Münchner Räterepublik - Gustav Landauers Kulturprogramm (1920)

November 1918. Die deutsche Front bricht zusammen. Das deutsche Volk erhebt sich. Freiheitskrieg? Geistiges Zentrum ist Bayerns Hauptstadt. Kurt Eisner, eben von den Massen aus dem Gefängnis geholt, leitet hier die Bewegung, Eisner, der mehr als Politiker ist, der alles verstehende, nach Schönheit strebende Künstler. Ihm zu helfen, eilt Gustav Landauer aus Düsseldorf nach München und schafft hier gemeinsam mit Eisner die Grundlagen für eine neue Ordnung. Er hatte die Revolution vorausgesehen, aber nicht geglaubt, daß sie so käme. Wie man in Berlin Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht an der Teilnahme am Rätekongreß hinderte, so suchte man auch in München dem „landfremden“ Gustav Landauer das Recht auf Mitschaffung neuer Zustände zu wehren. Vergebens. Um Landauer sammeln sich die, die auf kein Dogma schwören.

Eisners Ermordung im Februar 1919. Gustav Landauer sprach dem Freunde schmerzliche Abschiedsworte. In dem Chaos, das jetzt in Bayern entstand, jetzt, nachdem der von den Massen geliebte Führer, der Hasser aller Gewaltmittel von der Kugel des Grafen Arco getötet worden war, war Landauer prädestiniert zu seinem Nachfolger.

Von Augsburg, hier zuerst klar geformt, drang der Massenwille, eine Räterepublik zu schaffen, nach München. Die beiden sozialdemokratischen Parteien traten dafür ein. Auch Gustav Landauer. Vergebens warnte — ein lichter Prophet — Levine, warnten die Kommunisten. Am ersten Aprilmontag morgens um 6 Uhr rief Landauer im Wittelsbacher Palast die Räterepublik aus. Am letzten Tage derselben Woche noch wurde sie gestürzt. Am gleichen Abend übernahmen die Kommunisten auf Wunsch der revolutionären Arbeiterschaft die Regierung. An der Spitze stand ein Viermännerkollegium. Führend war Levine. Landauer hatte die Herrschaft des Geistes gekündet. Jetzt wurde eine rote Armee aufgestellt. Gustav Landauer erklärte sich zur Mitarbeit bereit. In dem Münchener Mitteilungsblatt vom 16. April (dem amtlieben Organ der neuen Regierung, der einzigen damals erscheinenden Zeitung) schrieb er: „Durch das tatkräftige Eingreifen des Proletariats in München ist die Räterepublik vor dem frechen Putschversuch der Gegenrevolution gerettet worden. Die Umgestaltung, die sich anschloß, erkenne ich an und begrüße ich. Der alte Zentralrat existiert nicht mehr; dem Aktionsausschuß stelle ich meine Kraft, wo immer man mich brauchen kann, zur Verfügung. Gustav Landauer.“

Aber zwischen Landauer und Levine lag Unüberbrückbares. Jeder verkörperte eine andere Welt: Landauer, der gütige Weltverbesserer, der Prophet; nach freiwilliger Hingabe rufend, Gemeinschaft des Geistes fordernd, der Marx den Antimarx entgegensetzte; Levine, der starre große Dogmatiker, der nach Marxschen ehernen, ökonomisch-materialistischen Thesen die Forderungen der Zeit erfaßte und — wie die Zukunft zeigte — richtig erkannte. Einig im Ziel war gemeinsames Wirken unmöglich. Jeder mußte seinen Weg des Leidens gehen. Von Februar an trat ich Landauer persönlich nahe. Zur Zeit der Levineschen Räterepublik suchte ich zu vermitteln, ich, der Kommunist und Verehrer Landauers. Erst nach heißem Bemühen erlangte ich die Einwilligung, mit Landauer ein Programm für die Neuordnung des Kulturwesens auszuarbeiten. Täglich berieten wir zusammen. Über das Prinzipielle waren wir einig, den Einzelheiten gaben wir einander nach. Das von uns aufgestellte Programm (Teil 1) legte ich Levine vor.

Dazu gab ich Erläuterungen (wenig verändert in Teil 2), wobei es dahingestellt bleiben muß, ob Landauer immer mit meiner Auffassung einverstanden gewesen wäre. Levine lehnte das Programm ab, da es ihm zu sehr im hergebrachten, bürgerlichen zu haften schien, und nicht prinzipiell neue Richtlinien gab. Ich habe in Teil 2 des Öfteren auf Sowjetrußland hingewiesen, um das unberechtigte dieser Kritik zu zeigen. Mir scheint, die Gegensätzlichkeit der Naturen Landauer und Levine erklärt die Ablehnung des Programmes, nicht sei n Inhalt. Es wurden also keine Schritte zur Realisierung des Planes unternommen. Auch die politische Konstellation, die brutale Gewalt von außen, hätte es gehindert. Wenn ich unser Programm doch der Öffentlichkeit unterbreite, so geschieht es nicht nur weil es Landauers letzte Arbeit ist, sondern auch weil ihm ein historisches Interesse nicht abgesprochen werden kann, und weil es auch heute noch praktischen Wert hat, vielleicht nur zum Vergleich mit dem, was im sozialistischen Deutschland geschieht.

‚Die Freunde Landauers werden hier das nötige über die Presse vermissen, zumal er selbst die Presse als wichtig ansah, Sie wurde zu jener Zeit vom Propagandabüro verwaltet und kam daher zunächst für eine Neuordnung nicht in Frage. Wie sich im übrigen Landauer die Neugestaltung der Presse dachte, das zeigen die Nummern der „Münchener Neusten Nachrichten“, die während der Landauerschen Regierung erschienen, und für die er die Verantwortung trägt. Selbstverständlich liegt da erst der Beginn einer Reform vor, nicht die Erfüllung. Seine Absicht, alles was er in diesen acht Tagen . geschrieben hatte, zu sammeln, wird vielleicht später von seinen Freunden erfüllt.

Wenn in den Ausführungen nur weniges über die Akademien steht, so erklärt sich dies ebenfalls daraus, dass diese Frage als weniger aktuell nicht gleich besprochen wurde. Man halte daran fest, daß dies ein Arbeitsprogramm ist, das sofort die praktische Realisierung einsetzen sollte.

Den Stürmern, den Erneuerern des geistigen Deutschlands wird vieles von dem, was hier steht, banal vorkommen, zumal gemessen an Landauers früheren Arbeiten. Von ihm erwartet man Grundlegendes, Neues, Metaphysisches. Darum handelt es sich hier aber gar nicht. Hier wird die Idee materialisiert, also gleichsam heruntergezogen. Hier soll gezeigt werden, was im April 1919 unter den gegebenen wirtschaftlich-politischen Zuständen in Bayern hätte geleistet werden können. Der Kulturminister hat eine andere Aufgabe als der freie Schriftsteller, als der oppositionelle Politiker. Je größer sein Gedankenwurf ist, um so größer erscheinen seine (temporären) Konzessionen bei der praktischen Durchführung. Dieses tragische Schicksal teilt .Landauer mit allen Führern, die zur Macht gelangen. Engels schreibt über Thomas Münzer (im deutschen Bauernkrieg):

„Es ist das schlimmste, was dem Führer einer extremen Partei widerfahren kann, wenn er gezwungen wird, in einer Epoche die Regierung zu übernehmen, wo die Bewegung noch nicht reif ist für die Herrschaft der Klasse, die er vertritt und für die Durchführung der Maßregeln, die die Herrschaft dieser Klasse erfordert. Was er tun kann, hängt nicht von seinem Willen ab, sondern von der Höhe, auf die der Gegensatz der verschiedenen Klassen getrieben ist, und von dem Entwicklungsgrad der materiellen Existenzbedingungen, der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, auf dem der jedesmalige Entwicklungsgrad der Klassengegensätze beruht. Was er tun soll, was seine Partei von ihm verlangt, hängt wieder nicht von ihm ab, aber auch nicht von dem Entwicklungsgrad des Klassenkampfs und seiner Bedingungen: er ist gebunden an seine bisherigen Doktrinen und Forderungen… Er findet sich so notwendigerweise in einem unlösbaren Dilemma; was er tun kann, widerspricht seinem ganzen bisherigen Auftreten, seinen Prinzipien und den unmittelbaren Interessen seiner Partei; und was er tun soll, ist nicht durchzuführen. Er ist mit einem Wort gezwungen, nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herrschaft die Bewegung gerade reif ist.“

Dies erklärt unser Programm. Und nur so darf es betrachtet und gewertet werden.

Das Programm

A Staat und Kirche

  1. Sofortige völlige Trennung.
  2. Die Kirche bleibt einstweilen im Besitze ihres Vermögens.
  3. Die Kirchen sind im Prinzip Eigentum der politischen Gemeinde.
  4. Die charitativen Einrichtungen bleiben ihrem Zweck erhalten.
  5. Prozessionen werden wie sonstige Umzüge behandelt.


B. Kunst

  1. Architektur: „Die neue Ära der Menschheitsgeschichte hat in den Monumenten und öffentlichen Gebäuden, die von jetzt ab errichtet werden, ihren Ausdruck zu finden.“ (Gustav . Landauer). Staatsaufträge. Malerei und Plastik sind in die Architektur einzugliedern.
  2. Malerei und Plastik. Neugründung von Museen. Staatsankäufe. Staatsgebäude für Ausstellungen. Wanderausstellungen.
  3. Theater.

a) National-Theater. Freier Eintritt. Kontrolle des Spielplans und der Spielart durch eine Akademie.
b) Privat-Theater. Korporativer Charakter. Große Macht des gewählten Leiters.


C. Schule

  1. Einheitsschule. 7.—13. Lebensjahr. Betonung von Zeichnen und Turnen. Fakultative Auswahl der Fächer. Keine Schulbank. Neue Lehrbücher. Privatschulen gestattet, wenn sie dasselbe Minimum geben wie die Staatsschule.
  2. Nach der Einheitsschule entweder praktische Betätigung mit Fortbildungsschule, oder:
  3. Lebensgemeinschaft vom 13.— 15. Jahre (Schüler — Lehre — Meister). Oder:
  4. Mittelschule.
  5. Hochschule. Streichung der theologischen und juristischen Fakultät mit Ausnahme der Geschichte und Philosophie. Abtrennung einer medizinischen Hochschule, einer philologischen und einer physikalisch-chemisch-naturwissenschaftlichen. Höchste Fakultät ist die philosophische.

Erläuterungen zum Programm

Am klarsten liegen die Forderungen in bezug auf Trennung von Staat und Kirche. Handelt es sich doch hier um ein aus der Tradition des liberalen Programmes übernommenes Verlangen, das bereits in manchem bürgerlichen Staat durchgeführt ist. Die geistliche Schulaufsicht, im 2. Jahr der „Revolution“ noch in Preußen-Deutschland ein Streitobjekt, war sogar schon in den Schulen des Philantropismus (in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts) abgeschafft. Der Kampf gegen die offizielle Kirchenreligion entspringt der Erkennung, daß dieser Kult der heutigen Gesellschaft nicht mehr entspricht, sowohl in seinen Formen, als auch in seiner Ethik. „Dieser Geist ist ein Ungeist; hat weder Beziehungen zur Wahrheit noch zum Leben. Wenn etwas beweisbar falsch ist, so sind es diese Vorstellungen allesamt.“ Man kann sich aber wohl vorstellen, daß eine Gemeinde im Landauerschen Sinne nicht nur einen den Menschen genehmen, sondern ihnen sogar notwendigen Kult findet, wie es die Mysterien in Griechenland waren und die christlichen Religionsformen in den ersten Jahrhunderten.

Sicher ist es aber, daß aus der heutigen Kirchenreligion dieser Kult nicht entstehen kann. Der heutige Staat hat also kein Interesse mehr, die Trennung hintanzuhalten. Man darf dabei aber nicht übersehen, daß jede schart vorgenommene Trennung auch Gefahr für den Staat in sich birgt. Wird der Religionsunterricht von der Schule verwiesen, so werden die Eltern ihren Kindern von der Kirchengemeinde den Unterricht geben lassen, d. h. die Kinder erhalten einen Unterricht, auf den der Staat dann keinen Einfluß mehr ausübt. Diese Gefahr ist sicherlich nicht zu unterschätzen. Sie kann und muß durch den Moral- und Geschichtsunterricht, sowie durch eine selbständiges Denken erzielende Erziehung bekämpft werden. Es schadet gar nichts, wenn schon das Kind Probleme sieht und zu zweifeln lernt. Ein Verbot des Religionsunterrichtes der heutigen Staatskirche kommt wohl praktisch noch nicht in Frage. Wohl aber muß der Staat bereits die Kirche als schädlich bekämpfen. Die heutige Ausübung der kirchlichen Religion ist „Opium“, das „das Volk vergiftete und vergiftet“ (Bucharin).

Die Entziehungskur dieses Narkotikums kann aber nicht plötzlich geschehen, sondern nur ansteigend. Ein Zeichen für das tiefe Niveau der bisher erreichten Entwicklungsstufe ist, daß das Volk, auch das arbeitende Volk noch die heutige Kirche braucht. Die Verfassung jedes Staates muß neben den großen Zielen, auch die Realität der soziologischen Struktur betrachten und die Konsequenzen daraus ziehen, auch wenn sie unbequem sind. Hieraus ergibt sich, daß man heute der Kirche noch nicht alle Mittel nehmen kann, da sich die Proletarier gegen eine Regierung, die dies anordnet, erheben würden. Man muß daher die Kirche einstweilen im Besitze ihres Vermögens lassen. Man kann sie nicht, wie es in Rußland geschehen ist, nationalisieren, weil eben das deutsche Volk anders ist als das russische. Ein Zuschuß von Staats wegen kommt natürlich in keiner Form mehr in Betracht, auch nicht für die armen Gemeinden.

Da der Staat aber die Notwendigkeit der Kirche noch anerkennt, so wird er dafür sorgen, daß die reichen Gemeinden die armen ausreichend unterstützen. Landauer wäre sogar damit einverstanden, daß der Staat in der Übergangszeit hier vermittelnd und helfend eingriffe. In demselben Maße wie die politische Aufklärung vor sich geht und wie sich das Proletariat von der Kirche abwendet, in demselben Maße wird man auch zur Enteignung der Kirche schreiten. Gerade hier möchte ich die oben zitierte Ansicht Engels angewendet wissen. Die Benutzung der Kirche für weltliche Zwecke durch die Geistlichkeit, die sich bei jedem Wahlkampf zeigt und die z. B. bei der Wahl zur Nationalversammlung von dem Erzbischof von Breslau ausdrücklich befohlen wurde, hat die Konsequenz, daß auch die nicht der Kirche Angehörigen die Kirchengebäude benutzen dürfen. Vor allem kommen sie für die Weihereste neuer ‘ Kultgemeinden in Frage. So hatte Eisner geplant, Erntedankfeste der Bauern in den großen Kirchen Münchens abhalten zu lassen. Wenn auch die Kirchen im Prinzip Eigentum der politischen Gemeinden sind, so sind sie doch der kirchlichen Gemeinde zur Verfügung gestellt, und diese haben daher für den Unterhalt der Gebäude und Kunstschätze zu sorgen. Wie nötig es aber ist, ausdrücklich das Prinzip des Eigentums der politischen und nicht der kirchlichen Gemeinden an den Kirchen zu betonen, zeigten viele unliebsame Vorgänge in Bayern während der Revolution. Übrigens nimmt ja auch der bürgerliche Staat heute schon dies Recht für sich in Anspruch.

Die charitativen Einrichtungen sollen ihrem Zwecke erhalten bleiben. Nur muß die Art der Aufsicht geändert werden: pädagogisch-ärztliche Richtlinien, nicht kirchliche müssen leitend sein. Prozessionen werden in Zukunft wie andere öffentliche Umzüge behandelt.

„Die neue Ära der Menschengeschichte hat in den Monumenten und öffentlichen Gebäuden, die von jetzt ab errichtet werden, ihren Ausdruck zu finden.“ Dieser Satz Landauers zeigt die neue Einstellung zur Kunst. Nach der Häckelschen Monistenbündlerei kommt wieder ein religiöses Zeitalter, beschleunigt durch Krieg und Revolution. Die Menschen streben wieder nach Verinnerlichung, und die Künstler gehen voran. Nicht mehr suchen sie die Natur in ihrer jeweiligen Form festzuhalten, sondern gläubig durchdringen sie das Einzelne, um dahinter das All zu finden. So erweitert sich ihr Ich zum All. Ihre Gesinnung braucht noch nicht gläubig zu sein. Aber diese Erscheinungen setzen „einen gewissen Transzendentalismus der seelischen Grundverfassung“ (Hartlaub) voraus oder wie Franz Marc sagt: „Die Mystik erwachte in den Seelen (nämlich der Künstler) und mit ihr uralte Elemente der Kunst.“ Expressionistisch heißt man die neue Kunst. Raphael nahm eine Geliebte als „Modell“ zu einer Madonna. Der Künstler der Jetztzeit braucht kein Modell Durch irgend ein Bild in der Natur angeregt, durchdringt er es verstandesmäßig, und sein Bild bringt, ihm selbst unbewußt, die Madonna in ihrer Allgültigkeit. Ein zweites Beispiel: das prachtvolle Pferd des Colleoni oder eine Tierfigur eines „impressionistischen“ Bildhauers wie Gaul. Sie haften beide am äußerlichen. Man möchte das Pferd des Colleoni besteigen, man möchte die Tierfigur von Gaul streicheln. Ganz anders die eines Expressionisten, etwa eine solche von Marc. In seinen Pferden ist das „Ur“-Pferd enthalten. Das ist nicht mehr ein beliebiges Pferd, sondern es ist schlechtweg aas Pferd. Diese Beispiele mögen genügen. Sie genügen auch, um Jas Wesentliche klar zu erkennen. Jene hatten am Figürlichen, diese kommen zum »communen«, zum „allgemeingültigen“. In jedem Punkt, in jeder Linie, in jeder Fläche und eben so in jeder Farbe drückt sich das Ringen des neuen Künstlers aus. Das Figürliche kann dabei, wie bei Kandinsky ganz schwinden. Nach geistig-religiöser Verinnerlichung strebt die Künstlerschaft und mit ihr die Masse, die nichtsafte, nicht-bourgeoismäßige Masse.

In der neuen Kunst dürfen wir wohl die ersten schwachen Versuche sehen, der neuen religiösen Gemütsbewegung eine neue Form zu geben. Dal? die Kunst immer die Formulierung der Gemütsbewegung, sei es Einzelner, sei es von Gruppen, Klassen, Nationen usw. war, ist selbstverständlich. Die neue Kunst wird eine Proletarierkunst sein.

Wie das Proletariat nach Wissen und Schönheit strebt, so tut es auch seine Kunst. Sie ist nur zu verstehen aus der gesamten proletarischen Kultur, von der Lunatscharski schreibt: „Wie sozialistische Produktion das Ergebnis der kapitalistischen Produktion ist, sie jedoch modifiziert und hebt, so ist auch die ganze sozialistische Kultur ein neuer, noch in der Blütenpracht der Schwere und der Süße der verheißenden Früchte ein noch nie dagewesener Zweig vom großen Baume der allgemeinmenschlichen Kultur.“ „Die Kultur des kämpfenden Proletariats ist eine scharf abgesonderte Klassenkultur, die auf Kampf aufgebaut ist, eine ihrem Typus nach romantische Kultur, in der der sich intensiv abzeichnende Inhalt die Form überholt, weil die Zeit fehlt, um sich genügend um die bestimmende und die vollkommene Form für diesen stürmischen und tragischen Inhalt zu kümmern.“ Doch kehren wir nach dieser Abschweifung zu der praktischen Ausführung des Programmes zurück. Wenn der oben stehende Satz Landauers Wahrheit werden soll, so werden die Rechte des Einzelnen weiter beschränkt. Nicht mehr hat der einzelne Hausbesitzer, die einzelne Gemeinde das Recht, das Stadtbild nach ihrem Gutdünken zu bilden. Durch Staatsaufträge und Ausschreibungen von Konkurrenzen wird die Bebauung von jetzt ab nach einheitlichen künstlerischen Gesichtspunkten geregelt. Vorbildlich sollen die Staatsgebäude sein, sowohl in ihren Einrichtungen, als auch in ihrer Architektonik.

Bei dem Worte „Staatsauftrag“ überläuft dem Sensitiven des wilhelminischen Zeitalters ein kalter Schauer. Er denkt an den Berliner Dom, er denkt an Ihne. So ist es natürlich nicht gemeint. Weder ein Einzelner, noch ein Ministerium, noch gar die Zeitungen sollen das Werturteil fällen. Die Künstlerschaften bilden ihren Rat, aus dem sich dann eine höchste Instanz herauskristallisiert, eine Akademie, die gemeinsam mit den Vertretern des schadenden Volkes die Richtlinien niederlegen.

Malerei und Plastik sind, wenigstens teilweise, der Architektur einzugliedern. Die Freskomalerei kann ja sinngemäß gar nicht ein eigenes Dasein führen. Ähnliches gilt auch von der Plastik. Man denke an jene gotischen Kirchen, bei denen die Plastik organisch mit dem Bau verbunden ist und nicht ein zufälliges Ornament bildet. Diese Eingliederung der Malerei und Plastik ist nicht nur in die offiziellen Gebäude möglich, sondern allgemein durchführbar. Das Museum hat ja immer etwas Fremdes, Magazinhaftes. Es ist nicht Leben. Es ist wohl denkbar. dass die Künstler einer neuen Zeit, sich unterordnend, weniger selbständig, weniger losgelöst von der Architektur schaffen.

Für die anderen Künstler wird der Staat Museen einrichten. Er wird ihnen Gebäude zwecks Ausstellungen zur Verfügung stellen. Vor allen Dingen sei für Wanderausstellungen gesorgt, damit auch das Land die neuen Bewegungen kennen lernt. Nicht nur Theater, sondern auch Bilder und Plastiken lebender Künstler sollen in das kleinste Städtchen kommen, um zur Verinnerlichung der Bevölkerung beizutragen, damit die Kunst wieder wie früher Notwendigkeit wird. Statt der Heimatstümelei soll wieder Volkskunst entstehen.

Die größte Förderung erhalten die Künstler aber durch Einrichtung von Lehranstalten. Nicht im Sinne der bisherigen Kunstakademien soll hier gelehrt und gelernt werden; sondern es werde den Arbeitern hier Gelegenheit geboten, nach ihrem Willen sich in ihren Mußestunden zu beschäftigen. Vir glaubten, daß der Künstler nur Nutzen hat, wenn er auch produktiv zu schaffen hat, daß man ihn aber später, wenn seine Kunst mehr als Spielerei ist, gewisse Befreiungen von der Arbeit zugestehen darf. Also auch der Künstler wird der allgemeinen Produktionsgenossenschaft eingegliedert.

Noch ei n paar Worte über das Theater. Wir dachten uns das Nationaltheater als eine Musterbühne sowohl in bezug auf seine Spielart, als auch in bezug auf seinen Spielplan. Überwacht wird beides durch eine höchste Akademie für geistige Angelegenheiten, deren Zusammensetzung wir im einzelnen noch nicht besprachen. Ich dachte sie mir etwa ähnlich wie den oben geschilderten Künstlerrat. Die Akademie hätte natürlich keine wirtschaftlichen Interessen wahrzunehmen.

Die Theater sollen in künstlerischer Hinsicht korporativen Charakter tragen, wenn auch ihr selbstgewählter Leiter über große Machtbefugnisse verfügt. Daß sie wirtschaftlich kommunisiert würden, sei nur erwähnt, um Mißverständnisse auszuschließen.

In bezug auf die Literatur kann der Staat durch Verbreitung guter Schriften, durch Unterdrückung der Schundliteratur (hierher würde ich alle Kriegsbücher rechnen) erzieherisch wirken. Bibliotheken können mit verhältnismäßig kleinen Summen überall eingerichtet werden, selbst im kleinsten Dörfchen. Gerade hierin ist SowjetRußland vorbildlich, und man kann die dort geschaffenen Zustände ohne weiteres nach Deutschland übertragen. Auch Sowjet-Rußland hat Museen für moderne Kunst eingerichtet und Künstlerschatten errichtet. Em Kollegium junger radikaler Künstler hat sich gebildet, Kunstgewerbeabteilungen sind den Kunstwerkstäften angeschlossen. Eine Kunst-Aufbau-Abteilung errichtet Museen und hält künstlerische Wettbewerbe ab.

So wichtig auch alle Bestrebungen sind, die die jetzige Generation betreffen, so treten sie doch weit zurück gegenüber all dem, was der Erziehung der Jugend dient. Sie in den neuen Ideen autwachsen zu lassen, sie in einem neuen Idealismus zu erziehen, sie vom bürgerlichen Materialismus zu entfernen, wird immer die Hauptaufgabe einer Ubergangsepoche sein.

„Non scholae, sed vitae discimus.“ Daran krankt die Schule. Die Pädagogen, die nach diesem Prinzip erziehen, wissen, was das Leben fordert: Anpassungsfähigkeit, Unterwürfigkeit, Verkümmerung des Ichs, ein in den Dicnst der herrschenden Klasse Treten. Die Schule ist, das bedeutet jener alte, oft mißverstandene Satz, Klasseninstrument. Das Kind wird zum Untertan erzogen, gleich ob im wilhelminischen Alter oder in einer Zeit, in der das Kultusministerium in Preußen einem Pläntsch, in Bayern einem Hoffmann anvertraut ist. Daher die Schule, gleich ob Hoch-, Mittel- oder Volksschule, immer versagt, zumal in jeder großen Bewegung, etwa in dem »großen« Krieg. Die denkenden Soldaten sind die schlechtesten, die denkenden Bürger die unfolgsamsten. Die „nationale“ Erziehung bekämpfen wir. Diesem früheren Ideal (damals gerechtfertigt) setzen wir ein neues entgegen, die Menschheit. Für die Gesamtheit soll das Kind erzogen werden. „Die Verfassung muß nämlich ferner also eingerichtet sein, daß der Einzelne für das Ganze nicht bloß unterlassen müssen, sondern daß er für dasselbe auch tun und handelnd leisten könne. Außer der geistigen Entwicklung im Lernen finden in diesem Gemeinwesen der Zöglinge auch noch körperliche Ubungen, und die mechanischen, aber hier zum Ideal veredelten Arbeiten des Ackerbaus, und die von mancherlei Handwerken stati. Es sei Grundregel der Verfassung, daß jedem, der in irgend einem dieser Zweige sich hervortut, zugemutet werde, die anderen darin unterrichten zu helfen und mancherlei Aufsichten und Verantwortlichkeiten zu übernehmen; jedem, der irgendeine Verbesserung findet, oder die von einem Lehrer vorgeschlagene zuerst und am klarsten begreift, dieselbe mit eigener Mühe auszuführen, ohne dass er doch darum von seinen ohne dies sich verstehenden persönlichen Aufgaben des Lernens und Arbeitens losgesprochen sei; daß jeder dieser Anmutung freiwillig genüge, und nicht aus Zwang, in dem es dem Nichtwollenden auch frei steht, sie abzulehnen: daß er dafür keine Belohnung zu erwarten habe, indes in dieser Verfassung alle in Beziehung auf Arbeit und Genuß ganz gleich gesetzt sind, nicht einmal Lob, indem es die herrschende Denkart ist, in der Gemeinde, daß daran jeder eben seine Schuldigkeit tue, sondern daß er. allein genieße die Freude an seinem Tun und Wirken für das Ganze und an dem Gelingen desselben, falls ihm dies zuteil wird. In dieser Verfassung wird sonach aus erworbener größerer Geschicklichkeit und aus der hierauf verwendeten Mühe nur neue Mühe folgen.“

Diese Sätze sind nicht etwa von einem weltfremden kommunistischen Idealisten, sondern von dem Verfasser der „Reden an die deutsche Nation“, von Fichte.

Eine solche Erziehung bedeutet in erster Linie Hebung der Ethik. Alles andere tritt dagegen zurück, auch die Weckung des Intellekts. Wieder kann man Lunatscharski nur beistimmen: „…daß sogar die beste geistige Bildung nur in unbedeutender Weise auf den Willen einen Einfluß hat, wenn daneben die Organisation des Gefühllebens nickt vor sich geht.“

Wenn also auch die Bildung zurücktritt, so wird man doch andererseits die Bildungsmöglichkeit als allgemein und obligatorisch erklären. Man wird also die Schule ebenso wenig wie die Kirche den Besitzenden oder anderen Privilegierten ausliefern. Die Schule ist ein Klasseninstrument. Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Wirtschaftsära liegt nach dem bekannten Wort von Marx die Diktatur des Proletariats. Aber das Ideal ist die Aufhebung der Klassen, d. h. die Zertrümmerung des Staates. Die erste Realisierung wird in den Schulen erfolgen, da naturgemäß nur eine im neuen Geist erzogene Generation dieses Ziel erreichen kann.

Man wird also zunächst die verschiedenen Klassen-Schulen autheben, die in einem Preußen des Dreiklassenwahlsystems ein würdiges Dasein führten, heute aber, selbst nach der Niederlage der Revolution, nicht mehr existieren sollten. Die Arbeitseinheitsschule, übrigens keine Erfindung der Jetztzeit, ist selbstverständliche Forderung. Man wird niemanden ausschließen, auch nicht wenn er aus einer dem Proletariat feindlichen Klasse kommt. Wohl aber wird man jeden zu hindern suchen, ein Feind des Proletariats zu werden. Dieses Ziel ist nicht durch die Einheitsschule an sich zu erreichen, sondern nur durch die Einheitsschule im sozialistischen Staat.

Uns interessierte damals nicht die Erziehung der kleinsten Kinder. Wir beschäftigten uns nur mit der der älteren, vom 7. Lebensjahr an. In diesem Alter sollen die Kinder auf die Einheitsschule kommen, wo ihre manuelle und intellektuelle Ausbildung gleichmäßig gefördert werde. Die Ausbildung im Handwerkmäßigen ist zu betonen. Materialkunde ist eins der wichtigsten Fächer. Eine ihrer Wichtigkeit entsprechende Rolle spielt sie allerdings erst später. Der Zeichenund Handwerksunterricht wird stärker betont als bisher. Die reiferen Kinder sollen sich die einfacheren Gebrauchsgegenstände selbst herstellen. Hygienische Körperpflege, fremd allem Militärischen, darf nicht vernachlässigt werden. Aber darüber hinaus muß von der jungen Generation der Sinn des Leibes, seine Schönheit, sein Rhythmus wiedergefunden werden. Dionysos sei das Wahrzeichen der Schule. Häusliche Schulaufgaben sind eine Prämie für die Faulheit der Lehrer. Sie sind in jedem Unterrichtstach zu entbehren, auch beim Erlernen fremder Sprachen. Was die Frage anbelangt, in welchen Fächern die Kinder zu unterrichten sind, so ist zunächst einmal jeder festliegende Stundenplan verpönt. Im allgemeinen bleibe die Auswahl den Kindern selbst überlassen. Abgesehen vom Grundrechnen, vom Schreiben und Lesen in der Muttersprache, sowie vom Moralunterricht kann die denkbar größte Fakultas herrschen. Im geeigneten Moment, wenn das Interesse des Kindes erweckt ist, wenn es selbst den Wunsch äußert, hat die Belehrung einzusetzen. Und sie hat nur so lange zu dauern, wie es das Kind verlangt. Die psychologischen Erkenntnismethoden der Fähigkeiten des einzelnen, von Münsterherg, Stern, Liebmann u. a. .ausgearbeitet, sind beratend dabei heranzuziehen.

Hat sich eine Anzahl Kinder für ein Fach entschieden, so werden sie durch den Lehrer in drei Gruppen eingeteilt: Begabte, Durchschnittsbegabte, Minderbegabte (Mannheimer System). Jede Gruppe erhält Unterricht für sich. Diese Einteilung hat den Vorteil, daß jederzeit ein Rüberwechseln der Kindet möglich ist, was bei einer Einteilung nach der Gesamtfähigkeit nur schwer oder gar nicht möglich ist.

Sehr hübsch hat Landauer die Vereinigung von Schulkind und Schulbank als siamesische Zwillinge gekennzeichnet. Damit ist unsere Stellung zu diesem antiquierten Möbel gekennzeichnet. Die Kinder sollen sich auch während des Unterrichts frei und ungezwungen bewegen. Es schadet garnichts, wenn sie sich einmal eine Zeitlang nicht am Unterricht beteiligen, sich anders beschäftigen. Überflüssig ist es wohl ausdrücklich zu sagen, daß in unserem System für den Rohrstock, für den im Jahre 1919 (!) Gothas Lehrer demonstrierten, kein Platz ist. In Bayerns Verordnungen ist genau festgelegt, wie lang er sein darf und wie dick. Herr Hoffmann, selbst Lehrer, haue bis zu Landauers Einzug in das Kultusministerium im April 1919 noch keine Zeit gehabt, diese Verordnung außer Kraft zu setzen. Schwer zu lösen ist die Frage, welche Bücher man den Kindern in die Hand geben soll. Ich sehe dabei ab von Jen Geschichtsbüchern, die ad usum delphini, ad gloriam der Hohenzollern, Wittelsbacher, Wettiner usf. geschrieben sind. In einem sonst garnicht üblen pädagogischen Schrittchen las ich neulich: Die Kinder sollen erfahren, „wie der alte deutsche Staat entstand, wie er am Individualismus der deutschen Stämme zugrunde ging; sie sollen erfahren, wie Fürst und Volk in Arbeit, Opferwilligkeit und Pflichttreue den Organismus schufen, den wir in den Einzelstaaten, den wir im Reich vor uns sehen.“ Diese Verdrehungen von gemeinsamer Arbeit, Opferwilligkeit (vielleicht denkt der Autor an Wilhelms berühmtes Wort vom August 1914: große Opfer erwarte ich von euch!) und Pflichttreue wurden schon bisher gelehrt. In der Schule wird Kult mit großen Männern und ihren „staatserhaltenden“ Ideen bis heute getrieben, und Marx hat für sie überhaupt nicht gelebt. Statt des Männerkultes sind die geschichtlichen Bewegungen in ihren allgemeinen soziologischen Zusammenhängen darzustellen, wie es Marx, Ferrero. Mehring tun. Aber in den anderen Fächern liegen die Dinge nicht besser. Leonhard Frank machte mich einmal darauf aufmerksam, daß keines unserer Märchenbücher als Lesebuch in Frage kame. Ueberall treuen wir auf eine Anschauungs- und Ideenwelt, die wir bekampfen. Überall finden wir Standesunterschiede und Grausamkeiten. Da ist die Rede vom Bettler und von der reichen Prinzessin, da vom abgehackten Finger.

Eine schwierige Frage betrifft ferner die Privatschulen, worauf schon oben beim Religionsunterricht hingewiesen ist. Es fragt sich, ob man neben den Staatsschulen auch Privatinstitute zulassen soll, nachdem das Prinzip des Unterrichts nur in Staatsschulen doch schon einmal durchbrochen ist. Auch wäre dadurch die Regelung der Klosterschule eine relativ einfache. Gustav Landauer, seinem Föderalismus und Individualismus entsprechend, trat dafür ein, während ich mich nicht entschließen konnte, ihm diese Konzession zu machen, da es mir gefährlich erscheint, das Prinzip der Einheitsschule gleich bei der Gründung zu durchlöchern. Auch scheint mir keine Notwendigkeit für Privatschulen vorzuliegen, da ja bei Annahme unsers Programmes ein jedes Kind selbst die Fächer des Unterrichts wählt. Selbstverständlich muß das alte Autoritätsverhältnis in den Schulen aufhören. Freundschaft trete an die Stelle der Autorität, indem die Lehrer die älteren, erfahrenen Freunde der Schüler werden.

Nachdem die Kinder die Einheitsschule durchgemacht haben, tritt an sie die Frage, welchen Weg sie nun weiter f ehen wollen. Dabei bringt es das System des kommunistischen Staates mit sich, daß diese Entscheidung nichts Unumstößliches, Endgiltiges ist, daß auch der Erwachsene, leichter als bisher, die Möglichkeit hat, aus einem praktischen Beruf in einen theoretischen überzuwechseln. Ein Teil der Schüler, diejenigen, die für das praktische Leben veranlagt sind, können sich gleich einem praktischen Beruf zuwenden, d. h. sie treten in die Lehre und besuchen daneben eine Fortbildungsschule.

Die Mehrzahl der Kinder geht in die „Lebensgemeinschaft“ über, die sich aus den Schülern vom 13. —15. Lebensjahr, aus Lehrern, die den theoretischen Unterricht erteilen, und aus Meistern zusammensetzen. Diese überwachen die handwerkliche Ausbildung. Der theoretische Unterricht findet im Anschluß an die praktischen Arbeiten statt, was übrigens auch bisher schon in vielen Arbeitsschulen der Fall ist. Stoffkunde un weitesten Sinne des Wortes nimmt einen Hauptteil des Unterrichts ein.

Nach vollendetem 15. Lebensjahr wenden die meisten Kinder sich einem praktischen Beruf zu. Ein Teil geht auf die Mittelschule über, die vorwiegend theoretischen Unterricht bietet und für die Universität vorbereitet , Hier treffen sie auf die Kinder, die bereits von der Einheitschule direkt hierher gegangen sind, weil sie vorwiegend geistige Interessen hatten.

Die Hochschulen bedürfen einer gründlichen Reform. Am leichtesten ist diese in der theologischen und juridischen Fakultät vorzunehmen. Abgesehen von Religion und Rechtsgeschichte, sowie von der Rechtsphilosophie kann man nämlich diese beiden Fakultäten einfach autheben. Die Heranziehung des geistlichen Wachwuchses ist Auigabe der Kirchengemeinde und nicht die des Staates. Ebenso ist die juridische Fakultät entbehrlich. In Bayern hatte die Eisnersche Regierung seinerzeit Volksgerichte eingesetzt, d. h. Gerichte, deren Richter von den Arbeiter- und Soldaten-Räten ernannt wurden. Hier konnte ein jeder, auch Nicht-Jurist, die Verteidigung des Angeklagten führen.

Selbstverständlich setzt die Durchführung dieses Punktes unseres Programmes voraus, daß die bürgerliche Wirtschaftsordnung in die kommunistische übergeführt würde, eine Annahme, die seinerzeit erlaubt war. Es sei noch darauf hingewiesen, daß nicht einzusehen ist. warum in Strafsachen, wobei es sich evtl. um aas Lehen des An geklagten handelt, Laienrichter befugt sein sollen. Recht zu sprechen, nicht aber in Zivilklagen, wo es sich nur um materielle Dinge handelt.

Von den übrigen Fakultäten der Universität wird man analog den heutigen technischen Hochschulen die abtrennen, die nicht der reinen, sondern der angewandten Wissenschaft dienen; die medizinische Hochschule, die naturwissenschaftliche und die philologische, (zur Heranbildung der Lehrer).

Die Universität wird also in Zukunft nur eine Fakultät haben, die philosophische, dieses Wort im weitesten Sinne gebraucht, also unter Inbegriff von Nationalökonomie. Geschichte usw. Dieser Plan knüpft an Forderungen von Fichte an, und auch Gedanken Kants werden dadurch verwirklicht.

Dieses Programm kann natürlich nicht von heute auf morgen realisiert werden. Aber es kann wenigstens die Richtungen festlegen. Notwendig ist nur, daß die Universität, die ein Kiasseninstrument ist, in der Ubergangsepoche zum kommunistischen Staat den Interessen des Proletariats dient. Deshalb müssen in den politisch-nationalökonoinischen Fächern die bisherigen reaktionären Lehrer verabschiedet werden. In anderen Fächern wird es dagegen nicht gleich möglich sein, neue Lehrer zu finden, die in ihrem Denken und Fühlen der sozialistischen Zeit mehr entsprechen. Daß es an den Universitäten keine Rangeinteilung der Lehrer mehr gibt, sondern nur noch Dozenten mit gleichen Rechten und Pflichten, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Durch Berufung bisheriger Privatgelehrter (auch von Autodidakten ohne akademische Bildung) kann schnell für eine Erneuerung des Lehrkörpers gesorgt werden. Selbst- verständlich haben die Studenten ein Mitbestimmungsrecht über die Zulassung zur Dozentur.

Die Frage, wer zur Universität zugelassen werden soll, ist von Sowjet-Rußland dahin beantwortet worden: ein jeder von dem Gedanken ausgehend, daß es dem Ungeeigneten dort schon zu langweilig sein wird. Dieser Standpunkt scheint mir nicht richtig zu sein. Die Universität soll eine gute Vorbildung verlangen, die der Staat jederzeit einem jeden zu übermitteln bereit sein muß. Unter den heutigen Studenten wird man genau so wie unter den heutigen Gymnasiasten eine scharte Auslese zu treffen haben. Ferner wird man befähigte Proletarier für die Fachhochschulen vorbereiten, und erst wenn eine größere Zahl Proletarier die nötige Vorbildung erlangt hat, sollen die Fachhochschulen ihre Vorlesungen aufnehmen. Die Kollegs für Kunst, Nationalökonomie, Geschichte usw. nehmen eine besondere Stellung ein, da man hier den Vortrag leicht so einrichten kann, das ein jeder ihm folgen kann.

Für die Auslese befähigter Proletarier-Schulkinder waren in Manchen die Kommissionen bereits zusammengesetzt, ebenso für die Ausmerzung unbefähigter Gymnasiasten. Auf die Zusammensetzung der Akademien für Kunst, Musik, Geisteswissenschaften möchte ich nicht näher eingehen, da wir uns darüber nur kurz unterhielten und noch nicht zur Au Stellung eines Programmes gekommen waren. In Räterußland sind die Kulturfragen wie folgt geregelt: in den kleinsten Dörfern sind Schulen gegründet. An den Schulen bestehen Erziehungsräte: aus Vertretern von Lehrern, Schülern und deren Eltern. Die Universität steht einem jeden offen. Übrigens kennt auch Rußland eine Akademie, die Sozialistische Hochschule, die der französischen Akademie ähnlich zu sein scheint.

Zum Schluß möchte ich noch einmal auf das in der Einleitung Gesagte hinweisen: ein praktisch durchführbare Programm wollten wir ausarbeiten, nicht der Organisation des Geistes neue Wege weisen. In wenigen Tagen mussten wir uns über die Grundfragen einigen, wie taten es, indem ein jeder seine Bedenken auch bei nicht Unwichtigem zurückstellte. Mir erscheint es fast als das größte an Landauer, daß er, der an der Spitze stets marschierte, hier um die Fragen praktisch vorwärts zu Dringen, zu Kompromissen hereit war, daß aus dem Dränger ein Mahner geworden war.

Fidelis, „Gustav Landauers Kulturprogramm“, Das Forum, Jg. 4/2, Nr. 8, Mai 1920, S. 577- 599

Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2010/08/05/gustav-landauers-kulturprogramm-1920/