Erich Mühsam - Gustav Landauer. Gedenkblatt zu seinem 50. Geburtstag: 7. April 1920

Die äußeren Umstände, unter denen diese Zeilen geschrieben werden, lassen die allein würdige Form, Gustav Landauer zu ehren, nicht zu: die der glutvollen Werbung für die von ihm erstrebte Neubildung der menschlichen Gesellschaft, für Sozialismus, anarchische Gerechtigkeit und ihre Bedingung, Revolution. Da mir in meiner Zelle auch alles literarische Material fehlt, an Hand dessen ich ihn selbst von reinem Menschentum, von Völkerfreiheit, von innerem und Süßerem Aufruhr sprechen lassen könnte, mag der Leser sich mit den einfachen Gedenkworten zu frieden geben, die der Überlebende dem Toten, der Freund dem Freunde, der Schüler dem Lehrer, der Rebell dem Kampfgenossen aus verehrendem und dank erfülltem Herzen zu widmen hat.

Die Daten seiner Entwicklung, seines Werdens und Wirkens, seines Wandels von der Geburt an bis zu seiner scheußlichen Ermordung im Stadelheimer Bluthof werden an dem Tage, an dem Gustav Landauer sein fünfzigstes Lebensjahr abgeschlossen hätte, in sovielen Artikeln und Nekrologen aufgezählt werden, daß diese Sätze nicht mit seinem curriculum vitae beschwert zu werden brauchen. Aber er käme zu kurz, wollte man die Abschätzung seiner Lebensarbeit ganz den Wohl meinenden überlassen, die, aus seinen Schriften wissender geworden, oder auch durch den persönlichen Umgang mit ihm bereichert, die Pflicht fühlen, die hoch ragende Bedeutung des Mannes vor geistig bewegten Bürgern oder gar mißtrauischen Zeitungslesern ins Licht zu stellen, seinen „Idealismus“ zu preisen, um aus ihm eine schroffe Abkehr vom Staatstum, seine kämpferische Haltung gegen Traditionen und Normen abzuleiten und womöglich zu entschuldigen.

Nur aus der umgekehrten Betrachtung ist Landauers Persönlichkeit gerecht zu werden. Sein Grundcharakter war wahrhaftig nicht der eines Schwarmgeistes, eine Weltfremdlings oder Gottessüchtigen. wie ihn sich der wohlwollend lächelnde Philister vorstellen mag. der sein praktisches Einmaleins gelernt hat und dem überall zwölf auf ein Dutzend gehen. Nicht nahebringen will ich das Bild des toten Freundes dem Geschmeiß der satten Gemüter, die sich freie Geister dünken, weil sie die hungernden, nie gesättigten Seelen, die sehnsüchtigen Herzen, da sie selber doch ohne Herz sind, interessant finden, die bereit sind alles zu verzeihen, weil sie nichts verstehen; sondern entfernen will ich es von ihnen, es ihrem befleckenden Blick entziehen, die Feindschaft, den untilgbaren Gegensatz aufzeigen, der Landauers Geist ewig trennt von dem bürgerlichen Idealismus seiner literarischen Begreiner, die ihre gelockten Häupter über die Glatzen der Geschäftsrealisten erheben möchten, aber mit den Hintern stets an deren Kontorsesseln kleben bleiben.

Ein Idealist ! Natürlich war Landauer das, wie jeder, dem eine sittliche Idee, Wegweiser des Lebens ist. Aber der Begriff muß gesäubert werden von dem Schleim in den ihn die Anbiederungssucht ideeloser Jammerkerle gehüllt hat, die mit tonenden Worten hausieren und den reinen Glockenklang einer schallenden Menschenstimme in dem dürftigen Geklingel ihrer humanitären Salbaderei verkommen zu lassen suchen. Ich habe keinen Satz zur Hand, in dem Gustav Landauer selbst sich gegen die Gemeinschaft mit idealistischen Phrasenraßlern gewehrt hätte. Aber ich weiß, daß er mehr als einen geschrieben und in Gesprächen hundertmal bekannt hat, was der unerbittlichste Rebell aller Zeiten, Michael Bakunin, dem auch er mit Leidenschaft anhing, so ausgedrückt hat: „Doch muß mit jenem Idealismus auf geräumt werden, der es verhinderte, daß man nach Gebühr handle; er muß durch grausame, kalte, rücksichtslose Konsequenz ersetzt werden.“ Wir dürfen Landauer einen Idealisten nennen, wir, die sein Ideal kennen und teilen und als ein Ideal tatfrohen Zukunftswillens pflegen, nicht die, die selbst- und weltzufriedenen Schön geistern mit himmelnden Augen Sympathie für den Außenstehenden anschwätzen wollen.

Gustav Landauer war Revolutionär: nichts anderes: nichts außerdem. Revolutionär aber heißt Umstürzer, Zerstörer und Neuschaffer. Aus seiner revolutionären Natur erklärt sich alles, was er dachte, wollte und schuf. Sie war ihm Antrieb und Mittel seine! Werks, nur sie. Sie stellte den Gott in seinem Herzen auf, nur sie. Sie leitete sein Tun und sein Schicksal, nur sie.

Freilich war sein revolutionäres Wirken nicht begrenzt im Kampf gegen staatliche Satzungen und gesellschaftliche Systeme. Es erstreckte sich auf alle, Kategorien des Lebens, machte nicht halt vor wissenschaftlichen Methoden, vor künstlerischen Konventionen‘ und moralischen Doktrinen. Sein profundes Wissen erlaubte es ihm, mit der Kritik seines revolutionären Geistes in viele Gebiete des menschlichen Denkens hinabzusteigen und sie als Wüsten der Gedankenlosigkeit und verwilderter Überkommenheiten zu entschleiern. Es ist aber eine Verfälschung seines Lebenswerkes,‘ wenn die einzelne Erkenntnis, die aus diesem seinem Abtasten der Weltprobleme der Philosophie oder der Aesthetik, der Literaturgeschichte oder der Soziologie neue Fährten zeigte, als Verteidigung seines Wertes vor dem besitzbangen Bourgeois bemüht wird. Dem kann nicht eindringlich genug gesagt werden, daß Landauer kein Bourgeois war, sondern sein ausgeprägtes Gegenteil: ein Neuerer, der als Voraussetzung aller kulturellen Umwälzung die soziale erstrebte. Ihr, der sozialen Revolution, kitte er sich verschworen von Jugend an, und sein Walten all Neuerer in den Bezirken der Sittlichkeit und der Kultur klomm aus dem Willen, den Geist vorzubereiten für die Tat, im Volk Niveau zu schaffen für die Empfängnis des selbst erkämpften Sieges.

Noch einmal: wer Gustav Landauer im härenen Gewande zeichnet mit dem friedseligen Schmachtblick des Versöhners, der fälscht sein Bild. Nur wer ihn als Kämpfer sieht, als rücksichts- und furchtlosen Kämpfer, gefällig zwar und milde und von gütiger Heiterkeit im täglichen Umgang, aber unduldsam, hart und eigen willig bis zum Hochmut überall, wo es um Entscheidendes ging, der lieht ihn wie er war. Es ist nicht wahr, daß er aus lauter Liebe zusammengesetzt war. Wie irgendeiner hat er den Haß gekannt, den Haß gegen das Unrecht, gegen die Ausbeutung, gegen den gewalttätigen Staat, gegen die Idee der Brutalität — und gegen ihre Träger. Jawohl, auch die Personen hat er gehaßt, alle, die sich dem Werk der Volksbefreiung entgegenstemmten aus Eigennutz oder Gedankenfaulheit, aus Dummheit oder Eitelkeit. Man vergleicht Landauer oft mit Tolstoi. Mit Recht — gewiß. Denn was Tolstoi einmal in seinem Tagebuch all das „einzig Notwendige“ bezeichnet: „die Lösung sittlicher Fragen und ihre Anwendung im Leben“, das war auch ihm Richtung und Ziel alles Denkens und Schaffens. „Tolstoianer“ in dem Sinne, wie ethische Schmalztropfer die Gattung verstehen, war Landauer nicht, Tolstoi selber Übrigem ebensowenig. Auch der kannte den Haß und die Inbrunst der Verachtung, und auch ihm war die Liebe nicht das stets bereite Handwerkszeug in allen Lebenslagen, sondern der glühende Ursprung und das leuchtende Ziel des menschlichen Seins.

Landauer war Revolutionär von Natur wegen. Er gehörte nicht zu den Buchstabenschnüfflern, denen die Erwägungen des Hirns langsam und auf Widerruf die Zweckmäßigkeit des Umsturzes beweisen. Seine ursprüngliche Einstellung zu allen Dingen und Werten war voraussetzungslos, darum skeptisch, darum zur Ablehnung geneigt und kämpferisch. Nichts galt ihm die noch so exakte Wissenschaft, als die Erkenntnis anderer, deren Autorität beweitkräftig sein sollte. Noch nie ist das Ergebnis einer Forschung ungestürzt geblieben und alle Wahrheit hat nur Bestand bis sie einer neuen weichen muß. „Wahr ist, daß nichts wirklich ist“ hat Landauer einmal geschrieben, ich glaube, in „Skepsis und Mystik“, diesem merkwürdigen, götzenzertrümmemden Buch, in dem „im Anschluß an Mauthners Sprachkritik, die letzte Autorität, die Vernunft selber, als Produkt der Sprache, des unzulänglichen Verständigungsmittels der Menschen, und mithin die Logik“, als nichts beweisend verworfen und an ihrer Statt die „Mystik“, das Urwissen, das unmittelbare, intuitive Erkennen als einzig positiver Wert aufgestellt wird. Das Wissen um die Wahrheit ist primär, der vernünftige Beweis, das sprachliche Erfassen nachträglich.

Mit dieser Erkenntnis kommt nun Landauer nicht wie Mauthner zur „fröhlichen Resignation“, sondern zum Extrem, zum entschlossenen Angriff gegen das Bestehende, all falsch, schlecht und brüchig Erwiesene, zum Angriff gegen die Autorität schlechthin. Er entwurzelt die Autorität aller herrschenden Normen, von der Sprache angefangen — dabei ist seine Sprache von einer gedrungenen Wucht sondergleichen — bis zu Artikeln, Gesetzen und Fesseln des sozialen Lebens der Menschen. Aus seinen antiautoritären Wesen entspringt sein Wissen um die Freiheit, daraus sein Wille zur Befreiung und aus diesem Willen sein innerstes Bündnis mit der geknechteten Klüse des Volks, mit dem Proletariat, seine revolutionäre Entflammtheit für das Recht.

Was ist Recht? Das, was das Gewissen verlangt. Die Beobachtung des Unrechts leitet das Gewissen zum Recht. Der Name des sozialen Unrechts ist Kapitalismus, d. h. Ausbeutung, Zwang, Entrechtung des Volkes zugunsten einer Klaue.

Landauer wußte diese Begriffe identisch mit Zentralismus und Staat. „Der Staat“, sagt er in seinem herrlichen „Aufruf zum Sozialismus“, „sitzt nie im Innern der Einzelnen, er ist nie zur Individualeigenschaft geworden, nie Freiwilligkeit gewesen. Er setzt den Zentralismus der Botmäßigkeit und Disziplin an die Stelle des Zentrums, das die Welt des Geistes regiert“. Gerechtigkeit des sozialen Lebens kann es nur geben bei Selbständigkeit, Freiwilligkeit und gesellschaftlicher Gleichheit, also im Sozialismus. Von ihm sagt Landauer: „Sozialismus ist Umkehr; Sozialismus ist Neubeginn, Sozialismus ist Wiederanschluß an die Natur, Wiedererfüllung mit Geist, Wiedergewinnung der Beziehung“.

Es ist klar, daß bei diesen aus antiautoritärem Drängen gewonnenen Einsicht Landauers Sozialismus auf anarchistischem Boden fußte, daß ihm jeder Staatssozialismus genau so zuwider sein mußte, wie der Staat selbst und daß er seinen Plan zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft nicht an Marxens zentralistisches Programm, sondern an die Ideen des Anarchisten Proudhon anschloß, ohne sich in allem mit diesem System zu identifizieren. Um „System“ war es ja Landauer überhaupt nirgends und niemals zu tun, und so begnügte er sich .auch in der Werbung nicht mit schulmäßigem Empfehlen einer sozialistischen Doktrin, sondern verlangte die Tat, den Beginn mit dem Sozialismus selbst. Durch Aufbau sozialistischer Pioniersiedlungen wollte er den Staat von innen heraus unterminieren, das Neue schaffen, um das Alte daran verderben zu lassen. Dies war der Sinn seines „Sozialistischen Bundes“, den er 1909 begründete, und dem er in seiner Zeitschrift „.Der Sozialist“ das eindringliche Organ schuf.

Der Weltkrieg, der ihn nicht schwach fand in seinen Überzeugungen, griff vernichtend ein in seine friedliche Revolutionsarbeit. Und dann kam die Revolution. Sie riß den Mann, dessen Element der Kampf war, der als junger Student schon in ständigem Konflikt mit allen Staatsgewalten und Parteipäpsten gestanden und viele Monate in Gefängnissen gelebt hatte, mit seiner ganzen Person mitten in die Bewegung der Massen, machte ihn dank seiner quellenden Beredsamkeit zu einem ihrer Führer.

Der von Rußland Herübergeschnellte Rätegedanke fand in Landauer einen glühenden Propagandisten. Er zeigte ihm die Möglichkeit einer freien Formung des gesellschaftlichen Aufbaues bei der Verwirklichung des Sozialismus. Ich will hier nicht verschweigen, daß in dieser Zeit, in der wir dauernd miteinander und nebeneinander am Werk der Befreiung arbeiteten, bei aller Freundschaft, die nicht einen Augenblick lang getrübt war, eine gewisse Gegensätzlichkeit in der Erfassung der Situation zwischen ihm und mir bemerkbar wurde. Landauer sah mit dem Zusammenbruch des alten Staates und der Labilität des neuen Zustandes schon die Möglichkeit gegeben, sofort mit dem Aufbau, mit der Verwirklichung vor allem des agrarischen Sozialismus zu beginnen und inzwischen der eben gewordenen bayerischen Republik unter Eisners Leitung soviel Unterstützung zu leihen, wie sie zur Förderung dieser proudhonistischen Pläne brauchte. Der ungestüme Drang, das Gebäude, wie er es sich dachte, hinzustellen, ehe neue Erschütterungen den Bau verhindern könnten, erklärt seine Nachgiebigkeit gegen Eisners Politik. Mir lag der destruktive Teil der Revolution, den ich noch zu leisten sah, näher, und ich kann den Gegensatz zwischen uns nicht besser klar machen, als ich es in einem der letzten Gespräche mit ihm tat. „Ich erkenne jetzt deutlich die innere Verschiedenheit zwischen Proudhon und Bakunin an uns beiden. Dich führt die Revolution immer stärker zu Proudhon hin. mich zu Bakunin“. Landauer gab mir recht.

Der Gedenktag macht alles wieder lebendig in mir. Denn der 7. April war nicht nur Landauers Geburtstag. Er war vor einem Jahre auch der Tag, an dem in München die Räterepublik proklamiert wurde, der Tag, den wir beide in tragischer Verkennung seiner Bedeutung als den Beginn der neuen Epoche begrüßten und der doch zum Unheil und für den großen, reinen Kämpfer, dem dieser Gruß gilt, zum Verderben wurde Der Zeitpunkt war nicht richtig erfaßt. So konnte Verrat sich einnisten und unendliches Leid stiften, wo unermeßlicher Segen hätte entstehen sollen.

Boshafte Verleumdung hat behauptet, Landauer habe die Ausrufung der Räterepublik eitler Selbstsucht wegen auf seinen Geburtstag „geschoben“. Ich will dieser elenden Legende, die nur glauben kann, wer diesen Mann nie gekannt und nie begriffen hat, ein für allemal den Hals abdrehen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Die Ausrufung sollte am Morgen des 5. April erfolgen. In der Nachtsitzung vom 4. auf 5. im Kriegsministerium verlangten plötzlich die Mehrheitssozialdemokraten durch den Mund desselben Mannes, der dann an der Spitze der Gegenrevolution stand, einen Aufschub von 48 Stunden, um die Provinz .noch im Sinne der neuen Wendung zu bearbeiten. Landauer und ich waren diejenigen, die am heftigsten gegen diese Verzögerung geeifert haben. Sein Geburtstag wurde gegen seinen Wunsch und erregt geäußerten Willen zum Tage der Proklamation bestimmt.

Der weitere Verlauf ist bekannt. Die Empfindungen, wie mich beim Gedanken an sein Ende erfassen, seien verschwiegen. Ich habe das Meinige getan, wenn ich die Gestalt dieses Menschen und Kämpfers den Vertraulichkeiten betulicher Bourgeois-Idealisten entzogen und Gustav Landauer als den gezeigt habe, der er war und vor der Geschichte bleiben wird: als Mann des Volkes und der sozialistischen Revolution.


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Erich Mühsam - Gustav Landauer (1920)

Gustav Landauer - Zur Gedächtnisfeier in München am 2. Mai 1920

Ihr seid gekommen, einen Toten ehren,
zu laden seinen abgeschiednen Geist,
wo Kunst und Andacht ewige Welten preist,
als Gast der Herzen bei euch einzukehren.
Doch erst schafft Raum im Herzen! Wißt zuvor,
wen ihr erwartet. – Hingegossenes Blut
ist noch kein Grund, in weihevollem Chor
die Musen und die Genien zu bemühen.
Mord weckt Verzweiflung, Trauer, Jammer, Wut –
doch Kunst ist Freude, Leben, Quellen, Blühen.
Prüft, ob die Tränen, die vom Herzen drängen,
sich mischen mit dem Strom von Feierklängen!

Seht ihr ihn noch im Geiste, der euch rief?
Das Auge dem Gewissen hingegeben,
und seiner Stimme Klang prophetisch rief,
sprach er von Frieden, Liebe, Freiheit, Leben
und rief zur Schönheit und zur Kunst die Schar,
zur Andacht und zu freudigem Genießen.
Die Borne alles Glückes aufzuschließen,
das war die Sehnsucht, die sein Leben war.

Ein Träumer also, der vom Guten schwärmte?
Der gern die helle Sonne scheinen sah?
Sich gern an ihren bunten Strahlen wärmte? …
O wartet noch, Musik und Poesie!
Noch ist der Geist des toten Freunds nicht nah –
und wer ihn so begreift, dem naht er nie.
Wohl mahnt er euch: Macht euch die Erde schön!
Wohl zeigt er euch die Tempel auf den Höhn!
Doch mächtig scholl sein Ruf im Vorwärtsschreiten:
Wer Glück und Freiheit will, muß sie erstreiten! – –

Ihr seid gekommen, einen Toten ehren,
der, als er lebte, Glück und Freiheit dachte;
der, als er starb, den Leib zum Opfer brachte
für seinen Glauben und für seine Lehren …
Macht weit die Herzen! Macht die Seelen weit!
Kunst ist ein Weg, die Lehren zu empfangen,
für die man ihn erschlug. – Macht euch bereit,
durch Andacht seinen Glauben zu erlangen:
Den Glauben an die Menschheit, an das Recht,
das jedem seinen Teil vom Ganzen gibt,
das nicht nach Namen fragt und nach Geschlecht,
das nie am Rand des flüchtigen Zufalls streift,
das jeden hütet, weil es jeden liebt –
das Recht, das sich im Namen Volk begreift!
Dem ganzen Volk sein ganzes Recht zu bringen,
rief er’s zum Kampfe auf, es zu erringen.

Zum Kampfe rief er! Denn nur Kampf macht frei.
Kampf war sein Werk, Kampf seines Zornes Schwert.
Kampf war sein Leben. – Kampf! Nicht Schwärmerei.
Nur wer den Kämpfer ehrt, weiß, wen er ehrt! …
So fiel er auch im Kampf. Doch mit ihm fiel
die Liebe nicht, die ihn zum Kampf befeuert.
Er gab sie uns – und in der Kunst erneuert,
grüßt euch die Liebe: seines Kampfes Ziel.
Die Liebe lebt, und in ihr lebt sein Geist,
den wir zur Feier heut zu Gaste rufen,
wo Kunst und Andacht ewige Welten preist …
Als Gebender, als Spender tret er ein!
Der Liebeskämpfer soll empfangen sein
von Genien an des Freiheitstempels Stufen,
und Genien leiten ihn durch Tempelsäulen
in unsre Mitte. Die sein Blut vergossen,
sie hatten keine Flinten, keine Keulen,
zu töten ihn im Herzen der Genossen.

So grüße ihn die Kunst. Durch ihre Pforte
laß ihn ein jeder in sein Herz gelangen
und lausche: was es spricht, sind seine Worte.
Der Mann des Volks – er kommt als Gebender.
Seid ihr bereit, die Gaben zu empfangen,
so wird er bei euch sein: – ein Lebender!

Text aus: Das Forum, H. 7, April 1920, S. 528-532

Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2010/07/13/erich-muehsam-gustav-landauer-gedenkblatt-zu-seinem-50-geburtstag-7-april-1920/

Gedicht in: Gustav Landauer - Worte der Würdigung, Darmstadt, Verlag Die freie Gesellschaft, o.D. [1951], S. 35-37.


Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2010/02/20/erich-muehsam-gustav-landauer-1920/