Erich Mühsam - Judas. Arbeiterdrama in fünf Akten

Personen:
Mathias Seebald
Raffael Schenk, Setzer
Frau Schenk, seine Mutter
Flora Severin, Studentin
Stefan Klagenfurter, Eisendreher
Marie Klagenfurter, seine Frau
Trotz
Dietrich
Braun
Färber
Fischer, Arbeiter
Ernst Laßmann, Kriegsblinder
Mathilde Laßmann, seine Frau
Rosa Fiebig, Arbeiterin
Fritz Rund, Soldat
Fedor Wladimirowitsch Lecharjow
Rudolf Tiedtken, Literat
Strauß, sozialdemokratischer Redakteur
Tessendorff, Polizeirat
Werra Adler, geschiedene Frau
Klara Wendt
Dr. Bossenius
Präzold, Gastwirt
Dr. Karfunkelstein, Journalist
Ein Trambahnführer
Eine Trambahnschaffnerin
Ein Leutnant
Ein Unteroffizier
Eine Kellnerin
Arbeiter, Arbeiterinnen, Herren, Damen, Soldaten, Sanitäter, Volk.

Die Handlung spielt am 28., 29. und 30. Januar 1918 in einer deutschen Großstadt.

Erster Akt

Wohnung Stefan Klagenfurters. Großes Zimmer. Rechts zwei Fenster. In der Mitte der Hinterwand die Tür. Zwischen Tür und der Fensterwand Herdofen, daneben links Wasserleitung. Zwischen den beiden Fenstern einfache Kommode, darauf ein paar Photographien und ein niedriges Bücherbord. Unter dem vorderen Fenster größerer Koffer. Über dem Herd Gestelle für Teller, Gewürzbüchsen und so weiter. In der Ecke rechts Küchenschrank, an dem Hand- und Tellertücher hängen. Links vorn schwarzes Sofa mit Deckchen. Davor runder überdeckter Tisch und zwei schwarze Stoffstühle. Links an der Hinterwand steht das Doppelbett ins Zimmer hinein, daneben rechts Nachttisch und Stuhl, links primitive Waschgelegenheit (Blechgestell) und Spiegel. In der Mitte des Zimmers großer Küchentisch mit Wachstuchdecke, dabei eine Nähmaschine und ein paar Küchenhocker. Unter dem Sofatisch einfacher Teppich. An der linken Wand und über dem Sofa eine Telleruhr mit Gewicht. In der Mitte der Wand Öldruckporträts von Marx und Bebel. Weiter zurück gerahmte Photographien. Über dem Bett ein Haussegen. Die Fenster haben leichte Tüllvorhänge; ein paar Blumentöpfe davor. Über dem großen Tisch hängt von der Decke herunter eine Petroleumlampe. Im Herdofen ist Glut. Auf dem Küchentisch ist Leinenzeug ausgebreitet.

Es ist gegen halb vier Uhr am Nachmittag. Frau Marie Klagenfurter arbeitet an der Nähmaschine, hält inne und reißt den Faden ab. Sie hebt das Kinderjäckchen, das sie genäht hat, lächelnd vor sich gegen das Licht. Dann steht sie auf. Man sieht deutlich die Merkmale vorgeschrittener Schwangerschaft. Sie sieht auf die Uhr, schüttelt den Kopf, geht nervös zum Fenster, stochert dann im Herdfeuer und blickt in den Wassertopf, der darauf steht. Plötzlich horcht sie auf. Schritte werden draußen hörbar. Die Tür wird energisch geöffnet. Stefan Klagenfurter tritt ein, in Hut und Überzieher.

MARIE an seinem Hals. Endlich! Sie haben dich ja schrecklich lange festgehalten.

KLAGENFURTER küßt sie. Miezl! – Warst recht ungeduldig?

MARIE. Sag doch: Wie war's? Haben sie dich genommen?

KLAGENFURTER. Wirst schon hören. – Pack!

MARIE. Mein Gott! – Nun leg nur erst ab. Hilft ihm aus dem Überzieher. Komm, gib! Ich trag's hinaus.

KLAGENFURTER. Das wäre! – Du schonst dich in deinem Zustand, verstanden? Und läufst nicht mir nichts, dir nichts aus dem warmen Zimmer. Ich kann mein Zeug schon selber in den Kasten hängen. Geht hinaus, läßt die Tür offen.

MARIE. Sag, Steffi, aber doch nicht k.v.?

KLAGENFURTER zurück ins Zimmer. Nur keine Aufregung, Schatz. Ich bin noch nicht im Schützengraben. Setzt sich.

MARIE. Aber, so erzähl doch!

KLAGENFURTER zerrt sich den Gummikragen vom Hals. Bloß erst den Hals freikriegen. War überhaupt recht überflüssig, sich extra fein zu machen, um vor den Hanswursten den nackten Adam herzuzeigen. – Da, nimm den Kragen. Bis Sonntag reib ihn noch mal ab.

MARIE legt den Kragen in den Tischkasten. Also Steffi – wie ist's gegangen?

KLAGENFURTER. Na ja, sie haben mich beglotzt und befühlt. – Krieg ich einen Kaffee, Miezl?

MARIE. Gewiß. Er ist fertig. Macht sich am Herd zu schaffen und nimmt Geschirr aus dem Küchenschrank. Aber du quälst mich, Liebster. Laß mich doch endlich wissen!

KLAGENFURTER. Ach so. – Na, gut: Wissen mußt du's ja doch. Also – felddienstfähig.

MARIE zu ihm. Steffi!

KLAGENFURTER. Nur ruhig, Kind! Nur nicht auf regen – du weißt schon. – Und dann ist's ja noch nicht soweit. Sie werden mich ja nicht gleich holen.

MARIE. Meinst du? – Aber denk mal, so lange konnten sie dich nicht brauchen – und jetzt auf einmal: – trotz deinem Herzfehler.

KLAGENFURTER lacht. Ja, der Krieg ist noch wundertätiger als die Muttergottes von Lourdes. Der macht mit der Zeit aus dem lahmsten Krüppel einen Helden.

MARIE schenkt Kaffee ein. Ich hab jetzt besseren Kaffee-Ersatz. Da ist Süßstoff. Wie schmeckt er dir?

KLAGENFURTER. O ja – er geht an. Ob wir einmal wieder Bohnenkaffee mit Zucker und Milch erleben werden? Wenn wir weiter so »durchhalten« wie bisher, dann wird unser Kleiner mal meinen, vor seiner Geburt wäre Deutschland das Schlaraffenland gewesen.

MARIE. Schau, Steffi, was ich gemacht hab. Zeigt ihm das Jäckchen. Steckkissen sind fertig, Häubchen auch. Morgen fang ich mit dem Stricken an: Schuhe und Strümpfe.

KLAGENFURTER auf sie zu. Was wir glücklich sein könnten! – Und jetzt die Schweinerei. Küßt sie. – Wenn man noch an den Schwindel glaubte – aber mit dem Ekel vor dem allen! – Der alte Trotz baut schon an der Wiege – und ich soll mein Kleines womöglich gar nicht mehr darin schaukeln können!

MARIE ihn umklammernd. Steffi! Mein Steffi! – Vielleicht gibt es bald Frieden –?

KLAGENFURTER. Ja, Frieden! – Wir kämpfen ja »bis zum letzten Blutstropfen« – bis zu unserm nämlich. Die Proletarier können verbluten – und die großen Herren machen das feinste Geschäft dabei. – Da hör! Von der Straße ertönt Soldatengesang, man versteht die Worte: »Siegreich wollen wir Frankreich schlagen«. Pfui Teufel! Da kann man doch alle Hoffnung verlieren, wenn die Soldaten selbst noch – –. Na ja, sie müssen singen. Auf Kommando.

MARIE. Steffi! Meinst du nicht, daß die Fabrik dich reklamieren könnte?

KLAGENFURTER. Hab schon dran gedacht. Bloß wird sie's nicht tun. Dreher kriegt sie noch genug. Und mir sind sie sowieso nicht grün – sie kennen meine Ansichten zu gut. Übrigens – Reklamationen von k.-v.-Leuten haben fast nie Zweck.

MARIE in Tränen. O Liebster! – Ich hab so Angst!

KLAGENFURTER. Unsinn, Schatz! Tapfer sein! – Wird schon alles nocht gut werden. Die Einberufung ist noch nicht da. Er zieht eine Holzpfeife aus der Tasche. Von zehn Uhr in der Frühe haben sie mich da rumstehen lassen, viele sind noch nicht fertig.

MARIE. Rauch doch lieber eine Zigarre heute – nach der Quälerei.

KLAGENFURTER. Hast recht. Ist schon mal blau gemacht, kann's ganz wie Sonntag sein. Nimmt aus der Kommode eine Zigarre und zündet sie an. Schändlich: fünfunddreißig Pfennig für das miserable Kraut. Dafür hab ich früher die ganze Woche täglich eine Zigarre gehabt.

MARIE. Das Brot schlägt auch wieder um zwei Pfennig auf. Und Nähfaden ist kaum mehr zu kriegen. Es ist schrecklich, wie alles teuer wird! Es klopft.

KLAGENFURTER. Herein!

Es tritt ein Raffael Schenk. Rothaarig, bleich mit hektischen Flecken, hinkt etwas.

SCHENK. Tag, Stefan! Servus, Frau Klagenfurter!

Reicht beiden die Hand.

KLAGENFURTER. Grüß dich, Schenk! – Zieh aus!

Schenk legt ab.

MARIE. Legen Sie's nur aufs Bett. – Steffi, die Zigarre!

KLAGENFURTER. Ach so! Legt die Zigarre fort auf einen Blumenuntersatz am Fenster.

SCHENK. Unsinn! Rauch nur weiter! Hüstelt.

KLAGENFURTER. Ist nicht wichtig. Der Rauch ist nichts für dich. Die Zigarre geht mir nicht verloren.

SCHENK. Wie ist's gegangen?

KLAGENFURTER. Wie es gehen mußte: k.v.

SCHENK. Donnerwetter! Also doch. – Und dein Herz?

KLAGENFURTER. Das Herz! Der Doktor meinte: Für ein paar Sturmangriffe hält's noch.

MARIE. Das hat er gesagt? Pfui, wie roh! Weint.

KLAGENFURTER. Ruhig, Kind! Denk doch an deinen Zustand! Und noch stürme ich ja nicht. Bis dahin kann noch manches anders kommen.

SCHENK. Du wirst doch nicht gehen, Stefan?

KLAGENFURTER. Wieso – nicht gehen?

SCHENK. Ich meine, wenn die Einberufung kommt.

KLAGENFURTER. Ich muß mich noch besinnen. Schließlich werd ich wohl müssen.

SCHENK. Hängt davon ab, ob du willst.

KLAGENFURTER. Ja, ja – nach der Theorie –

SCHENK. Theorie? Ich denk doch, wenn eine Sache praktisch wird, geht's an die Anwendung von Theorien.

KLAGENFURTER. Du meinst also im Ernst, ich soll mich weigern?

SCHENK. Ich tät's.

MARIE. Um Gottes willen. Dann sperren sie ihn ja ein!

SCHENK. Wahrscheinlich. – Wollen Sie Ihren Mann lieber im Schützengraben haben als im Gefängnis?

MARIE. Aber wenn sie ihn erschießen!?

SCHENK. Auch das geht draußen schneller als drinnen. – Oder fürchten Sie die Schande?

MARIE. O Gott, nein. – Aber ich weiß doch nicht. – O Steffi!

KLAGENFURTER. Still, Schatz! Die Sache muß überlegt werden.

SCHENK. Was gibt es da noch zu überlegen? Auf der einen Seite steht das Kapital und macht Ansprüche auf dich, auf dein Leben, deine Gesundheit, dein Glück und deine Überzeugung – auf der andern Seite stehst du, deine Frau und das Kind, das ihr haben werdet. –

KLAGENFURTER. Herrgott, ja, ja.

SCHENK. Und was noch wichtiger ist: deine Gesinnung, deine proletarische Ehre, Stefan! Du bist doch ein Kämpfer und weißt, wogegen wir zu kämpfen haben. Da willst du dir vom Feind ein Gewehr geben lassen und auf sein Kommando gegen dein eigenes Gewissen und gegen deine Klassengenossen losgehen?

KLAGENFURTER. Es ist alles richtig, was du sagst. Hab's ja auch oft genug gehört – von dir, von Seebald und mir auch selbst gesagt. Aber –

SCHENK. Ich möchte dein Aber kennen.

KLAGENFURTER. Sie werden mich zwingen.

SCHENK. Zwingen? Man kann mich zwingen, etwas zu unterlassen, wenn man mich gewaltsam dran hindert. Aber man kann mich nicht zwingen, etwas zu tun, was ich nicht tun will.

KLAGENFURTER. Sie werden mich in die Kaserne schleifen.

SCHENK. Das werden sie tun. Und was weiter?

KLAGENFURTER. Nun, dann werden sie mir den grauen Rock anziehen.

SCHENK. Wenn du stillhältst.

MARIE. Wie schrecklich! – Nein, sie werden dich binden, wenn du dich wehrst!

SCHENK. Wenn sie ihn binden, können sie ihn nicht exerzieren lassen.

KLAGENFURTER. Du hast recht, Schenk, es ist das kleinere Übel.

MARIE. Aber ich hab so Angst vor dem allen. – Sie werden dich quälen.

SCHENK. Keine Aufregung vor der Zeit, Frau Marie. Zunächst haben sie ihn noch gar nicht.

MARIE. Wie meinen Sie das?

SCHENK. Sehr einfach. Wenn der Wisch kommt, verschwindet Stefan von der Bildfläche.

MARIE. Und ich? – Und ... und ... wenn es soweit ist? –

KLAGENFURTER. Sind ja noch zwei Monate hin, Liebling. Bei dir sein kann ich dann doch auf keinen Fall. Entweder sie holen mich, dann bin ich nach vier Wochen Abrichtung vorn; oder sie sperren mich ein – oder ich drück mich eben. Nur – wovon sollst du leben?

SCHENK. Dafür laß uns sorgen. Wovon soll sie denn leben, wenn du Soldat bist? Was Vater Staat ihr an Unterstützung gäbe, das bringen wir im »Bund Neuer Menschen« im Handumdrehen zusammen.

KLAGENFURTER. Abgemacht, Schenk. – Ich nehm's auf mich.

SCHENK drückt ihm die Hand. Du nimmst weniger auf dich als alle die Millionen, die es nicht auf sich nehmen mögen.

MARIE. Mir ist schrecklich bange.

SCHENK. Dazu haben Sie gar keinen Grund. Übrigens rechne ich bestimmt damit, daß sich die Arbeiter doch endlich rühren werden.

KLAGENFURTER. Ist was Neues?

SCHENK. Rußland macht Eindruck. Denk doch – die sind raus aus dem Krieg.

KLAGENFURTER. Aber teuer erkauft haben sie den Frieden.

MARIE. Wenn sie aber doch Frieden haben!

SCHENK. Scheint mir auch. Nur dürfen wir sie jetzt nicht im Stich lassen.

KLAGENFURTER. Du meinst wegen der Friedensbedingungen?

SCHENK. Ja, und wegen des Vormarsches in das wehrlose Land.

KLAGENFURTER. Es ist schändlich. Nur fürchte ich, wir kriegen die Massen deswegen nicht auf die Beine.

SCHENK. In Berlin soll etwas bevorstehen. Hier muß es Seebald machen. Das ist der einzige, auf den sie hören. – Die andern müssen übrigens bald kommen.

KLAGENFURTER. Welche andern?

SCHENK. Nun: Trotz, Dietrich, die Severin, Rosa und die übrigen.

MARIE. Hierher – zu uns?

SCHENK. Ja doch, ich glaubte, ich hätt's schon gesagt. Ich hab sie hierher zusammenbestellt.

MARIE. Da muß ich mir rasch eine andere Schürze vorbinden.

Nimmt eine weiße Schürze aus der Kommode und legt sie an. Und das Zeug da! Räumt das Nähzeug vom Küchentisch ab.

KLAGENFURTER. Warum denn zu uns?

SCHENK. Weil du heut nicht bei der Arbeit warst. Die Genossen bei Wachsmann machen extra früher Schicht. Es ist schon ein bißchen Streikstimmung in der Luft.

KLAGENFURTER. Glaubst du denn, daß ein Generalstreik zustande kommt? Und wann, meinst du, kann es soweit sein?

SCHENK. In Berlin scheint es dicht vorm Klappen zu stehn. Sie wollen vor allen Dingen Liebknecht heraushaben. Vielleicht müssen wir bald kampffertig sein.

KLAGENFURTER. Du – ich weiß nicht recht, ob Seebald zu haben wäre.

SCHENK. Ach, du kennst ihn nicht.

KLAGENFURTER. Es ist wahr: Er hat Feuer und reißt alle mit. Aber jetzt ist er doch ganz in seinen Verein verkapselt mit Studenten und Künstlern. Ich habe Mißtrauen gegen die Intellektuellen. Was das Proletariat angeht, davon wissen sie wenig.

SCHENK. Es gibt Ausnahmen. Denk nur an Flora Severin. Und die Ästheten im »Bund Neuer Menschen« sind Seebald selbst zuwider. Wenn einer Revolutionär ist, dann ist er es. Er will den Frieden.

KLAGENFURTER. Auch die Revolution?

SCHENK. Wie kann er den Frieden bekommen ohne Revolution?

KLAGENFURTER. Ja – aber ob er das weiß?

SCHENK. Er spricht ja immer wieder davon, daß nur die Arbeiter den Krieg zu Ende bringen können, wenn sie nicht mehr für den Krieg arbeiten; – wenn sie sich weigern, Soldat zu sein; wenn sie anfangen, an sich selbst zu denken.

MARIE. Wird denn das ohne Gewalt gehen?

SCHENK. Nein, gewiß nicht. Das ist in Rußland nicht ohne Gewalt gegangen, und bei uns sind die Widerstände noch größer, besonders, solange sie sich einbilden, daß sie siegen werden!

MARIE. Das gäbe ja dann den Krieg unter uns selber?

SCHENK. Ohne den wird es nicht abgehen.

KLAGENFURTER. Aber da geht Seebald eben nicht mehr mit. Sein drittes Wort ist: Keine Gewalt!

SCHENK. Er muß! – Am Ende wird auch er es einsehen. Waffen zerbrechen nur unter Druck.

MARIE. Ich glaube, sie kommen schon. Man hört Tritte.

KLAGENFURTER öffnet die Tür. Nur herein alle!

Es treten auf Braun, Fischer, Rosa Fiebig und Dietrich. Hinter ihnen in Feldgrau mit Stock der Kriegsblinde Ernst Laßmann am Arm von Mathilde Laßmann. Begrüßung unter Stimmengewirre, aus dem Dietrichs Organ sonor heraustönt.

MARIE. Führ deinen Mann aufs Sofa, Mathilde. Man macht für Laßmann Platz.

KLAGENFURTER. So. Setzt euch, wo ihr Platz findet. Geh, Anton, zieh mal den Koffer mit vor. Zieht mit Braun den Koffer mitten ins Zimmer. Seid ihr schon alle? – Die Sachen nur immer aufs Bett.

BRAUN. Trotz und Färber konnten nicht abkommen.

SCHENK. Und Flora Severin?

DIETRICH. Die muß wohl erst ihren Dichterling aus dem Kaffee holen.

SCHENK. Laß doch die Witze!

ROSA. Ist Rund noch nicht da?

DIETRICH. Such mal unter dem Bett! Lacht gewaltig.

Man hat allmählich die Plätze eingenommen: Auf dem Sofa links Laßmann, rechts neben ihm seine Frau, auf den Stühlen am Tisch Klagenfurter und Braun. Am Küchentisch Dietrich und Fischer. Marie sitzt auf einem Schemel vor dem Herd. Rosa hat sich auf den Koffer gesetzt. Schenk steht am Fußende des Bettes angelehnt.

KLAGENFURTER zu Laßmann. Na, Ernst, wie schaut's immer?

LASSMANN. Mit dem Schauen hat sich's aufgehört.

DIETRICH. Diese Hunde, diese verfluchten! Andern die Augen herausschießen können sie, statt sie sich selbst aus dem Kopf zu schämen!

MARIE. Wollen Sie sich nicht setzen, Schenk?

SCHENK. Ich stehe lieber. Bei Dietrichs Gebrüll müßt ich ja doch über kurz oder lang vom Stuhl fallen.

DIETRICH. Ist es nicht wahr, was ich sage? Habt ihr den Tagesbericht gelesen heute? 40 Lokomotiven haben sie erbeutet und über 1200 Eisenbahnwagen. Und wo? In Rußland, wo sich kein Mensch mehr wehrt, wo sie den Frieden geschlossen haben – die Halunken. Erbeutet nennen sie das! Gestohlen haben sie's, ganz gemein gestohlen, diese Boches, die verdammten! Im Rußland der Revolution. Im Lande der Freiheit!

KLAGENFURTER. Nicht so laut, Dietrich! Die Wände sind nicht so dick!

DIETRICH. Natürlich, alles Bruch, alles Dreck in diesem Lande des Schwindels. Aber sie sollen es nur hören, die Leute. Meine Ansicht ist kein Geheimnis. Ich hasse es – mein sogenanntes Vaterland.

SCHENK. Ist schon recht, Dietrich. Aber du bist hier nicht in einer Volksversammlung. Wir haben über sehr wichtige Dinge zu reden, die die Nachbarschaft vorläufig noch gar nichts angehen. Also brüll nicht so – tu uns den Gefallen.

DIETRICH leiser. Es geht nun manchmal mit mir durch, die Wut. – Diese Bande! Elende –

BRAUN zu Klagenfurter. Kretsch hat nach dir gefragt, Stefan.

KLAGENFURTER. Der Maschinenmeister? Er wußte doch, daß ich zur Musterung war.

BRAUN. Er meinte, am Nachmittag hättest du doch zur Arbeit kommen können.

KLAGENFURTER. Wann bin ich heimgekommen, Miezl?

MARIE. Es war gerade halb vier.

KLAGENFURTER. Übrigens wäre ich sonst auch nicht mehr hingegangen.

FISCHER. Ich hab's ihm gegeben.

SCHENK. Was? Du, der große Schweiger, hast dem Kerl eine Standrede gehalten?

FISCHER. Ja.

KLAGENFURTER. Was hast du ihm denn gesagt, Fischer?

FISCHER. Rindvieh! hab ich gesagt. Gelächter.

ROSA. Kretsch ist ja reklamiert.

DIETRICH. So sind sie alle, diese Schufte. Um ihr bißchen Kadaver zu salvieren, treten sie auf den Arbeitern herum und machen sich vor den Direktoren in die Hosen.

LASSMANN. Mich hat ein Meister herausgedrängelt, um an meinen Platz einen Verwandten von seiner Frau reklamieren zu lassen.

FRAU LASSMANN. Und so ist er zurück – beide Augen! Und meine sechs Kinder daheim!

LASSMANN. Und der andere ist zehn Jahre jünger und gesund und arbeitet jetzt noch an meinem Posten.

BRAUN. Ja, dich hat's am bösesten hergenommen, Ernst.

LASSMANN. Wär besser gewesen, es hätt mich ganz zerrissen.

SCHENK. Unsinn, Laßmann; wenn's losgeht, können wir dich immer noch brauchen.

LASSMANN. Was soll ich wohl noch nützen können?

KLAGENFURTER. Es genügt, wenn du dich bloß hinstellst und den Leuten zeigst: Das ist der Krieg!

DIETRICH. Diese Hunde! Er hat sich auf den Küchentisch gesetzt.

MARIE. Wie geht's denn zu Hause bei dir, Tilde?

FRAU LASSMANN. Ach, frag gar nicht. Mit den paar Groschen Unterstützung, da kann man ja das Nötigste nicht heranschaffen. Und dann der Mietzins. Ich kann doch nicht selbst auch noch auf Arbeit gehen – mit den kleinen Kindern. Und wer soll Ernst führen?

ROSA. Überhaupt soviel Elend jetzt.

SCHENK ist ein paarmal auf und nieder gelaufen. Ja, auf der einen Seite. Aber uns Arbeitern geht es viel zu gut. Die hohen Löhne verderben alles.

DIETRICH. Sollen sie vielleicht nicht mal zahlen, die Ausbeuter?

SCHENK. Schon, aber den Arbeitern geht der Anstand zum Teufel. Sie saufen Sekt und vergessen, daß sie kein Brot haben.

DIETRICH. Da hast du recht. Sie verdienen es, daß sie für den Kapitalismus verrecken!

ROSA. Am schlimmsten ist es bei den Munitionsarbeitern.

FISCHER. Und den Weibern.

SCHENK. Das ist das Traurigste, daß sich überhaupt Frauen dazu finden, Granaten zu machen. Blutarbeit – und jede macht einen Mann frei für den Heldentod.

KLAGENFURTER. Ob die für einen Streik zu kriegen sein werden – da hab ich Angst. Man hört draußen Stimmen.

ROSA. Jetzt kommen sie. – Ich höre Runds Stimme.

KLAGENFURTER zur Tür. Ja – nur herein!

Es treten auf Fritz Rund, Soldat, eisernes Kreuzband, Trotz, weißbärtiger Arbeiter, Färber. Begrüßung.

DIETRICH. Auf daß das Haus voll werde!

MARIE. Legen Sie ab und setzen Sie sich. Es wird sich schon noch Platz finden.

KLAGENFURTER. Hier auf dem Sofa ist noch Platz.

ROSA zu Rund. Komm, Fritz, setz dich zu mir auf den Koffer. Trotz nimmt auf dem Sofa, links von Laßmann, Platz, Rund auf dem Koffer und Färber auf einem Hocker am Tisch.

FÄRBER. Na, Schenk, hast du einen Schlachtplan entworfen?

BRAUN. Wir könnten ja jetzt anfangen mit der Besprechung.

SCHENK. Kommt denn Flora nicht? Auf die müssen wir warten.

FÄRBER. Doch, sie wollte nur Tiedtken abholen. Sie wird wohl bald hier sein.

KLAGENFURTER. Ich meine auch, wir sollten uns nicht aufhalten lassen.

SCHENK. Ohne Flora! Aber Stefan, wie kann dir das in den Sinn kommen?

KLAGENFURTER. Wenn sie doch bald kommt! Sie wird sich schon zurechtfinden.

SCHENK. Davon kann gar keine Rede sein. Der beste Kopf, das schärfste Auge. –

DIETRICH. Und die schönste Figur – was?

SCHENK. Halt 's Maul! Hustet heftig.

DIETRICH. Na, ist ja nicht so gemeint, Raffael! – War bloß Scherz.

SCHENK erregt und hustend. Unterlaß solche Scherze, bitte.

TROTZ. Ich meine aber auch, wir müssen auf die Severin warten. Wir können alle nicht so genau erkennen, wie es eigentlich steht. Was wissen wir? – Aus den Zeitungen!

FISCHER. Lauter Lügen!

KLAGENFURTER. Ich dachte nur – wie es bei den Arbeitern ist, sehen wir doch besser.

BRAUN. Wie denken denn die Soldaten, Rund?

RUND. Die schon draußen waren, sind meistens gut. Aber die jungen – besonders die vom Lande – glauben noch alles.

DIETRICH. Ganz recht geschieht's ihnen, wenn sie draußen krepieren – die Idioten!

TROTZ. Sie haben dich genommen, Stefan?

KLAGENFURTER. Ja.

TROTZ. Meinst du, daß sie dich bald holen?

RUND. Sie ziehen jetzt alles ein, und dann führen sie ja auch Listen über die Gesinnung.

MARIE. Mein Gott!

RUND. Es heißt, im Westen wollen sie durchbrechen.

DIETRICH. Können vor Lachen!

FÄRBER. Wenn sie jetzt in Rußland alle Truppen freibekommen – Millionen –

BRAUN. Aber die Amerikaner –

ROSA. Glaubst du denn, Fritz, daß sie was machen können?

RUND. Ich kann's auch nicht wissen.

MARIE. Wenn es nur dann Frieden gäbe!

SCHENK. Frieden? Dann? – Wenn sie durchbrechen, dann geht der Krieg erst an.

FÄRBER. Ich weiß nicht recht: – Wenn sie Paris kriegen – und die U-Boote –?

SCHENK. Und wenn sie ganz Frankreich kriegen und England dazu, dann haben sie noch gar nichts. Bloß der Krieg dauert drei Jahre länger – oder auch zehn Jahre.

FRAU LASSMANN aufspringend, krampfhaft. Aufhören soll's, nur aufhören! Mein blinder Mann! Meine armen Kinder!

LASSMANN. Ruhig, Tilde! Wir müssen's nehmen, wie es ist.

MARIE weint auf. Mein Gott! Mein Gott!

KLAGENFURTER geht zu ihr. Reg dich doch nicht auf, Schatz! Denk doch an dich!

TROTZ ist aufgestanden. Die Frauen haben wohl Grund zum Weinen. Aber sie haben die schönste Aufgabe. Ihr müßt zu uns Männern stehen, wenn die Stunde da ist. Wenn ihr uns verlaßt, sind wir verlassen.

SCHENK. Zuerst dürfen wir uns selbst nicht verlassen. Frieden kann nur das Proletariat schaffen. Und so lang ist kein Frieden, wie nicht Revolution ist.

DIETRICH. Bravo! Aufstehen müssen wir! Generalstreik! Revolution!

TROTZ. Revolution – ja! Für den Frieden – ja! – Aber was ist Friede? Die Revolution muß den Sozialismus bringen, sonst bringt sie auch den Frieden nicht. Vielleicht bin ich noch nicht zu alt, um es zu erleben.

Klopfen. Gleichzeitig öffnet sich die Tür. Es tritt ein Flora Severin, hinter ihr Rudolf Tiedtken.

FLORA noch in der Tür. Genossen! Gut, daß ich euch zusammen treffe. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Berlin steht auf. Allgemeine Erregung, lebhaftes Durcheinander.

DIETRICH durch den Lärm hörbar. Unsere Stunde! Jetzt zu den Massen! Auf die Straße! Will zur Tür.

TROTZ tritt ihm in den Weg. Dietrich! Kindskopf mit deinen fünfzig Jahren! Jetzt heißt's hierbleiben. Jetzt heißt's: Klarheit vor allem!

SCHENK laut. Ruhe!! Allgemeines Schweigen. Wissen Sie Genaueres, Flora?

FLORA. Es ist ein Extrablatt erschienen. – Tiedtken kann es vorlesen.

TIEDTKEN zieht das Blatt aus der Tasche. Hier ist es. Liest. »An die Bevölkerung! Durch feindliche Agenten und gewissenlose Hetzer verführt –«

DIETRICH. Natürlich! Diese Halunken!

BRAUN. Still doch, Dietrich!

TIEDTKEN. »– haben in Berlin die Arbeiter einzelner Betriebe die Arbeit niedergelegt. Sie stellen an die Regierung die wahnwitzige Forderung, sie sollte die Feinde um Frieden bitten, und drohen der Regierung mit der Einsetzung von Arbeiterräten. –«

SCHENK zu Flora. Gott sei Dank! Keine Lohnforderungen!

TIEDTKEN. »Im Bewußtsein ihrer vaterländischen Pflicht ist die große Mehrheit der Arbeiterschaft dem frivolen Ansinnen, den Generalstreik zu proklamieren, nicht gefolgt. Vor allem haben die berufenen Vertreter der Arbeiterschaft, die sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaftskommission jede Gemeinschaft mit den verräterischen Elementen ausdrücklich verweigert.«

DIETRICH. Aha! Aha! Das sind die Richtigen!

TIEDTKEN. »Immerhin ist der Umfang der Bewegung noch nicht genau zu übersehen –«

TROTZ. Das klingt schon etwas besser.

TIEDTKEN. »– und kleinere Herde des verbrecherischen Unternehmens sind bereits an anderen Orten entstanden, jedoch großenteils bereits im Keime erstickt worden. – Es besteht der begründete Verdacht, daß auch in unserer Stadt einzelne Personen danach trachten, Unruhe und Widerstand in die Reihen der werktätigen Bevölkerung zu tragen. Diese Personen sind der Behörde genau bekannt.«

MARIE. Steffi, glaubst du das?

KLAGENFURTER. Ruhig, Liebling. Das sind Schreckschüsse.

TIEDTKEN. »Im Vertrauen auf die bewährte Besonnenheit und das vaterländische Empfinden der hiesigen Arbeiterschaft warne ich auf das  nachdrücklichste vor jeder Teilnahme an verschwörerischen Veranstaltungen. Das deutsche Volk steht seit dreieinhalb Jahren im heroischen Verteidigungskampf gegen eine Welt von Feinden. Die beispiellosen Leistungen unserer feldgrauen Helden haben die Grenzen unseres über alles geliebten Heimatlandes von den Schrecken feindlicher Invasionen frei gehalten. Der russische Koloß liegt zerschmettert am Boden.«

DIETRICH. Und jetzt trampeln sie darauf herum und rauben ihn aus, die Schufte!

BRAUN. Ruhe! Wir wollen hören.

TIEDTKEN. »Die heldenmütigen Besatzungen unserer U-Boote sind im Begriff, unseren heimtückischsten und erbittertsten Gegner, das perfide Albion, in die Knie zu zwingen. Nur noch kurze Zeit des Ausharrens – und sämtliche Feinde werden niedergeworfen, den Frieden von uns erbitten, der der Ehre und Sicherheit Deutschlands Genüge tun und die Existenz des deutschen Volkes für alle Zeiten sicherstellen wird.

In diesem Augenblicke gilt es, die letzten Kräfte zusammenzuraffen. Wer jetzt streikt, schlägt unseren tapferen Truppen das Gewehr aus der Hand und begeht Verrat am Vaterlande. Ich verbiete daher jeden Streik, jede Ansammlung auf der Straße, jede nicht 48 Stunden vorher schriftlich angemeldete Versammlung. Wer in der Fabrik oder sonstwo zum Streik auffordert, wer Flugschriften verteilt, aufreizende Reden führt, unwahre Gerüchte verbreitet oder sich in irgendeiner Weise gegen meine Anordnungen vergeht, wird wegen Landesverrats belangt und sofort verhaftet.

Bei Zusammenrottungen wird rücksichtslos von der Waffe Gebrauch gemacht werden!

Der kommandierende General

Freiherr von Lychenheim.«

DIETRICH. Sie sollen nur kommen, diese Hunde!

SCHENK. Ja, dann müssen wir eben wissen, was wir zu tun haben.

FLORA. Lies weiter, Rudolf, es kommt noch was.

BRAUN. Da bin ich neugierig.

TIEDTKEN liest. »Parteigenossen! Organisierte Arbeiter und Arbeiterinnen!«

FÄRBER. Was? Auf demselben Blatt?

TIEDTKEN. Direkt darunter. – Also: »Die sozialdemokratische Partei und das Kartell freier Gewerkschaften mißbilligt auf das entschiedenste den Versuch mißleiteter oder aus unsauberen Quellen gespeister Arbeiter –«

TROTZ. Unerhört!

TIEDTKEN. »– in diesem Moment, der die siegreiche Entscheidung des Krieges nahe erwarten läßt, den an der Front kämpfenden Proletariern in den Rücken zu fallen. Wir ersuchen die Genossen dringend, proletarische Disziplin zu halten, sich nicht von unverantwortlichen Hetzern, die wahrscheinlich im Solde der Entente stehen –«

FÄRBER. Noch einmal.

DIETRICH. Diese Hunde!

TIEDTKEN. »– zu eigenmächtigen Handlungen hinreißen zu lassen und jeden, der es unternimmt, Verwirrung zu stiften, unverzüglich zur Anzeige zu bringen.–«

DIETRICH. Saubande! Erschlagen muß man sie!

KLAGENFURTER. Still doch!

TIEDTKEN. »Proletarier! Die deutsche Regierung hat bewiesen, daß sie den Krieg beenden möchte, sobald es möglich ist. Ihr Friedensangebot an die Feinde ist jedoch mit Hohn und Spott zurückgewiesen worden. Daher müssen wir noch kurze Zeit durchhalten. Nach dem Krieg wird die Zeit kommen, wo auch wir Arbeiter unsere Forderungen zur Geltung bringen werden. Jetzt keine Uneinigkeit unter uns Deutschen! Den Schaden trüge nur die Arbeiterklasse selbst. Vertrauen zu den berufenen Führern des Proletariats – das ist der sicherste und schnellste Weg, um den heißersehnten Frieden herbeizuführen.

Die Sozialdemokratische Partei:

Im Auftrag: Gerhard Weher.

Das Kartell Freier Gewerkschaften:

Im Auftrag: Jakob Tann.«

SCHENK ist, die Hände auf dem Rücken, erregt hin und her gelaufen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. In drei Tagen muß alles stilliegen – spätestens.

DIETRICH. In drei Tagen? – Morgen früh!

TROTZ. Wie willst du denn das machen, Junge? Es muß gut organisiert sein. Vielleicht können wir es bis übermorgen schaffen.

FLORA. Einen Augenblick noch. Es sind Telegramme angeschlagen von der Tageszeitung: Man schätzt die Zahl der Streikenden auf hundert- bis hundertfünfzigtausend.

SCHENK. Wenn das zugegeben wird, sind es fünfhunderttausend.

FLORA. In Leipzig, Halle, Frankfurt und im Ruhrgebiet sollen Bewegungen im Gange sein.

FÄRBER. Die Bergleute! Bravo!

FLORA. Überall verschärfter Belagerungszustand.

DIETRICH. Die feige Bande!

BRAUN. Von militärischen Eingriffen steht nichts da?

FLORA. Nein – es scheint noch nicht –

DIETRICH. Sie werden sich hüten! Die Soldaten schießen nicht auf ihre Brüder!

TROTZ. Weißt du das so gewiß?

ROSA. Fritz meint –

TIEDTKEN. Ja – was denken Sie, Herr Rund?

RUND. Die Rekruten werden schießen, das glaube ich sicher.

FÄRBER. Könnt ihr älteren Soldaten sie nicht davon abbringen?

RUND. Das ist schwer zu sagen. Es traut sich ja niemand. Also was soll geschehen? – Genosse Schenk, Sie wollten heute doch ohnehin Ihren Plan für einen solchen Fall entwickeln.

SCHENK. Ich denke mir die Sache so: Zunächst brauchen wir Flugblätter – einfache Handzettel. – Welches Datum haben wir?

ROSA. Den 28. Januar.

SCHENK. Gut, wir müssen sehen, daß wir womöglich übermorgen schon handeln können. Man kann nicht wissen, was inzwischen in Berlin vorgeht. – Flora, Sie schreiben es.

FLORA. Kann das nicht Tiedtken machen?

SCHENK. Nein, Sie! Ich habe persönlich kein Mißtrauen gegen Sie, Herr Tiedtken. Aber Sie sind Literat, Sie sind Intellektueller.

FLORA. Und ich bin Studentin – also nicht auch Intellektuelle?

SCHENK fanatisch, vor ihr. Sie! Nein, Sie gehören zu uns! Sie haben das – das Besondere. Sie sind Proletarierin!

FLORA reicht ihm die Hand. Ich hoffe es.

TROTZ. Das ist wahr. Das wird in die Wiege gelegt, wenn es auch eine seidene ist. Erlernen läßt sich's nicht. – Nichts für ungut, Herr Tiedtken.

TIEDTKEN. Ich dächte doch – meine Überzeugung –

BRAUN. Die können Sie in den nächsten Tagen zeigen.

KLAGENFURTER. Zur Sache jetzt aber!

SCHENK. Dann hört zu. Die Flugblätter ganz kurz: Der Kriegsbetrug, Brest-Litowsk. Der Raubzug im revolutionären Rußland, Berlin, Solidaritätspflicht – heraus! – Ich drucke die Geschichte nachts in meiner Bude.

DIETRICH. Und morgen tragen wir die Zettel aus.

FÄRBER. Damit du gleich festsitzt?

SCHENK. Dummheit. Jeder nimmt einen kleinen Stoß und verteilt ihn unbemerkt vor der Arbeit oder während der Brotzeit auf die Plätze. Niemand darf wissen, woher die Zettel kommen. Nach der Verteilung darf keiner mehr als einen bei sich haben. Geht das?

FISCHER. Leicht.

SCHENK. Gut. Du bist ein ruhiger Mensch, Fischer, du kannst es beurteilen. – Das geschieht morgen. Außerdem muß jeder in der Mittagspause oder schon früh vor der Arbeit an einige absolut zuverlässige Genossen –

TROTZ. Absolut zuverlässige – Dietrich!

DIETRICH. Das brauchst du doch mir nicht zu sagen.

KLAGENFURTER. Na ja, du bist schon manchmal etwas vertrauensselig.

DIETRICH. Ich? – Ihr werdet mich kennenlernen!

FLORA. Weiter, Schenk!

SCHENK. Also – ihr habt dafür zu sorgen, daß jeder größere Betrieb von vollständig sicheren Leuten mit Flugblättern bearbeitet wird. Ihr müßt noch heute abend herumlaufen und die betreffenden Genossen aufsuchen. Es muß alles klappen –

BRAUN. Ja – und dann?

SCHENK. Hört nur zu. – Das Wichtigste ist: Wir brauchen Seebald. An den traut sich niemand heran.

FÄRBER. Wenn du dich da nur nicht irrst.

SCHENK. Er ist ein berühmter Gelehrter. Wenn der mit den Arbeitern gemeinsame Sache macht, dann wird es auf alle einen mächtigen Eindruck machen. – Er muß mit auf die Straße.

DIETRICH. Jawohl, auf die Straße! Das ist die Hauptsache!

FLORA. Das ist auch meine Ansicht. Es muß eine große Demonstration werden – ein geschlossener Zug mit roten Fahnen –

MARIE. Sie werden hineinschießen!

FLORA. Frau Marie, wir Frauen müssen die Männer anfeuern, aber nicht sie entmutigen. Im Felde wird auch geschossen.

SCHENK nahe bei ihr. Das ist schön, was Sie sagen; – das ist gut.

ROSA. Ich will rote Rosetten nähen heute nacht.

KLAGENFURTER. Das ist recht, Röschen. Miezl, da gibt's für dich auch Arbeit.

MARIE. Ich muß doch meine Babywäsche machen.

KLAGENFURTER. Willst du jetzt nicht für unsere Sache mithelfen?

TROTZ. Nein, laßt sie. Das Kleine will gut empfangen sein. Marie arbeitet für die Zukunft – und das ist unsere Pflicht. – Jeder an seinem Platz.

FLORA. Weiter, Genossen – weiter! Es wird schon Abend. Wir müssen ans Werk!

SCHENK. Morgen abend tagt der »Bund Neuer Menschen« in der »Hütte«. Dort werde ich mit Seebald sprechen. Er muß an der Spitze marschieren.

LASSMANN steht auf, ekstatisch. Nein – nein! An der Spitze gehe ich. Ich will die Rote Fahne tragen. Ich will die Arbeiter führen. – Ich! – Das wird sein, als wenn ich die Sonne wiedersehe –.

TROTZ. Ja. Er soll vorangehen. Der Blinde soll als erster den Frieden und die Freiheit sehen.

KLAGENFURTER. Es wird dunkel. Ist Öl auf der Lampe, Frau?

MARIE. Ja, für heute reicht's noch – und morgen bekomme ich wieder.

Klagenfurter zündet die Lampe an, deren trübes Licht mit dem Verschwinden des Tageslichtes langsam klarer wird.

FLORA. Ich schreibe also zwei Flugblätter.

SCHENK. Zwei?

FLORA. Ja – eins für die Arbeiter, und eins nimmt Rund mit in die Kaserne.

SCHENK. Richtig, das hätte ich vergessen.

RUND. Für die Verteilung sorge ich schon.

DIETRICH. Der Kampf geht los! Sie sollen was erleben – diese Banditen!

TROTZ. Dietrich, du kommst mit zu mir.

DIETRICH. Zu dir – jetzt?

TROTZ. Ja, du hilfst mir rote Fahnen und Plakate machen.

FÄRBER. Ich gehe. Muß mindestens fünf Genossen aufsuchen heute abend. Wer kommt mit?

FISCHER. Ich.

BRAUN. Ich auch. Die Firma Wachsmann wird ohnehin versorgt. Ich gehe jetzt zu Genossen von Bartels & Moser und von der Motorengesellschaft.

ROSA. Wir gehen doch jetzt alle?

FLORA. Kann ich die Flugblätter gleich hier schreiben?

MARIE. Gewiß. Ich muß jetzt doch zum Abendessen einholen, und Stefan wird Sie nicht stören.

KLAGENFURTER. Ich? Meinst du denn, ich bleib zu Hause? Ich gehe mit dir, Braun. Wir müssen unterwegs die Genossen einteilen, wo wir Besuch machen. Ich gehe zuerst zu Thielmann und dann zu Schulz.

Allgemeiner Aufbruch. Man sieht in der dunklen Bettecke einzelne die Überzieher anziehen. Durcheinander der Stimmen.

SCHENK. Ich arbeite die Nacht durch in der Druckerei. Die Zettel können morgen früh um sechs Uhr bei mir abgeholt werden.

ROSA zu Rund. Wenn du jetzt nichts zu tun hast, kannst du ja mit zu mir kommen und helfen.

Beide ab.

FRAU LASSMANN. Vorsichtig, Ernst. – Komm – so – hier ist mein Arm. Mit ihm ab.

Unter lautem Gespräch gehen Braun, Fischer, Färber und Klagenfurter fort.

TROTZ. Ob ich in meinen alten Tagen wirklich die Freude noch erleben soll?

FLORA. Es muß glücken, Genosse Trotz!

SCHENK. Es muß glücken!

DIETRICH. Wir werden es ihnen zeigen, diesen Hunden!

TROTZ. Komm jetzt! Gehst du mit uns, Schenk?

SCHENK mit Blick auf Tiedtken. Wird wohl am besten sein. Wann kann ich die Manuskripte holen?

FLORA. In spätestens einer halben Stunde.

Schenk macht sich fertig.

MARIE. Ich gehe also jetzt auch fort. – Ist es kalt draußen?

FLORA. Nicht arg. Aber seien Sie vorsichtig, es könnte Glatteis geben. Rudolf, du begleitest wohl Frau Klagenfurter?

TIEDTKEN. Soll ich nicht auf dich warten?

FLORA. Nein, ich habe später noch mit Schenk zu sprechen.

SCHENK schon in der Tür. Ich komme bald. Mit Trotz und Dietrich ab.

MARIE zu Tiedtken. Einen Augenblick. Sie geht hinaus, schließt die Tür hinter sich.

TIEDTKEN schon im Mantel. Du bist merkwürdig gegen mich, Flora.

FLORA. Mein Lieber, es ist Revolution in der Luft.

TIEDTKEN. Mißtraust du mir denn?

FLORA. Deiner Ehrlichkeit keineswegs. Aber du mußt doch merken, daß die Genossen alle dich als Eindringling empfinden. Du gehörst ja wirklich nicht dazu.

TIEDTKEN. Aber bis jetzt? – Du wenigstens –

FLORA. Bis jetzt warst du ein hübscher Junge. Und ich bin eben eine Frau.

TIEDTKEN. Du willst nichts mehr von mir wissen?

FLORA. Rudolf, du fragst wie ein Primaner. Es geht jetzt um das Volk, um das Proletariat. – Sieh, davon verstehst du nichts. Du weißt nicht, was das ist. Du kennst nur die Worte und bewunderst mein Mitleben in dieser Welt wie ein fremdes Schauspiel. Du bist Ästhet, Literat. – Ich bin von der anderen Welt.

TIEDTKEN. Du hast mich doch aber geliebt!

FLORA. Ja, Rudi – gewiß. Das ging bis jetzt. Aber was nun kommt, braucht mich ganz. Ich darf Körper und Geist nicht länger ein verschiedenes Leben führen lassen.

TIEDTKEN auf sie zu. Flora! Gib mir einen Kuß!

FLORA zurückweichend. Laß das, ich bitte dich.

MARIE tritt ein, in weitem Cape, das ihren Zustand einigermaßen verdeckt; Kopftuch. So. Ich bin soweit. – Hier haben Sie Schreibzeug und Papier. Nimmt Schreibunterlage, Tintenfaß und Papier von der Kommode. Auf Wiedersehen!

TIEDTKEN läßt Marie zur Tür hinaus. Leise. Auf Wiedersehen, Flora. Ab.

FLORA ebenso. Leb wohl, Rudolf. Wendet sich ab.

Sie geht ein paarmal im Zimmer auf und nieder, bleibt am Fenster stehen. Nimmt langsam aus der Tasche ein Zigarettenetui und Zündhölzer. Zündet eine Zigarette an. Nach ein paar Schritten geht sie entschlossen zum großen Tisch, setzt sich, Gesicht zum Publikum, und schreibt. Nach kurzer Zeit draußen Schritte. Es klopft.

FLORA. Bitte!

SCHENK tritt ein. Komm ich zu früh?

FLORA lacht. Da steht bis jetzt nur die Überschrift.

SCHENK zögernd. Soll ich später wiederkommen?

FLORA. Nein. Wir haben miteinander zu reden.

SCHENK. Ich glaube auch. Er hustet.

FLORA. Sind Sie krank, Schenk? – Ach Gott, die Zigarette!

SCHENK. Nein, bitte rauchen Sie. Es ist nur für den Augenblick. Er hüstelt und bekämpft sichtlich den Hustenreiz. Ich sehe Sie gerne rauchen. Es gehört zu Ihnen.

FLORA. Wirklich? Setzen Sie sich zu mir.

SCHENK wirft den Überzieher aufs Bett. Kommen Sie an den anderen Tisch. Setzen sich an den runden Tisch. Wie beurteilen Sie die Lage?

FLORA. Wir dürfen nicht pessimistisch sein.

SCHENK. Aber Sie sind es?

FLORA. N-ein! Nur glaub ich für den Augenblick nicht an den Erfolg.

SCHENK. Und trotzdem wollen Sie die Massen in Bewegung setzen?

FLORA. Erst recht. Das Proletariat muß die Arbeiterfeindlichkeit der Herrschendem am eigenen Leib spüren. Vorher wird es zu nichts zu gebrauchen sein.

SCHENK. Es wird Blut fließen, Flora!

FLORA. Das weiß ich. Sie werden ganz sicher schießen.

SCHENK. Man wird die Besten einsperren.

FLORA. Ohne Zweifel.

SCHENK. Wie tapfer und stark Sie sind!

FLORA. Wir beide müssen zusammenstehen, Schenk. – Hören Sie mich an: Das Volk ist noch vollständig blind für alles, was vorgeht. – Der Krieg ist für Deutschland verloren.

SCHENK. Eine Verständigung ist nicht mehr möglich?

FLORA. Nach Brest-Litowsk nicht mehr. Die Frage steht so: Wird die Niederlage durch die Revolution kommen, oder wird die Revolution die Folge der Niederlage sein? Die Revolution aus Verzweiflung über den militärischen Mißerfolg wäre das größte Unglück für das Proletariat. Im Auslande würde man unsere Revolution nicht ernst nehmen und im Inland versuchen, uns mit Reförmchen abzuspeisen.

SCHENK. Am schlimmsten wäre es, wenn wir sie noch zur West-Offensive kommen ließen. Wenn ihnen der Durchbruch gelingt, dauert der Krieg noch jahrelang.

FLORA. Und der Pöbel läßt sich von neuem foppen, hängt Fahnen heraus, zeichnet Kriegsanleihe und schreit Hurra für Kaiser und Hindenburg. Es gibt nur einen Weg – den, den die Bolschewiki gegangen sind. Der Krieg muß durch die Revolution sabotiert werden. Das deutsche Volk muß die Niederlage erzwingen.

SCHENK. Aber wird man uns nicht ein Brest-Litowsk machen?

FLORA. Nur, wenn wir den Krieg erst militärisch verlieren. Dann kann der Entente-Imperialismus mit Deutschland machen, was er will. Das Proletariat drüben hat dann wenig Interesse, es zu verhindern – am wenigsten, wenn wir jetzt den Raubzug gegen Sowjetrußland geschehen lassen. Dann ist der Krieg vom Kapitalismus begonnen und von ihm bis zu Ende geführt worden, und der siegreiche Kapitalismus wird die Leiche des Besiegten fleddern. Das ist selbstverständlich.

SCHENK. Deutschland gibt ja das Beispiel selber.

FLORA. Bringen wir aber den Krieg durch Insurrektion zu Ende, dann werden sich die Sieger hüten, das nachzumachen, was ihnen die Deutschen jetzt vormachen.

SCHENK. Ihre Proletarier werden es ihnen nicht erlauben.

FLORA. Bestimmt nicht. Dann ist aber für den Entente-Imperialismus der Sieg kein Sieg mehr – und die Revolution kommt in allen Ländern zum Ausbruch.

SCHENK. Die Weltrevolution?!

FLORA. Die Weltrevolution! – und der Sieg des Sozialismus, des Kommunismus. Es hängt alles vom deutschen Proletariat ab.

SCHENK. Aber Sie glauben doch nicht an den Erfolg?

FLORA. Noch nicht. Nur muß es eine wirkliche Rebellion werden, kein Versuch einer Minderheit, der im Keim steckenbleibt. Der moralische Eindruck bleibt der gleiche, wenn wir auch diesmal noch unterliegen. Das Volk braucht die Lehre.

SCHENK. Glauben Sie denn, daß eine wirkliche Erhebung zustande kommen wird?

FLORA. Ich fürchte das Militär weniger als – die Arbeiterführer.

SCHENK. Ja. Das ist das Gift im Leibe des deutschen Proletariats.

FLORA. Wenn es uns gelänge, die Sozialdemokratische Partei und die Gewerkschaften zu sprengen, dann hätten wir gewonnen – auch wenn wir äußerlich verlieren.

SCHENK. Räte brauchten wir – Arbeiter- und Soldatenräte.

FLORA. Die will ich auch in den Flugblättern fordern. – Jetzt ist das wichtigste, daß wir alle Parteiführer von der Bewegung fernhalten.

SCHENK. Deshalb muß eben Seebald an die Spitze.

FLORA. Es wäre gut, aber er ist – Pazifist, wenn er auch weitergeht, wenn er auch Tolstoische Gedanken predigt. Ich fürchte, Schenk, er ist nur Prediger!

SCHENK. Nein – nein! Wir müssen mit ihm reden. Wir werden ihn gewinnen.

FLORA. Wird aber viel gewonnen sein, wenn er den Massen sagt: Die Waffen nieder!? – Wir brauchen einen Mann, der ihnen zuruft: An die Gewehre!

SCHENK faßt ihre Hände. Ja – ja. Der Streik nützt nichts, wenn er nicht zum Aufstand wird. Nachdenklich. Das kommt darauf an, Seebald erst einmal auf der Straße zu haben. Bringen wir ihn dahin, dann können wir ihn auch zum Handeln zwingen.

FLORA. Wie – zwingen? – Er wird zur passiven Demonstration raten.

SCHENK. Auch noch, wenn die andern aktiv werden? Sein Freund Lecharjow hat's 1909 in Rußland mitgemacht. Der wird ihn treiben.

FLORA. Es gibt Christusnaturen. –

SCHENK plötzlich. Wäre ich nur ein bißchen gesünder, ich würde freiwillig Soldat – um mit dabei zu sein, wenn es gegen die Arbeiter ginge.

FLORA. Gegen die Arbeiter?

SCHENK. Ja, doch! – Um im entscheidenden Augenblick überzugehen.

FLORA. Dann müßten Sie vorher die ganze Zeit Theater spielen?

SCHENK. Und wenn! Besinnt sich. Vielleicht hätte ich mich nie bekennen sollen – zu meiner Überzeugung.

FLORA. Nie bekennen?

SCHENK. Im Bunde mit dem Feinde arbeiten – und ihn dann –

FLORA. – verraten!

SCHENK. Ja! Der Feind lehrt den Menschen handeln. – Kann sein, daß auch Seebald erst vom Feind zur Pflicht gebracht wird: wenn sie ihn persönlich anfassen.

FLORA. Das werden sie nicht. – Sie haben auch Tolstoi nichts getan in Rußland.

SCHENK. Ich weiß. Seebald ist der Abgott der Menge – und sein Ruf in der ganzen Welt. Ein Gelehrter – ein Philosoph. –

FLORA. An ihn wagen sie sich nicht heran. Auch das gebildete Bürgertum steht für ihn auf – die Studenten.

SCHENK. An die glaub ich am wenigsten. Aber gleichviel. – Wenn es nicht anders geht, muß Seebald geopfert werden.

FLORA. Geopfert?

SCHENK. Das heißt, er muß an den gefährlichsten Posten. – Und er muß selbst zum Sturm aufrufen. Dann werden sie auch nach ihm greifen.

FLORA. Sie lieben doch Mathias Seebald?

SCHENK. Ich? – Für ihn sterben könnte ich jede Minute. Er ist ein herrlicher Mensch, der reinste und beste. Er ist mein Vorbild, mein Meister.

FLORA. Und Sie würden ihn opfern?

SCHENK. Wenn es die Sache verlangt – natürlich!

FLORA ist aufgestanden, fährt ihm durchs Haar. Gäbe es kein Verbrechen, Raffael, das Sie der Revolution verweigerten?

SCHENK. Was der Revolution dient – wie kann das Verbrechen sein?

FLORA. Du bist ein ganzer Mensch. Wir wollen zusammenhalten.

SCHENK ergreift ihre Hände. Das wollen wir! – Flora! – Ich will dein Freund sein, wo du mich brauchst.

FLORA. Und volles Vertrauen – immer und überall! Schenk Volles Vertrauen! – Nur eins: es ist nicht Eigennutz – –

FLORA. Sprich nur! –

SCHENK. Flora – ob du Tiedtken liebhast – ist deine Sache. Aber – er soll nicht dein Kamerad sein.

FLORA. Ich habe Rudolf fortgeschickt.

SCHENK. Ganz?

FLORA. Ja. – Bist du zufrieden? Sie küßt ihm die Stirn.

SCHENK zieht sie an sich. Ich liebe dich schon lange – lange.

FLORA macht sich sanft von ihm los. Wir schließen den Bund –

SCHENK. Fürs Leben?

FLORA. Für die Tat, Raffael!

SCHENK. Die Tat – –!!

Vorhang.


************************************

Zweiter Akt

Am Abend des nächsten Tages. Vereinszimmer der »Hütte«. Vorn ein schmaler Raum in der ganzen Ausdehnung der Bühne. An ihn schließt sich ohne Tür ein langes, in den Hintergrund führendes Zimmer an, das die Wand in der Mitte rechtwinklig durchbricht und etwa die halbe Breite des vorderen Raumes hat. Der Eingang zum zweiten Zimmer wird von Portieren und zwei Kübeln mit Blattpflanzen flankiert. Im vorderen Raum links ein Klavier mit Drehschemel. An der Hinterwand rechts Bank mit Armlehnen, davor ein längerer Tisch mit bunter Wirtshausdecke und Stühlen. Rechts von Holzläden verdecktes Fenster. Links vom Ausgang ein Schränkchen mit studentischen Verbindungszeichen. Darüber zwei gekreuzte Rapiere. An den Wänden Bilder des deutschen Kaisers, Hindenburgs und anderer Heerführer. Über der Bank eine Draperie von Fähnchen in deutschen, österreichischen, ungarischen, türkischen und bulgarischen Farben. Ein Fußläufer bedeckt einen Teil des Bodens. Elektrische Birnenarrangements über dem Klavier und zu beiden Seiten des Eingangs. Im hinteren Raum sieht man durch die Pflanzenkübel hindurch einen langen, ungedeckten Tisch mit Stühlen zu beiden Seiten und ganz im Hintergrund eine große Milchglastür, die von rückwärts schwach erleuchtet ist. Im vorderen Raum helle Beleuchtung, die den schwächer beleuchteten zweiten Raum in undeutliches Licht setzt. Wenn sich die Glastür hinten öffnet, ändert sich dabei die Beleuchtung. Der vordere Raum ist leer, im zweiten ist Stimmengewirr, man sieht undeutlich sich verschiedene Personen bewegen. Aus ihnen lösen sich Werra Adler, ältliche, aber jugendlich aufgeputzte Person, und Klara Wendt, junges Mädchen, die Arm in Arm den Vordergrund betreten.

WERRA. Und hier, siehst du, bleibt dann meistens nach den Diskussionen der engste Kreis beisammen – im ganz internen Gespräch.

KLARA. Da ist Herr Professor Seebald wohl immer dabei?

WERRA. Unser Meister! – Um den gruppiert sich doch alles. Ach, ich freue mich so, daß du ihn heute kennenlernen wirst.

KLARA. Ich auch – aber, ehrlich gestanden, ich bin etwas ängstlich. – So ein berühmter Mann. –

WERRA. So ein großer Mann, Klärchen! Aber du brauchst nichts zu fürchten –, er ist nicht hochmütig.

KLARA. Das erkennt man ja schon daran, daß so viele einfache Arbeiter hier sind.

WERRA. Du kannst mir glauben: Auf die bin ich oft geradezu eifersüchtig. Unsereiner kommt sich manchmal wie geduldet vor, so bevorzugt er das niedere Volk.

KLARA. Aber nach den Vorträgen – hier hinten – da finden sich wohl mehr die gebildeten Teilnehmer zusammen?

WERRA. Das ist verschieden. Manchmal schickt er uns Bessere direkt fort. – Du hast doch den lahmen Rothaarigen gesehen drinnen?

KLARA. Den blassen Menschen, der immer so hüstelt?

WERRA. Das ist sein Liebling; ein gewöhnlicher Buchdruckergeselle.

KLARA. Denk nur!

WERRA. Der bleibt fast immer mit hier; auch wenn bloß noch Klaviervorträge sind oder ein jüngerer Dichter, zum Beispiel Herr Tiedtken, Verse vorträgt.

KLARA. Ja, können denn diese Leute dies überhaupt verstehen?

WERRA. Der Meister glaubt es, ja. – Er ist so gut!

Hinten werden Stühle gerückt; lauteres Sprechen.

Der Wirt Präzold kommt vor, hinter ihm Damen und Herren, darunter Dr. Bossenius, und einzelne Arbeiter, unter ihnen Schenk und Klagenfurter.

PRÄZOLD sich umschauend. Herr Professor ist also wohl noch nicht da?

DR. BOSSENIUS. Müssen Sie ihn denn selber sprechen?

PRÄZOLD. Ist vielleicht nicht mal nötig. Ich möchte den Herrschaften bloß sagen, daß die Versammlung heute nicht sein kann.

DAMEN. Oh! Ach! – Ja, warum denn nicht?

PRÄZOLD. Ja – es ist grad wieder ein neuer Befehl gekommen, daß jede Art Versammlung, auch Vereinszusammenkünfte, verboten sind. Mir tut's ja selbst leid. Aber was soll ich wohl machen?

KLARA. Dann müssen wir wieder gehen?

WERRA. Ach, Herr Wirt, lassen Sie uns doch so lange bleiben, bis wir den Meister begrüßt haben. – Ja? – Bitte!

SCHENK. Herr Präzold – es ist gut.

PRÄZOLD. Wieso? – Was meinen Sie?

SCHENK. Ich meine, Sie haben Ihre Pflicht erfüllt und das Verbot mitgeteilt.

DR. BOSSENIUS zu Schenk. Wollen Sie etwa hierbleiben?

KLAGENFURTER. Ich kann doch ein Glas Bier bekommen, Herr Präzold?

PRÄZOLD. Aber ich möchte die Herren doch bitten – – an mir geht's doch schließlich aus.

SCHENK. Was kann Ihnen denn passieren, wenn Sie hier Gäste bewirten? – Schicken Sie uns das Fräulein, bitte.

PRÄZOLD. Ja – natürlich – – sofort! Will ab, dreht sich noch mal um. Nur bitte – Vorträge dürfen auf keinen Fall gehalten werden. – Nur ganz zwanglos. Ab.

DR. BOSSENIUS. Ich habe doch Bedenken gegen diese Umgehung. – Ah, da kommt Herr Strauß.

STRAUSS tritt vor. Guten Abend, allerseits. Was ist denn hier für ein Aufstand?

DR. BOSSENIUS. Sie wissen, Herr Strauß, von dem Verbot von Vereinszusammenkünften?

STRAUSS. Ach – ich hätt mir's denken können. Nach den letzten Nachrichten, die bei der Redaktion eingelaufen sind. –

KLAGENFURTER. Ist etwas Wichtiges, Neues?

STRAUSS. Ja, nun – der Streik dehnt sich aus. Besonders von Österreich kommen die beunruhigendsten Meldungen; in Wien, Graz, Prag, Brünn ruht die Arbeit vollständig.

DIETRICH auftauchend. Bravo, bravissimo!

KLAGENFURTER leis. Du bist unvernünftig, Mensch!

STRAUSS. Ich fürchte, Genosse Dietrich, Sie verkennen die Situation. Nach meiner Überzeugung kann diese Bewegung in einem solchen Augenblick den Frieden nicht fördern, sondern höchstens schädigen – wenn die Wirkungen nicht noch bedenklicher werden sollten. Die Front ohne Munition lassen –

SCHENK. Na ja, das wollen wir jetzt nicht verhandeln.

STRAUSS. Ich kann nur sagen, daß das die Meinung aller führenden Männer der Sozialdemokratischen Partei ist.

DIETRICH lacht dröhnend. Das glaub ich. Diese – –

KLAGENFURTER. Still, Dietrich!

DR. BOSSENIUS. Also, Herr Strauß, der Wirt hat mir eben erklärt, daß eine Sitzung des Bundes keinesfalls stattfinden dürfe. Nun meinen die Herren –

STRAUSS. Wir müssen uns doch selbstverständlich dem Verbot fügen.

SCHENK. Das mag jeder halten, wie er will. Meine Freunde und ich sind in diesem Augenblicke Gäste in der »Hütte«. Wenn die Vereinsräume für Sitzungen gesperrt sind, so benützen wir sie eben als Wirtschaftsräume.

STRAUSS. Zu irgendwelcher Umgehung des Verbotes könnte ich mich keinesfalls verstehen.

DIETRICH. Es wird ja niemand gezwungen, dazubleiben.

WERRA. Ich bleibe nur, bis der Meister kommt. Ich will ihm wenigstens die Hand drücken und ihm ins Auge schauen.

KELLNERIN tritt auf. Die Herren haben gewünscht?

SCHENK. Bringen Sie mir eine Limonade, bitte – Fräulein.

KLAGENFURTER. Und mir ein Glas Bier.

DIETRICH. Mir auch ein Bier!

KELLNERIN. Die übrigen Herrschaften?

DR. BOSSENIUS. Vorläufig nichts. Wir bestellen vielleicht später. Kellnerin ab.

WERRA. Ach, der Meister kommt! Der Meister! – Komm, Klärchen – ihm entgegen! Mit Klara in den Hintergrund. –

Die Herren und Damen drängen ins hintere Zimmer. Es bleiben zurück Schenk, Klagenfurter und Dietrich. Zu ihnen dann Trotz.

KLAGENFURTER. Es wäre das beste, wenn das ganze Geschmeiß davonliefe.

DIETRICH. Diese Bande!

SCHENK. Mir wär's lieber, sie blieben da. Wir brauchen sie als Schildwache.

TROTZ. Man will uns nicht tagen lassen?

SCHENK. Ah – du kommst erst jetzt! – Wir bleiben natürlich.

DIETRICH. Der kleine Doktor hat schon Angst für seine Karriere – und der Strauß, der Verräter, möchte am liebsten gleich die Polizei holen!

SCHENK. Hast du Flora nicht gesehen?

TROTZ. Das ist ein Prachtmädel! Sie war heute bei mir, im Vorbeikommen. Hat sich bloß ausgeruht und Bericht erstattet. Den ganzen Tag ist sie auf den Beinen und agitiert. Ich hab sie ein Stück begleitet.

KLAGENFURTER. Agitiert? Wie kann sie das?

TROTZ. Die kann alles. In die könnte ich alter Mann mich noch verlieben. – Sie ist in der Volksküche und unterhält sich ganz arglos mit den Leuten.

DIETRICH. Und heizt ihnen dabei ein – wie?

TROTZ. Tüchtig. In den Geschäften nimmt sie einen Krautkopf in die Hand und jammert: Sechzig Pfennig! Das ist ja Sünde und Schande. Und dann kommen mit der unschuldigsten Miene Betrachtungen über den Krieg, über die Not – und dann ist sie auch schon beim Streik. – Ich war mit ihr in einem Laden. –

SCHENK. Erzähl doch – erzähl!

TROTZ. Na ja, sie kaufte Zigaretten. – Ach Gott, der Preis! Und dann auch noch so schlecht! Ja – wenn man reden dürfte! Wenn die Leute nachdenken wollten! – Na, es waren noch zwei Leute da, ein Arbeiter und eine Frau. – Ja, reden Sie nur, Fräulein. Was meinen Sie denn? – Na, und dann legte sie los, daß den Leuten der Kopf warm wurde. Und ich tat, als ob ich nicht zu ihr gehörte, und hab mitgeholfen.

KLAGENFURTER. Und wie nahmen es die Leute auf?

TROTZ. Als sie weggingen, haben sie nur noch an den Streik gedacht – und wenn er doch bei uns auch zustande käme.

DIETRICH. Es wird prächtig werden! – Alle sind dafür!

SCHENK. Siehst du auch nicht wieder zu rosig, Dietrich?

DIETRICH. Ich? – Ich kenne doch meine Leute! Mir kann niemand etwas weismachen!

KLAGENFURTER. Soviel ich sehen konnte, glaub ich auch, daß morgen alles klappt.

SCHENK. Habt ihr gehört, wie die Verbreitung der Flugzettel funktioniert hat?

DIETRICH. Tadellos!

TROTZ. Am besten hat Konrad Fischer gearbeitet. Als bei Wachsmann die Leute kamen, lagen an jedem Platz ein paar Blätter.

SCHENK. Und wurde die Sache gut aufgenommen?

KLAGENFURTER. Ausgezeichnet. – War auch brillant geschrieben.

DIETRICH. Donnerwetter! Die Severin hat's los! Die paar Sätze – aber jedes Wort wie mit der Keule! Trotz Schrei die Namen nicht so – wenn's der Strauß hört!

DIETRICH. Der Spitzel – der dreckige!

SCHENK. Also morgen früh, meint ihr, wird alles feiern?

KLAGENFURTER. Wachsmann ist gut. Bei der Motorengesellschaft ist es nicht sicher. Ich traf Schulz. Er meint, die Hälfte würde wohl mittun. Von Bartels & Moser weiß ich noch nichts.

TROTZ. Flora wollte Rund abholen, um zu hören, wie es in der Kaserne aussieht.

KLAGENFURTER. Ja, das ist das Wichtigste.

SCHENK. Kennt man überall die Unzuverlässigen?

DIETRICH. Die Spitzel? Die sollen es nur wagen!

TROTZ. Verräter sind immer dabei. Aber wer soll die kennen? Da haben wir schon unter dem Sozialistengesetz Überraschungen genug erlebt. Die wir für die Zuverlässigsten hielten, waren nachher bezahlte Lockspitzel.

SCHENK. Ich hab deinetwegen Angst, Stefan. Auf die Kriegspflichtigen werden sie besonders scharf sein.

KLAGENFURTER. Wenn es nicht schiefgeht, kann mir doch nichts mehr passieren.

DIETRICH. Was soll jetzt wohl noch schiefgehen!?

Bewegung im Hintergrund. Es treten auf Mathias Seebald, Mitte der Fünfziger, lange zurückgekämmte Haare, schwarzer Rock, schwarze Binde, asketisches Äußeres. Auf ihn einredend Werra mit Klara am Arm. Hinter ihnen Lecharjow, graue wirre Haare, Brille, spricht mit stark russischem Akzent:

rollendes R, auch in kurzen Endsilben hörbar, sehr weiches S. Damen und Herren, darunter Dr. Bossenius und Strauß.

WERRA. Liebster Meister! Jetzt müssen Sie endlich mal unsere jüngste Schülerin anschauen, hier meine kleine Schutzbefohlene Klara Wendt. Es ist eine Nichte meines geschiedenen Gatten. Aber sie hält der ganzen Familie zum Trotz zu mir.

SEEBALD reicht Klara die Hand. Freut mich, Fräulein. Heute werden Sie freilich hier nicht viel hören.

KLARA. Ach, mir war ja doch hauptsächlich darum zu tun, Herrn Professor persönlich kennenzulernen.

SEEBALD lacht. Das ist allerdings nicht der Zweck des »Bundes Neuer Menschen«.

WERRA. Nehmen Sie es nicht für ungut, Meister. Sie ist noch so naiv.

SEEBALD klopft Klara die Backe. Schon gut, liebes Kind. – Aber die Damen entschuldigen mich jetzt. Ah – da sind ja meine Freunde alle beieinander. Läßt Werra stehen. Raffael! Gut, daß Sie da sind. Reicht Schenk, Trotz, Klagenfurter und Dietrich die Hand. Es wird Tag, Freunde – das Volk wacht auf!

Seebald, Lecharjow, Schenk, Trotz, Klagenfurter, Dietrich stehen vorm Tisch rechts, die übrigen im

Eingang und links.

KLAGENFURTER. Haben Sie neue Nachrichten, Herr Professor?

SEEBALD. Nicht viel mehr, als die Zeitung bringt. Aber es geht ein neuer Geist durch die Massen – das spürt man, und das läßt einen Mut fassen. Berlin – Wien – Prag – Leipzig – – nun, und wird bei uns alles beim alten bleiben?

DIETRICH. Morgen – –

SCHENK stößt ihm in die Seite. Du bist verrückt!

STRAUSS vordrängend. Ich bezweifle, daß die Bewegung hierher übergreifen wird. Es ist allerdings versucht worden, die Arbeiterschaft durch anonyme Flugblätter zum Streik aufzuputschen. Aber es sind alle Gegenmaßnahmen getroffen worden.

SCHENK. Von Ihnen oder vom Generalkommando?

DIETRICH. Von beiden im Bunde!

STRAUSS. Darauf glaube ich nicht antworten zu müssen.

KLAGENFURTER. Wird wohl am besten sein.

SEEBALD. Bitte nicht zu streiten. – Ich glaub nur, Herr Strauß, daß Sie bei allem guten Willen, dem Proletariat zu nützen, seinen Feinden die Karten mischen.

STRAUSS. Und ich glaube, daß ein Streik in diesem kritischen Augenblick die Soldaten, die doch auch Proletarier sind, wehrlos den Feinden ausliefern würde.

LECHARJOW. Erlauben Sie mir bitte – bitte – Sie sagen: Kritischer Augenblick. Wollen Sie mir sagen – bitte – was heißt kritischer Augenblick?

STRAUSS. Der Krieg steht vor seiner Entscheidung.

SEEBALD. Er wird noch lange vor seiner Entscheidung stehen, wenn die Arbeiter die Entscheidung nicht herbeiführen.

DIETRICH. Sehr richtig! Bravo!

STRAUSS. Die Arbeiter können den Krieg nur im Sinne einer Niederlage entscheiden. Jetzt stehen wir vor der Entscheidung, die unsere Existenz sichert.

Im Eingang erscheinen Flora und Rosa, sie bleiben stehen und hören zu.

LECHARJOW. Bitte – erlauben Sie noch mal –, wollen Sie mir sagen – ich bitte – wann ist gestanden seit August 1914 der Krieg nicht im kritischsten Augenblick? Und was heißt Existenz sichern – ich bitte? Wessen Existenz, wenn ich fragen darf? Die proletarische Existenz ist nicht gesichert, wenn Krieg ist, und ist nicht gesichert, wenn Frieden ist.

STRAUSS. Geht die deutsche Industrie zugrunde, dann sind die Arbeiter die Leidtragenden.

FLORA tritt nach vorn. Zu Strauß. Sie sind Sozialist, nicht wahr? Jedenfalls nennen Sie sich wohl so?

STRAUSS. Ich bin seit siebzehn Jahren organisierter Sozialdemokrat, Fräulein Severin.

FLORA. Wirklich? Aber von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel halten Sie wohl nichts?

STRAUSS. Augenblicklich geht es nicht um sozialistische Ideale, sondern um die Rettung des Vaterlandes.

DR. BOSSENIUS aus der Reihe der Umstehenden. Ganz richtig.

SEEBALD. Ich bin doch ein wenig erstaunt, meine Herren, diese Ansichten in unserem Kreis zu hören. Wir haben uns doch hier zu einem »Bund Neuer Menschen« zusammengefunden. Neue Menschen dürfen aber nicht an alten Vorurteilen hängen. Vaterland – gibt es denn das, wenn das Land der Väter den Söhnen einzelner weniger Väter gehört? Ich fürchte, daß der Geist in unserem Bunde mit dem Geist eines Bundes noch wenig Ähnlichkeit hat.

WERRA vortretend. Aber, bester Meister, eine kleine Meinungsverschiedenheit macht doch nichts aus. Wir wollen doch alle dasselbe: das Gute, das Wahre und das Schöne. – Wir sollten uns doch nicht mit der häßlichen Politik abgeben. Vielleicht trägt lieber jemand etwas vor: Ein Liedchen oder ein schönes Gedicht. – – Ist Herr Tiedtken denn nicht da?

SEEBALD. Sie sind im Irrtum, verehrte Frau Adler. Ästhetische Unterhaltungen sind nicht der Gegenstand unserer Gemeinschaft. Wenigstens habe ich mir, als ich den »Bund Neuer Menschen« schuf, etwas anderes dabei gedacht. Die Pflege der Kunst ist nur eines der Mittel, die den Geist bereitmachen für das Gute, Wahre und Schöne. Die Bedingung für Güte, Wahrheit und Schönheit wird aber nicht durch künstlerische Vorträge geschaffen. Sie heißt Friede und Gerechtigkeit.

WERRA. Gewiß, lieber Meister. – Natürlich ist das das Höchste.

SCHENK. Für Frieden und Gerechtigkeit kann man auch sagen: Freiheit und Sozialismus.

FLORA. Und der Weg zu alledem heißt Revolution.

KLARA. O Gott, wie schrecklich!

DR. BOSSENIUS. Wenn Sie eine Revolution des Geistes meinen –

TROTZ. Wir meinen eine Revolution der Klasse, Herr Doktor!

DIETRICH. Jawohl – das klassenbewußte Proletariat –

DR. BOSSENIUS. Fräulein Severin kann schwerlich ein proletarisches Klassenbewußtsein mit auf den Weg bekommen haben. Ihr Herr Vater ist meines Wissens Bankdirektor.

SCHENK. Und wenn Sie Müllkutscher wären, würden Sie noch nicht begreifen – – Hustet.

SEEBALD. Ich bitte, Raffael, werden Sie nicht ausfallend; und um das gleiche bitte ich auch Sie, Herr Dr. Bossenius. Was wir in unserem Bunde anstreben, ist ja gerade die innere Wandlung des Menschen, die ihn das Wesen echter Gemeinschaft erkennen läßt.

DR. BOSSENIUS. Dabei fragt sich nur, ob wir Gebildeten uns zu Proletariern wandeln sollen.

FLORA. Das fragt sich gar nicht. Bourgeoisie ist das Verächtlichste. – Das Proletariat hat die Zukunft. In ihm sind alle Anlagen noch unverbildet. Insofern lasse ich die Unterscheidung, die Sie mit dem Wort »Gebildete« machen, allenfalls gelten. – Wenn hier Proletarier und Bour – – Angehörige der andern Klasse zusammenkommen, so sollen dabei die Arbeiter nicht etwa »gehoben« werden, sondern die übrigen sollen sich prüfen, ob sie ihre Herkunft so völlig abstreifen können, daß sie berechtigt sind, sich zum Volk zu zählen.

DR. BOSSENIUS. Denken Sie ebenso, Herr Professor?

SEEBALD. So ähnlich. Das Ziel ist die klassenlose Gesellschaft, in der überhaupt erst vom Volk die Rede sein kann. Wenn wir einen Ausgleich schaffen wollen, so ist das nur möglich in einem freien Bunde abgesonderter und darum neuer Menschen. Das müssen Menschen sein, die die neue Gemeinschaft schon in sich tragen, die den Unwert der Klassengesellschaft mit ihrer Ausbeutung, ihrer Gewalt, ihrem Krieg, ihrer Sklaverei, ihrer Herrschsucht so unerträglich fühlen, daß sie für sich die Abkehr schon vollzogen haben und mit dem Proletariat ohne Klassengegensatz denken, fühlen und, wenn es sein muß, handeln.

DIETRICH. Wir brauchen die Diktatur des Proletariats!

STRAUSS. Wir Demokraten lehnen jede Diktatur ab.

SCHENK. Die Diktatur des Kapitalismus lassen Sie sich aber gefallen. Das Kapital verfügt über sämtliche Machtmittel des Staates und der Menschen überhaupt. Es zwingt alle Arbeitskräfte in seinen Dienst, zwingt sogar den Ausgebeuteten zu töten und getötet zu werden, um noch größeren Gewinn aus sich herauspressen zu lassen, und dadurch, daß es alle Organe der Beeinflussung in seiner Macht hat, bringt das Kapital obendrein seine Opfer zu dem Glauben, daß alles so sein müsse, wie es ist.

STRAUSS. Mit Ihren Ideen kämen wir in Deutschland geradewegs zum Bolschewismus.

FLORA. Wäre das so arg?

DR. BOSSENIUS. Na, ich danke.

LECHARJOW. Sie sprechen aus: Bolschewismus. Wissen Sie, was ist Bolschewismus? Werd ich Ihnen sagen: Bolschewismus ist – – Bolschewismus ist die Seele des russischen Volkes. Die Seele des russischen Volkes – – das ist Bolschewismus.

DR. BOSSENIUS. Damit ist gar nichts gesagt.

LECHARJOW. Nicht? – nichts gesagt? Ich will Ihnen sagen – ich bitte, hören Sie mir zu –: Damit ist nichts gesagt für Sie. Damit ist gesagt viel – alles für den, der die Seele kennt des russischen Volkes und jedes andern Volkes. Sehen Sie auf mich, wie ich bin: 1905 hab ich gestanden auf der Barrikade in Petersburg und war schon damals nicht weit von 50 Jahren – und hab gekämpft bewußt für den Bolschewismus.  Mußt ich fliehen nachher vor dem Zarismus und hab mich naturalisieren lassen in Deutschland. – Leider! – Wär ich ausgewiesen worden 1914 nach meiner Heimat, könnt ich kämpfen jetzt mit Lenin und Trotzki um die große Sache der Menschheit, um den Kommunismus.

TROTZ. Wir werden Sie auch bei uns brauchen können, Genosse Lecharjow!

LECHARJOW. Vielleicht kann ich nützen auch hier etwas.

STRAUSS. Deutschland ist nicht Rußland.

SCHENK. Wir sind internationale Sozialisten, Herr Strauß!

DR. BOSSENIUS. Mir stehen die großen Menschheitsideen nicht ferner als einem von Ihnen. Aber ich kenne dabei noch ein nationales Pflichtbewußtsein.

SEEBALD tritt auf ihn zu. Streng. Herr Dr. Bossenius! In diesem Bunde gibt es ein Menschenbewußtsein, dem sich jede Pflicht unterordnet. Wenn Ihr nationales Pflichtbewußtsein eine besondere Sorte ist, die den Mord, die Gewalt, das Verbrechen zuläßt, dann wüßte ich nicht, was Sie veranlassen kann, unseren Kreis zu betreten. – In allen Weltgegenden werden in diesem Augenblick, in dem wir hier sprechen, Menschen getötet von anderen Menschen, die sich nicht kennen und die sich gar nichts angehen – in dieser Minute werden Hunderte zu Krüppeln geschossen, werden in der ganzen Welt aus Frauen und Kindern Witwen und Waisen gemacht. Da habe auch ich mein Pflichtbewußtsein – und das heißt nicht national sein und für die Mordenden der einen Seite Partei nehmen, sondern jedes, durchaus jedes Mittel anwenden, um dem unsäglichen Frevel Einhalt zu tun. – Wir haben uns hier nicht darüber zu unterhalten, ob dies oder jenes geschehen darf, sondern was sofort geschehen muß.

DIETRICH. Es lebe der Generalstreik!

STRAUSS. Zu einer politischen Versammlung hätte ich mich hier in der Tat nicht eingefunden.

SEEBALD. Die halten wir auch nicht. Wir werden uns dem Verbot der Militärbehörde fügen. Ich für meinen Teil möchte mich nur mit meinen nächsten Freunden unterhalten. Wollen wir uns hier in die Ecke setzen, Flora?

WERRA. Darf ich mit der Kleinen teilnehmen? – Es wäre uns so interessant.

FLORA. Wir haben mit dem Professor über etwas zu sprechen, was Sie kaum interessieren kann.

WERRA pikiert. Oh, dann wollen wir natürlich nicht lästig fallen. – Liebster Meister, das nächste Mal wird hoffentlich alles wieder wie immer sein.

SEEBALD. Wir werden sehen. Leben Sie wohl, Frau Adler. – Gute Nacht, Fräulein. Seebald nimmt auf der Bank Platz, neben ihm zur Rechten Flora. An der Seite links Schenk. Links von Seebald auf der Bank Trotz. Daneben auf einem Stuhl rechts Lecharjow. Klagenfurter, Dietrich und Rosa bleiben noch stehen.

KLAGENFURTER. Ach, da ist ja das Fräulein. Kellnerin tritt auf und bringt Getränke. Will noch jemand bestellen? Kellnerin nimmt Bestellungen auf und notiert. Inzwischen Aufbruch der Herren und Damen.

DR. BOSSENIUS zu Strauß. Ich glaube, wir haben hier heute nicht viel zu suchen. Beide ab.

WERRA zu Klara. Wie schade, daß du den Meister heute nur so wenig kennenlernen konntest, Kindchen. Aber heute in acht Tagen, denk ich –

KLARA. Aber man merkt doch schon, was für ein Idealist er ist. – So interessant! – Beide ab.

Im zweiten Zimmer sieht man noch kleinere Gruppen stehen, die allmählich alle abgehen.

DIETRICH. Diese Bande!

TROTZ. Wir sind jetzt unter uns. – Aber, Rosa, warum hast du denn Rund nicht mitgebracht?

ROSA. Ich konnte doch nicht reden vor den Leuten da. Ich hätte kein Wort herausgebracht.

FLORA. Wartet noch. Sie macht Schenk ein Zeichen.

SCHENK nach ein paar Schritten in dem andern Raum. Die Luft ist rein.

KLAGENFURTER. Soll mich wundern, ob uns der Bossenius nicht noch die Polizei herhetzt.

SCHENK. Ach wo, die Ästheten tun uns nichts. Sie sind zu feige zum Handeln und zu vornehm zum Denunzieren. Aber Strauß unternimmt bestimmt etwas.

SEEBALD. Freunde, wir haben niemanden zu fürchten. Unreine Seelen flecken nur nach innen. Was sollte er auch wohl unternehmen können?

DIETRICH. Streikbrecher sammeln!

SEEBALD. Das soll er. Arbeiter, bei denen er Erfolg hat, sind für uns vorläufig doch wertlos. Wir müssen sie erst heranziehen zu neuen Menschen.

FLORA. Darf ich offen sein, Professor?

SEEBALD. Natürlich.

FLORA. Ihr Bund ist nicht der Boden, auf dem Revolutionäre wachsen.

SEEBALD. Revolutionäre! – Die kann ich leicht haben, wenn –

FLORA. Wenn die Revolution da ist. – Aber hier gedeiht keine Revolution.

SEEBALD. Ich weiß gut, wie Sie es meinen. – Und Sie haben auch recht. Ich muß diese Anhänger und Anhängsel von mir abschütteln.

SCHENK. Nur aus Proletariern kann man neue Menschen machen. Die andern müssen erst Proletarier werden, ehe man sie erziehen kann.

LECHARJOW. Aber ich kann nicht lehren einen Bourgeois Proletarier sein, wenn nicht die Verhältnisse ihn lehren.

TROTZ. Wir müssen über die Sache reden, Genossen. Ich bin ein alter Mann, ich habe keine Zeit mehr zum Philosophieren.

SEEBALD. Es ist wahr. Neue Menschen müssen Menschen der Tat sein. Was ist bis jetzt geschehen?

FLORA. Die Arbeiter in allen Betrieben sind aufgefordert, morgen zu feiern. Flugblätter sind heute überall verteilt worden. Die große Mehrheit des Proletariats scheint gewonnen zu sein. Der Streikpostendienst ist organisiert. Nachmittags soll ein Demonstrationszug stattfinden.

SEEBALD. Eine Demonstration?

LECHARJOW. Wie habt ihr euch gedacht die Demonstration?

SCHENK. Um drei Uhr sammeln sich die Arbeiter auf dem Platz vor der Wachsmannschen Fabrik. Rote Fahnen und Plakate haben Trotz und Dietrich vorbereitet.

DIETRICH. Sie werden ihr Wunder erleben – diese Banditen.

SEEBALD. Und wohin soll der Zug gehen?

FLORA. Zum Schloß natürlich!

LECHARJOW. Was habt ihr gemacht, aufzuklären das Militär?

FLORA. Für die Soldaten ist ein besonderes Flugblatt herausgegangen! Rund hat die Verteilung geleitet.

KLAGENFURTER. Wo ist denn Rund?

ROSA. Er war heute mittag bloß auf einen Sprung bei mir. Das ganze Militär muß in den Kasernen bleiben. Es ist schärfste Bereitschaft befohlen.

SEEBALD. Und wie werden sich die Soldaten verhalten?

TROTZ. Das ist wohl ganz unsicher.

SEEBALD. Wenn sie in die Massen hineinschössen – das wäre schrecklich.

FLORA ist aufgestanden, hat sich hinter Schenks Stuhl gestellt. Raffael, sprich!

SCHENK. Wir müssen Sie dabei haben, Mathias Seebald!

SEEBALD. Mich? – Wozu?

SCHENK. Sie müssen um drei Uhr bei der Wachsmannschen Fabrik sein, müssen zur Masse sprechen und sich an die Spitze des Zuges stellen.

SEEBALD. Was soll denn ich nützen können?

FLORA. Alles. Keiner von uns könnte den Arbeitern das ausdrücken, worum es sich handelt und was auf dem Spiel steht. Wenigstens genießt keiner von uns soviel Vertrauen wie Sie. – Und dann der Eindruck auf das Bürgertum. Die Presse und die Partei- und Gewerkschaftsführer würden es nicht mehr wagen, von Verrat und Bestechung zu reden – und das Militär müßte sich mindestens zurückhalten.

SEEBALD geht auf und ab. Ich liebe demonstrative Herausforderungen gar nicht. Aber wenn ich bestimmt wüßte, daß ich nötig wäre. – Was denkst du, Fedor?

LECHARJOW. Was soll ich denken? – Wenn die Demonstration wäre bewaffnet, hätt ich gesagt: Es ist unnütz zu reden und voranzugehen. Dann soll vorangehen ein Mann, der kann kommandieren und weiß Bescheid mit dem Krieg.

SCHENK. Waffen haben wir nicht.

SEEBALD. Andernfalls käme ich auch nur mit, um abzuraten.

LECHARJOW. Wenn die Demonstration ist unbewaffnet – kann ich wissen, was geschieht? Ich kann nur wissen, wer unterliegt, wenn man schießt; ob du an der Spitze marschierst oder zu Hause bleibst. Und ob man schießt, hängt nicht ab von Stimmungen der Bourgeoisie, sondern davon, ob man sich kräftig genug fühlt, um die Folgen zu tragen. Kann sein – kann nicht sein. – Vor dreizehn Jahren am blutigen Sonntag in Petersburg ist vorausgegangen Gapon, der Pope; haben sie mitgetragen keine rote Fahnen, sondern Zarenbilder, Heiligenbilder, Kreuze. Kapitalismus hat gewußt, daß der fromme Gesang übersetzt bedeutet: Brot, Gleichheit, Sozialismus – und hat geschickt Kosaken und angerichtet ein schreckliches Blutbad.

FLORA. Damals. Aber jetzt, wo alles kriegsmüde ist, nicht zuletzt die Soldaten selbst, werden sie sich's überlegen.

LECHARJOW. Möglich – sie werden sich's überlegen. Möglich, sie werden sich sagen: Der Mathias Seebald vornean – gut, sie sollen sich Luft machen mit ihrem Zorn, sie werden wieder heimgehen – der Seebald ist ein guter Mensch; er wird sie von Unbesonnenheiten zurückhalten, und dann schaden sie uns nicht. – Möglich auch, der Kapitalismus wird sagen: Der Mathias Seebald an der Spitze? Das ist gefährlich. Er wird die Leute bringen zum Ausharren im Streik, er wird die Soldaten bringen zur Gehorsamverweigerung, er wird den Leuten aufdecken den Betrug von Brest-Litowsk. Ihn selber möchte man vielleicht nicht gerne einsperren, wegen seinem Ruf im Ausland. Wird man zusammenschießen, die ihm folgen, als warnendes Exempel – ich kann nicht wissen, was sie werden tun.

SEEBALD. Du meinst also, ich könnte vielleicht gerade den Anlaß geben, gewaltsam vorzugehen?

LECHARJOW. Ich meine gar nichts. Kann ich wissen? – Wenn sie sind klug genug, zu erkennen die Gefahr, die du bist für ihren Krieg – werden sie schießen. Wenn sie Esel sind und dich nehmen für einen harmlosen Schwärmer, werden sie es lassen gehen.

DIETRICH. Sie sind Ochsen alle miteinander!

SEEBALD aufgeregt hin und her gehend. Ich kann unmöglich die Ursache von Blutvergießen abgeben.

SCHENK. Ich bin überzeugt, Blut wird nur vergossen werden, wenn Sie nicht da sind.

FLORA. Das glaube ich auch.

SEEBALD. Aber ihr bringt mich in eine furchtbare Lage. Muß denn die Demonstration überhaupt sein?

TROTZ sehr bestimmt. Der Umzug muß sein. – Unter allen Umständen.

KLAGENFURTER. Es ist ja auch schon in den Flugblättern dazu aufgerufen.

SEEBALD am Eingang. Ich bin ganz ratlos. – – Aber da kommt ja noch – grüß Gott, lieber Freund!

Es tritt auf Laßmann am Arm seiner Frau.

LASSMANN. Ich habe die Zeit verschlafen. Wenn immer Nacht ist, muß man viel schlafen.

SEEBALD. Daß Sie jetzt noch kommen – am späten Abend!

FRAU LASSMANN. Er hat nicht Ruhe gegeben und geschimpft, daß ich ihn nicht geweckt hab zur Zeit.

Man bemüht sich um den Blinden. Währenddessen und der Begrüßung zieht Flora Schenk ans Klavier.

FLORA. Raffael, der Zug darf nicht zum Schloß gehen.

SCHENK. Sondern?

FLORA. Zum Zeughaus!

SCHENK. Wie meinst du das?

FLORA. Von da aus zum Schloß, wenn wir Waffen haben. Verstehst du?

SCHENK. Ja, o du! Nimmt ihre beiden Hände. Du hast recht!

FLORA. Aber jetzt kein Wort davon, sonst kommt er bestimmt nicht.

SCHENK. Glaubst du denn, daß er überhaupt kommen wird?

FLORA. Das ist deine Aufgabe. – Du mußt es durchsetzen. – Komm jetzt zurück. Er zieht sie hinter den Pflanzenkübel.

SCHENK. Flora! Leidenschaftlich. Flora! Meine – Will sie küssen; sie entzieht sich ihm.

FLORA. Lieber Mensch! Sie küßt ihm die Hand. Wir müssen stark sein, du und ich. Gehen unauffällig an den Tisch zurück.

DIETRICH. Morgen um diese Zeit werden wir schon mehr wissen!

TROTZ. Mancher vielleicht nichts mehr.

ROSA. Ich habe schrecklich Angst um Fritz. Wenn er mitkommandiert wird –

KLAGENFURTER. Dann könnte er am ehesten das Schießen verhindern.

ROSA. Ja – das ist auch wahr!

LASSMANN. War heute keine Diskussion?

LECHARJOW. Wir haben herausdiskutiert den ganzen Bund Neuer Menschen.

SEEBALD. Ja, dann wollen wir mit wirklich neuen Menschen von vorn anfangen.

LASSMANN. Mit Arbeitern!

FLORA. Ja – und solchen, die dazu gehören.

DIETRICH. Ohne Bossenius und Strauß!

SCHENK. Und die hysterischen Weibsbilder.

LASSMANN. Dann war heute auch kein Vortrag?

KLAGENFURTER. Den hat die hohe Behörde verboten.

LASSMANN. Siehst du, Tilde – so hab ich doch nichts versäumt.

FRAU LASSMANN. Und hättest gar nicht mehr herzugehen brauchen.

LASSMANN. O nein, ich bin froh, daß ich hier bin. – Wird morgen alles gut werden?

DIETRICH. Das darfst du glauben. Es wird großartig!

TROTZ. Wir wollen es hoffen, Laßmann.

LASSMANN. Ja – und ich werde vorangehen – und eine rote Fahne tragen.

SEEBALD. Sie, lieber Freund? – Und wenn Militär aufmarschiert?

LASSMANN. Das kann mich blinden Krüppel getrost zusammenschießen.

FRAU LASSMANN. Ach, er träumt ja seit gestern abend bloß davon. Ich hab ihm schon heut einen Besen in die Hand geben müssen und ihn im Zimmer herumführen – und die Kinder mußten hinterherlaufen.

LASSMANN. Komm, Tilde, ich zeig's. Er geht am Arm der Frau, seinen Stock hochhaltend, durch den Saal. Mir nach, Genossen!

LECHARJOW. Laßt uns gehen hinter ihm. Er ist begeistert.

DIETRICH. Ja – kommt! – Es lebe die Revolution!

Alle gehen hinter dem tastenden, schwankenden Laßmann her, nur Seebald und Flora bleiben am Tisch stehen.

LASSMANN singt.

Nicht zählen wir den Feind –

nicht die Gefahren all –

der Bahn der Kühnen folgen wir,

die uns geführt Lassalle!

Rosa und Dietrich singen den Refrain mit.

SEEBALD leise. Das ist erschütternd.

FLORA. Sie sehen, wie der Geist ist. – Sie müssen kommen!

SEEBALD. Ich habe die schwersten Gewissensbedenken. – Ich könnte nicht weiterleben, wenn durch mich Blut flösse.

FRAU LASSMANN. Sieh dich vor, Ernst. – Du stößt ja an den Wandschrank an!

SCHENK. Es ist genug. Kommt wieder an den Tisch!

FLORA. Werden Sie kommen, Professor?

SEEBALD. Ich weiß noch nicht.

FLORA. Es geht um den Frieden, es geht um alles.

Die übrigen sind an den Tisch zurückgekommen. Einige setzen sich.

KLAGENFURTER. Setz dich auf die Bank, Ernst – du hast dich angestrengt.

LASSMANN. Angestrengt! Das bei Verdun war eine andere Anstrengung, sag ich euch. Wir mußten vor, ob wir mochten oder nicht. Mitten durchs Sperrfeuer – immer zehn Schritt laufen und dann auf den Bauch. Da ging's wie verrückt – ssss – bum! ssss – bum!! – Die Kameraden fielen wie die Fliegen, links und rechts – und immer auf! Hingeschmissen! – Auf! – Hingeschmissen – in den dicken Dreck. – Ja, und dann kam's. Ich dachte, es riß mir den Kopf weg – und das wär auch wohl besser gewesen.

SCHENK. Das wär nicht besser gewesen, Ernst. Dann könntest du morgen nicht mehr dabeisein.

LASSMANN. Ja, das ist wahr – morgen! – Ja, aber doch – wie ich wieder zu mir kam im Lazarett und nichts sah – gar nichts. Und bis ich dann wußte, daß ich gar nie wieder werde sehen können – ich habe es nicht glauben wollen, viele Tage nicht. Und die Schwester meinte auch, es käme wieder, daß ich sehen würde. Ich glaube auch, der Stabsarzt hat die Schuld.

SEEBALD. Nein, der Stabsarzt nicht – der Krieg hat schuld, Freund Laßmann.

TROTZ. Und morgen wollen wir gegen den Krieg aufstehen.

SCHENK. Ernst, sag du uns deine Meinung. Soll nicht Mathias Seebald dabeisein vor der Wachsmannschen Fabrik? Soll er nicht neben dir dem Zuge vorangehen?

LASSMANN. Ja, das soll er! – Oh, Professor Seebald! Wenn Sie die Arbeiter anführen, dann müssen wir ja siegen!

SEEBALD. Nein. Die Arbeiter können und dürfen nur durch sich selbst siegen. Ihr Sieg hängt nicht von meiner Person und von keiner andern Person ab. Auch die Demonstration kann den Sieg nicht bringen. Nur die Verweigerung der Arbeit, die Verweigerung des Dienstes an jeder Gewalt kann helfen. Am Streik kann ich mich freuen – am Umzug nicht.

FLORA. Das Proletariat kann seine Macht nur fühlen lassen, wenn es sie auch zeigt.

DIETRICH. Das Bürgerpack wird zittern, wenn ihm der dröhnende Tritt der Arbeiterbataillone in die Ohren gellt!

SEEBALD. Ihr berauscht euch an der Geste. Das Wesentliche liegt nicht im äußeren Schein. Die Verödung der Fabriken wird mehr Klärung schaffen als die glänzendste Parade. Der Staat bricht zusammen, gewaltlos, wenn die arbeitenden Hände erlahmen, und das Beispiel des gewaltlosen Widerstands, das ihr den Soldaten gebt, wird größer sein und tiefer wirken, als wenn ihr auf die Straße geht.

SCHENK. Wir können nicht warten, bis der Staat langsam zusammenbricht. So lange hält kein Arbeiter das Streiken aus. Und wir dürfen erst recht nicht warten, bis die Front streikt. Das wird sie nur tun, wenn in der Heimat das Proletariat seine ganze Macht entfaltet. Der Umzug muß den Streik erklären und ihn erweitern.

TROTZ. Ich habe manchen Streik mitgemacht in meinem Leben. So einfach geht das nicht, daß die Arbeiter die Maschinen stehenlassen und zu Hause bleiben bei Frau und Kindern. Sie müssen sich sehen und jeden Tag gegenseitig neu Mut machen. – Ja, wenn's um ein paar Groschen höheren Lohn wäre. Dann könnte man fragen: Wer hält's länger aus? Aber wir wollen streiken für unsere rote Fahne. Da müssen wir die rote Fahne auch wehen lassen.

FLORA. Das war ein gutes Wort, Genosse Trotz. – So denkt ein alter Proletarier, Professor. Können Sie sich da noch sträuben?

Schritte im Nebenraum.

ROSA. Es kommt jemand.

PRÄZOLD tritt auf. Guten Abend, meine Herrschaften! Bitte um Entschuldigung, wenn ich störe. Nur – ja – es wird doch nicht länger gehen hier.

KLAGENFURTER. Ist die Polizei schon dagewesen?

PRÄZOLD. Ja – nein – die Polizei nicht gerade selbst. Herr Strauß war noch einmal da – mit noch einem Herrn.

SCHENK. Mit Herrn Dr. Bossenius?

PRÄZOLD. Nein – es war keiner von den Herren, die hierher gehören. Es mag wohl einer von der Behörde gewesen sein.

DIETRICH. Da haben wir ja den Spion!

PRÄZOLD. Die Herren fragten nur, wer noch da wäre, und machten mich auf die Folgen aufmerksam, wenn ich die Zusammenkunft hier hinten dulde. – Wenn die Herrschaften natürlich vorn im Lokal sitzen wollen –

SEEBALD. Nein, danke. Wir werden sofort aufbrechen.

PRÄZOLD. Ich möchte nur bitten: Wenn Sie vielleicht nicht alle zusammen gehen wollen – daß es weniger auffällt.

TROTZ. Sie können ganz unbesorgt sein.

PRÄZOLD. Es ist ja nicht meinetwegen. Aber, wissen Sie: Man weiß jetzt nie, wer noch dem andern trauen darf. Und ich, Herr Professor, ich stehe ganz auf Ihrer Seite. Seit ich meinen Sohn verloren habe im Felde, da sind mir auch die Augen aufgegangen. – Also ich meine – wenn ich raten darf –, wenn vielleicht der Herr Professor bis zuletzt bleiben wollen.

SCHENK. Warum denn das?

PRÄZOLD. Herr Schenk, solange der Herr Professor da ist, traut sich die Polizei nicht, hereinzukommen. Aber wenn er wegginge, wären die übrigen Herrschaften nachher gleich aufgeschrieben.

LASSMANN. Mich sollen sie nur aufschreiben!

FLORA. Wir danken Ihnen, Herr Präzold. Wir werden getrennt fortgehen.

PRÄZOLD. Also dann empfehle ich mich bestens.

KLAGENFURTER. Wollen Sie uns das Fräulein zum Zahlen schicken?

PRÄZOLD. Es ist besser, ich schicke sie in die Garderobe. Es fällt weniger auf. Ab.

DIETRICH. Da haben wir den Verräter – den Strauß!

SEEBALD. Das hätte ich in der Tat nicht für möglich gehalten.

LECHARJOW. Es ist viel möglich. – So sind die Menschewiki: Sie sind überall gleich.

SCHENK. Stefan, du mußt zuerst gehen. Du bist am meisten gefährdet.

KLAGENFURTER. Ich habe keine Angst.

SCHENK. Wenn man dich beobachtet, hast du morgen die Einberufung. Am besten, du gehst allein.

ROSA. Nein, mit mir. Man hält uns dann für ein Paar.

KLAGENFURTER lacht, faßt sie um. Ja, Röschen – wie wär's mit uns beiden?

DIETRICH. Oho! Oho! Was wird Rund sagen?

ROSA. Und deine Frau, Stefan! – Also adieu – wir gehen. Mit Klagenfurter ab.

FRAU LASSMANN. Komm, Ernst! Laßmann wird aus der Bank geführt, verabschiedet sich.

SCHENK währenddessen abseits zu Flora. Du gehst doch mit mir?

FLORA. Nein, ich schließe mich jetzt gleich Laßmanns an.

SCHENK. Aber – warum?

FLORA. Du mußt bis zuletzt bleiben und Seebald noch bearbeiten.

SCHENK. Ich hoffte, du würdest heut mit mir kommen.

FLORA. Sei nicht unverständig, Raffael. Ich komme morgen früh bestimmt zu dir, ganz früh. Denk an das Werk und tue das Deine!

SCHENK reicht ihr die Hand. Gut also. Auf Wiedersehen bis morgen.

FLORA. Bis morgen. – Macht's gut, Trotz und Dietrich!

TROTZ. Sie auch, Flora! Ihr Jungen müßt es machen!

DIETRICH. Oh, zu den Jungen gehören wir auch noch, wenn's drauf ankommt.

FLORA. Jetzt kommen Sie, Laßmann! – Gute Nacht, Genossen. – In den Kampf! Mit Laßmann ab.

SEEBALD. Aber die Liebe nicht vergessen.

TROTZ. Das ist ein Weibsbild. Mit tausend Arbeitern, wo wie dies eine Mädel, wollte ich die Welt umkrempeln.

LECHARJOW. Bei uns in Rußland – die Frauen haben gestellt die besten Kämpfer für unsere Revolution. Sie waren die Glut der Bewegung – und sind gegangen in den Tod, unsere Studentinnen zu Hunderten, wie wenn sie's gewöhnt wären, zu sterben.

SCHENK. Flora ist leider bei uns eine große Ausnahme.

SEEBALD. Aber sie wird es nicht bleiben. Das Vorbild zeugt Nacheiferung. Der Wille zum Guten tut sich nicht genug mit einem Herzen. Durch den Mund des einen geht er in andere über. Das Ideal vermehrt sich dauernd aus sich selbst.

SCHENK. Aber erst, wenn es zur Tat wird.

TROTZ. Wenn nur die gebildete Jugend endlich die Zeit verstände!

DIETRICH. Die Studenten? – Die Lausbuben! – Die kann man mit der Laterne suchen, die was taugen.

SEEBALD. Das ist leider wahr. Die akademische Jugend hat in Deutschland das Ideal verloren. Der Kultus der Gewalt hat sie verdorben.

SCHENK. Sie sind Bourgeois – das ist alles.

LECHARJOW. Ich werd euch sagen, was ich hab für eine Meinung. Bei uns in Rußland waren die Studenten und Studentinnen die Träger der großen Ideen. Das kommt, weil man hat verfolgt die Intelligenz, weil die Intelligenz immer ist eine Gefahr für die Brutalität und weil der zaristische Staat war aufgebaut auf der Brutalität. In Deutschland ist die Studentenschaft nicht mehr Verfechter der Intelligenz, sondern des Interesses.

TROTZ. Des kapitalistischen Interesses.

LECHARJOW. Ja, ich will sagen. Was ich gesehen hab hier von Studenten, waren keine Studenten wie bei uns, mit dem Feuer der Jugend und mit Leidenschaft. Nein – waren nichts weiter als zukünftige Ärzte, zukünftige Oberlehrer, zukünftige Richter, zukünftige Diplomaten. Darum werden in Deutschland die Studenten nicht Revolutionäre.

SEEBALD. Ich habe selbst schon solche Beobachtungen gemacht. Der Krieg hat unsere Jugend seelisch zerrüttet.

TROTZ. Nur die bürgerliche Jugend. Die proletarische Jugend löst sie ab.

DIETRICH. Wir werden ja sehen, wie viele Studenten morgen bei der Demonstration mitgehen wer den!

SCHENK. Und wie viele von den ästhetischen Jünglingen und Jungfrauen vom »Bund Neuer Menschen«.

TROTZ. Jetzt wird es wohl auch für uns Zeit zum Aufbrechen. – Komm mit, Dietrich!

DIETRICH. Durch das Spitzelspalier von Strauß und Konsorten. – Diese Bande!

TROTZ. Gehst du auch gleich mit, Raffael?

SCHENK. Ich warte noch. Ich geh dann allein.

DIETRICH sich verabschiedend. Wir sehen uns ja alle doch morgen nachmittag!

SEEBALD. Rechnen Sie nicht auf mich, Freunde!

TROTZ. Doch! Ich rechne bestimmt auf Sie! – Gute Nacht. Mit Dietrich ab.

SCHENK läuft auf und nieder, bleibt endlich vor Seebald stehen. Sie haben sich noch immer nicht entschieden?

SEEBALD. Wenn Sie mich zwängen, jetzt eine Entscheidung zu treffen, dann müßt ich sagen: Ich komme nicht!

SCHENK. Aber das ist noch kein endgültiger Entschluß?

SEEBALD. Ich will es mir noch überschlafen. Wollen Sie morgen mittag zu mir kommen, dann will ich Ihnen sagen, was ich tun werde.

SCHENK. Um welche Zeit?

SEEBALD. Kommen Sie gegen ein Uhr – geht das?

SCHENK. Es muß wohl?

SEEBALD. Mein lieber Raffael, jetzt sind Sie böse auf mich. – Das tut mir leid. – So habe ich Sie ja nie gesehen. – So kurz angebunden, so übellaunig. Sind Sie enttäuscht von mir?

SCHENK. Ja. Ich habe an einen einzigen Menschen geglaubt. Das waren Sie. – Und jetzt sehe ich, daß Sie noch nicht einmal imstande sind, sich in dem Augenblick, wo eine Frage an Sie herantritt, zu einem klaren Ja oder Nein zu entschließen.

SEEBALD. Sie verkennen mich. Meine Stellung zu den Fragen, um die es sich handelt, ist vollständig geklärt. Hier soll ich aber eine bestimmte Handlung ausführen, die ich nicht veranlaßt habe – und da muß ich erst alles abwägen, um zu erkennen, ob sie dem Werk, dem mein Leben gehört, nützt oder schadet.

SCHENK. Ach ja – die Idee, die Gesinnung, das Erkennen – das ist alles da. Das Schwanken fängt erst an, wo es ans Handeln geht.

LECHARJOW. Laßt's genügend sein. Ihr redet mit verschiedenen Zungen ein jeder. Wie könnt ihr euch verstehen? Morgen werden Sie Bescheid holen und wissen: Ja oder nein. – Gehen Sie jetzt nach Hause, Genosse Schenk, und schlafen Sie aus bis morgen und richten Sie ein Ihre Gedanken dar auf, daß Sie sich fragen: Was hab ich für meine Person zu tun? – Ob Mathias Seebald kommt oder wegbleibt – gleichviel!

SCHENK. Sie werden wohl Ihr Kommen davon abhängig machen, ob der Herr Professor geht?

LECHARJOW. Ich? – Junger Mann, was geht mich an Ihr Wille, was geht mich an sein Wille? Ich hab meinen Willen. Ich werde sein, wo das Proletariat ist – und wenn das Proletariat auf die Straße geht, werde ich auch gehen auf die Straße.

SCHENK. Wollen Sie nicht versuchen, ihm zu zeigen, wo sein Platz ist?

LECHARJOW. Bin ich sein Vormund? – Mathias Seebald hat seinen Kopf, wie ich hab meinen Kopf und Sie haben Ihren Kopf. Jeder denkt nur mit seinem Kopf. Gehn Sie schlafen, Genosse, und setzen Sie sich auseinander mit Ihrem Gewissen, wie er sich wird auseinandersetzen mit seinem Gewissen. Und morgen werden wir sehen.

SCHENK. Aber Seebald ist notwendig für das Gelingen der Sache!

LECHARJOW. Mathias Seebald ist so notwendig für das Gelingen, wie Sie, Raffael Schenk, notwendig sind, oder wie ich, Fedor Wladimirowitsch Lecharjow, notwendig bin. Jeder muß wissen, wo er notwendig ist und wie er notwendig ist. Am notwendigsten ist das Volk, das revolutionäre Proletariat. Und wenn das Volk nicht selbst weiß, was notwendig ist, dann ist seine ganze Sache nicht notwendig.

SCHENK. Ich sehe, daß das ganze Gerede hier zu nichts führt. Gute Nacht. Will gehen.

SEEBALD. Raffael!

SCHENK. Was soll's noch?

SEEBALD. Wollen Sie uns die Hand nicht geben, zum Abschied?

SCHENK. Ach ja – gewiß. Reicht ihm die Hand. Ich hoffe, daß ich es auch morgen noch kann. – Gute Nacht, Genosse Lecharjow. Gibt Lecharjow die Hand.

LECHARJOW. Schlafen Sie wohl!

Schenk ab.

SEEBALD. Welche Leidenschaftlichkeit ist in dem Menschen! – Aber ein Fanatiker.

LECHARJOW. Was wäre eine Idee wert, wenn sie nicht entzündete Fanatiker? Auf Menschen wie Raffael Schenk und Flora Severin ruht die Zukunft Deutschlands.

SEEBALD. Jetzt bitte ich dich um deine Meinung. Kann ich nützen, wenn ich zur Menge rede und sie anführe?

LECHARJOW. Du kannst nützen, wenn du das Gefühl hast, daß du nützt.

SEEBALD. Ich fürchte, es wird ein großes Unglück geben.

LECHARJOW. Blutvergießen ist immer ein Unglück; es kann aber dabei sein der größte Segen.

SEEBALD. Nein. Gewalt ist vom Übel. Wenn ich ginge, könnte ich nur versuchen, Gewalt zu verhindern. Aber ich sehe die Gefahr, daß ein solcher Versuch gerade das Signal zur Gewalt sein könnte.

LECHARJOW. Das ist wohl möglich.

SEEBALD. Schenk – das sehe ich deutlich – will die Gewalt. Er ist zum Letzten entschlossen – und ich glaube, Flora Severin bestärkt ihn noch darin.

LECHARJOW. Er ist ein sanfter Mensch, aber er kann sein ein reißendes Tier. Jetzt ist alles in Wallung in seinem Blut. Seine Krankheit läßt ihn mißachten sein eigenes Leben. – Wie mir scheint, ist er besinnungslos verliebt in Flora – –.

SEEBALD. Hast du es auch beobachtet?

LECHARJOW. Und sie erwidert die Liebe und leitet sie über aufs Geistige. Das reißt ihn aus allen Bahnen. Für ihn ist der Kampf des Proletariats gegen den Krieg und für den Sozialismus zugleich sein eigener Kampf, um sich würdig zu machen der Frau, und seine Arbeit für die Gesundung der Menschheit ist fanatisiert von dem Leiden an seiner eigenen Krankheit.

SEEBALD. Ich sträube mich aber, das Werkzeug seiner Leidenschaften zu werden.

LECHARJOW. Wenn du es nicht bist, wird er ein anderes finden.

SEEBALD. In seinem Zustand wäre er fähig, alle ans Messer zu liefern.

LECHARJOW. Das muß ein Mensch können, dem die Idee mehr ist als das Leben.

SEEBALD. Seltsam! Er war bis heute mein treuester Jünger.

LECHARJOW. Glaubst du, er liebt dich jetzt weniger? Im Gegenteil. Ich habe gesehen, wie er bangt um dich – um deine Seele –.

SEEBALD. Ja, ja. – Um sie zu retten, wäre er bereit, mich kaltblütig zu verraten.

LECHARJOW nachdenklich. Er könnte um dich verbluten. Er könnte auch dich verbluten sehen um deiner Seele willen. Aber – dich verraten? –

SEEBALD. Komm, es ist Zeit, daß wir gehen. Sie stehen auf und gehen zum Ausgang.

LECHARJOW stehenbleibend. Nein – ein Judas ist Raffael Schenk nicht.

SEEBALD im Fortgehen. Judas war vielleicht nicht der Schlechteste unter den Jüngern.

Vorhang.


************************************

Dritter Akt

In der Frühe des nächsten Tages. Schenks Zimmer. Mansardenstübchen. Der Dachstuhl bildet an der rechten Seite die schräge Zimmerdecke über dem kleinen Fenster, an dem saubere Gardinen hängen. Auf dem Fensterbrett eine leere Blumenvase. An der Hinterwand rechts die Ausgangstür mit Kleiderhaken. In der Mitte der Wand Kleiderschrank. Weiter links einfache Waschkommode, daneben Eimer. Viereckiger kleiner Spiegel. An der linken Seite hinten Tür zur Küche. In der Ecke links runder Eisenofen mit langem Rohr. An der Wand links eiserne Bettstelle. Unter dem Fenster langes Brett mit Büchern. In der Mitte des Zimmers ungedeckter Tisch und ein paar Rohrstühle. Im Vordergrund rechts ein stark abgenützter Liegestuhl. Auf dem Tisch Schreibzeug und Papier. Über dem Bett hängen ungerahmte »Jugend«-Bilder. Unter dem Tisch Strohmatte. Das Bett ist aufgewühlt.

SCHENK in Hemdsärmeln vor dem Spiegel. Er wäscht sich die letzten Spuren der Rasierseife ab, trocknet das Gesicht und legt das Rasiermesser in die Schublade des Waschtisches. Mutter!

FRAU SCHENK von der Küche. Ja, mein Junge! Gleich kriegst du Kaffee. Ist's schon warm im Ofen?

SCHENK. Ja, Feuer hab ich gemacht. – Hast du die Rosette aufgenäht?

FRAU SCHENK öffnet die Tür links. Da – zieh mal an. Gibt ihm den schwarzen Rock. An der linken Seite – ist's recht so?

SCHENK. Natürlich links. – Aber wart. Ich muß mir doch erst den Kragen umlegen.

FRAU SCHENK. Ja, mach dich nur fein für den großen Tag.

SCHENK. Aber Mutter, an den Überzieher muß auch eine Rosette.

FRAU SCHENK. Sei nur unbesorgt. Rosa Fiebig hat gleich zwei hergegeben, deinen Mantel hab ich schon in der Küche. So, mach dich fertig, Ralf, ich hol den Kaffee. Ab.

SCHENK legt den Kragen um und bindet die Krawatte. Zieht den Rock an und besieht die Rosette vor dem Spiegel. Ruft. Sieht gut aus, Mutter.

FRAU SCHENK bringt Tablett mit Kaffeekanne, Tassen, Brot, Messer und Marmelade; stellt es auf den Tisch. Laß dich mal anschauen, Junge.

SCHENK. Sitzt der Kragen ordentlich?

FRAU SCHENK zupft die Krawatte zurecht. So. – Richtig schmuck siehst du aus. – Aber jetzt komm frühstücken.

SCHENK. Ach, Mutter, möchtest du vielleicht erst das Bett machen? – Ich kriege vielleicht bald Besuch.

FRAU SCHENK. So früh schon?

SCHENK. Ich sage dir gleich, wer kommt.

FRAU SCHENK. Na, wie du willst. Macht das Bett in Ordnung.

SCHENK sieht sich im Zimmer um. Ach, der Eimer! Er gießt das Waschwasser in den Eimer und trägt ihn hinaus.

FRAU SCHENK. Was hat er bloß heute? Streicht das Bett glatt.

SCHENK zurück. So, Mutter, jetzt können wir Kaffee trinken. Setzen sich an den Tisch.

FRAU SCHENK streicht Brot. Nein – die Marmelade ist auch ein Zeug. Das reine Viehfutter, und dann muß man noch betteln, daß man's für das Sündengeld überhaupt kriegt.

SCHENK. Mutter, noch mal aufkehren ist wohl nicht nötig – meinst du?

FRAU SCHENK. Aber Ralf, ich hab doch erst gestern abend bei dir ausgefegt. Du tust ja, als wenn Ostern wäre. Was ist das bloß heute mit dir?

SCHENK. Ja, Mutter, wenn du wüßtest!

FRAU SCHENK. Du – Schlingel – ich glaube bald, du bist verliebt. – Kommt dein Schatz her?

SCHENK. Nein – – so darf man Flora nicht nennen.

FRAU SCHENK. Flora? – Was ist das für ein ausgefallener Name?

SCHENK. Flora Severin heißt meine – meine Freundin.

FRAU SCHENK. Ist das nicht die Studentin, von der du schon erzählt hast?

SCHENK. Ja, Mutter.

FRAU SCHENK. Nein – und die ist jetzt deine –? – – Ihr wollt euch doch nicht heiraten?

SCHENK. Wer kann wissen, was noch wird!

FRAU SCHENK. Nein, sag doch! – Aber so was! – Und die kommt hierher – zu uns?

SCHENK. Sie wollte ganz früh hier sein. – Ach, daß ich keine Blumen in der Vase habe.

FRAU SCHENK. Mein Gott, nein – mitten im Winter! – Aber du, ich will mir dann doch lieber das gute Kleid anziehen. So im Arbeitskleid – das geht doch nicht.

SCHENK. Du bleibst, wie du bist, Mutter. Flora soll sehen, daß sie zu Proletariern kommt. Und das will sie auch sehen.

FRAU SCHENK. Wird sie denn auch dabeisein, heut nachmittag?

SCHENK. Das kannst du glauben. Sie hat auch die Flugblätter geschrieben.

FRAU SCHENK. Ist's möglich? Das sollte man nicht meinen, daß die von einer Frau geschrieben sind.

SCHENK. Sie ist auch keine Frau wie die andern. – Sie denkt und lebt nur mit dem Volk. Sie will es aufwiegeln zum Aufstand – zur Revolution.

FRAU SCHENK. Aber Ralf – Revolution – das ist doch etwas Schreckliches?

SCHENK. Ehe wir die Revolution nicht haben, hört der Krieg nicht auf, Mutter.

FRAU SCHENK. Dieser abscheuliche Krieg! – Ja, wenn das wahr ist, was du sagst, dann muß man ja selbst Revolution wünschen.

SCHENK. Wenn das glückt, was Flora und ich wollen, dann haben wir sie heute noch.

FRAU SCHENK. Ach du mein Gott – es ist aber doch keine Gefahr dabei für dich?

SCHENK. Mutter! Wenn ich mein lahmes Bein und die kranke Lunge nicht hätte, wäre ich doch immer in Gefahr. Das müßtest du auch aushalten.

FRAU SCHENK. Ja, du gehst überhaupt viel zu leichtsinnig um mit deiner Gesundheit. Du wirst dich wieder schrecklich aufregen – und du weißt ja, dann kommt das Husten wieder.

SCHENK. Was du dir doch einbildest! – Mir geht es jetzt viel besser. – Ich habe heute nacht kaum einmal gehustet. Er hüstelt.

FRAU SCHENK. Siehst du – siehst du!

SCHENK. Na ja, man muß nicht daran denken. – Wenn ich Flora sehe, vergesse ich meinen ganzen Husten.

FRAU SCHENK. Bei deinem Vater war es geradeso. Als er noch jung war und recht verliebt in mich, hat er oft tagelang gar nicht gehustet. Und dann, als du geboren warst, da war er vor Freude beinahe ganz gesund. Aber zwei Jahre drauf hat ihn die Schwindsucht doch hingeworfen.

SCHENK. Sag, Mutter, war Vater eigentlich Sozialist?

FRAU SCHENK. Gott, wie das so war damals. In der Gewerkschaft war er ja, und bei den Wahlen hat er immer den Sozialdemokraten geholfen. Aber sonst hat er sich nicht viel um das Ganze gekümmert.

SCHENK schaut auf die Taschenuhr. Es ist gleich acht Uhr.

FRAU SCHENK. Ja, natürlich. – Ich hab dich doch heut nicht früher geweckt, weil du doch nicht zur Arbeit gehst wegen dem Streik. – Du hast Inhaber noch gar nicht erzählt von gestern abend.

SCHENK. Ach – ich hab mich geärgert.

FRAU SCHENK. Wohl wieder über die Malerinnen und die vornehmen Herrschaften?

SCHENK. Die durften sich gestern gleich drücken. Das Generalkommando hatte ja alles verboten. – Nein, über Seebald selber.

FRAU SCHENK. Über den Professor selber? Aber wie kann das sein, Ralf?

SCHENK. Na ja, er sollte heute reden vor der Wachsmannschen Fabrik und dann den Zug anführen. Aber da hat er plötzlich so viel Bedenken, so viele Wenn und Aber – –

FRAU SCHENK. Wird er denn nun hingehen?

SCHENK. Ich soll mir um ein Uhr bei ihm Bescheid holen. – Ich hätte Lust, ihn einfach laufenzulassen.

FRAU SCHENK. Ist's möglich?

SCHENK sieht wieder nach der Uhr, schüttelt den Kopf. Kann ich noch ein Stückchen Brot haben, Mutter?

FRAU SCHENK. Das wird schlecht gehen, Ralf. Meine Brotmarken sind fast ganz alle –.

SCHENK. Gib nur noch eins her. Vielleicht treib ich noch ein paar Brotmarken auf. Aber heut muß ich gut im Stande sein. Heut gibt's noch zu tun.

FRAU SCHENK seufzt. Das ist ein Kreuz mit dem Brot – und überhaupt. Streicht ihm ein Brot. Was sind das bloß für Zeiten! Es läutet.

SCHENK. Es hat geschellt, Mutter. Das ist sie – sie weiß nicht, daß die Flurtür offen ist. – Bleib da, ich mache auf.

Er geht zur Ausgangstür hinaus. Frau Schenk streicht sich rasch das Kleid glatt, läuft zerfahren umher. Draußen hört man Stimmen. Schenk und Flora treten ein.

Ja, hier herein – bitte. – Komm, Mutter. – Ja, das ist meine Mutter, Flora!

FLORA gibt ihr die Hand. So sieht Raffael Schenks Mutter aus! – Guten Morgen, Frau Schenk!

FRAU SCHENK. Grüß Gott, Fräulein – – Ja, jetzt hab ich den Namen wieder vergessen.

SCHENK. Flora, Mutter. – Und Fräulein brauchst du auch nicht zu sagen.

FLORA. Nein, bitte nicht. – Ich bin Genossin.

SCHENK. Leg doch ab, Flora.

FLORA. Hast du eine Vase? Ich hab ein paar Rosen mitgebracht. Gibt sie ihm.

SCHENK sie aus dem Papier nehmend. Oh, sieh doch, Mutter, wie schön!

FRAU SCHENK nimmt die Vase vom Fenster, stellt die Blumen hinein, riecht daran. Oh, wie herrlich. Und Ralf hat gerade geklagt, daß wir keine Blumen im Zimmer haben für Sie. – Hilf doch beim Ausziehen, Junge.

SCHENK. Ach ja. Zerrt ungeschickt an Floras Jackettärmel.

FLORA. Geh nur! Legt ab, gibt ihm Jackett und Mütze, die er an die Tür hängt.

SCHENK. Mutter, hast du noch eine Tasse für Flora?

FLORA. Ich habe schon gefrühstückt. – Bitte keine Umstände.

FRAU SCHENK läuft in die Küche. Oh, es ist noch genug da. Einen Augenblick.

SCHENK. Ich bin so glücklich, daß du hier bist!

FLORA gibt ihm ihren Mund. Mein lieber Freund! Kuß. Frau Schenk kommt wieder herein, bleibt in der Tür stehen, will zurück.

SCHENK. Komm nur herein, Mutter. – Hast du was gesehen?

FRAU SCHENK. Ich? – Nein. – Was denn?

SCHENK. Es macht nichts, Mütterchen. Dir auch nicht, Flora, wie? – Ich hab vor Mutter keine Geheimnisse.

FLORA. Das ist schön – und selten.

FRAU SCHENK. Wenn er nur glücklich ist – da haben Sie eine schöne Aufgabe, mein Kind. Gießt ihr ein. Auch ein Marmeladebrot?

SCHENK schiebt ihr seins zu. Da, iß dies – das hab ich liegenlassen. – Aber Mutter, bring doch die Milch für Flora.

FRAU SCHENK. Von deiner Milch?

SCHENK. Ja, natürlich. Andere hast du doch nicht?

FLORA. Die ist wohl für dich extra verordnet? – Nein, mein Lieber, die trinkst du, aber ich nicht.

SCHENK. Ich trinke bloß mittags ein Glas, und wenn heute soviel darin fehlt, wie du brauchst, um deinen Kaffee zu weißen, dann bekommt sie mir dreimal so gut.

FRAU SCHENK holt die Milch aus der Küche. Währenddem sitzen Schenk und Flora wortlos Hand in Hand. Kommt zurück. So, nun bedienen Sie sich, und mich entschuldigen Sie. Ich muß einholen gehen.

Nimmt aus dem Kleiderschrank ein Umschlagetuch, während sie es umlegt. Das Frühstücksgeschirr stell dann nur auf den Küchentisch, Ralf!

SCHENK. Unbesorgt, Mutter. Geh nur.

FRAU SCHENK. Kann sein, daß ich ein bißchen länger wegbleib. Ich gehe noch bei Frau Päpke vorbei und sehe mal nach ihr und dem Baby. Sie hat vorige Woche entbunden.

FLORA. Wohl eine Nachbarin?

FRAU SCHENK. Nein – sie wohnt ein tüchtiges Stück weg. Aber sie ist ein Patenkind von mir. – Aber jetzt muß ich laufen. Guten Morgen, Kinder. Ab.

FLORA. Hast du eine liebe Mutter!

SCHENK. Nicht wahr? – Sonst geht sie nie vor halb zehn Uhr einkaufen. Und daß sie zu der Wöchnerin muß, ist auch nur, damit sie die Zeit hinbringt und uns nicht zu früh stört. – Und jetzt einen Kuß, Flora!

FLORA. Noch einen. Küßt ihn. Und damit ist's genug. Zum Schnäbeln haben wir später Zeit. Heut haben wir Ernsteres zu tun. – Weißt du etwas Neues?

SCHENK. Das Morgenblatt ist nicht erschienen. – Sind Telegramme angeschlagen?

FLORA. Nur Anschläge vom Generalkommando und den Gewerkschaften: Warnungen, Beschwichtigungen, Drohungen – du kennst die Tonart.

SCHENK. Und weißt du Näheres von den Fabriken?

FLORA. Ich traf die Fiebig. Bei Wachsmann feiert alles. Bei Bartels & Moser soll ein Teil zur Arbeit gegangen sein.

SCHENK. Und bei der Motorengesellschaft?

FLORA. Das weiß ich noch nicht. – Und wie ist's in eurer Druckerei?

SCHENK. Da bin ich gewiß. Die hab ich gut bearbeitet. Du siehst ja auch – keine Zeitung. Das spürt der gute Bürger zuerst.

FLORA. Also paß auf. Ich war heute früh schon weit herum.

SCHENK. Heut früh schon? – Herrgott, und ich steh jetzt erst auf.

FLORA. Du sollst dich auch schonen. Ich war schon bei Trotz und bei Fischer. Die Sache geht folgendermaßen vor sich: Um zwei Uhr sammeln sich die Streikenden bei ihren Betrieben und gehen von dort in Kolonnen – aber ohne Fahnen – zur Wachsmannschen Fabrik. Dort stellt sich der Zug auf. Die Fahnen und Plakate werden gegen ein Uhr hierher gebracht – zu dir. Sie werden erst an Ort und Stelle verteilt.

SCHENK. Warum das?

FLORA. Damit nicht eine einzelne Gruppe vorzeitig abgefangen wird.

SCHENK. Das kann man auch, wenn sie keine Fahne hat.

FLORA. Aber man wird nicht. Der Stier wird erst wild, wenn er das rote Tuch sieht.

SCHENK. Und weiter?

FLORA. Der Zug formiert sich nach Betrieben und Berufen im großen Vorhof der Fabrik. Und am Eingang, wo das Gitter aufhört, steht doch der hohe vierkantige Stein – du kennst dich doch dort aus?

SCHENK. Du meinst den Sockel, der eigentlich für die Pforte bestimmt war?

FLORA. Ja. Von diesem Stein aus spricht Seebald.

SCHENK. Das bezweifle ich, Flora.

FLORA. Wie denn? Bist du nicht einig geworden mit ihm? – Ich hatte mich darauf verlassen.

SCHENK. Ich habe getan, was ich konnte.

FLORA. Und er hat nein gesagt?

SCHENK. Weder ja noch nein. Er wollte sich's bis heute mittag überlegen.

FLORA. Das bedeutet eine Absage.

SCHENK. Der Ansicht bin ich auch. Um ein Uhr soll ich bei ihm Bescheid holen. – Aber sagtest du nicht, um eins kommen die Genossen hier zusammen?

FLORA. Ja, Trotz und Dietrich und Rosa Fiebig mit den Fahnen.

SCHENK. Dann geh ich gar nicht erst hin.

FLORA. Ob ich noch einmal mit ihm sprechen soll?

SCHENK. Nein, Flora. Lassen wir ihn gehen. – Er meint es gut – aber er ist nicht der Mensch, für den wir ihn hielten.

FLORA. Was meint denn Lecharjow?

SCHENK. Der kommt. – Er fand, wir reden aneinander vorbei – Seebald und ich.

FLORA. Wer soll dann aber sprechen?

SCHENK. Es bleibt nur ein Ausweg. – Du!

FLORA. Ich glaube, das werde ich nicht können. – Möchtest du nicht –?

SCHENK. Ich bin kein Redner – und dann mein schwaches Organ.

FLORA. Oder Trotz?

SCHENK. Der kommt ins Stottern. Er kann nicht vor vielen Leuten sprechen.

FLORA. Und Dietrich?

SCHENK. Das ist ein braver Kerl. Aber mit großen Phrasen ist doch jetzt nicht geholfen.

FLORA. Ich habe noch nie vor Massen gesprochen.

SCHENK. Aber du kannst es. Du kannst alles. Du mußt es tun! Er nimmt ihre Hände. Flora – ja?

FLORA. Schmeichler! Sie küßt ihn. Es klopft, Sie fahren auseinander.

SCHENK. Herein! Es tritt ein Klagenfurter. Du bist's, Stefan?

KLAGENFURTER. Ja – ich bin's. Ich bin von Hause fort.

SCHENK. Was heißt das?

KLAGENFURTER. Um sieben Uhr war ein Soldat da und brachte die Einberufung. Ich soll heut vormittag um acht Uhr in der Infanteriekaserne eintreten.

FLORA. Acht Uhr ist längst vorüber.

KLAGENFURTER. Sie haben mich abgelauert gestern abend bei der »Hütte«. Den ganzen Weg hatte ich Spitzel hinter mir.

SCHENK. Das hat Strauß gemacht. – Der kennt dich.

KLAGENFURTER. Ja – um mich heute unschädlich zu machen. Denk mal: vorgestern erst gemustert.

SCHENK. Wie die Gesellschaft arbeitet! Um sieben Uhr der Zettel und um acht Uhr antreten.

FLORA. Nur gut, daß sie Sie nicht gleich mitgeschleppt haben.

KLAGENFURTER. Daß ich durchbrennen werde, haben sie sich wohl nicht gedacht.

SCHENK. Jedenfalls werden sie dich so schnell nicht suchen. Bleib nur erst hier.

FLORA. So sicher bin ich nicht. Ich denke mir aber, daß sie ihre Häscher schon ausgesandt haben.

SCHENK. Aber bei mir werden sie ihn kaum vermuten.

FLORA. Vielleicht gerade. Glaubst du, über die Freundschaften unter den revolutionären Arbeitern werden keine Listen geführt?

KLAGENFURTER. Wohin soll ich denn gehen? Wozu raten Sie?

FLORA. Heute nachmittag werden Sie am sichersten unter der Menge sein.

KLAGENFURTER. Ja – da wird's schwer werden, mich rauszusuchen. – Aber bis dahin?

SCHENK. Am besten wär's, du gingst zu irgendeinem unverdächtigen Bourgeois.

KLAGENFURTER. Wer sollte mich wohl aufnehmen?

FLORA. Ich hab's. Gehen Sie zu der geschiedenen Frau, die im »Bund Neuer Menschen« immer auf unseren Nerven Harfe spielt.

SCHENK. Zu der alten Hysterikerin! – Das ist ein Gedanke. Wart, ihre Adresse habe ich. Sieht im Notizbuch nach. Hier: Frau Werra Adler – ich schreib dir's auf. Schreibt einen Zettel, gibt ihn Klagenfurter.

FLORA. Aber sehen Sie sich vor, daß sie Sie nicht in ihren Netzen fängt.

KLAGENFURTER. Dann lieber gleich freiwillig in die Kaserne!

Draußen Schritte. Klopfen. Es tritt ein Dietrich.

DIETRICH. Oha! – Ich hab mir's gedacht, daß ich den Ausreißer hier finde. – Du mußt sofort weiter!

SCHENK. Warum? Was ist los?

DIETRICH. Ich komme eben von deiner Frau, Stefan. Es waren gerade zwei Soldaten dagewesen, um dich zu holen. Dann wollte ich zu mir heim. Gerade kamen sie bei mir die Treppe herunter, diese Kanaillen.

FLORA. Hat Sie niemand zur Rede gestellt?

DIETRICH. Sie kannten mich doch nicht. Ich bin dann gleich umgekehrt und hierher. Wahrscheinlich sucht die Polizei auch schon.

FLORA. Wieso glauben Sie?

DIETRICH. Weil ich die Burschen auf der Straße mit einem Zivilisten sprechen sah, der mir verflucht nach Kriminaler aussah. Ein Kerl im Pelz. Der schlug sein Buch auf und gab dann offenbar eine andere Adresse an. Sie gingen dann miteinander die Gertrudstraße hinunter, also wahrscheinlich zu Braun oder Färber.

SCHENK. Ja, mein Lieber, da wird's wohl das beste sein, du läufst gleich weiter, daß du ihnen hier unten nicht grad in die Arme fällst.

KLAGENFURTER. Dietrich kann ja vorangehen. Der kennt sie ja schon.

DIETRICH. Aber wohin?

FLORA. Da sind wir schon einig: ins Villenviertel zu Frau Adler.

DIETRICH lacht mächtig. Das ist großartig. Das hat natürlich unsere Severin ausgeheckt! Na, jedenfalls wird man dir ein gutes Weinchen vorsetzen, Alter!

KLAGENFURTER. Sag, war die Miezl sehr aufgeregt?

DIETRICH. Na ja – geheult hat sie ja ein bißchen.

KLAGENFURTER. Verdammt! In ihrem Zustand jetzt die Angst!

SCHENK. Denk jetzt nicht an deine Frau. Der geschieht nichts. Denk an dich selbst und laß dich nicht erwischen.

KLAGENFURTER. Wenn sie mich kriegen – in den grauen Rock steig ich nicht.

SCHENK. Bist du fest entschlossen?

KLAGENFURTER. Du kannst dich drauf verlassen. Sie mögen mich an die Wand stellen, dann weiß ich wenigstens, wofür ich sterbe. Soldat werde ich nicht!

FLORA schüttelt ihm die Hand. Brav, Genosse Klagenfurter. – Jetzt gehen Sie aber, Dietrich als Schrittmacher zuerst. – Und um Ihre Frau werde ich mich kümmern. Das verspreche ich Ihnen.

DIETRICH. Dann kannst du beruhigt sein, Stefan. Bei der ist sie in guten Händen.

KLAGENFURTER. Das weiß ich. Vielen Dank, Flora. – Also hoffentlich am Nachmittag. Mit Dietrich ab.

FLORA. Das alles sieht mir nicht danach aus, als ob es friedlich ablaufen wollte.

SCHENK. Sie arbeiten tüchtig – das muß man ihnen lassen.

FLORA. Es zeigt, daß sie sich noch sicher fühlen. Es ist kaum zu fassen, diese Verblendung. Aber es ist gut so. – Verheimlichen läßt es sich an der Front nicht, wie es in der Heimat zugeht. Auf jeden Fall wird die Niederlage beschleunigt.

SCHENK. Glaubst du, daß die Front revoltieren wird, wenn es bekannt wird?

FLORA. Das glaube ich nicht. Aber du weißt ja, wie die Urlauber reden; alle hoffen aufs Hinterland. Rührt sich hier erst mal etwas, dann werden sie sich doch nicht mehr so fest einreden lassen, daß nur Stürmen und Siegen sie aus dem Elend des Schützengrabens befreien kann. Wenn unsere Landsleute draußen lesen, daß zu Hause gestreikt wird und daß man in die Arbeiter hineinschießt –

SCHENK. Und die Namen der Verhafteten! Denke nur, wenn dastände, Seebald ins Gefängnis geworfen!

FLORA. Ja, das würde Eindruck machen. – Aber wenn der sich doch zurückzieht –

SCHENK. Feigheit ist es nicht.

FLORA. Gewiß nicht. An seine Person denkt er zuletzt. – Weißt du, was gut wäre?

SCHENK. Was?

FLORA. Wenn sie ihn trotzdem verhafteten – auch wenn er nicht dabei ist?

SCHENK. Hältst du das für möglich?

FLORA. Wahrscheinlich ist es nicht. Aber Strauß haßt ihn – und ich glaube, der und die anderen sogenannten Arbeiterführer haben das ganze Spiel in den Händen.

SCHENK. Sie werden ihn als Rädelsführer angeben?

FLORA. Das ist er ja im Grunde auch. Ohne seine Tätigkeit hätten wir die Arbeiter nicht aus den Werkstätten bekommen.

SCHENK. Trotzdem – sie werden es nicht wagen. – Wenn ich mir vorstelle, daß man ihn womöglich an den Arbeitern vorbeiführt. – Von seiner Wohnung zum Gefängnis müßten sie ja an der Wachsmannschen Fabrik vorüber. – – Ob man ihn befreien würde?

FLORA. Raffael, du phantasierst. Das ist doch alles Unsinn.

SCHENK. Ja – ja – natürlich. – – Hast du fertig gefrühstückt, Liebste? Kann ich abräumen?

FLORA. Ja, danke, ich nehm nichts mehr.

SCHENK stellt das Geschirr aufs Tablett. Einen Augenblick. In die Küche ab.

FLORA blickt ihm nach, seufzt schwer auf. Oh, mein Gott! Sie steht auf, geht durchs Zimmer, setzt sich auf den Liegestuhl, nimmt das Taschentuch vor die Augen, schluchzt auf.

SCHENK zurück, auf sie zu. Flora! Du weinst? – Was hast du? Kniet bei ihr nieder, küßt ihre Hände. Du!

FLORA fährt ihm über das Haar. Verzeih, Lieber. – Ich bin doch nur ein schwaches Weib.

SCHENK. Aber was ist dir denn?

FLORA unter Tränen. Es wird Tote geben und Verwundungen. Man wird brave Menschen in den Kerker werfen. – Es ist schwer, das alles zu verantworten.

SCHENK ratlos. Nicht mutlos sein, Liebling – bitte nicht!

FLORA legt den Arm um seinen Hals. Wir haben einander Vertrauen gelobt, Raffael. Du darfst sehen, daß es mir nicht leicht wird, du allein.

SCHENK küßt sie leidenschaftlich. Oh, ich weiß – du bist gut, du bist weich.

FLORA richtet sich auf, steht. Nein, ich will nicht weich sein. Ich will nicht! Wir müssen fest bleiben, du und ich. – Hart müssen wir sein!

SCHENK. Du bist schön, Flora! – Du bist schön! Umschlingt sie. Es läutet.

FLORA lächelnd. Hörst du? Wir werden zum zweiten Mal gemahnt, vernünftig zu sein. – Geh, mach die Tür auf.

SCHENK. Kann man mich denn nicht einmal fünf Minuten glücklich sein lassen! Ab zum Korridor. Die Tür bleibt offen. Noch draußen. Sie sind's, Frau Laßmann? – Ja, bitte, treten Sie ein!

FRAU LASSMANN. Störe ich nicht?

FLORA. Nein, aber haben Sie etwas mit Schenk zu reden, wobei ich störe?

FRAU LASSMANN. Nein, gewiß nicht. Ich wußte ja nur nicht, an wen ich mich wenden soll.

SCHENK. Was ist denn passiert? – Sie sind aufgeregt. Frau Laßmann. – Setzen Sie sich. Schiebt ihr einen Stuhl hin.

FRAU LASSMANN setzt sich. Ach Gott – helfen können Sie mir ja auch nicht – aber vielleicht doch einen Rat geben.

SCHENK. Sprechen Sie doch. Worum handelt es sich denn?

FRAU LASSMANN. Sie wissen doch, wie es uns jetzt geht – mit der Invalidenrente die paar Mark und dann mit dem blinden Mann und mit den sechs Kindern. –

FLORA. Sie sind in Verlegenheit, Frau Laßmann? Da wird sich schon Rat schaffen lassen.

FRAU LASSMANN. Ja, sehen Sie – es ist mit dem Mietzins – unsere Leni war doch so krank im letzten Herbst. Und da sind wir seit drei Monaten im Rückstand geblieben mit der Miete. Ich hab den Hausherrn gebeten und gebeten, er soll noch etwas Geduld haben – und heute früh – heute früh – haben wir die Exmission gekriegt.

SCHENK. Die Exmission? – Das gibt es ja jetzt gar nicht.

FRAU LASSMANN. Ach, das gibt es alles noch. Sie wissen immer, wo heraus aus den neuen Bestimmungen, die Reichen. Und jetzt sollen wir bis heut abend die 78 Mark bezahlen oder sonst morgen früh raus aus der Wohnung.

FLORA. 78 Mark! Ich müßte sehen, daß ich sie heute noch zusammenbrächte. – Ließe sich denn der Wirt nicht auf eine Teilzahlung ein?

FRAU LASSMANN. Ich hab ihm schon angeboten – 20 Mark. Da meinte er, übermorgen ist der erste Februar, das wäre ja noch nicht mal genug für den neuen Monat. Er will uns ja nur raushaben – mit den vielen Kindern. Kein Mensch mag ja mehr Kinder im Haus haben.

SCHENK. Das sind die veredelnden Wirkungen des Krieges.

FRAU LASSMANN. Und dann, wenn ich mal ein paar Groschen in der Hand hab – ja, dann denk ich ja auch nicht gleich an den Hausherrn. Die Kinder kriegen ja so viel zuwenig Milch – die Großen gar keine mehr; und was es auf die Marken gibt, davon kann man ja rein verhungern.

FLORA. Das stimmt. Unsere vorbildliche Lebensmittelorganisation kann sich sehen lassen.

FRAU LASSMANN. Dann muß man eben sehen, hintenrum was zu erwischen, und dabei wird einem die Haut ganz heruntergezogen. Aber das ist doch das erste, daß man die Kinder sattkriegt. Und dann brauchen sie Kleider und Schuhe – und alles wird immer teurer –

SCHENK. Und immer schlechter.

FRAU LASSMANN. Vor vierzehn Tagen hatte mein Mann mal die Brille abgenommen, weil er sich das Auge auswischen wollte – und ich war gerade nicht da. Und als er sie dann auf dem Tisch wieder gesucht hat, da hat er sie runtergestoßen – und beide Gläser kaputt. Jetzt die teuren schwarzen Gläser. –

SCHENK. Aber die muß doch der Staat zahlen!

FRAU LASSMANN. Nein, sie haben sich geweigert, weil es aus Unvorsichtigkeit geschehen ist. Als wenn er was dafür könnte, daß er blind ist.

FLORA. Jedenfalls müssen wir jetzt zunächst nachdenken, was man jetzt gegen die Exmission machen kann.

SCHENK. Was sagt denn Ihr Mann dazu?

FRAU LASSMANN. Ach, mit Ernst ist ja gar nicht mehr zu reden. Der sagt, ich soll mich gar nicht sorgen. Heute gibt's Revolution – und dann sollte der Hausherr schon sehen, wer herausfliegt, wir oder er selbst. Der ist ja wie närrisch.

FLORA. Ich glaube, am besten ist es, ich gehe gleich mal mit Ihnen und nehme mir zunächst einmal den sauberen Hauswirt vor.

FRAU LASSMANN. Ach, wenn Sie das tun wollten!

SCHENK. Meinen Sie denn, daß es nützen könnte?

FRAU LASSMANN. Doch. Mit uns Proletariern glauben sie ja, können sie alles machen. Wenn aber einmal ein anderer mit ihnen spricht, dann wollen sie nicht wie Unmenschen aussehen. – Das ist immer so.

FLORA. Also gut – gib mir mein Jackett, Raffael, bitte.

SCHENK. Aufschieben kannst du den Weg nicht?

FLORA streng. Ich bitte dich. – Solche Dinge schiebt man nicht auf.

SCHENK. Du hast recht. Verzeih!

FLORA. Ich geh von dort aus gleich auch zu Frau Klagenfurter. Gegen Mittag bin ich wieder hier. Also auf Wiedersehen, Raffael.

FRAU LASSMANN. Ich bin so froh, daß ich Sie getroffen hab, Flora. Flora und Frau Laßmann ab. Schenk begleitet sie hinaus. Man hört draußen noch ihre Stimmen, dann die Korridortüre zufallen. Schenk tritt wieder ein. Er nimmt die Rosen in die Hand und berührt sie mit dem Mund. Öffnet das Fenster, holt einen Stuhl heran und beugt sich weit vor, um auf die Straße hinabzusehen. Schließt das Fenster wieder, stellt den Stuhl zurück. Macht sich am Ofen zu schaffen. Es klopft.

SCHENK springt auf, zur Tür. Mutter, bist du's? Kannst schon hereinkommen. Flora ist eben fort. Er öffnet und prallt zusammen mit Seebald. Sie – ja, das überrascht mich. – Daß Sie zu mir kommen!

SEEBALD gibt ihm die Hand. Guten Morgen, Raffael. Ja – ich möchte Ihnen den Besuch bei mir doch nicht zumuten. Sie werden dann genug zu tun haben.

SCHENK. Ich wäre auch nicht gekommen.

SEEBALD. Das habe ich mir gedacht. – Sie sind doch ein rechter Trotzkopf.

SCHENK. Bis Mittag mußten wir alle Anordnungen doch ohne Rücksicht auf Sie treffen. – Und wenn Sie sich für uns entscheiden wollten, hätten Sie den Weg zu Wachsmann ja auch allein gefunden.

SEEBALD. Sie sind bitter, lieber Freund. – Aber schön warm haben Sie's hier drinnen. Darf ich ablegen?

SCHENK. Oh, entschuldigen Sie! Will ihm helfen.

SEEBALD. Danke, lassen Sie nur! Er legt ab und hängt Mantel und Hut auf.

SCHENK. Nehmen Sie doch bitte Platz. Setzen sich an den Tisch.

SEEBALD. Was mich herführt, ist – Raffael! Wir müssen uns einmal aussprechen. Der Schatten von gestern abend darf nicht zwischen uns liegen.

SCHENK. Ich kann Ihnen leider nichts anbieten. – Doch! Mögen Sie ein Glas Milch?

SEEBALD. Milch? – Wenn ich sie Ihnen nicht wegtrinke.

SCHENK. Nein, nein – bitte einen Moment. Ab in die Küche.

SEEBALD allein, sieht sich im Zimmer um. Riecht an den Rosen. Schenk kommt mit einem Glas Milch. Vielen Dank! – Rosen im Januar!

SCHENK. Sie sind von Flora Severin. – Wollen Sie eine nehmen?

SEEBALD. Nein – die nehm ich Ihnen nicht weg. Die sind für Ihre Gesundheit. Trinkt. Ah – das ist ein seltener Genuß jetzt, gute Milch.

SCHENK. Nun haben Sie sich doch noch entschlossen. – Das freut mich wirklich.

SEEBALD. Hören Sie mich an, Raffael. – Ich bin hergekommen, um Sie zu warnen.

SCHENK. Warnen – wovor?

SEEBALD. Ich habe diese Nacht wenig geschlafen. Unser kurzes Gespräch gestern abend hat mich tief beunruhigt.

SCHENK. Mich auch.

SEEBALD. Drum eben müssen wir uns verständigen. – Sie waren von mir enttäuscht. Schenk schweigt. – – Ich begreife Sie gut. Sie sagen sich, dieser Mann hat sich zur Lebensaufgabe die Bekämpfung des Krieges gestellt. Er hat sich durch diesen Kampf die Liebe und das Vertrauen des Volks errungen. –

SCHENK. Nicht eigentlich dadurch, sondern, weil Sie nicht wie die anderen Pazifisten einen Verständigungsfrieden zwischen den Regierenden verlangen – weil Sie sich ans Proletariat wenden.

SEEBALD. Gut: Ich habe immer gelehrt: Wer unter einem Zustand leidet, dessen Aufgabe ist es, ihn zu ändern. Und ich habe den Soldaten gesagt: Wenn ihr den Frieden wollt, führt keinen Krieg – und den Arbeitern: Wenn ihr die Freiheit wollt, arbeitet nicht für die Knechtschaft! – Jetzt stehen Sie vor einem Rätsel. In dem Augenblick, wo die Arbeiter zum ersten Mal nach meinen Worten handeln, scheine ich mich zurückzuziehen. Das erbittert Sie gegen mich. Ist es so, Raffael?

SCHENK. Ja, so ist es.

SEEBALD. Nun sagen Sie mir: Halten Sie mich für feige?

SCHENK. O nein – das weiß ich, daß Sie für sich selbst nicht fürchten.

SEEBALD. Das freut mich, daß ich mich dagegen nicht zu verteidigen brauche. Also weiter: Sie wissen, daß bei allen Verfolgungen und Schikanen mich die Behörde stets in Ruhe gelassen hat. Wie erklären Sie sich das?

SCHENK. Sie sind zu berühmt. Ihre Werke werden in der ganzen Welt gelesen. Wenn überall alles Deutsche geächtet ist, heißt es doch immer: Es gibt Ausnahmen, vor allem Mathias Seebald. – Sie haben Verehrer in allen Kreisen, selbst unter den Offizieren.

SEEBALD. Die rücken aber jetzt weit von mir weg.

SCHENK. Ja, aber immer mit Respekt. Vor ein paar Tagen las ich noch in der Tageszeitung, die doch vor Patriotismus Purzelbäume schlägt, von den bedauerlichen Verirrungen unseres großen Mitbürgers, dessen Namen aber man doch mit Ehrfurcht nennen müßte. Wenn man an Sie Hand anlegte, wäre der Skandal ungeheuer. Vom feindlichen Ausland will ich nicht reden, daran würden sich die Generäle wohl nicht viel kehren – aber auch in ganz Deutschland und besonders bei den Neutralen. – Es wäre dasselbe, als wenn sie in Belgien den Kardinal Mercier einsperrten.

SEEBALD. Nicht ganz dasselbe – bei Mercier gäbe es Konflikte mit dem Vatikan.

SCHENK. Aber bei Ihnen ginge der letzte Rest Achtung vor den Deutschen verloren. Und den möchten sich unsere Politiker gerne retten. – Vielleicht brauchen sie mal mildernde Umstände.

SEEBALD. Raffael, Sie sind ein ungewöhnlich kluger und gebildeter Mensch. – Sie sind Buchdrucker, nicht wahr?

SCHENK. Schriftsetzer.

SEEBALD. Mit Ihnen kann ich anders sprechen als sonst mit Arbeitern. Ich will Ihnen meine Meinung sagen. Das alles wäre für die Regierung noch kein Grund, mich gewähren zu lassen. Sie kennen das schöne Wort: Staatsräson! – Die steht den Herren weit höher als das bißchen moralische Ansehen. Um ihren guten Ruf in der Welt sind sie viel weniger bange, als Sie glauben. – Ich will nun nicht gerade annehmen, daß sie meine agitatorische Tätigkeit bloß für eine unschuldige Gelehrtenmarotte nehmen. –

SCHENK. Aber, dann wüßte ich nicht –

SEEBALD. Der Grund sitzt viel tiefer. Ich muß Ihnen da vielleicht ein wenig metaphysisch kommen. Sie verstehen, was das heißt?

SCHENK. Ja, gewiß: übersinnlich.

SEEBALD. Ungefähr. – Haben Sie etwas von mir gelesen?

SCHENK. Ich kenne Ihre »Philosophie der Nächstenliebe«. Nimmt das Werk vom Bücherbrett. Hier ist sie.

SEEBALD. Dann wissen Sie also, worauf meine ganze Weltanschauung sich gründet: Ablehnung der Gewalt, in jeder Form und unter allen Umständen. Wenn Tolstoi mit Christus sagt: Widerstrebe nicht der Gewalt, so lehre ich: Nimm niemals teil an der Gewalt und lasse die Gewalt nie an dich herankommen. – Das heißt: Begehe keine Handlung, die die Gewalt herausfordert! – Wenn mich nun bisher die Behörde nicht gefaßt hat, so entnehme ich daraus, daß ich meiner eigenen Lehre treu geblieben bin und die Forderung der Gewaltlosigkeit nicht selbst zum Anlaß der Gewaltentfesselung gemacht habe.

SCHENK. Angenommen aber, heute oder morgen besänne sich die Behörde anders und verhaftete Sie – wäre dann nicht Ihre ganze Theorie widerlegt?

SEEBALD. Nein, es wäre ein Beweis, daß ich falsch gehandelt hätte. Ich glaube, daß der Wille zum Guten, wo er die Seele eines Menschen ganz erfüllt, sich selbst die Abwehrmittel schafft, um das Böse fernzuhalten.

SCHENK. Dann wäre ja jeder schuldig, dem Unrecht geschieht?

SEEBALD. Das ist auch so, wenn Sie das Wort Schuld richtig verstehen. Im Drama zum Beispiel spricht man von einer tragischen Schuld; das ist die im besten Glauben begangene fehlhafte Handlung, die das Verderben des Menschen bewirkt. – Daß Sie, Raffael, mit Ihrer großen Liebe zur Menschheit und zum Frieden nicht mit den andern in die Kaserne und ins Feld müssen, das führe ich zurück auf die Abwehrmittel, die sich Ihr Wille zum Guten unbewußt geschaffen hat.

SCHENK lachend. Dann soll ich für mein lahmes Bein und meine kranke Lunge wohl noch dankbar sein?

SEEBALD. Ich glaube zuversichtlich, daß Ihre Lunge noch heilen wird, wenn mit Ihrer Mithilfe lebenswürdige Verhältnisse unter den Menschen entstanden sein werden. – Und Ihr Bein? Lächelt. Denken Sie einmal nach: Macht es Ihnen den Genuß des höchstausdenkbaren irdischen Glückes unmöglich? Er neigt sich zu den Rosen.

SCHENK. Nein – das ist wohl wahr.

SEEBALD. Sehen Sie also – und nun verstehen Sie auch das Dilemma, in das mich Ihr Verlangen versetzte, ich solle heute an der Demonstration teilnehmen. Diese Demonstration ist – das fürchte ich sehr – an und für sich eine Herausforderung der Gewalt.

SCHENK. Sie können ja in Ihrem Sinne zu den Arbeitern reden.

SEEBALD. Das würde nichts ändern. Es bleibt ein Spiel mit dem Feuer.

SCHENK. Aber Sie wissen auch, was geschehen wird, wenn Sie fortbleiben? – Dann werden die Gewerkschafts- und Parteiführer zur Stelle sein, die Herren Weher oder Tann oder Strauß – und werden die Massen auf ihre Art besänftigen und zurückschicken in ihre Werkstatt, und der Krieg wird weitergehen wie bisher, und die Kriegsschuldigen mit all ihrer »tragischen Schuld« werden weiter ihre Geschäfte machen mit dem Unglück des Volks.

SEEBALD. Das alles habe ich mir selbst auch schon gesagt. Und deshalb bin ich hier, um Sie zu bitten – zu beschwören: Verhindern Sie den ganzen Umzug. Die Arbeiter sollen streiken, aber nicht die Gewalt herausfordern. Raffael, mein Freund, mein liebster Schüler – hören Sie auf mich!

SCHENK. Das kann ich nicht. – Das ist ganz unmöglich. Hüstelt.

SEEBALD. Das ist gar nicht unmöglich. – Das Gute geht immer.

SCHENK. Das Ganze ist bis ins kleinste organisiert. Um zwei Uhr sammeln sich die Arbeiter vor ihren Betrieben.

SEEBALD. Dann sind noch über vier Stunden Zeit. Gehen Sie jetzt sofort zu Ihren nächsten Genossen. Machen Sie Anschläge an den Fabriktoren, daß die Demonstration nicht stattfindet, um Blutvergießen zu vermeiden. Fordern Sie die Arbeiter auf, weiter zu streiken. –

SCHENK springt auf. Nein! – Das tue ich nicht! – Ich bin selber Proletarier – das vergessen Sie. Ich weiß, was die Arbeiter denken und wollen und fühlen. – Was meinen Sie wohl, was folgen würde? Morgen früh hieße es einfach, alle Reklamationen sind aufgehoben. Wer nicht arbeitet, wird sofort eingezogen. – Streikbrecher gibt es ohnehin genug.

SEEBALD. Und das wollen Sie mit der Demonstration verhindern?

SCHENK. Vielleicht kann ich es. – Die Regierung soll sehen, daß das Proletariat eine Macht ist.

SEEBALD. Ja – wollen Sie denn die Gewalt?

SCHENK. Wenn es sein muß – ja!

SEEBALD. Raffael! Raffael! Sie sind auf einem schlimmen Weg. Sie wissen, auf welcher Seite alle Waffen sind.

SCHENK. Ich weiß aber auch, wo Waffen zu finden sind.

SEEBALD. Besinnen Sie sich, Mensch! Wollen Sie das Blut von Hunderten friedlichen Arbeitern, von Frauen und Kindern auf Ihr Gewissen nehmen?

SCHENK. Auch das kann ich tragen.

Seebald ist aufgestanden und steht mit verschränkten Armen mit dem Rücken gegen das Fenster.

Wird durch unsern Aufstand der Krieg auch nur um einen Tag abgekürzt, dann rettet er zehnmal soviel Menschen das Leben, wie im schlimmsten Falle dabei geopfert werden.

SEEBALD. Welche verwegene Rechnung! – Wollen Sie Schicksal spielen? Ist das die Frucht meiner Arbeit?!

SCHENK. Allerdings. Mit schönen Worten allein ist uns Arbeitern nicht gedient. Wer uns sagt: Weigert euch, für das Unrecht zu arbeiten – der muß wissen, daß er damit zum Kampf auffordert. – Das ist Herausforderung der Gewalt. – Habe ich aber einmal die Gewalt herausgefordert, dann setze ich ihr auch die Gewalt entgegen.

SEEBALD. Dann wäre ich der Urheber von Gewaltsamkeiten? – Raffael Schenk, das kann nicht Ihre wahre Meinung sein.

SCHENK. Ich mache Ihnen doch keinen Vorwurf deswegen. Wir Arbeiter haben Ihnen viel zu danken. Sie haben uns den Weg gezeigt, den wir gehen müssen. Jetzt, wo er betreten ist, müssen wir ihn ganz gehen, auch wenn Sie uns nicht begleiten.

SEEBALD. Aber das ist furchtbar, was Sie sagen. – Hätte ich denn in einem Wahn gelebt?

SCHENK. Möglich. – Glauben Sie immer noch, daß Sie durch Ihren geistigen Schutzpanzer gegen die Staatsgewalt gesichert sind?

SEEBALD. Spotten Sie nicht. Der Panzer hat mich gedeckt, solange mich mein Gewissen freisprach von Gewalt. Jetzt fühle ich ihn von mir abfallen.

SCHENK. Ach, Ihnen wird auch weiterhin nichts geschehen, wenn Sie heute schön daheim bleiben. Machen Sie sich keine Sorgen, Professor Seebald. Die Schuld an dem, was passiert, werden nicht Sie haben, sondern die Arbeiter, die fallen oder ins Gefängnis wandern. Und die Schuld am Kriege haben nicht die Kapitalisten, sondern die Proletarier, die in Drecklöchern verfaulen; die Laßmanns, denen man die Augen herausgeschossen hat. Aber die wahren Tugendhaften, das sind die Schwindsüchtigen wie ich, oder die Idioten in den Narrenhäusern. Die haben ja ihren Schutzmantel – so war doch Ihre Theorie!

SEEBALD. Sie lästern, Schenk. – Sie wissen genau, daß Sie jetzt entstellen, solange Sie in dieser Verfassung sind, kann ich nicht mit Ihnen reden.

SCHENK. Es wäre auch überflüssig. Die Demonstration findet statt – mit Ihnen oder ohne Sie. Und ich werde die Arbeiter nicht nach Hause schicken, sondern sie zum Kampf aufrufen. Sie mögen tun, was Ihnen beliebt.

SEEBALD. Raffael! Ich bin Ihnen wegen der Sprache, die Sie gegen mich führen, nicht böse. Sie sind erregt. Aber wenn Sie nachher allein sind, denken Sie nach, ob nicht Ihr eigenes schlechtes Gewissen Sie ungerecht macht gegen andere.

SCHENK. Mein Gewissen ist rein.

SEEBALD. Das glauben Sie jetzt. – Ich bitte Sie nur noch um eines. Gehen Sie noch einmal mit sich zu Rate und tun Sie nichts, was Sie später bereuen könnten. Er will zur Tür. Währenddem tritt Frau Schenk ein.

FRAU SCHENK. So, Ralf, da bin ich wieder. – Oh, der Herr Professor! Grüß Sie Gott, Herr Professor! Gibt ihm die Hand. Haben Sie selbst hergeschaut nach meinem Jungen?

SEEBALD. Guten Tag, liebe Frau Schenk. – Ja – wir hatten eine kleine Auseinandersetzung.

FRAU SCHENK. Müssen Sie denn schon wieder gehen, Herr Professor?

SEEBALD. Ja. – Meinen Zweck werde ich hier doch nicht erreichen können.

Schenk hat wortlos im Hintergrund des Zimmers zugehört, nimmt das leere Milchglas vom Tisch und trägt es in die Küche, deren Tür er hinter sich schließt.

FRAU SCHENK. Was ist denn mit Ralf? – Er geht einfach aus dem Zimmer.

SEEBALD. Haben Sie ein Auge auf ihn, Frau Schenk! Es ist nicht gut, was er vorhat.

FRAU SCHENK. Der Streik und der Umzug heute? – Nein, da kann ich ihm nicht hineinreden. Das muß er selbst wissen.

SEEBALD. Haben Sie gar keinen Einfluß auf ihn?

FRAU SCHENK. Ja – das weiß ich nicht. Er sagt mir alles. Wir sind wie gute Freunde.

SEEBALD. Eben. Das habe ich schon gemerkt. – Können Sie ihn da nicht abbringen von offenbaren Unbesonnenheiten?

FRAU SCHENK. Unbesonnen? – Nein, das ist mein Ralf nicht – das glaub ich nicht. Und in seine Politik misch ich mich nicht. Da hör ich ihm bloß zu. Das wäre ja auch gerade, als wenn er sich um meine Küche kümmern wollte.

SEEBALD. Halten Sie es nicht für möglich, daß er vielleicht gerade im Augenblick unter einem gefährlichen seelischen Eindruck steht?

FRAU SCHENK. Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr Professor.

SEEBALD. Nun – gerade heraus: Er hält doch jetzt enge Freundschaft mit Fräulein Severin! Meinen Sie nicht, daß da ungünstige Einwirkungen stattfinden könnten?

FRAU SCHENK. Herr Professor, ich bin seine Mutter – und ich will sein Glück. Und heute früh habe ich ihn zum ersten Male glücklich gesehen. Da wüßt ich nicht, was ich da ungünstig finden sollte.

SEEBALD. Ich meine, ob sie ihn nicht vielleicht auf Wege drängt, die er aus eigenem Antrieb nicht betreten würde.

FRAU SCHENK. Das kann er nur selbst wissen. – Ich kann das nicht sagen.

SEEBALD. Aber Sie haben doch Vertrauen zu mir? Sie sind doch überzeugt, daß ich in Wirklichkeit Raffaels Freund bin?

FRAU SCHENK. Er wäre ja für Sie auch durchs Feuer gegangen. – Aber was ihm taugt, Herr Professor, das können Sie so wenig sehen wie ich. Dazu ist er selbst alt genug.

SEEBALD. Nun, ich sehe schon, daß ich in Ihnen keine Bundesgenossin finde.

FRAU SCHENK. Nein, Herr Professor. – Nehmen Sie's nicht übel auf.

SEEBALD. Bewahre. Ihre Liebe zu Raffael ist herrlich schön, und die will ich gewiß lassen, wie sie ist. Auf Wiedersehen, liebe Frau Schenk.

FRAU SCHENK. Grüß Gott, Herr Professor! Händedruck. Sie läßt ihn hinaus, schüttelt verwundert den Kopf, macht die Küchentür auf. Ralf, ja – hast du dich denn versteckt?

SCHENK tritt ein. Ist er fort?

FRAU SCHENK. Nicht einmal adieu hast du ihm gesagt.

SCHENK. Ich mochte nicht. – Er hat dir wohl gesagt, du sollst mich zur Vernunft bringen?

FRAU SCHENK. Wieso? – Hast du gelauscht?

SCHENK. Das war nicht nötig. Ich kann's mir so denken.

FRAU SCHENK. Ja, Ralf, ich hab gar nicht recht gewußt, was er wollte. Und ich hab ihm auch gesagt, daß ich in deine Sachen nicht dreinrede.

SCHENK. Recht so, Mütterchen.

FRAU SCHENK. Er war so merkwürdig heute, Ralf. – Gar nicht so frei wie sonst.

SCHENK läuft erregt umher, hüstelt. Ja, Mutter – man täuscht sich manchmal.

FRAU SCHENK. Du hustest wieder, Junge. Du hast dich wohl aufgeregt bei eurem Gespräch?

SCHENK. Ziemlich. – Aber ich möchte von dir hören. Was hat er noch gesagt?

FRAU SCHENK. Gar nichts Bestimmtes. – Aber zuletzt meinte er, ob Flora nicht auf dich einen ungünstigen Einfluß hätte.

SCHENK bleibt stehen, schlägt auf den Tisch. Hab ich's mir doch gedacht!

Läuft wieder umher, hustet stärker. Hab ich's mir doch gedacht!

FRAU SCHENK läuft ihm nach. Um Gottes willen, reg dich doch nicht so auf, Kind! Wie du wieder hustest!

Klopft ihm auf den Rücken.

SCHENK. Nun ja – – Flora da mit hineinziehen. Starker Hustenanfall. Mich – – von – – Flora – trennen – – wollen. Er bricht unter Keuchen und Atemnot auf einem Stuhl zusammen.

FRAU SCHENK. Um Gottes willen! – Wart, Ralf – ich komme – ich bring deine Milch. Die hilft dir gleich. In die Küche.

Schenk winkt ihr ab. Der Husten legt sich allmählich. Er atmet noch schwer.

Aus der Küche zurück. Die Milch ist ja weg! – Hat Flora das Ganze getrunken?

SCHENK noch angestrengt. Nein – nein, nur einen kleinen Tropfen. Das übrige hab ich Seebald gegeben.

FRAU SCHENK. Aber Ralf! Du weißt doch, was der Doktor gesagt hat. Daß du auch ja jeden Tag deinen viertel Liter Milch trinken sollst.

SCHENK. Schon gut, Mutter. – Schon gut. Es klopft. Frau Schenk zur Tür, öffnet vorsichtig.

TESSENDORFF tritt ein: Pelz, runder Hut. Bin ich hier recht bei Herrn Raffael Schenk?

Schenk ihm entgegen, will sprechen. Ein Hustenanfall, den er krampfhaft bekämpft, hindert ihn.

FRAU SCHENK. Jawohl. – Das ist mein Sohn.

SCHENK mit Anstrengung. Der bin ich. Was wünschen Sie?

TESSENDORFF. Mein Name ist Tessendorff – Polizeirat.

FRAU SCHENK. Können Sie nicht ein andermal –? Mein Sohn ist gerade so schlecht mit seiner Lunge.

TESSENDORFF. Ich höre zu meinem Bedauern. Aber es ist gar nichts von Bedeutung – ich meine, mein Auftrag. –

SCHENK hat den Anfall überwunden. Mutter, geh so lange hinaus, bitte.

FRAU SCHENK ängstlich. Ja, wenn du meinst – gewiß.

Rückwärts ab in die Küche.

SCHENK. Was führt Sie zu mir, bitte?

TESSENDORFF. Erlauben Sie, daß ich mich setze? Nimmt einen Stuhl.

SCHENK bleibt stehen. Bitte, Sie scheinen es nicht eilig zu haben.

TESSENDORFF. Offen gestanden – ich bin etwas müde gelaufen und bin hier heraufgekommen, nur um meine Pflicht zu tun, aber ohne große Hoffnung, den zu finden, den ich suche.

SCHENK. Sie suchen also jemanden bei mir?

TESSENDORFF. Allerdings. Ich habe den Auftrag, einen stellungspflichtigen Eisendreher – Stefan Klagenfurter, der heute in der Infanteriekaserne hätte einrücken sollen, aber offenbar flüchtig gegangen ist, zu verhaften und einzuliefern.

SCHENK. Ich weiß nicht, was dieser Auftrag mit Ihrem Besuch bei mir zu tun haben kann.

TESSENDORFF. Nach bestimmten Auskünften, die die Polizei erhalten hat, sollen Sie ein Freund des betreffenden Fahnenflüchtigen sein.

SCHENK. Über meine Freundschaften brauche ich ja wohl keine Rechenschaft zu geben. Jedenfalls halte ich niemand verborgen.

TESSENDORFF. Nun ja – das habe ich mir gedacht.

SCHENK. Wenn Sie sich überzeugen wollen. Dies ist der einzig größere Raum der Wohnung. Nebenan ist die Küche und die Kammer, wo meine Mutter schläft. Das ist alles. Meine Mutter kann Sie auch noch in den Keller führen, wenn Sie mögen.

TESSENDORFF. Aber ich bitte Sie, Herr Schenk. Ihre Versicherung, daß sich der Herr Klagenfurter nicht bei Ihnen aufhält, genügt mir vollständig. Hätte ich die Absicht gehabt, die Wohnung zu durchsuchen, dann wäre ich ja selbst gar nicht heraufgekommen, sondern hätte die beiden Soldaten geschickt, die die Verhaftung vorzunehmen haben.

SCHENK. Dann wäre unser Geschäft wohl erledigt?

TESSENDORFF. Ich muß natürlich noch die Frage an Sie richten: Wissen Sie, wo sich der flüchtig gegangene Dreher Stefan Klagenfurter aufhält?

SCHENK. Wenn ich es wüßte, würde ich es jedenfalls Ihnen nicht erzählen.

TESSENDORFF. Ganz richtig – selbstverständlich. – Ich mußte mit der Frage ja auch nur meiner formellen Pflicht genügen. Bleibt sitzen, fixiert Schenk.

Schenk trommelt nervös auf der Stuhllehne, auf die er aufgestützt steht. Hüstelt.

Sie haben es auf der Brust, Herr Schenk?

SCHENK schroff. Interessiert Sie mein Gesundheitszustand?

TESSENDORFF. Aber ich bitte. – Man ist doch nebenbei auch noch Mensch.

SCHENK. Sehr liebenswürdig. Der Arzt hat mir verordnet, nach Möglichkeit unerwünschte Unterhaltungen zu vermeiden.

TESSENDORFF. Gestatten Sie mir trotzdem noch ein paar Minuten. Sehen Sie, ich bin persönlich hier zu Ihnen gekommen, obwohl solche Verhaftung in der Regel natürlich die Angelegenheit subalterner Organe ist.

SCHENK. Wenn Sie mich etwa verhaften wollen, sagen Sie es bitte gleich.

TESSENDORFF. Wo denken Sie hin? – Davon ist gar keine Rede.

SCHENK. Dann sehe ich wirklich nicht ein, was Sie noch von mir wünschen. Hüstelt heftig.

TESSENDORFF. Herr Schenk, Sie sollten doch mal ein paar Wochen ausspannen und in einem Sanatorium die Lunge auskurieren lassen.

SCHENK. Ich möchte Sie jetzt im Ernst bitten, mir zu sagen, was Sie noch von mir wollen, und weiter kein Mitleid an mich zu verschwenden.

TESSENDORFF. Sie behandeln mich wie einen Feind, Herr Schenk. Das bin ich gar nicht. Ich möchte mich mit Ihnen ganz zwanglos unterhalten.

SCHENK. Aber worüber denn in aller Welt?

TESSENDORFF. Über einen Gegenstand, der uns beide im Augenblick ganz gleichmäßig interessiert.

SCHENK. Das wäre?

TESSENDORFF. Na, ich denke, es liegt nicht so ferne. – Vielleicht führt Sie der Hinweis auf die Fährte, daß ich im Polizeipräsidium das Referat für die öffentliche Sicherheit unter mir habe. Darunter fallen natürlich auch alle Arten von Streikbewegungen und Tumulten.

SCHENK. Sie kommen also wegen des Proteststreikes der Arbeiter?

TESSENDORFF. Vor allem wegen der Demonstration heute nachmittag.

SCHENK. Ja – aber was hätten wir beide da – Plötzlich auffahrend. – Herr! Wollen Sie etwa von mir Auskünfte einziehen?! –

TESSENDORFF. Auskünfte? – Ach nein, die brauchen wir nicht mehr. – Ich möchte Sie nur um Ihren Rat bitten.

SCHENK. Die Polizei will meinen Rat haben?

TESSENDORFF. Ich will es Ihnen sofort erklären. Sehen Sie, Herr Schenk, wir von der Polizei beschäftigen uns natürlich nicht bloß mit Tatsachen, sondern vor allem auch mit Personen. Das bringt unsere ganze Tätigkeit so mit sich. So sind wir – und das wird Sie ja gar nicht überraschen – über die eigentlichen Leiter der gegenwärtigen Bewegung ganz genau informiert.

SCHENK. Daß Sie Spitzel beschäftigen, ist mir nichts Neues.

TESSENDORFF. Es hätte ja auch gar keinen Zweck, wenn ich vor Ihnen Komödie spielte. Ich weiß also auch über Ihre Person vieles, was für Ihre Anschauungen und Stimmungen kennzeichnend ist. Ich glaube, über Ihre Wünsche für den heutigen Nachmittag ziemlich gut Bescheid zu wissen. Ich glaube, Sie sähen es gar nicht so ungern, Herr Schenk, wenn die Regierung – oder sagen wir, das Militär, etwas sehr Entschlossenes gegen die Arbeiter unternähme. Ich kann mir Ihren Gedankengang dabei auch recht gut vorstellen. Sie denken sich, ein blutiger Zusammenstoß zwischen Militär und Zivil in diesem Moment könnte im Lande und an der Front einen derartigen Kriegsüberdruß erregen, daß dem Reich gar nichts anderes übrigbliebe, als – so oder so – Frieden zu schließen. Vielleicht hoffen Sie auch auf das Versagen der zum Eingreifen kommandierten Truppen im entscheidenden Moment, was dann ja die offene Revolution gleich nach sich ziehen könnte.

SCHENK. Das alles haben Ihnen Ihre Zuträger über mich mitgeteilt?

TESSENDORFF. Es ist natürlich auch zum guten Teil meine eigene Kombination. Man muß doch etwas Psychologe sein in meinem Beruf – und ich lasse Sie schon recht lange beobachten und kenne viele Äußerungen von Ihnen.

SCHENK. Das ist ja sehr schmeichelhaft. – Aber was für einen Rat soll ich Ihnen denn geben können?

TESSENDORFF. Herr Schenk! Unsere Wünsche für den Verlauf des Unternehmens gehen gar nicht weit auseinander, natürlich aus ganz entgegengesetztem Interesse. Sie wollen eine Art Kraftprobe. – Und wir, sowohl Polizei wie Militär, sind ebenfalls bereit, es auf eine Kraftprobe ankommen zu lassen.

SCHENK. Ich muß gestehen, Herr Polizeirat, daß ich dieses ganze Gespräch außerordentlich peinlich empfinde. Wollen Sie vielleicht endlich zur Sache kommen?

TESSENDORFF. Ich bin mittendrin in der Sache. Wenn es doch schon einen Aderlaß geben soll, dann, meine ich, soll er nicht gar zu blutig ausfallen – und mindestens für Ihre Partei, also die Arbeiter, nicht obendrein lächerlich ausgehen.

SCHENK. Und nun kommt sozusagen der General der einen Armee zum feindlichen Generalstab und möchte mit dem einen Schlachtplan entwerfen.

TESSENDORFF. Warum nicht lieber einen andern Vergleich? – Vor einem ritterlichen Turnier setzen die Gegner in aller Kameradschaft die Bedingungen fest und prüfen die Chancen.

SCHENK. Tun Sie doch, was Sie für gut halten! – Ich habe mit Ihren frivolen Späßen gar nichts zu schaffen.

TESSENDORFF steht auf. Wie Sie wünschen. – Ich will Ihnen nur sagen, was geschieht, wenn wir nicht irgendwie einig werden. Die Arbeiterzüge, die von den verschiedenen Fabriken kommen, stellen sich auf. Man verteilt rote Fahnen, und irgendwer will vielleicht eine Ansprache halten, angenommen Professor Seebald. Dann rückt eine Kompanie Soldaten an. Der Leutnant geht sehr höflich zum Redner und sagt: Bitte sehr, Herr Professor, wollen Sie mich mal durchlassen? Und bevor der Zug formiert ist, fordert er die Leute auf, auseinander zu gehen. Hinter ihm stehen die Soldaten mit angelegtem Gewehr. Glauben Sie, Ihre Arbeiter bleiben stehen? – Ich nicht. – Aber angenommen, es laufen nicht gleich alle weg. Was kommt dann? Ein Schreckschuß – und die Revolution ist aus. Völlig aus, Herr Schenk – an ihrer eigenen Lächerlichkeit verendet. Nachher kommen dann die Prozesse. – Möchten Sie den Ausgang? – Ich auch nicht.

SCHENK ist erregt umhergelaufen, bleibt stehen. Professor Seebald wird nicht sprechen.

TESSENDORFF. Das ist ja ganz egal, wer dasteht.

SCHENK. Nein – das ist nicht egal.

Nach einem inneren Kampf – mit plötzlicher Eingebung. Herr Polizeirat, ich will Ihnen einen Rat geben!

TESSENDORFF. Also doch? Wir wollen uns doch hinsetzen.

Setzen sich.

SCHENK. Sie müssen Professor Seebald verhaften!

TESSENDORFF. Bitte, Herr Schenk – zum Narren halten lasse ich mich nicht gern.

SCHENK. Ich halte Sie nicht zum Narren.

TESSENDORFF. Dann erlauben Sie, daß ich gleich das Geschäftliche mit Ihnen regle. Zieht ein Briefkuvert aus der Tasche. Ich habe hier zunächst 500 Mark für Sie. Und da ist die Quittung – bitte!

SCHENK ist aufgefahren. Was! Geld wollen Sie mir geben! – Stecken Sie das sofort wieder ein!

Er schüttelt die Fäuste.

TESSENDORFF. Ich muß wissen, daß ich nicht gefoppt werde. Ich kann doch nicht erwarten, daß Sie mir derartige Dienste um meiner schönen Augen willen leisten. Die Polizei muß in jeder Hinsicht sichergehen.

SCHENK lacht auf. Ach so – das ist auch wieder wahr.

Setzt sich wieder.

TESSENDORFF gibt ihm die Quittung. Wollen Sie hier unterschreiben? – Das Vertrauen zu unserer absoluten Verschwiegenheit haben Sie wohl.

SCHENK ironisch. Durchaus. Unterschreibt. Steckt das Geld mit einer Gebärde des Abscheus in seine Brieftasche. Hüstelt.

TESSENDORFF. Vielleicht macht es Ihnen die Kur in einem Lungensanatorium möglich.

SCHENK. Um die Verwendung machen Sie sich nur kein Kopfzerbrechen. – Ich darf Ihnen also jetzt meinen Plan auseinandersetzen.

TESSENDORFF. Ich bitte darum.

SCHENK. Welches Ansehen Seebald bei den Arbeitern genießt, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. In dem Augenblick, wo Hand an ihn gelegt wird, wird das das Signal zum Losbrechen sein. Da er wohl nicht an Ort und Stelle sein wird, ist es wahrscheinlich, daß irgendein gemäßigter Parteiführer beschwichtigen wird, und dann fällt die ganze Aktion ins Wasser. Lassen Sie ihn also als geistigen Urheber des Ganzen in seiner Wohnung festnehmen und, wenn die Masse im Wachsmannschen Vorhof versammelt ist, vorbeiführen. Dann haben Sie, was Sie wollen. Der Weg zum Gefängnis führt ja ohnehin dort vorüber.

TESSENDORFF. Sie meinen bestimmt, man wird versuchen, ihn zu befreien?

SCHENK. Das überlassen Sie nur mir. Wenn sie es nicht von selber tun, werde ich sie dazu veranlassen.

TESSENDORFF ist aufgestanden. Ich glaube, Sie haben recht. – Da müßte ich also das Militär instruieren, vorher nichts zu unternehmen. – Wenn nun aber Seebald doch dort sein sollte?

SCHENK. Dann müßten Sie ihn eben vom Platz weg verhaften.

TESSENDORFF. Ich werde auf jeden Fall rechtzeitig dort sein. Wir können uns ja an Ort und Stelle immer noch verständigen.

SCHENK. Das wird wohl schlecht gehen, daß ich dort mit Ihnen rede.

TESSENDORFF. Oh, seien Sie ganz ruhig, den Pelz werde ich dabei nicht anhaben.

SCHENK. Noch eines: Können Sie mir versprechen, daß außer Seebald von den führenden Personen niemand festgenommen wird?

TESSENDORFF. Selbstverständlich. – Seebald genügt uns vollständig.

SCHENK. Sonst bin ich ja noch da, wenn Sie noch einen Rädelsführer brauchen.

TESSENDORFF. Wir werden sehen, Herr Schenk. Also wenn er nicht hinkommen sollte, wird Professor Seebald Punkt 3 Uhr 15 an der Wachsmannschen Fabrik vorübergeführt. – Das wäre wohl alles. Dann schönen guten Morgen, Herr Schenk. Streckt ihm die Hand hin, die Schenk ostentativ übersieht.

SCHENK. Guten Morgen.

Tessendorff ab.

Bleibt eine Weile unschlüssig stehen, öffnet dann die Tür zur Küche. Mutter, bitte meinen Mantel.

FRAU SCHENK kommt mit dem Überzieher. Das war ja eine lange Visite. – Du willst fortgehen, Ralf?

SCHENK. Ja, ich war noch gar nicht draußen heute. – Mir ist etwas eng auf der Brust.

FRAU SCHENK. Die Luft ist ja auch ganz dick hier im Zimmer.

SCHENK. Du brauchst mit dem Mittag nicht auf mich zu warten. Ich esse unterwegs etwas in der Volksküche.

FRAU SCHENK. Ja, geh nur. – Du gefällst mir heute gar nicht recht.

SCHENK. Bis ein Uhr komme ich wieder. – Also guten Morgen, Mutter. Küßt sie. Luft muß ich haben – frische Luft! Ab.

FRAU SCHENK öffnet das Fenster. Woher mag es bloß hier so stickig sein?

Vorhang.


************************************

Vierter Akt

Dasselbe Zimmer. Mittags gegen ein Uhr. Die Rosen stehen vor dem Fenster. Am Tisch sitzt Frau Schenk und näht. Bei ihr Flora, die Mütze auf dem Kopf, näht sich eine Rosette ans Jackett.

FRAU SCHENK. Das hätt ich aber doch nicht gedacht, daß Sie auch so geschickt mit Nadel und Zwirn umgehen können.

FLORA. Sie haben mich wohl für einen rechten Blaustrumpf gehalten?

FRAU SCHENK. Das grade nicht – aber wo Sie doch so viel mit dem Kopf arbeiten.

FLORA. Deshalb schneidere ich mir meine Kleider doch selber zusammen.

FRAU SCHENK. Nicht möglich! – Die Bluse haben Sie selbst gemacht?

FLORA. Freilich, selbst entworfen, selbst zugeschnitten und selbst gearbeitet. Beißt den Faden ab. – So, der Revolutionsorden sitzt fest.

FRAU SCHENK. Ach kann ich das Kleid mal ansehen?

Stehen auf und gehen ans Fenster.

FLORA. Der Stoff ist hübsch, nicht wahr? Eine Tante hat ihn mir zu Weihnachten geschenkt.

FRAU SCHENK. So einfach ist das gemacht und so geschmackvoll. Nimmt Floras Gesicht zwischen die Hände. Nicht wahr, liebes Kind, Sie sind meinem Ralf gut?

FLORA. Ja, ich habe ihn sehr gern.

FRAU SCHENK. Er ist mein ein und mein alles. Sie glauben nicht, wie gut er ist.

FLORA. Doch, das weiß ich.

FRAU SCHENK. Nur mit seiner Krankheit – er hat sie vom Vater geerbt. Aber ich denk immer, er kann doch noch gesund werden.

FLORA. Natürlich. Warum denn nicht? Er ist ja noch jung.

FRAU SCHENK. Nicht wahr, Sie werden ihn nicht verlassen wegen seinem Leiden?

FLORA. Behüte! Wie können Sie das denken?

FRAU SCHENK. Ja, sehen Sie – er hat das schon mal erlebt. Es ist schon über ein Jahr her. Da hatte er einen Schatz – es war ein nettes Mädel soweit, die Annie. Er hat sie auch heiraten wollen, und mit einemmal hat sie ihn stehenlassen und ist mit einem andern gegangen. Einen kranken Mann könne sie nicht brauchen, hat sie gesagt.

FLORA. Aber das ist abscheulich.

FRAU SCHENK. Oh, er wurde so schlimm danach. Er hat sich so aufgeregt, daß er wochenlang gehustet hat.

FLORA. Augenblicklich ist es nicht arg mit seiner Brust, glaube ich.

FRAU SCHENK. Heute morgen war es gar nicht gut. – Professor Seebald war hier. –

FLORA. War hier?

FRAU SCHENK. Ja – und da muß er sich schrecklich erregt haben. Er hat ihm nicht einmal adieu gesagt. Ich kam gerade heim, und nachher sprach der Professor noch mit mir. Ich soll Ralf vor Ihnen in acht nehmen.

FLORA. Das ist alles Mögliche.

FRAU SCHENK. Und wie ich ihm dies erzählt habe, hat er einen schrecklichen Anfall bekommen. Und nachher war noch einer von der Polizei da – und das muß ihn auch ziemlich mitgenommen haben.

FLORA. Von der Polizei? – Ach so, wahrscheinlich wegen Klagenfurter.

FRAU SCHENK. Ich weiß nicht. – Der Mann war lange da – und dann ist Ralf gleich fort. Er macht's immer so, wenn es ihm eng auf der Brust wird. Dann läuft er ein paar Stunden in den Park – und das hilft ihm. – Jetzt muß er aber wohl bald zurück sein.

FLORA. Um eins wollten ja doch die Genossen schon hier sein. Ach, da kommen sie wohl schon. Es läutet.

FRAU SCHENK. Aber Trotz und Dietrich schellen doch bei uns nicht. Na, ich sehe nach. Geht hinaus und kommt mit Lecharjow zurück.

LECHARJOW. Ist der Genosse Schenk nicht zu Hause? – Ah, guten Tag, Genossin Severin! Ich bin gelaufen, was ich können hab, zu treffen den Genossen Schenk.

FLORA. Wir erwarten ihn jeden Augenblick. – Gibt es etwas Besonderes?

FRAU SCHENK. Setzen Sie sich doch, Herr – Herr – –

LECHARJOW. Danke. Ich werde nicht bleiben, wenn Schenk nicht da ist.

FLORA. Aber mir können Sie doch erzählen.

LECHARJOW. Ob's was Besonderes gibt? – Freilich, sehr etwas Besonderes. Die Revolution verläuft programmwidrig – es scheint.

FLORA. Was soll das heißen?

LECHARJOW. Bei der Motorengesellschaft prügeln sich die Arbeiter untereinander, statt zu prügeln die kapitalistische Gesellschaft.

FLORA. Wer prügelt – wen?

LECHARJOW. Soweit man mir hat erzählt, hat es angefangen damit, daß man hat verhindern wollen die Streikposten zu versehen ihren Dienst.

FLORA. Hat die Polizei sie verhindert?

LECHARJOW. Ach wo. Die Polizei ist gar nicht zu sehen, und noch weniger das Militär. – Wozu auch? Wenn ihnen die Herren Proletarier selbst abnehmen ihr Geschäft?

FLORA. Können Sie nicht im Zusammenhang erzählen, was vorgefallen ist?

LECHARJOW. Kann ich auch. – Werd ich mich erst setzen – erlauben Sie!

FRAU SCHENK. Wollen Sie nicht ablegen, Herr – –?

LECHARJOW. Lecharjow, bitte. – Wir haben uns schon kennengelernt früher.

FRAU SCHENK. Ich weiß – gewiß. Nur der Name war so schwer zu merken.

Lecharjow legt ab, setzt sich auf den Liegestuhl, will eine Zigarette nehmen.

FLORA. Wir wollen hier nicht rauchen. Schenk kommt gleich nach Hause. – Sie wissen – seine Lunge –

LECHARJOW. Ist wahr. Lassen wir. – Also werd ich erzählen. Ich bin gegangen durch die Stadt gegen elf Uhr, um zu sehen: Was ist mit dem Streik? Was werden machen die deutschen Arbeiter? – Zuerst ist mir gewesen wie im Bad. Als wenn es in der Welt keinen Krieg gäbe.

FRAU SCHENK. Wie das?

LECHARJOW. Nu – wenn man sonst geht, ist alles feldgrau. Soldaten von allen Graden und Waffengattungen. Heute keine Uniform auf der Straße. Als ob das Militär wäre abgeschafft worden.

FLORA. Also wohl ein Straßenverbot für alle Soldaten und Offiziere.

LECHARJOW. Jedenfalls. Dann bin ich gegangen zur Wachsmannschen Fabrik. Alles still. Kein Schlot raucht. Ein paar Streikposten mit Rosetten.

FLORA. Und Schutzleute nicht?

LECHARJOW. Nicht ein Schutzmann, nicht ein Soldat. Wie ausgestorben.

FRAU SCHENK. Das ist aber komisch.

LECHARJOW. Bin ich weitergegangen zu Bartels & Moser. War das Bild schon anders. Auch Streikposten, auch keine Polizei – aber konnt ich deutlich erkennen, daß gearbeitet wird. Vor dem Eingang Proletarier, Männer und Frauen – und disputierten mit den Streikposten. Hab ich mich erkundigt: Die Hälfte arbeitet, die Hälfte streikt.

FLORA. Das wußte ich. Da sind viele Christliche und Gelbe.

LECHARJOW. Gut. Die Leute haben geglaubt, nach der Mittagspause werden noch wegbleiben. – Bin ich weiter zur Motorengesellschaft. War grade Mittag gepfiffen worden. Und Leute heraus genau wie jeden andern Tag. In Arbeitskitteln, mit geschwärzten Gesichtern. Haben sich Gruppen gebildet und aufgeregt hin und her geredet. Schließlich habe ich gesehen einen Haufen Menschen stehen um ein paar Leute und haben geschlagen einen Proletarier mit rotem Abzeichen.

FRAU SCHENK. Geschlagen? – Aber das ist doch schändlich.

LECHARJOW. Wie ich hinkam, hat er am Boden gelegen und geblutet. Ich kenne ihn. Es war der Genosse Braun. Er kommt auch in den »Bund Neuer Menschen«.

FLORA. Natürlich, Braun ist ein ausgezeichneter Genosse.

FRAU SCHENK. Er kommt oft zu Ralf.

LECHARJOW. Dann hab ich gesehen, wie einer hat gesprochen zur Menge. Es war der Redakteur vom »Volksboten«.

FLORA. Strauß?

LECHARJOW. Strauß. Hat er abgemahnt von Gewalttätigkeiten und gesagt, die Hetzer und Schürer werden schon ihre Strafe finden, sie sollen sich nur nicht verleiten lassen und ruhig ihre Arbeit tun. Dann hat sich die Menge verlaufen, und ich hab gelesen einen von den gelben Zetteln, die angeschlagen waren an der Fabrik: »Wer eigenmächtig von der Arbeit fernbleibt, ist entlassen.«

FLORA. Das würde ihnen schwer werden, wenn die ganze Fabrik streikte.

LECHARJOW. Was soll ich weiter sagen? Ich bin gegangen Mittag essen in den »Schwan«. Unterwegs hab ich gesehen: Von zwanzig Proletariern hat gehabt einer die rote Schleife. Hab ich mir beim Essen überlegt: Was soll geschehen? – und bin hierher.

FLORA. Was geschehen soll? – Das steht doch fest, denke ich.

LECHARJOW. Ja – auf dem Programm. Aber wie wollen Sie aufführen ein Theaterstück, wenn die Schauspieler nicht auftreten?

FLORA. Sie wollen doch nicht sagen, daß die Demonstration nicht zustande käme. Wenn bei Wachsmann alles feiert, bei Bartels & Moser die Hälfte – dann rechnen Sie noch die kleineren und ganz kleinen Betriebe.

LECHARJOW. Gewiß wird die Demonstration zusammenkommen. Aber sie wird sein lächerlich geringfügig. Die Stadt hat vierhunderttausend Einwohner, macht mit Angestellten und kleineren Beamten gut hunderttausend Proletarier. Lassen Sie nun hochgerechnet dreitausend Personen teilnehmen.

FLORA. Wachsmann hat allein über viertausend Arbeiter.

LECHARJOW. Lehren Sie mich doch das Proletariat kennen! Ich hab mitgemacht in Rußland schon die Anfänge der Bewegung 1903. Die Arbeit niederlegen – meinetwegen, das tun sie und sagen nachher, man hat sie terrorisiert. Auf die Straße geht noch nicht der fünfte Teil von denen, die streiken. – Glauben Sie mir.

FRAU SCHENK. Das wäre aber für Ralf eine große Enttäuschung.

LECHARJOW. Die Bourgeoisie ist wieder klüger als das Proletariat. Sie wartet ruhig ab, bis sie die wenigen Sturmtruppen der revolutionären Arbeiterklasse beisammen hat. Und dann läßt sie hineinschießen und verhaften, was sie fassen kann. – Nun, das Proletariat wird lernen mit der Zeit.

FRAU SCHENK. Ach Gott, das wäre aber entsetzlich.

FLORA. Glauben Sie wirklich, daß das beabsichtigt ist?

LECHARJOW. Daß sie gar keine Polizei und gar kein Militär auf der Straße haben, ist kein gutes Zeichen. Aber was weiß ich.

FLORA. Und Sie haben Schenk raten wollen, die ganze Demonstration abzusagen?

LECHARJOW. Ich hab gar nichts raten wollen. Wie komme ich dazu? Ich habe bloß sagen wollen, was ich beobachtet habe. Kann ich wissen, ob Sie vielleicht wollen diese Wirkung des Unternehmens? Nun hab ich Ihnen gesagt. Das übrige müssen Sie selbst wissen.

FLORA. Wie sich Professor Seebald entschieden hat, wissen Sie wohl nicht?

LECHARJOW. Ich hab ihn noch nicht gesehen heute. Es klopft.

FRAU SCHENK. Herein! Es treten ein Trotz, Dietrich, Braun – dieser mit verbundenem Kopf –, Färber, Fischer, Rosa Fiebig, alle mit großen Paketen und langen Stangen. Durcheinander der Begrüßung.

DIETRICH. Da haben wir die Wahrzeichen der Revolution! – Wohin mit den Sachen?

TROTZ. Wir legen wohl am besten alles aufs Bett.

FRAU SCHENK. Nur ungeniert.

FÄRBER. Wo ist denn Schenk? Ist er nicht zu Hause?

FRAU SCHENK. Er muß jeden Augenblick kommen.

ROSA. War Rund noch nicht hier?

FRAU SCHENK. Nein, bis jetzt noch nicht.

ROSA. Er wollte mich hier abholen.

FLORA. Sie scheint man ja schlimm zugerichtet zu haben, Genosse Braun.

BRAUN. Ist nicht so arg. Ich stand Streikposten bei der Motorengesellschaft –

FRAU SCHENK. Ja, Herr – Herr – –

LECHARJOW. Lecharjow, Genossin.

FRAU SCHENK. Herr – Verschluckt den Namen. – hat uns schon erzählt.

BRAUN. Mit dem Messer hat der Kerl zugestochen. Es hätte bös werden können.

DIETRICH. Diese Bande von Streikbrechern! – Schad, daß ich nicht dabei war!

TROTZ. Da hättest du wohl auch wenig helfen können.

DIETRICH. Das fragt sich noch.

FLORA. Was habt ihr denn da alles mitgebracht?

TROTZ. Vierzig rote Fahnen und zwanzig Plakate.

DIETRICH. Wir können ja mal ein paar herzeigen. Er packt ein Paket mit viereckigen Schildern aus. Hier! Nieder mit dem Krieg! – Da – das stecken wir oben auf die Stange. Tut es. Da werden sie's lesen, diese Gewaltmenschen!

ROSA öffnet den Verschluß eines Haufens Stangen, deren Tücher oben in Papier zusammengebunden sind. Die Fahnentücher sind doch groß genug?

Breitet eine Fahne aus.

LECHARJOW. Sehr schönes Rot.

DIETRICH. Es wird ein Bild werden – ha! – Hier, sehen Sie her!

Liest Plakattafeln ab. Es lebe das freie Rußland! Frieden, Freiheit, Brot! Hoch die internationale Völkerverbrüderung!

Färber, Fischer und Braun sind am Bett, Trotz, Dietrich und Rosa am Tisch mit den Gegenständen beschäftigt.

FLORA. Ihr habt famos gearbeitet.

FRAU SCHENK. Ralf wird sich freuen, wenn er das sieht. – Wo er nur so lange bleibt?

FLORA. Haben Sie heut morgen Klagenfurter gut untergebracht, Genosse Dietrich?

DIETRICH. Ach, das muß ich ja noch erzählen. – Sie hat ihn nicht aufgenommen, die verdammte Vettel!

FLORA. Nicht aufgenommen? – Ja, er ist doch aber in Sicherheit?

DIETRICH. Hoffentlich! – Wir haben uns nachher getrennt. Er fand es sicherer, wenn er allein ginge.

TROTZ. Wahrscheinlich hat Dietrich so laut auf das Frauenzimmer geschimpft, daß die Passanten aufmerksam wurden.

DIETRICH. Da bleibe mal ruhig dabei! Wir kamen zusammen hin. Die kleine Kröte von Nichte machte uns auf, die sie gestern abend bei sich hatte. Dann kam sie selbst auf den Korridor, die Gnädige.

ROSA. Hat sie euch nicht mal ins Zimmer geführt?

DIETRICH. Keine Spur! – Na, Stefan rückte damit heraus, was er wollte – bloß bis Mittag zwei Uhr bei ihr Unterkunft haben. Ja – die beiden sehen sich an, als ob der Satan selber bei ihnen Quartier nehmen wollte. Und dann fing erst die Kleine an: Ach das geht aber nicht! – Ach, das wäre doch gefährlich für uns!

FRAU SCHENK. Ist nicht möglich!

DIETRICH. Und dann die Alte! – Was wir denn eigentlich dächten! – Da käme ihr ja womöglich die Polizei ins Haus. – Ich wollte es ihr ordentlich geben, dieser Ziege – aber Stefan hatte mich schon am Ärmel, und dann waren wir froh, als wir wieder draußen waren.

FLORA. Ein nettes Gesindel, diese ästhetischen Damen!

FRAU SCHENK. Aber wo mag er denn geblieben sein?

DIETRICH. Er wollte zu Professor Seebald gehen.

FRAU SCHENK. Ach Gott, den wird er nicht getroffen haben, der war ja hier bei Ralf.

LECHARJOW. Seebald war hier? – Hat er zugesagt?

FLORA. Es scheint nicht. Schenk war inzwischen noch nicht hier.

Die Tür öffnet sich. Schenk tritt ein.

FRAU SCHENK. Endlich, Ralf. – Du hast dich verspätet.

SCHENK hüstelt nervös. Ja, ja. – So viel Leute. – Ach so, ja, die Fahnen. – Ach, guten Tag, Flora! Schön, daß du da bist! – Und Genosse Lecharjow, Sie auch.

LECHARJOW. Sie haben gesprochen mit Mathias Seebald? – Nun?

SCHENK hüstelt heftiger. Aber man kann sich ja kaum umdrehen hier. – Macht doch die Arbeit in der Küche! Er öffnet die Küchentür. Rosa, Dietrich, Trotz mit den Plakaten ab in die Küche. Die Tür bleibt offen. Du bist verwundet, Braun?

BRAUN. Kleines Vorpostengefecht.

SCHENK. Warst du bei Laßmanns, Flora?

FLORA. Ja. Der Hausherr hat sich leider auf gar nichts eingelassen. Ich weiß noch gar nicht, was wir werden tun können.

SCHENK. Laß gut sein. – Ich hab schon Rat geschafft.

FLORA. Du?

SCHENK. Ja, doch. – Ich kann helfen. Hustenanfall.

FRAU SCHENK. Was hast du nur, Junge? Du bist ja schrecklich unruhig.

SCHENK. Es hat nichts auf sich. Nimmt sich zusammen. Wie beurteilen Sie die Lage, Genosse Lecharjow?

LECHARJOW. Was soll ich sagen? – Man wird sehen müssen.

SCHENK. Seebald wird wohl zu Hause bleiben. – Wie?

LECHARJOW. Das wollte ich hören von Ihnen. – Ich denke, er war hier.

SCHENK. Ja – ja, gewiß. – Nein, er hat nicht gesagt, ob er kommt. – Ich denke kaum.

FLORA. Du bist so merkwürdig nervös, Raffael. Bist du mißgestimmt?

SCHENK. Oh, gar nicht. Hüstelt. Nicht im geringsten. – Nur die vielen Menschen –

FISCHER. Gehen wir voraus!

FLORA. Ja? – Wäre dir das lieber?

SCHENK. Du? – Du nicht! – Bitte, bleib!

FÄRBER ruft in die Küche. Macht euch fertig! Wir gehen.

DIETRICH in der Tür. Hast du die Plakate gesehen, Schenk? – Prächtig – was? Es wird ein Fest werden!

SCHENK. Ja, es ist alles sehr gut. Es klopft. Herein! Es tritt Rund ein.

FRAU SCHENK. Guten Tag, lieber Herr Rund. – Rosa ist in der Küche.

ROSA in der Küchentür. Gleich, Fritz. Wir packen eben wieder zusammen.

RUND. Ich habe eine sehr schlechte Nachricht.

FLORA. Was ist passiert?

RUND. Klagenfurter ist verhaftet.

SCHENK. Teufel!

RUND. Ich hätte ja gar nicht auf die Straße dürfen in Uniform. Es ist streng verboten. Aber ich mußte euch doch Bescheid bringen.

FÄRBER. Woher weißt du es?

RUND. Ich war ja in der Kaserne, als er eingeliefert wurde. Schon vor zwei Stunden. Er hat sich geweigert, die Uniform anzuziehen. Man wollte ihn sofort einkleiden.

BRAUN. Und was hat man mit ihm gemacht?

RUND. Dunkelarrest. – Ich fürchte, es wird ihm böse gehen.

LECHARJOW. Da haben Sie eine Parole für die Arbeiter heute.

FLORA. Das ist wahr. – Genossen! Alle, auch die aus der Küche, bilden einen Halbkreis um Flora, die mit Schenk, Frau Schenk und Lecharjow im Vordergrund rechts steht. Genosse Klagenfurter ist verhaftet und weigert sich, Militärdienst zu tun.

DIETRICH. Bravo, Klagenfurter!

FLORA. Er ist doch bekannt unter den Arbeitern?

TROTZ. Jeder kennt ihn. Er ist der Führer der Opposition bei den Metallarbeitern.

FLORA. Der Fall muß sofort allgemein bekannt werden. Es ist ungeheuer wichtig, daß dadurch eine Forderung von lokaler und unmittelbarer Bedeutung aufgestellt werden kann.

TROTZ. Die Arbeiter müssen erklären: Die Arbeit wird nicht eher wieder aufgenommen, ehe nicht Klagenfurter frei ist.

LECHARJOW. Jetzt bekommt die ganze Aktion Hand und Fuß!

SCHENK. Wir müssen ihn herausholen!

LECHARJOW. Herausholen ist schnell gesprochen. Da muß man wissen, wie sich verhalten werden die Soldaten.

RUND. Das ist ganz unsicher. – Viele schimpfen auf den Streik und besonders auf Seebald.

SCHENK. Aber ich glaube, daß die meisten doch schließlich zu uns herüberkommen werden.

FLORA. Wer will das voraussehen? – Aber es ist keine Zeit zu verlieren. Bringt die Fahnen an Ort und Stelle, klärt die Leute auf, die schon dort sind, schickt den anmarschierenden Gruppen Genossen entgegen, so daß jeder Arbeiter weiß, was geschehen ist.

BRAUN. Vielleicht können wir manchen damit noch jetzt für den Streik gewinnen.

DIETRICH. Marsch! Marsch! – An die Gewehre! Dietrich, Färber, Fischer, Braun, Trotz, Rosa nehmen die Pakete und Stangen.

TROTZ. Komm, mach dich fertig, Schenk!

SCHENK. Laßt mich noch! – Ich komme rechtzeitig hin.

FÄRBER. Wozu haben wir dann das ganze Zeug erst hergeschleppt?

FRAU SCHENK. Laßt ihn! Er ist nicht recht auf dem Posten. – Bleiben Sie noch ein bißchen bei ihm, Flora!

SCHENK. Wir gehen nachher zusammen, nicht wahr?

FLORA. Eigentlich –

TROTZ. Bleiben Sie nur, Flora. – Es genügt, wenn Sie zur Zeit dort sind.

FLORA. Also gut.

RUND. Laßt mich zuerst gehen. Komm mit, Rosa. – Mit euch allen zusammen würde ich noch mehr auffallen in der Uniform.

ROSA. Auf Wiedersehen! Mit Rund ab.

DIETRICH. So. – Hat jeder sein Bündel? – Auf in den Kampf!

TROTZ klopft Schenk auf die Schulter. Du mußt heute noch aushalten, Junge. Wir brauchen dich. Aber wenn wir es geschafft haben, wird's Zeit, daß du dich mal ordentlich erholst.

SCHENK mit Anstrengung lächelnd. Ich werde schon noch aushalten heute.

BRAUN. Also los, Genossen!

FISCHER. Pünktlich sein! Braun, Färber, Trotz, Dietrich, Fischer ab.

FRAU SCHENK. Willst du dich nicht ein Weilchen aufs Bett legen, Ralf? Du bist draußen sicher zu schnell gelaufen.

SCHENK. Nein, Mutter, ich hab gar nichts, wirklich nicht. Es ist nur – die Vorfreude.

LECHARJOW. Man muß sich nicht kümmern. Es wird sein Lampenfieber, die Aufregung vor einer Prüfung.

SCHENK. Ja, so was mag es wohl sein.

FRAU SCHENK. Ich muß jetzt aber in meine Küche. Ich schau schon wieder herein. Ab.

FLORA. Sagen Sie, Genosse Lecharjow: Hätten Sie nicht Lust, statt Seebald zu sprechen?

LECHARJOW. Das möcht gut werden, mit meinem Radebrechen.

SCHENK. Nein – Flora muß reden.

FLORA. Das hat er sich so in den Kopf gesetzt.

SCHENK. Du weißt, worauf es ankommt. Die Masse muß vorgehen gegen das Militär.

LECHARJOW. Wenn da sein wird Militär. Wenn es den Zug nicht abwartet unterwegs.

SCHENK. Nein, es kommt zur Wachsmannschen Fabrik.

FLORA. Weißt du das sicher?

SCHENK. Ja.

Nach einer Pause. Der Polizeirat hat es mir gesagt.

FLORA. Der Polizeirat war hier?

SCHENK. Er wollte Klagenfurter suchen.

LECHARJOW. Der Mann hat Ihnen aufgedeckt seine Karten? Nicht schlecht!

SCHENK hüstelt. Er hat es angedeutet.

FLORA. So erzähl doch. Was hat er gesagt?

SCHENK. Er wollte wissen, ob – ob Seebald dort sein würde.

FLORA. Du hast dich doch auf keine Unterhaltung eingelassen?

LECHARJOW. Sie werden ihm doch nicht Auskünfte gegeben haben?

SCHENK betreten. Nein – natürlich nicht. Aber ... Es klopft. Herein!

SEEBALD tritt ein. Sie sind noch da, Raffael. – Das ist gut.

LECHARJOW ihm entgegen. Grüß dich, Mathias. Was wird werden?

SEEBALD. Das wissen die Götter. Ich ahne nichts Gutes.

FLORA. Kommen Sie hin?

SEEBALD. Ja. Ich habe mich entschlossen.

FLORA drückt ihm die Hand. Das ist recht, Professor. Das freut mich. Raffael, hörst du? Professor Seebald kommt.

SCHENK steht mit verschränkten Armen in der Nähe des Ofens. Meinetwegen.

SEEBALD. Raffael Schenk! Wir wollen wieder Freunde sein. Heute früh – das war häßlich. Wir wollen es vergessen. Sie haben mich überzeugt.

SCHENK. Überzeugt – wovon?

SEEBALD. Daß das, was jetzt vorgeht, letzten Endes mein Werk ist. Deshalb darf ich nicht abseits bleiben. Mag daraus werden, was will.

SCHENK. Und was wollen Sie den Arbeitern sagen?

SEEBALD. Daß sie standhalten sollen in ihrer Weigerung, für den Krieg zu arbeiten. Ich werde ihnen zeigen, welcher Lohn ihnen winkt, wenn sie mit ihrer gewaltlosen Tat die Gewalt gebrochen haben werden.

SCHENK. Das heißt, Sie wollen jetzt, wo die Masse aufsteht, dieselbe Volksrede halten, die sie vorher schon ein dutzendmal von Ihnen gehört hat.

FLORA. Raffael!

SEEBALD. Was soll ich darauf antworten?

FLORA. Es ist ein neues Ereignis eingetreten, Professor. Genosse Klagenfurter hat heute früh den Befehl erhalten, sofort zum Militärdienst anzutreten. Er ist geflüchtet. Man hat ihn aber verhaftet und wollte ihm gleich die Uniform anziehen. Dem hat er sich widersetzt, und nun sitzt er in Dunkelarrest. Daran müssen Sie Ihre Rede anschließen.

SEEBALD. Das hat er getan? – Oh, das ist schön, das ist herrlich! Ja, das muß ich ihnen als Vorbild hinstellen!

SCHENK. Nein, damit ist nichts geschehen. Sie müssen sie aufrufen, Klagenfurter zu befreien!

SEEBALD. Aber das hieße ja geradezu die Gewalt predigen. Das tu ich nicht. Das kann ich nicht.

SCHENK. Dann wirst du es tun, Flora – oder der blinde Laßmann wird es tun.

SEEBALD. Raffael! Verlangen Sie nichts Unmögliches. Wollen Sie es denn wirklich verantworten, Ihre Klassengenossen, Ihre Arbeitsgefährten geradewegs in den Tod zu treiben? Ist es noch nicht genug mit dem Jammer und dem Blut draußen im Felde? Muß auch noch unter denen, die noch im Lande sind, gemetzelt und getötet werden?

FLORA. Ein friedlicher Spaziergang durch die Stadt würde es auch dann kaum werden, wenn Sie der Demonstration kein bestimmtes Ziel setzen. Und wollen Sie denn Klagenfurter einfach seinem Schicksal überlassen?

SEEBALD. Aber Sie als Frau müßten doch vor dem Äußersten zurückschrecken!

LECHARJOW. Ich verstehe gut deinen Standpunkt. Ich verstehe auch Flora und Schenk. Es wird nicht darauf ankommen, ob du willst Blutvergießen vermeiden um jeden Preis. Es wird auch nicht darauf ankommen, ob die andern riskieren wollen das Letzte. Sondern es wird darauf ankommen, ob die Demonstranten werden kämpfen mögen für ihre Zukunft oder ob sie werden vorsichtig sein. Und davon wird auch abhängen das Verhalten der Soldaten.

FLORA. Sie glauben nicht, daß die Soldaten auf jeden Fall schießen werden?

LECHARJOW. Kein Mensch tut etwas auf jeden Fall. Sind die Soldaten nicht Proletarier? Sie sind Fleisch von ihrem Fleisch und Blut von ihrem Blut. Wie die einen sind, sind auch die andern. Wenn sie sehen werden Entschlossenheit, Todesmut, Begeisterung bei den Arbeitern für den Frieden und die Freiheit, so wird auch bei ihnen lebendig werden das Gefühl für Frieden und Freiheit, und sie werden den Mut haben zur Solidarität. Wenn sie aber sehen werden Zögern und Angst und Vorsichtigkeit, so wird das sein ein Zeichen, daß das Proletariat noch nicht frei ist von der Unterwürfigkeit, und so werden sie auch nicht frei sein von der Unterwürfigkeit und werden tun, was befehlen werden die Offiziere.

FLORA. Danach läge es an Ihnen, Professor Seebald, so zu den Massen zu sprechen, daß sie die Angst vergessen und um jeden Preis alles wagen.

SEEBALD. Und ich sollte sie zum Sturm aufrufen auf das Militärgefängnis – die unbewaffneten Arbeiter?

SCHENK. Nein, zum Sturm auf das Zeughaus – und dann die bewaffneten Arbeiter zur Kaserne und zum Schloß.

SEEBALD läuft unruhig umher. Nein! – Das – geht nicht! – Dazu gebe ich mich nicht her.

SCHENK. Dann bleiben Sie doch lieber zu Hause! – Da schaden Sie wenigstens nichts.

SEEBALD bleibt vor Schenk stehen, erregt. Jetzt muß ich Ihnen denn doch verbieten, in diesem Ton mit mir zu sprechen. Sie haben kein Recht, mir vorzuwerfen, daß ich der Friedensbewegung des Volkes schaden könne. Heute morgen haben Sie mich darüber belehrt, wo mein Platz ist, da das ganze Unternehmen von mir angetrieben sei. Ich habe diese Belehrung von Ihnen angenommen und werde da stehen, wo meine Pflicht mich hinstellt. Und dort werde ich so handeln, wie meine Pflicht es von mir verlangt.

SCHENK. Vielleicht warnen Sie die Masse dann auch vor ungünstigen Einflüssen!

FLORA. Raffael! – Ich bitte dich!

SEEBALD. Ach, ist das der Grund Ihres Zornes – was ich mit Ihrer Mutter gesprochen habe?

SCHENK. Vor dir gewarnt hat er sie, Flora! – Du wärst mein Verhängnis –.

SEEBALD. Das hab ich nicht gesagt.

SCHENK in heftigem Ausbruch. Da gibt es nichts zu beschönigen, Herr Professor! Aber Sie täuschen sich, wenn Sie meinen, den Proletarier da kann man am Draht ziehen, wohin man mag. Ich brauche Ihre Erziehung nicht – verstehen Sie mich? Ich weiß selbst, wo ich hingehöre, und was dem Proletariat not tut, weiß ich besser als Sie – viel besser.

FLORA. Erreg dich nicht so, Raffael! – Bitte nicht!

Legt ihm die Hand auf die Schulter.

SCHENK macht sich frei. Laß mich! Da muß einmal Klarheit werden zwischen dem da und mir. – Ja, sehen Sie mich nur an!

SEEBALD. Beruhigen Sie sich doch. – Ich weiß doch, Sie sind ein guter Mensch.

SCHENK. Ich bin gar kein guter Mensch. Aber ich kenne meinen Weg – und der geht geradeaus, Herr Professor Seebald! Geradeaus – und wenn es über Leichen ginge! – Und wenn es über Sie hinüberginge! – Vielleicht erleben Sie es. – Ich habe nichts zu schaffen mit Ihrer sanften Friedenszirperei, nicht das geringste. – Wenn Sie es wissen wollen: Ich will, daß Blut fließt heute! Ich wünsche, daß hineingeschossen wird in die Masse! – Das Proletariat soll es spüren, daß Revolution kein Tanzvergnügen ist – sondern Blut kostet – Blut!!

SEEBALD stark. Hören Sie auf mit diesem grauenhaften Bekenntnis, Mensch!

SCHENK. Aha! Das klingt Ihnen nicht lieblich in die Ohren, nicht wahr? – Aber Sie werden es auch nicht begreifen. Sie können mich überhaupt nie verstehen. – Und warum nicht? Passen Sie auf! Ich will es Ihnen sagen: Weil ich ein Proletarier bin – und Sie sind – ein Bourgeois!

SEEBALD nimmt seinen Hut. Leben Sie wohl, Schenk! Ich hoffe, Sie werden mich noch einmal anders beurteilen – vielleicht noch heute. Will gehen.

LECHARJOW. Ich werde dich begleiten, Mathias. – Zu Schenk. Der Mensch muß sich nicht gehenlassen zu weit. Vielleicht haben Sie recht in der Sache, aber Sie haben unrecht, so zu reden mit Mathias Seebald. Wie wollen wir Krieg führen gegen den Kapitalismus, wenn wir nicht Frieden halten miteinander? Schenk schweigt. Nun – überlegen Sie sich's. Adieu, Genosse Schenk. Gibt ihm die Hand. Die Genossin Severin bleibt wohl noch hier – wie?

FLORA. Ich glaube, Raffael, für dich ist es das beste, du bleibst noch ein halbes Stündchen allein.

SCHENK. Willst du auch fortgehen?

FLORA. Leg dich ein wenig nieder. Ich werd der Mutter sagen, daß sie dich um halb drei rufen soll. – Ja?

SCHENK gibt ihr die Hand. Wenn du meinst. – Ich bin ein wenig abgespannt.

Seebald und Lecharjow gehen voraus aus der Tür.

FLORA blickt nach ihnen aus. Dann küßt sie Schenk. Stark sein, mein Liebster! – Wir beide müssen stark sein heute!

SCHENK küßt lange ihre Hand. Du hast recht.

FLORA öffnet die Küchentür. Mutter Schenk!

FRAU SCHENK. Ja, liebes Kind.

FLORA. Wir wollen Ralf ein wenig allein lassen. Aber erinnern Sie ihn pünktlich um halb drei Uhr, daß er nachkommt. Ab.

FRAU SCHENK. Willst du dich hinlegen, mein Junge?

SCHENK. Nein, Mutter, setz dich zu mir! Er schlägt den Feldstuhl auseinander, so daß er in halbliegender Stellung darauf sitzt. Frau Schenk zieht einen Stuhl daneben. Ich muß mir etwas vom Herzen reden.

FRAU SCHENK. Und da schickst du deine Flora weg und holst deine alte Mutter?

SCHENK. So wie du würde sie mich vielleicht doch nicht verstehen.

FRAU SCHENK. Ja, mein Gott – bis aus Liebe Vertrauen wird, das braucht Zeit.

SCHENK. Nein – nein. Ich habe alles – das größte Vertrauen zu Flora. – Ich möchte es ihr auch sagen. Aber erst sollst du es wissen.

FRAU SCHENK. Sprich nur. Es wird nichts Unredliches sein.

SCHENK. Das will ich eben von dir erfahren.

FRAU SCHENK. Nein, das weiß ich vorher. Etwas Unredliches tust du nicht.

SCHENK. Mutter, bis jetzt hast du doch immer noch alles verstanden, was ich getan habe?

FRAU SCHENK. Soviel ich es mit meinem kleinen Verstand konnte – immer.

SCHENK. Was würdest du aber sagen, wenn ich etwas täte, was ganz so aussähe wie eine große Schlechtigkeit?

FRAU SCHENK. Was so aussieht, braucht doch noch nichts Schlechtes zu sein!

SCHENK. Das denke ich auch, Mutter! – Aber kannst du dir denken, daß ein Mensch Gewissensbisse hat für etwas, was er getan hat, obgleich er es recht findet, daß er es tat?

FRAU SCHENK. Ja – das wird wohl davon abhängen, wie es ausgegangen ist. Dann zeigt es sich manchmal, daß es nicht das richtige war.

SCHENK. Nein, Mutter – vorher; wenn man die Folgen noch gar nicht kennt.

FRAU SCHENK. Wo sollen dann wohl die Gewissensbisse herkommen? Nein, das glaub ich nicht.

SCHENK. Doch, Mutter, es ist aber so.

FRAU SCHENK. Gewissensbisse hat man doch nur, wenn man seine Handlung selber schlecht findet.

SCHENK. Hör mir mal zu, Mütterchen. – Ich habe etwas getan, weil ich es tun mußte und weil ich glaube, daß es nötig war. Aber für einen, der da nicht ganz genau alles weiß, wie man dazu kommt und warum das so sein muß, ist es vielleicht das Schlimmste, was ein Mensch überhaupt tun kann.

FRAU SCHENK. Ja, mein Junge, ich weiß doch nicht –

SCHENK. Du brauchst auch nicht zu wissen. Aber kannst du das fühlen, wie mir da zumute ist. – Sieh, wenn ich von irgendeinem andern, von meinem nächsten Freund, erführe, er hätte das getan, was ich getan habe – da würde ich gar nichts mehr fragen, da würde ich sagen: Der Lump! Und nie wieder etwas mit ihm zu schaffen haben wollen.

FRAU SCHENK. Aber, Kind, du machst mir ja ganz angst.

SCHENK. Nicht doch! Ich will ja nur wissen, ob du mich recht verstehst. – Es sind Gewissensbisse, die bloß daher kommen, daß ich mich frage: Wie würdest du selbst das aufnehmen, wenn es ein anderer täte. Und ich könnte es auch gar niemandem begreiflich machen nachher – ich könnte mich gar nicht entschuldigen.

FRAU SCHENK. Auch bei Flora nicht?

SCHENK. Flora? – Die hätte in derselben Lage vielleicht dasselbe getan. – Vielleicht natürlich auch nicht. – Aber ob sie es trotzdem von mir begreifen würde –?

FRAU SCHENK. Würdest du es denn begreifen, wenn sie es getan hätte?

SCHENK nach längerem Besinnen. Ich weiß nicht, Mutter. Ich glaube eher nicht.

FRAU SCHENK. Vielleicht erleichtert es dich, wenn du es ihr noch sagst.

SCHENK. Wenn alles vorbei ist und gut ausgegangen ist, dann will ich es ihr auch sagen.

FRAU SCHENK. Flora versteht dich gewiß. – Ich meine fast, die hat dir der Himmel geschickt.

SCHENK. Das glaube ich selbst. – Aber ob ich mal so werde mit ihr über alles sprechen können wie mit dir – das weiß ich doch nicht.

FRAU SCHENK. Aber warum denn nicht, mein Junge?

SCHENK. Ach, Mutter, du weißt nicht, wie gut das ist, daß du nie nach etwas fragst.

FRAU SCHENK. Das mußt du ja auch selbst bestimmen, wieviel du mir sagen willst.

SCHENK. Komm, Mutter, ich muß dir einen Kuß geben.

Sie beugt sich über ihn.

– So. Nun weiß ich alles, was ich wissen wollte – du wirst nie an mir zweifeln, Mutter – nicht?

FRAU SCHENK. Nein, gewiß nicht, Ralf.

SCHENK. Auch nicht, wenn alle – auch die Genossen – und sogar Flora mich verurteilen?

FRAU SCHENK. Nein, niemals. Ich kenne dich doch. – Aber das wollen wir doch nicht hoffen, wie?

SCHENK. Wer kann am Mittag bis zum Abend sehen!?

FRAU SCHENK. Fühlst du dich jetzt besser, mein Sohn? – Du warst vorhin so nervös.

SCHENK steht auf. Jetzt ist's mir wieder gut. – Jetzt habe ich das herunter von der Seele, was darauf lag. Mein Gewissen ist wieder frei.

FRAU SCHENK. Wem das Gewissen frei ist, der tut wohl auch das Rechte.

SCHENK nimmt eine Rose aus der Vase. So, Mütterchen, die steck dir an – Befestigt sie an ihrem Schürzenband. –, sie ist von der, die ich lieb hab.

FRAU SCHENK küßt ihm die Stirn. Sie soll dich recht, recht glücklich machen!

SCHENK. Geh nun in deine Küche und mach dir um mich keine Gedanken mehr, hörst du? Zieht den Mantel an.

FRAU SCHENK. Für heute abend hab ich was Gutes für dich – drei Eier hab ich bekommen. Nickt ihm zu, ab in die Küche.

SCHENK ihr nachblickend. Du Gute, Liebe! Will abgehen, besinnt sich bei der Tür und geht zurück. Die Waffe! Er nimmt mit Seitenblick zur Küchentür rasch einen Browning aus der Kommode und steckt ihn ein. Schnell ab.

Vorhang.


************************************

Fünfter Akt

Nachmittag desselben Tages. Platz vor der Wachsmannschen Fabrik, deren Fassade an der linken Seite der Bühne zum Teil sichtbar ist. Großer Vorhof, um den sich vorn bis etwa zur Hälfte ein auf Zement aufgebautes Eisengitter schließt. Wo die Gitterpforte stehen sollte, hört die Umschließung auf. Die Pforte ist durch zwei vierkantige Steine angedeutet, deren einer freisteht. Vom Hintergrunde links führt eine Straße schräg in den offenen Vorhof hinein; auf beiden Seiten Laternen. Weit hinten sieht man Häuser und Schornsteine. Vorn links führt eine schmale Straße am Gitter vorbei. Im Hintergrund Bäume mit Schneeresten. Rechts hinten eine Hausecke, bei der eine Straße in den Platz mündet, in die der Ausblick durch einen Straßenbahnwagen mit zerbrochenen Scheiben und freihängender Stange verdeckt ist. Die Schienen führen über den Platz. Trambahndrähte sind ausgespannt. Rechts zurückliegend Häuser, vorn ein Wirtshaus, durch eine Traube gekennzeichnet, eine Freitreppe bezeichnet den Eingang. Die Straße links vorn setzt sich nach rechts, vor dem Wirtshaus vorbei, fort. Im Vorhof der Fabrik viele Menschen mit roten Rosetten. Man sieht rote Fahnen und Plakate. Ein Haufen Men schen steht um den Straßenbahnwagen herum.

Im Vordergrund etwas links eine Gruppe Arbeiter, darunter Trotz, Dietrich, Färber, Fischer, Braun, Rosa, Rund und ein Trambahnführer.

BRAUN. Ja, lieber Freund, da dürfen Sie sich nicht beklagen, wenn Sie am Streiktag fahren –

TROTZ. Und dann noch mitten hinein, wo die Arbeiter sich sammeln!

TRAMBAHNFÜHRER. Ich konnte doch das nicht wissen, daß man mir gleich den Wagen entzweischmeißen würde!

DIETRICH. Ganz recht ist's geschehen. – Wer sich zum Streikbrecher hergibt!

TRAMBAHNFÜHRER. Es sind doch alle ausgefahren!

FÄRBER. Das ist traurig genug!

TRAMBAHNFÜHRER. Man will doch leben.

TRAMBAHNSCHAFFNERIN mit Rosette drängt sich vor. Das ist Quatsch. Ich weiß, wo ich hingehöre an solchem Tag. Da hättest du auch deinen Wagen stehenlassen können.

DIETRICH. Bravo! – Ja, die Weiber!

SCHAFFNERIN. Mein Mann ist drei Jahre draußen und schon zweimal verwundet, und jetzt ist er schon wieder in Flandern. Ich hab's satt mit den Kindern!

TROTZ. Wir sind doch alle Proletarier. Wir gehören doch zusammen.

TRAMBAHNFÜHRER. Na ja. – Mir kann's ja gleich sein. Ab in den Hintergrund.

SCHAFFNERIN. So sind sie alle. Bloß daß der Lohn nicht mal einen Tag ausfällt! Die Umstehenden verlaufen sich. Von rechts vorn treten auf Seebald, Lecharjow und Flora.

DIETRICH. Ah! Da kommen ja unsere Freunde. –

LECHARJOW hält Umschau. Es sind noch weniger, als ich geglaubt habe.

TROTZ. Es macht nichts. Es ist ein Anfang.

LECHARJOW. Ist auch mehr. Wenn ein Scheintoter rührt den kleinen Finger, sieht man, daß man ihn noch kann erwecken.

FLORA. Was ist denn mit dem Trambahnwagen?

FÄRBER. Die Leute haben ihn angehalten. Die Passagiere mußten heraus, und weil der Führer nicht absteigen wollte, haben sie ihn heruntergeholt und die Scheiben eingeschlagen.

DIETRICH. Jawohl! Und den Kontakt haben wir ausgehoben. So muß es mit allen Streikbrechern gemacht werden, diesen Schuften!

SEEBALD. Man soll niemanden zwingen, gegen seinen Willen zu handeln.

BRAUN. Aber wenn er doch mitten durch die Streikenden fährt!

SEEBALD. Gewalt ist nie das richtige Mittel. – Aber was haben Sie denn am Kopf? Sind Sie verwundet?

BRAUN lacht. Ja, da haben die andern Gewalt gebraucht, weil ich Streikposten gestanden hab.

FLORA. Aber Rund, Sie sollten sich in Ihrer Uniform doch mehr unter der Menge halten.

RUND. Oh, es sind noch eine Menge Soldaten dabei. – Sehen Sie nur.

ROSA. Aber meistens bloß Verwundete.

RUND. Es macht nichts. Wenn alles gut geht, können sie mir nicht mehr viel anhaben.

TROTZ zu Flora. Was ist denn mit Schenk? Er kommt doch?

FLORA. Natürlich. Er muß jeden Augenblick hier sein. Wir wollten ihn nur ein paar Minuten ausruhen lassen.

BRAUN. Er war heute gar nicht gut beisammen.

TROTZ. Der arme Kerl. Mit seiner Lunge will's gar nicht ordentlich werden. Seine Arbeit ist auch nichts für ihn. Immer am Setzkasten und den Bleistaub einatmen. –

FÄRBER. Und dann noch die Aufregungen heute.

SEEBALD. Leider hab ich sie noch gesteigert. Hoffentlich wird sein Groll nicht anhalten.

FLORA abseits zu Trotz. Wissen die Leute Bescheid über Klagenfurter?

TROTZ. Ja. Sie meinen alle, man müßte ihn heraus holen.

FLORA. Das ist gut. Zurück zu den übrigen. Von hinten her tritt auf Laßmann am Arm seine Frau.

FRAU LASSMANN. Da stehen sie ja alle.

DIETRICH. Unser Anführer! – Laßmann, wo hast du die Fahne?

LASSMANN. Ja! – Gebt her eine rote Fahne! Tastet um sich.

TROTZ. Du bekommst eine, Ernst, wir gehen gleich in den Hof. Es liegt schon eine bereit für dich.

LASSMANN. Ist Professor Seebald gekommen?

SEEBALD. Ja, Freund Laßmann, ich bin hier. Faßt seine Hand.

LASSMANN. Er ist da, Thilde. Ja, wir beide wollen vorangehen, Sie und ich – und ich werde die Fahne tragen. – Das ist ein Glückstag heute. Mir ist, als ob ich mein Augenlicht wiederkriegen sollte.

SEEBALD. Man darf nie die Hoffnung aufgeben.

LASSMANN. Oh, ich bin glücklich! – Es lebe die Freiheit! Es lebe der Friede!

Leute sammeln sich um die Gruppe.

DIETRICH. Es lebe die Revolution!

LASSMANN. Und Professor Seebald soll leben!

EIN ARBEITER. Seebald ist da, Genossen! – Mathias Seebald! –

VIELE STIMMEN. Hoch Seebald! Hoch! Viele kom men gelaufen, umdrängen Seebald. Hoch unser Führer! Hoch!

SEEBALD. Ich danke Ihnen, Freunde, aber auf meine Person kommt's nicht an. Wir müssen für den Frieden arbeiten.

STIMMEN. Es lebe der Friede! – Nieder mit dem Krieg!

FLORA. Es ist drei Uhr vorbei. – Die Leute müssen sich aufstellen.

LASSMANN. Meine Fahne!

TROTZ. Ja, wir gehen jetzt. Kommen Sie, Mathilde!

Alle ab in den Fabrikhof. Der ganze Platz leert sich dorthin. Große Bewegung im Hof. Von links tritt auf Strauß, der von der Ecke aus die Vorgänge beobachtet. Er bemerkt Tiedtken allein auf dem Platz.

STRAUSS tritt auf ihn zu. Guten Tag, Herr Tiedtken – auch hier?

TIEDTKEN. Mich überrascht es, Sie hier zu sehen.

STRAUSS. Pflicht! Ich muß doch versuchen, die Leute vor Dummheiten zu bewahren.

TIEDTKEN. Sie halten das Ganze für eine Dummheit?

STRAUSS. Noch schlimmer: für ein Verbrechen.

TIEDTKEN. Ich meine aber doch, wenn ein Mann wie Professor Seebald sich an die Spitze stellt, dann kann es doch wohl nur dem Guten dienen.

STRAUSS. Sie sind ein harmloser Mensch, Herr Tiedtken. Sie leben in Ihrer Welt der Schönheit und der Kunst. Da gehen Ihnen die schönen Worte Seebalds wie Honig ein. Ich sage Ihnen: Der Mann ist ein höchst gefährlicher Intrigant.

TIEDTKEN. Sie kennen ihn doch wohl nicht. Er hat wirklich ein Herz für die Arbeiter.

STRAUSS. Nicht wahr? Und wir sind die Verräter am Proletariat!

TIEDTKEN. Ich muß Ihnen ehrlich gestehen: Der Aufruf von Partei und Gewerkschaften auf demselben Blatt wie die Drohungen des Generals Lychenheim hat mir sehr mißfallen.

STRAUSS. Wir mußten es den Arbeitern ganz deutlich machen, daß sie bei diesem frevelhaften Spiel auf ihre Organisationen nicht im geringsten rechnen können.

TIEDTKEN. Soweit ich die Arbeiter gehört habe, waren sie aber äußerst ungehalten.

STRAUSS. Wieviel Arbeiter haben Sie denn im ganzen gesprochen? – Und ich kenne ja die Sorte, mit der Sie Fühlung haben. Ich weiß, welche Fäden Sie überhaupt nur mit Proletariern verbinden.

TIEDTKEN. Ach, was Sie meinen, trifft nicht mehr zu. Diese Fäden habe ich zerrissen.

STRAUSS. Das war gescheit. Sie sollten aber auch den Verkehr mit Seebald aufgeben. Das ist ein ausgemachter Scharlatan.

TIEDTKEN. Aber, ich bitte Sie, Herr Strauß. – Eine Persönlichkeit von solchem Ansehen!

STRAUSS. Was wissen denn Sie? Wen hat er denn hinter sich? Ein paar leichtgläubige Literaten – nehmen Sie mir die Offenheit nicht übel; ein paar unbefriedigte Hysterikerinnen und ein paar nervös gewordene Arbeiter. Und jeder verehrt ihn für was anderes: Ihr Ästheten für seine transzendentale Philosophasterei; – die alten Schachteln, weil er mit seinem mystischen Augenverdrehen ihre Geilheit kitzelt, und die Wirrköpfe von Arbeitern wegen seiner anarchistelnden Anführer-Allüren.

TIEDTKEN. Aber jeder Mensch rühmt doch seinen Idealismus.

STRAUSS. Glauben Sie? – Ich wünschte nur, Sie könnten mal die Soldaten über ihn reden hören.

TIEDTKEN. Sie meinen wohl die Offiziere?

STRAUSS. Nein – die Soldaten. Die wissen ganz genau, daß jetzt alles darauf ankommt, die letzten Kräfte zusammenzunehmen – und durch! Wissen Sie, die haben den Krieg bis zum Halse, und wenn Ihnen jetzt einer dazwischenkommt, gerade wo es dem Abschluß zugeht, und predigt ihnen Passivität, Desertion, Feindesliebe, kurzum, lauter Dinge, die zu Rückschlägen führen und dadurch den Krieg ins Grenzenlose verlängern, da geht ihnen die Galle hoch. Das kann ich Ihnen sagen.

TIEDTKEN. Die meisten glauben aber doch nicht mehr an den Sieg.

STRAUSS. Einige, die von diesen Phrasenhelden benebelt sind. Aber die andern – die große Mehrzahl! Mein Lieber, zu uns kommen sie doch, zu uns haben sie Vertrauen. Da hab ich mehr als einmal gehört: Wenn wir den Kerl, den Seebald, mal unter die Fäuste kriegen – der kommt uns nicht heil wieder heraus!

Von rechts tritt Schenk auf, bemerkt die beiden, bleibt stehen.

TIEDTKEN. Nein – das hätte ich aber nicht gedacht.

STRAUSS. Ja, schimpfen auf die Arbeiterführer ist leicht. Aber unsereiner, der von jung auf die Kleinarbeit gemacht hat in der Partei, der die Organisation mit hat aufbauen helfen von ihren kümmerlichen Anfängen an – der kennt das Proletariat, der weiß, wo es der Schuh drückt. Das dürfen Sie glauben. Wir haben die Erfahrung. Wir wissen auch jetzt, wie wir das Volk am heilsten durch diese verworrene Zeit bringen. – Realpolitik, mein Verehrter – darauf kommt es an; nicht auf Redensarten und solche Lächerlichkeiten wie das da! – Kommen Sie mit? Ich möchte ein bißchen herumhören.

TIEDTKEN. Wollen wir gleich zur Fabrik hinein?

STRAUSS. Ich werde mich hüten. Nein, der Moment kommt noch. Faßt Tiedtken unter. Beide ab in den Hintergrund. Schenk kommt langsam vor, geht am Wirtshaus vorbei. Aus dem Wirtshaus tritt Tessendorff, unauffällig gekleidet.

TESSENDORFF. Herr Schenk!

SCHENK dreht sich um. Ach so, Sie sind es.

TESSENDORFF. Lassen Sie uns hier vortreten, da sieht man uns nicht. Sie stehen vor der Freitreppe, die sie deckt. Seebald ist hier!

SCHENK. Ich weiß.

TESSENDORFF. Ja, was meinen Sie denn nun?

SCHENK. Was soll denn ich dazu noch meinen?

TESSENDORFF. Keine Umstände bitte. Punkt drei Uhr rückt das Militär an. Die Verhaftungen werden von Soldaten vorgenommen.

SCHENK. Was für Verhaftungen?

TESSENDORFF. Na, Seebald – und was weiß ich!

SCHENK. Sie hatten mir zugesagt, daß außer ihm niemand festgenommen werden soll.

TESSENDORFF. Sie hatten sich selbst auch eventuell zur Verfügung gestellt. Den geeigneten Moment gegen Seebald müssen Sie kenntlich machen.

SCHENK. Ich? Wie komme ich denn dazu? – Die saubere Arbeit machen Sie gefälligst allein!

TESSENDORFF. Herr Schenk, ich habe eine Quittung von Ihnen bei mir.

SCHENK. Und da meinen Sie, Sie haben mich jetzt in der Hand? Sie können das Geld wiederhaben, Herr Polizeirat!

TESSENDORFF. Die Polizei macht abgeschlossene Geschäfte nicht rückgängig. Übrigens waren Sie doch heute früh selbst noch der Meinung, daß wir im Falle der Anwesenheit Seebalds einen neuen Plan verabreden müssen. Wollen Sie jetzt, daß er die Leute heimschickt? Es ist doch wohl keine Frage, in welchem Sinne er sprechen wird. Er wird abwiegeln.

SCHENK. Das ist gar nicht sicher.

TESSENDORFF. Das müssen Sie eben vorher herausbekommen. Wenn er selbst zum Vorgehen aufruft, um so besser! Dann brauchen wir ihn gar nicht festzunehmen. Dann könnten wir mit seiner Verhaftung nur schaden. Sie müssen deshalb vorher mit ihm sprechen und mir, wenn er bremsen will, ein Zeichen machen.

SCHENK. Was für ein Zeichen denn?

TESSENDORFF. Irgendeins. – Sie könnten ihm zum Beispiel die Hand auf die Schulter legen.

SCHENK. Ich könnte ihm ja auch gleich einen Kuß geben.

TESSENDORFF. Wenn Sie das lieber wollen.

SCHENK. Nein, nein! – Es fiel mir nur so ein, vergleichsweise. Also gut, ich werde ihm die Hand auf die Schulter legen.

TESSENDORFF. In dem Augenblick schicke ich Soldaten vor zu seiner Festnahme. Und dann können Sie ja Ihre Freunde zu Hilfe rufen.

SCHENK. Daran soll es nicht fehlen.

TESSENDORFF. Ich kann mich also auf Sie verlassen.

SCHENK. Aber bilden Sie sich bitte nicht ein, daß ich jetzt einer der Ihrigen bin.

TESSENDORFF. Auf ihre Sympathie legt die Polizei keinen Wert. – Aber ich möchte Sie noch auf eins aufmerksam machen: Handeln Sie gegen die Abrede, das heißt, bekommen Sie selbst Angst vor Ihrer Courage, oder wie man das so nennt – Gewissensbisse –

SCHENK. Bitte bemühen Sie sich nicht um meine Seele.

TESSENDORFF. Nicht im mindesten. Ich will Ihnen nur sagen: es kommt genügend Militär, um den ganzen Platz zu umstellen. Es ist beabsichtigt, nur Handwaffen zu gebrauchen. Gehen die Dinge aber nicht nach Wunsch, so sind für alle Fälle auch Maschinengewehre dabei und für den äußersten Fall Flammenwerfer. Was dann noch mit dem Leben davonkommt, wird eingesperrt. Sie wissen jetzt Bescheid.

SCHENK. Es ist gut.

Tessendorff ab in die Straße hinten rechts. Schenk geht quer über den Platz auf die Fabrik zu. Eine Anzahl Arbeiter kommen ihm entgegen, darunter Marie Klagenfurter.

MARIE. Ich hab's ja erst vor einer Stunde erfahren. Mein Gott, wenn sie ihn nur nicht erschießen!

SCHENK. Sie sind es, Marie!

MARIE. Gott sei Dank, Schenk! – Sie wissen, daß sie Stefan gefangen haben?

SCHENK. Ja, seien Sie nur ganz ruhig. Wir holen ihn heraus.

ARBEITER. Jawohl. Wir ziehen zum Militärarrest. – Klagenfurter muß frei werden! Es sammeln sich mehr um die Gruppe.

MARIE. Meinen Sie nicht, daß ihm dabei etwas passieren kann?

SCHENK. Unsinn. – Nur Ruhe! – Gehen Sie heim und regen Sie sich nicht unnötig auf.

FLORA tritt vor. Raffael, endlich! – Was steht ihr hier herum? Es ist höchste Zeit! Marie verläuft sich mit vielen andern.

SCHENK. Wo ist Seebald?

FLORA. Ich habe ihn eben noch gesehen. – Wie fühlst du dich?

SCHENK. Danke, ich bin ganz frisch.

FLORA. Was hältst du davon, daß keine Polizei da ist?

SCHENK sieht nach der Uhr. Es wird gleich Militär kommen.

FLORA. Wieso denkst du?

SCHENK. Punkt halb vier Uhr wird anmarschiert. Sie können jeden Augenblick hier sein.

FLORA. Aber woher willst du denn wissen?

SCHENK. Ich weiß es eben.

FLORA sieht ihn scharf an. Raffael! – Das ist mir unheimlich. Man hört eine Uhr zweimal anschlagen. Aus den Bäumen heraus laufen Arbeiter über den Platz.

ARBEITER. Militär kommt! – Militär!!

Großer Aufruhr. Aus dem Fabrikhof strömen Arbeiter heraus. Seebald, Lecharjow, Dietrich, Trotz werden sichtbar. Laßmann, von seiner Frau geführt, trägt eine rote Fahne.

LASSMANN. Mir nach, Genossen!

Niemand kümmert sich um ihn.

Mir nach!

Wird abseits gedrängt.

DIETRICH. Vorwärts, Genossen! Werft den Trambahnwagen um!

VIELE. Den Trambahnwagen! – Barrikaden!

LECHARJOW. Sie sind nicht bei Trost! Was wollen Sie bauen Barrikaden, wenn Sie keine Waffen haben!

SEEBALD. Ich werde den Soldaten entgegengehen – mit ihnen sprechen.

SCHENK. Nein, Professor! – Lassen Sie die Leute!

Eine Menge Arbeiter stürzen auf den Trambahnwagen zu, versuchen ihn aus dem Geleise zu heben. Man hört die Tritte anmarschierender Soldaten aus der Straße hinten rechts. Ein Leutnant tritt beim Trambahnwagen vor. Hinter ihm taucht Tessendorff auf.

LEUTNANT. Zu-rück!

Die Masse flüchtet in den Fabrikhof. Wenige stehen vor dem Gitter, darunter Seebald, Lecharjow, Schenk, Flora, Trotz, Dietrich. Soldaten nehmen Gewehr bei Fuß Aufstellung vor der Häuserreihe. Rechts, hinter dem Straßenbahnwagen sieht man zahllose Helme. Der Leutnant, neben ihm Tessendorff, steht vor dem Wagen.

TROTZ geht auf die Soldaten zu. Ihr werdet doch nicht auf eure Volksgenossen schießen!

UNTEROFFIZIER. Weg da! – Hier wird nicht verhandelt!

FLORA. Wollt ihr Wehrlose angreifen!

SOLDATEN. Halt 's Maul, Drecksau!

SCHENK zieht Seebald beiseite. Jetzt muß es gewagt werden!

SEEBALD. Was! Sie wollen die Menge gegen diese Horde treiben?

SCHENK. Nein – Sie müssen es tun. Das wird Eindruck machen!

SEEBALD. Niemals! Schenk redet weiter auf ihn ein, werden von anderen verdeckt.

DIETRICH springt auf den Stein am Eingang. Zu den im Hof Versammelten. Genossen! Sie haben es gewagt, Soldaten gegen die unbewaffnete Arbeiterschaft loszulassen!

RUFE. Pfui! – Nieder!

DIETRICH. Aber sie werden es nicht wagen, auf uns zu schießen, wenn die roten Fahnen uns voranwehen. Denkt an den Genossen Klagenfurter! – Wollt ihr ihn in den Klauen der Militärbestie lassen?

RUFE. Nein! Nein! – Klagenfurter muß heraus.

FLORA tritt neben Dietrich. Zum Zeughaus, Genossen! – Wir müssen Waffen haben!

RUFE. Zum Zeughaus! – Zum Zeughaus! Die Menge drängt ungeordnet vor und steht jetzt zum Teil mitten auf dem Platz, den Soldaten gegenüber. In der Mitte vorn Schenk und Seebald.

SCHENK zieht einen Revolver aus der Tasche. Sie sehen doch, Sie können die Menge doch nicht mehr halten. – Nehmen Sie! Gehen Sie voran!

SEEBALD. Behalten Sie Ihre Waffe! – Ich trage keine Waffen!

SCHENK. Ich beschwöre Sie, Mathias Seebald! Legt ihm die Hand auf die Schulter.

SEEBALD. Nein! Unter keinen Bedingungen!

TESSENDORFF mit sechs bis acht Soldaten auf Seebald zu. Hier. Das ist er! – Der hat alles verschuldet. Das ist Professor Seebald. – Ich erkläre Sie für verhaftet. Zeigt seinen Ausweis. Soldaten packen Seebald, stoßen ihn mit dem Kolben zurück gegen die Mitte.

SEEBALD zu Schenk. Raffael! Raffael! – Das hätten Sie nicht tun sollen!

SCHENK. Hierher! Hierher!! – Sie schleppen Seebald fort!!

DIETRICH. Befreit ihn! – Befreit Seebald!! Man hört Kommandorufe. Die Soldaten legen die Gewehre an. Die Menge weicht langsam.

DIETRICH. Angefaßt, wer kein Feigling ist! Faßt Seebald an, versucht ihn herauszuzerren.

LEUTNANT. Feuer!

Salve. Die Menge stiebt in wilder Flucht auseinander, die meisten in den Fabrikhof, viele zwischen die Bäume und in den Hintergrund. Die Soldaten schießen weiter. Dietrich fällt. Man sieht

Fliehende stürzen. Flora sinkt vorn am Gitter um. Vom Hintergrund kommt Strauß, ein weißes Tuch schwenkend. Das Feuern hört auf.

STRAUSS. Es ist genug! Nicht mehr schießen!

Aus dem Kreis der Soldaten wird Seebald wieder vorgestoßen. Die Leiche Dietrichs liegt vorn rechts. Trotz und Fischer treten an sie heran, Schenk schwankt allein ganz fassungslos umher.

TROTZ nimmt den Hut ab, ebenso Fischer. Dietrich! – Er ist für seine Sache gestorben. – Warum hat's mich Alten nicht treffen können? – Er sieht in den Himmel, als begriffe er es noch gar nicht, daß wir verloren haben.

FISCHER. Ich will ihm die Augen zumachen. Tut es.

STRAUSS hat inzwischen mit dem Leutnant verhandelt. Lassen Sie mich mal vorbei! – Ich muß reden!

TROTZ. Ist der auch noch hier?

STRAUSS steigt auf den Stein. Genossen! Ihr braucht keine Furcht mehr zu haben. Ich habe dafür gesorgt, daß nicht mehr geschossen wird. Die Schuldigen werden natürlich zur Verantwortung gezogen. Ihr übrigen wart verhetzt. Die Partei wird veranlassen, daß niemand gemaßregelt wird, der morgen die Arbeit wieder aufnimmt. Geht jetzt in Ruhe nach Hause. Ihr habt jetzt gesehen, daß das nicht das Mittel ist, den Krieg zu beenden. Noch kurze Zeit durchhalten – und Vertrauen zu euern Führern! Dann wird bald Friede sein.

Die Arbeiter zerstreuen sich langsam. Ein paar Fahnen lehnen am Gitter, andere liegen am Boden. Im Vordergrund links machen sich einige, darunter Rosa und Braun, um die verwundete Flora zu schaffen.

Trotz und Fischer treten zu ihnen. Lecharjow steht mit verschränkten Armen am Gitter daneben. Seebald, in der Mitte des Platzes, wird von Soldaten beschimpft und bedroht, Schenk in der Mitte allein.

STRAUSS geht auf Seebald zu. Das ist Ihr eigenes Werk, Herr Professor Seebald!

SEEBALD. Darüber wollen wir nicht rechten.

Tessendorff geht mit einigen Soldaten umher, weist auf verschiedene Personen, die verhaftet in die Mitte des Platzes geführt werden. Es steht schon ein ganzer Zug beieinander, man bemerkt viele Verwundete und Soldaten, auch Rund unter ihnen.

SCHENK schaut geistesabwesend um sich, schrickt plötzlich auf, stürzt auf Flora zu. Flora! – Was ist dir?

FLORA schwach. Es wird wohl aussein!

SCHENK sinkt bei ihr nieder. Flora! – Meine –

STRAUSS zu den Soldaten. Da, den Rothaarigen – das ist einer der Haupthetzer, den nehmt fest!

TESSENDORFF. Halt! Herrn Schenk geschieht nichts. – Der steht im Dienste der Polizei.

SCHENK. Das ist nicht wahr!

TESSENDORFF. Soll ich die Quittung vorzeigen?

TROTZ weicht entsetzt zurück. Aber das – kann doch nicht möglich sein?

SCHENK beugt sich schluchzend über Flora. Flora – verstehst du mich?

FLORA. Ich mag dich nicht verstehen. Warum hast du kein Vertrauen zu mir gehabt? Sie wird ohnmächtig.

ROSA. Kommt denn kein Arzt? – Wir können sie doch nicht so hier liegenlassen.

TESSENDORFF. Da, den Alten nehmt mit und den mit dem verbundenen Kopf, und das Frauenzimmer da.

Trotz, Braun und Rosa werden abgeführt.

SCHENK. Halt! Sie haben mir versprochen, keiner wird verhaftet.

TESSENDORFF. An solche Pakte fühlt sich die Polizei nicht gebunden. Nur schriftliche Abmachungen gelten.

TROTZ. Wir brauchen deine Fürsprache nicht. Schäm dich, wenn du es noch kannst.

FISCHER. Judas!

Alle machen Schenk mit Zeichen des Ekels und Abscheus Platz, der nach rechts schwankt. Vom Hintergrund kommen Sanitäter mit Tragbahren. Man sieht Soldaten mit Bajonett noch einzelne Gruppen vertreiben.

LASSMANN kommt am Arm seiner Frau von hinten rechts zum Vordergrund. Sag doch, Thilde – sind viele tot?

FRAU LASSMANN. Ich weiß doch auch nichts. Komm nur, komm! – Ach, es ist schrecklich. – Und morgen auch noch die Wohnung. –

SCHENK holt sie vor dem Wirtshaus ein, winkt ihr, zu schweigen. Hier nehmen Sie, Frau Laßmann, für den Hausherrn und für die nächste Zeit. Holt die Brieftasche heraus, gibt ihr das Geld.

FRAU LASSMANN. Ja, aber nein – soviel Geld! Schenk legt die Hand auf den Mund. Laßmann nach rechts vorn ab.

SCHENK lacht auf. Die dreißig Silberlinge! Er kommt an die Soldatengruppe, in deren Mitte Seebald steht.

SOLDATEN. Schlagt ihm doch gleich den Schädel ein, dem Volksverräter.

SEEBALD. Ich bin kein Verräter. Er erhält Kolbenstöße und stolpert.

SCHENK. Schlagt ihn nicht! – Nehmt mich für ihn! – Er ist der Edelste und Beste!

SOLDATEN. Was will der Kerl? – Ach, das ist der, der seine eigenen Kameraden verraten hat. Gelächter und Gejohle.

SCHENK. Mathias Seebald! – Verzeihen Sie mir!

SEEBALD. Sie haben es anders gewollt – ich weiß es, Raffael. Er wird unter Geschrei nach rechts gestoßen. Man sieht ihn unter einem Gewehrkolben stürzen. Er wird fortgeschleift.

UNTEROFFIZIER zu den Gefangenen in der Mitte des Platzes. Hände hoch! Sie gehen mit erhobenen Händen nach rechts hinten ab. Schenk sieht zu, wie Dietrichs Leiche auf eine Bahre gelegt und weggetragen wird. Er steht vor der Freitreppe des Wirtshauses und sieht, wie Sanitäter auch bei Flora eine Tragbahre niederstellen. Nur dort stehen noch Menschen. Weiter zurück sieht man noch Tote liegen. Schenk zieht seinen Revolver aus der Tasche, geht dann nach rechts vorn ab. Unmittelbar darauf fällt ein Schuß.

FLORA kommt wieder zur Besinnung. Raffael! Ist Raffael nicht da?

LECHARJOW. Er wird wiederkommen vielleicht.

TIEDTKEN von rechts, außer Atem. Flora ist durch die Umstehenden vor ihm verdeckt. Es ist schrecklich! Schrecklich!

FÄRBER. Was ist geschehen?

TIEDTKEN. Professor Seebald ist erschlagen worden von den Soldaten – und Schenk hat sich gleich da vorn erschossen.

FLORA. Er ist tot? – Raffael! – Ich hätte ihn so gerne noch einmal geküßt.

TIEDTKEN. Flora! – Du?! –

FLORA. Geh fort! – Geh! – Was hast du mit meinem Tod zu schaffen!

LECHARJOW. Gehen Sie! – Sie will Sie nicht ansehn, jetzt!

Tiedtken tritt zurück.

DR. KARFUNKELSTEIN tritt von links vorn auf, Notizbuch in der Hand, zu Lecharjow. Entschuldigen Sie bitte! Kann ich mich an Sie wenden um Auskunft?

LECHARJOW. Schweigen Sie, Mann!

FLORA richtet sich auf. Verliert den Glauben nicht. – Die Revolution kommt. Der Kommunismus – – Stirbt.

LECHARJOW. Sie ist hinüber.

DR. KARFUNKELSTEIN. Ja, kann mir niemand Auskunft geben?

FÄRBER. Donnerwetter, was wollen Sie denn von uns?

DR. KARFUNKELSTEIN. Mein Name ist Dr. Karfunkelstein. Ich bin Korrespondent der Berliner Morgenzeitung. Ich muß den Bericht noch vor sechs hinübergeben. Sonst kommt er nicht mehr rechtzeitig ins Blatt.

LECHARJOW. Sie wollen hören von uns, was geschehen ist?

DR. KARFUNKELSTEIN. Ja, ich wäre für recht genaue Details sehr dankbar.

LECHARJOW. Gut. Schreiben Sie! – Das deutsche Proletariat hat vergossen das erste Blut für den Sieg von Frieden und Freiheit. – Es hat beschritten den Passionsweg der sozialen Revolution und hat besiegelt mit seinem Blut das Bündnis mit seinen kämpfenden Brüdern in Rußland.

Vorhang.


Quelle: Erich Mühsam - Ausgewählte Werke, Bd.1: Gedichte. Prosa. Stücke, Berlin 1978, S. 546-564.

Originaltext: http://www.zeno.org/Literatur/M/M%C3%BChsam,+Erich/Dramen/Judas.+Ein+Arbeiterdrama