die Erziehung, durch wissensduaftliche Belehrung und materielles Glück, alles Dinge, die dem einzelnen nur durch die gemeinsame materielle und geistige, Muskel- und Nervenarbeit der ganzen Gesellschaft gegeben werden können.

Das zweite Element der Freiheit ist negativ. Es ist die Empörung des menschlichen Individuums gegen jede göttliche und menschliche, gegen jede kollektive und individuelle Autorität.

Zunächst ist das die Empörung gegen die Tyrannei des obersten Phantoms der Theologie, gegen Gott. Es ist klar, daß, solange wir im Himmel einen Herrn haben, wir auf der Erde Sklaven sind. Unsere Vernunft und unser Wille würden gleichfalls vernichtet sein. Solange wir glauben, ihm absoluten Gehorsam schuldig zu sein (und einem Gott gegenüber gibt es keinen anderen Gehorsam), müßten wir uns notwendig der Autorität seiner Mittler und Auserwählten ohne Widerstand und ohne die geringste Kritik unterwerfen, als da sind: Messien, Propheten, von Gott erleuchtete Gesetzgeber, Kaiser, Könige und alle ihre Beamten und Minister, geweihte Vertreter und Diener zweier großer Institutionen, die sich uns darstellen als von Gott selbst zur Leitung der Menschen eingesetzt: der Kirche und des Staates. Jede irdische oder menschliche Autorität rührt unmittelbar von der geistlichen oder göttlichen her. Die Autorität ist aber die Verneinung der Freiheit. Gott, oder vielmehr die Fiktion Gott, ist also die Heiligung und die geistige und moralische Ursache aller Sklaverei auf Erden, und die Freiheit der Menschen wird erst dann vollkommen sein, wenn sie die unheilvolle Fiktion von einem himmlichen Herrn ganz und gar vernichtet haben wird.

Weiter ist es demzufolge die Empörung eines jeden gegen die Tyrannei der Menschen, gegen die, sei es individuelle oder soziale Autorität, die der Staat darstellt und durch Gesetze ausübt. Hier gilt es aber aufzumerken, und deshalb ist es nötig, eine ganz genaue Unterscheidung zwischen der offiziellen und deshalb tyrannischen Autorität der im Staate organisierten Gesellschaft und dem natürlichen Einfluß und der natürlichen Wirkung der nicht offiziellen, sondern natürlichen Gesellschaft auf jedes ihrer Glieder zu machen.

Die Empörung gegen diesen natürlichen Einfluß der Gesellschaft ist für den einzelnen viel schwieriger als die Empörung gegen die offiziell organisierte Gesellschaft, gegen den Staat, obgleich sie oft ebenso unvermeidlich sein wird wie die gegen die letztere. Die oft erdrückende und verhängnisvolle soziale Tyrannei zeigt nicht jenen Charakter gebieterischer Willkür, eines gesetzlichen und formellen Despotismus, der die Autorität des Staates auszeichnet. Sie legt sich nicht auf wie ein Gesetz, dem jedes Individuum gezwungen ist, sich zu unterwerfen, will es einer gerichtlichen Strafe entgehen. Ihre Wirkung ist sanfter, einnehmender, viel unmerklicher, aber um ebensoviel mächtiger als die der Autorität des Staates. Sie beherrscht die Menschen durch die Sitten und Gebräuche, durch die Menge der Ansichten, Vorurteile und Gewohnheiten, sowohl des materiellen Lebens als auch des Geistes und des Herzens, die in ihrer Gesamtheit das ausmachen, was wir die öffentliche Meinung nennen. Sie umringt den Menschen von seiner Geburt an, sie durchdringt und erfüllt ihn und bildet sogar die Grundlage seines eigenen, persönlichen Daseins, derart, daß jeder gewissermaßen sich selbst gegenüber verantwortlich ist, meist ohne es zu ahnen. Daraus geht hervor, daß der Mensch, um sich gegen den Einfluß, den die Gesellschaft natürlicherweise auf ihn ausübt, zu empören, zum Teil wenigstens gegen sich selbst revoltieren muß, denn mit allen seinen materiellen, geistigen und moralischen Strebungen und Neigungen ist er nichts als ein Produkt der Gesellschaft. Daher jene ungeheuere Macht, welche die Gesellschaft auf die Menschen ausübt.

Vom Gesichtspunkt der unbedingten Moral aus, d.h. von dem der menschlichen Achtung, werde ich sofort sagen, was ich unter diesem Worte verstehe; diese Macht der Gesellschaft kann wohltätig, sie kann aber auch verderblidu sein. Sie ist wohltätig, wenn sie auf die Entwicklung der Wissenschaft, des materiellen Wohlstandes, der Freiheit, der Gleichheit und der brüderlichen Solidarität gerichtet ist, sie ist verderblich, wenn sie die entgegengesetzten Tendenzen hat. Ein Mensch, der in einer Gesellschaft von Rohlingen geboren wird, bleibt mit sehr wenigen Ausnahmen ein Rohling; wenn er in einer von Priestern regierten Gesellschaft geboren wird, wird er ein Idiot, ein Scheinheiliger; in einer Räuberbande geboren, wird er wahrscheinlich ein Räuber; in der Bourgeoisie geboren, wird er ein Ausbeuter der Arbeit anderer sein; und wenn er das Unglück hat, geboren zu werden in der Gesellschaft der Halbgötter, welche diese Erde beherrschen, der Adeligen, Fürsten, Könige, wird er je nach dem Grade seiner Fähigkeiten, seiner Mittel und seiner Macht ein Verächter, ein Knechter des Menschentums, ein Tyrann sein. In allen diesen Fällen wird das Individuum, um zu seinem Menschentum zu gelangen, sich unweigerlich gegen die Gesellschaft, die es entstehen sah, empören müssen.

Aber ich wiederhole es, die Empörung des Individuums gegen die Gesellschaft ist eine weit schwierigere Sache als die gegen den Staat. Der Staat ist eine geschichtliche, vorübergehende Einrichtung, eine verschwindende Form der Gesellschaft, wie die Kirche, deren jüngerer Bruder er ist, aber er hat keineswegs den schicksalbestimmten und unwandelbaren Charakter der Gesellschaft, die jeder Entwicklung des Menschentums vorangeht, und die, vollkommen die Allmacht der natürlichen Gesetze, Wirkungen und Erscheinungen teilend, die Grundlage jeder menschlichen Existenz bildet. Der Mensch entsteht in der Gesellschaft, mindestens von dem Augenblick an, wo er den ersten Schritt zum Menschentum tat, wo er angefangen hat, ein menschliches, d.h. ein sprechendes und mehr oder weniger denkendes Wesen zu sein, wie die Ameise in ihrem Ameisenhaufen und wie die Biene im Bienenstock entsteht; er wählt sie nicht, er ist im Gegenteil ihr Produkt, er ist ebenso schicksalbestimmt den natürlichen Gesetzen, welche seine notwendige Entwicklung leiten, unterworfen, wie er allen anderen natürlichen Gesetzen gehorcht. Die Gesellschaft ist vor jedem Individuum da und überlebt es zugleich, wie die Natur; sie ist ewig wie die Natur, oder vielmehr: entstanden auf der Erde, wird sie ebensolange dauern, wie unsere Erde besteht. Eine radikale Empörung gegen die Gesellschaft wäre für den Menschen demnach ebenso unmöglich wie ein Auflehnen gegen die Natur, da ja die menschliche Gesellschaft nichts anderes ist, als die letzte große Offenbarung oder Schöpfung der Natur auf dieser Erde; und ein Individuum, das die Gesellschaft, d.h. die Natur im allgemeinen und im besonderen seine eigene in Frage stellen wollte, würde sich dadurch außerhalb aller Voraussetzungen einer wirklichen Existenz stellen, würde sich stürzen in das Nichts, in die unbedingte Leere, in die tote Abstraktion, in Gott. Man kann deshalb auch nicht fragen, ob die Gesellschaft ein Glück oder ein Übel sei, ebenso wie es unmöglich ist zu fragen, ob die Natur, das allumfassende, materielle, wirkliche, einzige, erhabene und unbedingte Wesen, ein Glück oder ein Übel sei; sie ist mehr als das; sie ist eine ungeheuere positive und unnahbare Tatsache, jedem Bewußtsein, jeder Idee, jeder geistigen und moralischen Wertung vorausgehend, sie ist die Grundlage, die Welt, in welcher, durch das Schicksal bestimmt, später sich das entwickelt, was wir das Glück und das Übel nennen.

Mit dem Staate ist es nicht so; ich zögere nicht zu sagen, daß der Staat das Übel ist, aber ein geschichtlich notwendiges, ebenso notwendig in der Vergangenheit wie es früher oder später seine vollständige Vernichtung sein wird, ebenso notwendig wie die anfängliche tierische Natur und die theologischen Verirrungen der Menschen. Der Staat ist aber keineswegs die Gesellschaft, er ist nur eine ebenso brutale wie abstrakte historische Form der Gesellschaft. Er entsteht in allen Ländern aus der Ehe der Willkür, der Räuberei und der Plünderung, aus dem Krieg und der Eroberung, kurz gesagt, mit den von der theologischen Phantasie der Völker nacheinander geschaffenen Göttern. Er war zu seinem Beginn und bleibt es heute noch: die göttliche Weihe der brutalen Gewalt und der triumphierenden Härte. Selbst in den am meisten demokratischen Ländern, wie in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und der Schweiz, ist er die regelmäßige Form des Vorrechts irgendeiner Minderheit und der tatsächlichen Knechtung der großen Mehrheit.

Die Empörung gegen den Staat ist viel leichter, weil in der Natur des Staates etwas zur Rebellion Aufreizendes liegt. Der Staat ist die Autorität, die Macht, das Prahlen und die Verdummung mit der Gewalt. Nicht sanft setzt er sich fest, er sucht nicht zu überzeugen: wenn er sich einmischt, tut er dies sehr ungern, denn seine Natur besteht nicht darin, zu überzeugen, sondern darin, Eindruck zu machen, zu erzwingen, soviel Mühe er sich auch geben mag, seine Natur als Verletzter des Willens der Menschen, als beständige Verneinung ihrer Freiheit zu maskieren. Selbst wenn er das Gute befiehlt, verdirbt und beschmutzt er es, gerade weil er es befiehlt, weil jeder Befehl die gerechte Empörung der Freiheit herausfordert, weil das Gute, wenn es befohlen wird, vom Standpunkt der wahren Moral, der menschlichen Moral aus, nicht von dem der göttlichen, vom Gesichtspunkt der menschlichen Achtung und Freiheit aus, das Übel wird. Die Freiheit, die Sittlichkeit und Würde des Menschen bestehen gerade darin, daß er das Gute tut, nicht weil es ihm befohlen wird, sondern weil er es begreift, weil er es will und liebt.

Die Gesellschaft drängt sich nicht formell, offiziell und autoritär auf, sie tut es auf natürlichem Wege, deshalb ist auch ihre Wirkung auf das Individuum unvergleichlich mächtiger als die des Staates. Sie schafft und formt alle Individuen, welche in ihrem Schoße entstehen und sich entwickeln. Langsam, vom ersten Tage ihres Seins bis zu ihrem Todestage, läßt sie ihre eigene materielle, geistige und moralische Natur durch sie hindurchgehen; sie individualisiert sich gewissermaßen in jedem von ihnen.

Das wirkliche menschliche Individuum ist so wenig ein universelles und abstraktes Wesen, daß jedes, von dem Augenblick an, wo es sich im Schoße seiner Mutter bildet, bestimmt und umschränkt ist durch eine Menge von Ursachen und Wirkungen materieller, geographischer, klimatischer, ethnographischer, hygienischer und deshalb ökonomischer Natur, welche eigentlich die ausschließlich seiner Familie, seiner Klasse und seiner Rasse eigentümliche materielle Natur ausmachen, und ebenso wie die Neigungen und Fähigkeiten der Menschen von der Gesamtheit aller jener äußeren oder physischen Einflüsse abhängen, ebenso kommt jeder in die Welt mit einer persönlichen Natur oder einem persönlichen Charakter, der durchaus materiell bestimmt ist. Außerdem bringt der Mensch, dank der relativ hohen Organisation seines Hirns, bei der Geburt, mit verschiedenen Graden allerdings, nicht angeborene Ideen und Gefühle, wie die Idealisten behaupten, sondern die zugleich materielle und formelle Fähigkeit mit zu fühlen, zu denken, zu sprechen und zu wollen.

Er bringt nur die Fähigkeit, Ideen zu formen und zu entwickeln, und wie ich eben sagte, eine Kraft ganz formeller Aktivität, ohne jeden Inhalt, mit sich. Wer gibt ihm seinen ersten Inhalt? Die Gesellschaft. Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, wie die ersten Begriffe und Ideen sich gebildet haben, deren Mehrzahl in den primitiven Gesellschaften natürlich sehr ungereimt waren. Alles, was wir mit voller Gewißheit sagen können, ist, daß sie vor allem nicht vereinzelt und freiwillig durch den auf geheimnisvolle Weise erleuchteten Geist gottbegnadeter Individuen geschaffen wurden, sondern durch die gemeinsame Arbeit, sehr oft allen Individuen, die Teile dieser Gesellschaft waren, unbewußt, deren hervorragendste Vertreter, die Männer von Genie, nur die treueste und glücklichste Ausprägung dessen haben geben können, alle Genies waren immer wie Voltaire: »Sie nahmen ihr Gut überall da, wo sie es fanden.«

Es ist also die gemeinsame geistige Arbeit der Gesellschaft, welche die ersten Ideen geschaffen hat. Diese Ideen waren zuerst nichts als einfache und natürliche, sehr unvollkommene Feststellungen natürlicher und sozialer Tatsadaen und alles weniger als verständnisvoll aus diesen Tatsachen gezogene Schlüsse. Das war der Anfang aller menschlichen Vorstellungen, Einfälle und Gedanken. Der Inhalt dieser Gedanken, weit entfernt davon, durch freiwillige Tätigkeit des Menschengeistes geschaffen worden zu sein, wurde ihm zuerst durch die wirkliche, äußere und innere Welt gegeben. Der Geist des Menschen, d.h. die ganz und gar organische und deshalb materielle Arbeit oder Tätigkeit seines Hirns, hervorgerufen durch äußere und innere Eindrücke, die seine Nerven passieren, fügt dazu nur eine ganz formelle Tätigkeit, die darin besteht, diese Eindrücke von Dingen und Tatsachen zu vergleichen und in richtigen oder falschen Systemen zusammenzufassen. Auf diese Art entstanden die ersten Ideen. Durch die Sprache gewannen diese Ideen oder vielmehr diese Einfälle an Genauigkeit und setzten sich fest, indem sie von einem Individuum auf das andere übergingen; so daß die individuellen Einfälle eines jeden zusammenstießen, sich gegenseitig kontrollierten, bestimmten und abänderten, um schließlich mehr oder weniger zu einem einzigen System zu verschmelzen und endlich das gemeinsame Bewußtsein, das gemeinsame Denken der Gesellschaft zu bilden. Diese von der Tradition von einer Generation auf die andere übertragenen Gedanken entwickeln sich immer mehr und mehr durch die Verstandesarbeit von Jahrhunderten und bilden das geistige und moralische Erbgut einer Gesellschaft, einer Klasse, eines Volkes.

Jede Generation findet an ihrer Wiege eine ganze Welt von Ideen, Einfällen und Empfindungen, welche sie als das Erbe der vergangenen Jahrhunderte empfängt. Diese Welt stellt sich dem neugeborenen Menschen zuerst nicht in ihrer idealen Form, als System der Vorstellungen und Ideen, als Religion, als Lehre dar; das Kind wäre weder fähig, es aufzunehmen, noch in dieser Form zu begreifen; aber sie stellt sich ihm dar als eine leibhaftige und wirkliche Welt, in den Personen als auch in den Dingen, welche es umgeben, die zu seinen Sinnen, durch alles, was es hört und sieht, vom ersten Tage seiner Geburt an spricht.

Denn die Ideen und Vorstellungen, welche zuerst nur die Produkte der wirklichen natürlichen und sozialen Tatsachen waren, in dem Sinne, daß sie die Spiegelung, das Zurückwerfen im menschlichen Gehirn waren, und die sozusagen ideale Wiedergabe dieser Tatsachen durch jenes absolut materielle Organ des menschlichen Gehirns, erwarben später, nachdem sie sich, wie ich eben beschrieben habe, festgesetzt hatten, in dem Bewußtsein, irgendeiner Gesellschaft die Macht ihrerseits wieder Ursachen neuer, nicht eigentlich natürlicher, sondern sozialer Tatsachen zu werden. Schließlich formen sie, sehr langsam allerdings, das menschliche Dasein, die Gewohnheiten und Einrichtungen, kurz alle Beziehungen der Menschen in der Gesellschaft um; durch ihre Ausprägung in den alltäglichsten Dingen des Lebens eines jeden werden sie für alle fühlbar und greifbar, sogar für die Kinder. Auf diese Weise durchdringen sie jede neue Generation von ihrer zartesten Kindheit, bis sie zum Mannesalter heranreift, wo eigentlich die Arbeit ihres eigenen Denkens anhebt, notwendig begleitet von neuer Kritik, und in sich selbst wie in der Gesellschaft, die sie umgibt, findet sie eine ganze Welt festgelegter Gedanken und Vorstellungen, welche ihr als Ausgangspunkt dienen und ihr gewissermaßen den ersten Stoff für ihre eigene geistige und moralische Arbeit liefern. Dieserart sind die überlieferten und allgemeinen Vorstellungen, welche die Metaphysiker fälschlicherweise angeborene Ideen nennen, weil sie getäuscht werden durch die ganz und gar unempfindliche und unmerkbare Art, mit der diese Ideen, von außen kommend, in das Bewußtsein der Kinder eindringen und sich einprägen, bevor sie zum Bewußtsein ihrer selbst gekommen sind.

Das sind die allgemeinen oder abstrakten Ideen über die Gottheit und die Seele, vollständig alberne Ideen, die aber unvermeidlich und schicksalbestimmt in der historischen Entwicklung des menschlichen Geistes sind, welcher nur sehr langsam im Laufe vieler jahrhunderte zur verstandesmäßigen und kritischen Erkenntnis seiner selbst gelangen kann, der immer vom Dummen ausgeht, um zur Wahrheit zu gelangen, von der Sklaverei, um die Freiheit zu erobern; gegen die, von der allgemeinen Unwissenheit und der Dummheit der Jahrhunderte, wie von dem wohlverstandenen Interesse der bevorrechteten Klassen sanktionierten Ideen, kann man selbst heute sich nicht offen und verständlich aussprechen, ohne einen beträchtlichen Teil der Volksmassen zu revolutionieren und ohne Gefahr zu laufen, von bourgeoiser Scheinheiligkeit geschmäht zu werden. Neben diesen ganz abstrakten Ideen, und immer in sehr enger Verbindung mit ihnen, findet die Jugend in der Gesellschaft und, infolge des allmächtigen auf ihre Kindheit ausgeübten Einflusses, in sich selbst eine Menge anderer viel bestimmterer Ideen und Vorstellungen, die das wirkliche Leben, ihr Alltagsleben, in höchstem Maße angehen. Das sind die Vorstellungen über die Natur, über den Menschen, über die Gerechtigkeit, über die Rechte und Pflichten der Individuen und Klassen, über die sozialen Erfordernisse, über die Familie, das Eigentum, den Staat und viele andere noch, welche die gegenseitigen Beziehungen der Menschen regeln. Alle diese Ideen, die sie schon zu Beginn ihres Lebens in den Dingen und Menschen verwirklicht sieht, die sich ihrem eigenen Geist durch Erziehung und Unterweisung, welche sie erhält, einprägen, bevor sie zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt ist, findet sie später geweiht, erklärt ausgelegt von den Theorien, welche das allgemeine Bewußtsein oder das gemeinsame Vorurteil ausdrücken und von all den religiösen, politischen und ökonomischen Einrichtungen der Gesellschaft, deren Teil sie ist. Sie ist derart durchtränkt davon, daß sie, ob persönlich interessiert daran, sie zu verteidigen oder nicht, unfreiwillig durch alle ihre materiellen, geistigen und moralischen Gewohnheiten an ihr teilhat.

Nicht über die allmähliche Wirkung, welche diese Ideen, die das kollektive Bewußtsein der Gesellschaft ausdrücken, auf die Masse der Menschen ausüben, muß man sich wundern, sondern im Gegenteil darüber, daß in dieser Masse sich Menschen finden, die den Gedanken, den Willen und den Mut haben, sie zu bekämpfen; denn der Druck der Gesellschaft auf das Individuum ist ein ungeheuerer, und es gibt keinen noch so starken Charakter, keine noch so mächtige Intelligenz, die sagen könnten, sie seien gesichert vor dem ebenso despotischen wie unwiderstehlichen Einfluß der Gesellschaft.

Nichts beweist den sozialen Charakter des Menschen mehr als dieser Einfluß. Man kann sagen, daß das kollektive Bewußtsein irgendeiner Gesellschaft, ebensowohl verwirklicht in den großen öffentlidaen Einrichtungen wie in allen Einzelheiten des Privatlebens und allen ihren Theorien als Grundlage dienend, eine Art Milieu, eine Art geistiger und moralischer Atmosphäre bildet, welche schädlich, aber zugleich zur Existenz ihrer Glieder unbedingt nötig ist. Sie beherrscht sie, unterwirft sie zugleich, und verknüpft sie untereinander durch gewohnheitsmäßige, von ihr bestimmte Beziehungen; sie flößt jedem Sicherheit und Gewißheit ein und schafft für alle die erste Voraussetzung der Existenz unter der großen Masse, die Banalität, den Gemeinplatz, die Gewohnheit ...

Welches sind die Ursachen dieser erschreckenden Langsamkeit, die so nahe an Stagnation grenzt, und die, wie ich sagte, das größte Unglück der Menschheit bildet? Diese Ursachen sind vielfacher Art. Unter ihnen ist zweifellos eine der größten die Unwissenheit der Massen. Allgemein und systematisch jeder wissenschaftlichen Erziehung beraubt, dank der väterlichen Sorge aller Regierungen und privilegierten Klassen, die es nützlich finden, sie so lange wie möglich in der Unwissenheit, in der Pietät, im Glauben zu erhalten, drei Dinge, die so ziemlich dasselbe ausdrücken, wissen sie auch nichts von dem Vorhandensein und dem Gebrauch jenes Werkzeugs geistiger Befreiung: der Kritik, ohne die es keine vollkommene moralische und soziale Revolution geben kann. Die Massen, die ein Interesse daran haben, sich gegen die Ordnung der gesetzten Dinge zu empören, werden davon noch mehr oder weniger zurückgehalten durch die Religion ihrer Väter, dieser Vorkehrung der privilegierten Klassen ...

Zweifellos gibt es in jeder Klasse und in jeder Partei eine mehr oder weniger zahlreiche Gruppe von intelligenten, kühnen und gewissenlosen Ausbeutern, welche man die starken Menschen nennt, die, frei von allen geistigen und moralischen Vorurteilen, sich aller Mittel bedienen, um ihr Ziel zu erreichen. Aber diese ausgezeichneten Menschen bilden selbst in den verdorbensten Klassen nur eine kleine Minderheit; die Mehrzahl ist ebenso hammelhaft wie im Volke auch. Sie unterwirft sich natürlich dem Einfluß ihrer Interessen, die ihr aus der Reaktion eine Daseinsbedingung schaffen. Es ist aber unmöglich zuzugeben, daß sie bei der Reaktion nur einem egoistischen Gefühle folgen. Eine große Zahl von Menschen, selbst ziemlich verdorbene, könnte, wenn sie gemeinsam handelt, nicht so verdorben sein. Es gibt in jeder zahlreichen Gemeinschaft und mit größerem Recht in den traditionellen und historischen Gemeinschaften, wie es die Klassen sind, und wären sie auch soweit gekommen, dem Interesse und dem Rechte aller unheilbringend und zuwiderlaufend zu sein, eine Moral, eine Religion, irgendeinen Glauben, die zweifelsohne sehr wenig vernünftig, öfters äußerst lächerlich und beschränkt sind, die aber die unentbehrliche moralische Voraussetzung ihres Daseins sind.

Der allgemeine und fundamentale Irrtum aller Idealisten, der allerdings eine sehr logische Folge ihres ganzen Systems ist, ist der, die Grundlage der Moral im isolierten Individuum zu suchen, während sie sich nur finden kann und findet in den vereinigten Individuen. Um dies zu beweisen, müssen wir ein für allemal mit dem vereinzelten oder absoluten Individuum der Idealisten aufräumen.

Dieses einsame und abstrakte Individuum ist eine Fiktion, gleich der Gottes, beide sind gleichzeitig geschaffen durch die glaubende Phantasie oder durch den kindlichen, nicht denkenden, nicht auf Erfahrung gegründeten und kritiklosen, phantasierenden Verstand der Völker, um später von den theologischen und metaphysisdien Theorien der idealistischen Denker entwickelt, erklärt und zum Dogma erhoben zu werden.

Alle beide stellen ein Abstraktum dar, bar jedes Inhalts und mit der Wirklichkeit unvereinbar, und laufen hinaus auf das Nichts. Ich glaube die Unsittlichkeit der Gottes-Fiktion bewiesen zu haben ... jetzt will ich die ebenso alberne wie unsittliche Fiktion von jenem absoluten oder abstrakten Menschen, welche die Moralisten der idealistischen Schule als Grundlage ihrer politischen und sozialen Theorien nehmen, analysieren. Es wird mir nicht schwerfallen zu beweisen, daß das menschliche Individuum, welches sie preisen und lieben, ein vollkommen unsittliches Wesen ist. Es ist der personifizierte Egoismus, das antisoziale Wesen par excellence. Da es mit einer unsterblichen Seele begabt ist, ist es in sich unendlich und vollkommen, weshalb es auch niemanden, selbst Gott nicht, braucht, um so weniger aber andere Menschen. Logischerweise dürfte es auf keinen Fall die Existenz eines gleichen oder höheren, ebenso unsterblichen und unendlichen, oder noch mehr unsterblichen und unendlichen Wesens ertragen, sei es neben oder über ihm. Es müßte der einzige Mensch auf Erden, was sage ich, es müßte das einzige Wesen der Welt sein. Denn das Unendliche, das etwas, was es auch sei, außerhalb seiner findet, findet eine Grenze, ist nicht mehr unendlidch zwei unendliche Wesen, die sich gegenüberstehen, heben sich auf ...

Das Dasein eines persönlichen Gottes und die Unsterblichkeit der Seele sind zwei unzertrennliche Fiktionen, sind die beiden Pole des gleichen unbedingten Unsinns, von denen die eine die andere herausfordert und vergeblich ihre Erklärung, ihr Recht zu sein, in der anderen sucht. Ebenso wie der augenscheinliche Widerspruch, der besteht zwischen der angenommenen Unendlichkeit jedes Menschen und der konkreten Tatsache der Existenz vieler Menschen, also vieler unendlicher Wesen, eines außerhalb des anderen, die sich notwendig begrenzen; für ihre Sterblichkeit und für ihre Unsterblichkeit, für ihre natürliche und ihre unbedingte gegenseitige Abhängigkeit haben die Idealisten nur eine einzige Antwort: Gott; wem diese Antwort nichts erklärt, wen sie nicht befriedigt, der ist um so schlimmer dran. Man kann ihm keine andere geben ...

Was wir hier zu betrachten haben, sind die moralischen Konsequenzen der Theorie. Stellen wir zunächst fest, daß trotz ihres sozialen Anscheins sie eine reine und ausschließliche individuelle Moral ist, wonach es uns nicht schwerfallen wird zu beweisen, daß sie, weil sie diesen vorherrschenden Charakter hat, in der Tat die Verneinung jeder Moral ist. In dieser Theorie findet sich die unsterbliche und individuelle Seele jedes Menschen, unendlich und absolut vollkommen durch ihr Wesen, und deshalb auch keines anderen Wesens, noch irgendwelcher Beziehungen zu anderen Wesen, um sich zu vervollkommnen, bedürfend, zuerst wie eingekerkert und vernichtet in einem sterblichen Leib. In diesem Zustand des Vernichtetseins, dessen Ursachen uns zweifellos ewig verborgen sein werden, weil der menschliche Geist unfähig ist, sie zu erklären, und weil ihre Erklärung nur in dem absoluten Geheimnis, in Gott liegt; zurückversetzt in jenen Zustand der Körperlichkeit und unbedingten Abhängigkeit von der äußeren Welt, bedarf der Mensch der Gesellschaft, um aufzuwachen, um sich zu erinnern, um sich seiner selbst und der göttlichen Prinzipien bewußt zu werden, welche von Gott selbst von aller Ewigkeit her in seinen Schoß gelegt wurden und die eigentlich sein Wesen ausmachen. Das sind der sozialistische Charakter und die sozialistischen Teile dieser Theorie. Die Beziehungen von Mensch zu Mensch und vom einzelnen zu allen anderen, das soziale Leben mit einem Wort, erscheint hier nur als ein notwendiges Mittel der Entwicklung, als eine Übergangsbrücke, nicht als Ziel; das absolute und letzte Ziel jedes Individuums ist es selbst, außerhalb aller anderen menschlichen Individuen; das ist es selbst, in Gegenwart der absoluten Individualität, vor Gott. Es bedurfte der Menschen, um aus seinem irdischen Nichts herauszukommen, um sich wiederzufinden, um sein unsterbliches Wesen zu erfassen; wenn es aber einmal das wiedergefunden hat, schöpft es sein Leben nur mehr aus sich selbst, kehrt ihnen den Rücken und bleibt in der Betrachtung der mystischen Absurdität, in der Anbetung Gottes versunken.

Wenn es dann noch Beziehungen zu den Menschen unterhält, so geschieht das nicht eines moralischen Bedürfnisses wegen, und infolgedessen auch nicht aus Liebe zu ihnen, weil man liebt, was man braucht, und wer einen braucht; der Mensch, welcher sein unendliches und unsterbliches Wesen wiedergefunden hat, bedarf, da er in sich selbst vollkommen ist, niemanden, außer Gott, der durch ein Geheimnis, das nur die Metaphysiker verstehen, eine noch unendlichere Unendlichkeit und eine noch unsterblichere Unsterblichkeit als die der Menschen zu besitzen scheint; von nun an durch die göttliche Allwissenheit und Allmacht getragen, kann das in sich gesammelte und freie Individuum kein Bedürfnis nach anderen Menschen mehr haben. Wenn es also noch fortfährt, mit ihnen Beziehungen zu unterhalten, so kann das nur aus zwei Gründen geschehen.

Zunächst hat es, solange es von seinem sterblichen Körper umgeben ist, das Bedürfnis zu essen, sich zu schützen, sich zu bekleiden, sich gegen die äußere Natur wie gegen die Angriffe der Menschen zu sichern, als zivilisierter Mensch hat es außerdem noch eine Menge materieller Dinge nötig, die den Wohlstand, die Behaglichkeit, den Luxus ausmachen und von denen mehrere unseren Vätern unbekannt waren, heute aber jedem als von zwingendster Notwendigkeit erscheinen ... Diese Dinge können aber nur durch die gemeinsame Arbeit der Menschen erzeugt werden: Die Arbeit eines einzelnen Menschen wäre außerstande, auch nur den millionsten Teil zu produzieren. Daraus ergibt sich, daß das im Besitze seiner unsterblichen Seele und seiner inneren, von der Gesellschaftunabhängigen Freiheit sich befindliche Individuum, der moderne Heilige, materiell dieser Gesellschaft bedarf, ohne vom moralischen Gesichtspunkt aus das mindeste Bedürfnis nach ihr zu haben.

Welchen Namen soll man aber diesen Beziehungen geben, die nur durch ausschließlich materielle Bedürfnisse veranlaßt sind, die gleichzeitig von keinem moralischen Bedürfnis sanktioniert und gestützt sind? Es gibt augenscheinlich nur einen: Ausbeutung. Und in der Tat, in der metaphysischen Moral und in der bürgerlichen Gesellschaft, welche bekanntlich diese Moral zur Grundlage hat, wird jeder notwendig ein Ausbeuter der Gesellschaft, d.h. aller, und der Staat unter seinen verschiedenen Formen, von dem demokratischen bis zur absolutesten Monarchie und bis zur auf das freieste Wahlrecht gegründeten demokratischen Republik, ist nichts anderes als der Regulator und der Bürge dieser gegenseitigen Ausbeutung.

In der auf die bürgerliche Moral gegründeten Gesellschaft erscheint jedes Individuum durch den Zwang oder die Logik seiner Stellung als ein Ausbeuter der anderen, weil es materiell aller und moralisch niemandes bedarf. Deshalb betrachtet jeder, wenn er die soziale Solidarität flieht, sie als eine der vollen Freiheit seiner Seele angelegte Fessel, während er sie als notwendiges Mittel zur Unterhaltung seines Leibes sucht, er betrachtet sie nur vom Gesichtspunkt ihrer materiellen Nützlichkeit aus und bringt ihr, gibt ihr nur, was unbedingt nötig ist, nicht um das Recht, sondern um die Macht zu haben, sich dieser Nützlichkeit für sich selbst zu versichern. Jeder betrachtet sie mit einem Wort als Ausbeuter. Wenn aber alle gleichmäßig Ausbeuter sind, so muß es glückliche und unglückliche geben, weil jede Ausbeutung Ausgebeutete voraussetzt. Es gibt also Ausbeuter, die zu gleicher Zeit Macht haben und es in Wirklichkeit sind; und andere, die große Masse, das Volk, welches es nur an Macht und an Wollen ist, nicht aber in Wirklichkeit. Tatsächlich begreift die Masse die ewig Ausgebeuteten. Die metaphysische oder bourgeoise Moral läuft ja in der sozialen Ökonomie hinaus auf einen ewigen Krieg bis aufs Messer zwischen allen Individuen, auf einen erbitterten Krieg, in dem die meisten umkommen, um den Triumph und den Wohlstand der Minderheit sicherzustellen.

Der zweite Grund, welcher ein Individuum, das zum vollkommenen Besitz seiner selbst gelangt ist, dazu führen kann, seine Beziehungen zu anderen Menschen fortzusetzen, ist der Wunsch, Gott zu gefallen, und die Pflicht, sein zweites Gebot zu erfüllen; das erste war, Gott mehr als sich selbst zu lieben, das zweite, die Menschen, die Nächsten zu lieben wie sich selbst und ihnen aus Liebe zu Gott alles Gute zu tun, was er wünscht, daß man ihm tue ...

Die wahre, wirkliche Liebe, als Ausdruck eines gegenseitigen und gleichen Bedürfens, kann nur zwischen Gleichen bestehen. Die Liebe des Höheren zum Niederen ist Zerschmetterung, Bedrückung, Verachtung, ist der, über die auf die Erniedrigung der anderen, triumphierende Egoismus und Hochmut, die triumphierende Eitelkeit. Die Liebe des Niederen zum Höheren bedeutet die Demütigung, die Schrecken und die Erwartungen des Sklaven, der von seinem Herrn das Glück oder das Unglück zu erwarten hat.

Das ist der Charakter der sogenannten Liebe Gottes zu den Menschen und der Menschen zu Gott. Das ist der Despotismus des einen und die Sklaverei der anderen.

Was bedeuten also jene Worte: Liebe die Menschen und tue ihnen Gutes aus Liebe zu Gott? Das heißt sie so behandeln, wie Gott wünscht, daß sie behandelt werden; wie will er sie behandelt wissen? Als Sklaven. Gott ist durch seine Natur gezwungen, sie so zu behandeln. Da er selbst der absolute Herr ist, ist er gezwungen, sie als absolute Sklaven zu betrachten, und wenn er sie als solche betrachtet, so kann er sie auch nur als solche behandeln. Um sie zu befreien, gibt es nur ein Mittel, das wäre: abzudanken, sich selbst zu vernichten und zu verschwinden. Das hieße aber von seiner Allmacht zuviel verlangen. Er kann wohl, wie es das Evangelium erzählt, um die seltsame Liebe, welche er zu den Menschen empfindet, mit seiner ewigen Gerechtigkeit zu versöhnen, seinen einzigen Sohn opfern; aber abdanken, sich aus Liebe zu den Menschen vernichten, wird er nie, mindestens wenn man ihn nicht durch wissenschaftliche Kritik dazu zwingt. Solange die leichtgläubige Phantasie des Menschen ihm gestattet zu existieren, wird er immer der absolute Herrscher, der Herr von Sklaven sein. Es ist also klar, daß die Menschen wie Gott behandeln nichts anderes heißt, als sie wie Sklaven behandeln. Die Liebe der Menschen, wie Gott sie will, ist die Liebe ihrer Sklaverei. Ich, durch Gott als unsterblich und vollkommenes Individuum geschaffen, der ich mich gerade deshalb frei fühle, weil ich der Sklave Gottes bin, bedarf keines Menschen, um meine Seligkeit und meine vollkommenste geistige und moralische Existenz zu erlangen, sondern ich halte meine Beziehungen zu ihnen nur aufrecht, um Gott zu gehorchen und liebe sie nur aus Liebe zu Gott, behandle sie wie Gott, ich will, daß sie Sklaven Gottes sind, wie ich auch. Wenn es dem höchsten Herrn gefällt, mich auszuerwählen, um seinem heiligen Willen auf der Erde Geltung zu verschaffen, so werde ich sie dazu zu zwingen wissen. Das ist der wahre Charakter dessen, was die Gottesanbeter aufrichtig und ernst ihre Menschenliebe nennen. Es ist nicht so sehr die Ergebung derjenigen, die lieben, als das erzwungene Opfer derjenigen, welche die Objekte oder vielmehr die Opfer dieser Liebe sind. Es ist nicht ihre Befreiung, es ist ihre Knechtung zum größten Ruhm Gottes. Und auf diese Weise verwandelt sich die göttliche Autorität in menschliche, so gründet die Kirche den Staat ...

Die sakramentale Phrase für die Beherrschung der Volksmassen, die ohne Zweifel zu ihrem Heile geschieht, zum Heile ihrer Seelen, wenn auch nicht zu dem ihrer Körper, ist in den theokratischen und aristokratischen Staaten für die Heiligen und Edlen und in den doktrinären, liberalen, ja sogar republikanischen und auf das allgemeine Stimmrecht gegründeten, für die Gebildeten und Reichen, dieselbe: »Alles für das Volk, nichts durch das Volk.« Was bedeutet, daß die Heiligen, die Edlen oder die, sei es vom Gesichtspunkt der wissenschaftlich entwickelten Intelligenz oder dem des Reichtums aus, Bevorrechteten, dem Ideal oder Gott, sagen die einen, der Vernunft, der Gerechtigkeit und der wahren Freiheit, sagen die anderen, viel näher sind als die Volksmassen und die heilige und edle Aufgabe haben, sie dazu zu führen. Während sie ihre Interessen opfern und ihre eigenen Geschäfte vernachlässigen, müssen sie sich dem Glück ihres jüngeren Bruders, des Volkes widmen. Das Regieren ist kein Vergnügen, es ist eine mühsame Pflicht: Man sucht in ihr weder die Befriedigung seines Ehrgeizes, seiner Eitelkeit, noch seiner persönlichen Habsucht, sondern nur die Gelegenheit, sich dem Glücke aller zu opfern. Zweifellos ist deshalb die Zahl der Bewerber um öffentliche Ämter so gering, deshalb nehmen Könige und Minister, große und kleine Beamte die Macht nur widerstrebenden Herzens an ...

Ausbeutung und Regieren, die erste gibt die Mittel zum Regieren und bildet die notwendige Grundlage wie das Ziel jeder Regierung, die ihrerseits wieder die Macht auszubeuten garantiert und durch Gesetze schützt; beide sind die unzertrennlichen Pole all dessen, was man Politik nennt. Seit dem Beginn der Geschichte haben sie eigentlich das wahre Leben der Staaten, theokratischer, aristokratischer, monarchischer und selbst demokratischer, ausgemacht. Früher und bis zur großen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts war ihre enge Verbindung durch religiöse, biedere und ritterliche Fiktion maskiert; aber seit die brutale Faust der Bourgeoisie all diese Schleier zerrissen, seit ihr revolutionärer Hauch all diese eitlen Einbildungen zerstörte, hinter denen die Kirche und der Staat, die Theokratie, die Monarchie und die Aristokratie so lange ihre historischen Schändlichkeiten vollführen konnten; seit die Bourgeoisie, müde, Amboß zu sein, ihrerseits Hammer wurde, kurz, seit sie den modernen Staat gründete, ist diese unselige Verbindung für alle eine enthüllte und sogar unbestrittene Wahrheit. Die Ausbeutung ist der sichtbare Körper, die Regierung ist die Seele des bourgeoisen Regimes. Und wie wir soeben gesehen haben, ist die eine wie die andere in dieser so engen Verbindung, sowohl vom theoretischen als auch vom praktischen Gesichtspunkt aus, der notwendige und getreue Ausdruck des metaphysischen Idealismus, die unvermeidliche Folge jener bürgerlichen Doktrin, welche die Freiheit und die Moral der Individuen außerhalb der sozialen Solidarität sucht. Diese Doktrin läuft hinaus auf das ausbeutende Regieren einer kleinen Anzahl Glücklicher und Auserwählter, auf die Sklaverei der großen Mehrheit, für alle aber bedeutet sie die Verneinung jeder Sittlichkeit und Freiheit.

Anmerkung:
(1) Der (reißerische) Titel stammt nicht von Bakunin, sondern entspricht dem Titel der für die Digitalisierung genutzten Quelle.

Quellennachweis: Bei dem Text handelt es sich um die letzten Seiten von Bakunins "Gott und der Staat". Erschienen ist diese Übersetzung von E. Rholfs in den Gesammelten Werken (3 Bände, Verlag der Syndikalist 1921 - 1924), hier als formal modernisierte Fassung aus J. Hegner, Michail Bakunin: Philosophie der Tat, Köln 1968.

Aus: Rammstedt, Otthein (Hg.): Anarchismus. Grundtexte zur Theorie und Praxis der Gewalt, Westdeutscher Verlag 1969. Gescannt und bearbeitet von www.anarchismus.at