Erich Mühsam - Parteitagsrede

Nach dem Hoch auf die Völkerbefreiende (in das die Delegierten dreimal begeistert einstimmten) und nach dem Absingen der Arbeitermarseillaise (zu der sich die Sozialdemokraten endlich mal einen menschenmöglichen Text dichten lassen sollten), ging der Parteitag Jena 1913 auseinander. Ich hatte mir die Verhandlungen von der Journalistentribüne aus angehört, und in meinem Innern stieg die Lust auf, hinunter zu steigen und dem Proletariatsparlament jetzt nach Beendigung seiner Arbeit aus meinem parteifreien Gemüt heraus die Meinung zu geigen. Aber das wäre geschäftsordnungswidrig gewesen. So kommt es, daß die nachfolgende. Rede in den Parteitagsberichten nicht enthalten ist:

„Verehrte Anwesende! Denn die Anrede „Genossen“ würden Sie sich jedenfalls entrüstet von mir verbitten. (Lebhafte Zustimmung. Vereinzelter Widerspruch.) Ihr neuer Parteivorsitzender Ebert hat soeben in seinem Schlußwort die Arbeit Ihrer jetzt abgeschlossenen Tagung mit Emphase als eine höchst fruchtbare und für das Proletariat segensreiche gepriesen. (Sehr richtig!) In welcher Hinsicht Ihre Verhandlungen der Herbeiführung einer sozialistischen Gesellschaft förderlich werdenkönnen, hat er nicht verraten. Es ging auch aus den Reden dieser Woche nicht hervor. (Oho!) Mißverstehen Sie mich bitte nicht. Ich bin weit davon entfernt, Ihnen daraus einen Vorwurf zu machen, daß der Gedanke an ein freiheitliches Endziel bei Ihren Beratungen völlig in den Hintergrund trat. Ich sehe durchaus ein, daß eine politische Partei mit gegebenen Verhältnissen rechnen und mit realen Werten operieren muß, und ich würde, um meine von den Ihrigen abweichenden Ideen zu propagieren, weiß Gott ein anderes Auditorium aussuchen, als gerade einen sozialdemokratischen Parteitag. (Zuruf: ein anarchistisches!) Nein, Herr Dr. David! Einem anarchistischen Auditorium könnte ich mit der Konstatierung, daß alle parlamentarische Advokatenschläue (Frau Luxemburg nickt fast unmerklich mit dem Kopf) und alle Mandatsjägerei gegen Kapitalismus und Militarismus nichts ausrichten kann, keine neue Weisheit predigen. Die Wahrheit, daß Sozialismus in werktätigem Beginnen erarbeitet werden muß, durch praktische Reorganisation der Produktion und der Zirkulation, in dem Sinne, wie der Sozialistische Bund es vorhat, — diese Wahrheit wird am ehesten von einem Publikum verstanden werden, das noch außerhalb Ihrer Parteidisziplin steht, das noch nicht von den stereotypen Schlagworten Ihrer Wahlaufrufe um die Kritik geredet ist. (Große Unruhe.) Mein ideales Auditorium wäre die hier mit einiger Verachtung behandelte unorganisierte Arbeiterschaft (Gelächter), wären die Opfer der von Ihnen seit fünfzig Jahren erfolglos bekämpften kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die Arbeitslosen aus Haß und Ekel, die Verbrecher, Landstreicher, Vagabunden — und vielleicht auch die jungen Studenten, die noch unverdorben von parteikluger Zeitungslektüre ein leidenschaftliches Sehnen nach Freiheit und Menschenglück in sich tragen: kurz alle, die Brachland sind für Ideale und revolutionäre Gedanken. (Zur Sache! Zur Sache!)

Sie haben recht. Der Hinweis auf Umwälzung,  Erneuerung und Sozialismus gehört nicht zur Sache Ihrer Parteitage. Ich werde mich also befleißigen, mit meiner Kritik bei den Gegenständen ihrer Beratungen zu bleiben. Ich wollte mit dem Gesagten nur die Entfernung meiner prinzipiellen Forderungen von den Ihrigen markieren. Um dabei nicht unbescheiden zu sein und die Grenzen, die ich mir als Gast und Geduldeter in Ihrem Kreise stecken muß, nicht zu überschreiten, will ich vorweg bemerken, daß ich mich nur an ein paar Hauptpunkte Ihrer Debatten halten werde, die mir zur Beurteilung der diesjährigen Tagung wesentlich scheinen. Wie Sie den Beschluß, der Herrn Radek unter Beraubung aller Verteidigungsmöglichkeiten ruiniert, einen Beschluß, der in weiten Kreisen wie ein Justizmord beurteilt wird, vor Ihren demokratischen Wählern und vor denen, die in Ihnen die wandelnden Säulen einer zukünftigen Gerechtigkeit erblicken, vertreten wollen, das ist Ihre Sache (Hört! Hört!). Mich geht am Ende das Wohl Ihrer Partei so wenig an wie das des Herrn Radek, den ich nicht kenne und dessen Schuld oder Unschuld ich trotz Herrn Staatsanwalt Müller-Berlin (große Heiterkeit) so wenig beurteilen kann wie bis jetzt irgend einer von Ihnen (Dr. Liebknecht: Sehr gut!). Auch die Maifeierfrage betrachte ich als Ihre interne Parteiangelegenheit (lebhaftes Hört! Hört!). Ich weiß, daß ich mich darin im Widerspruch zur Mehrzahl meiner anarchistischen Kameraden befinde. Mir scheint aber die Forderung des  Achtstundentages, der die Demonstration des 1. Mai ursprünglich ausschließlich gewidmet war, letzten Endes doch recht untergeordneter Natur (Widerspruch), und ob nun alle an diesem Tage bezahlten Arbeiter, ob nur die Partei- und Gewerkschaftsbeamten das am 1. Mai verdiente Geld an die Parteikasse abliefern, das geht mich um so weniger an, als ja die Durchführung der Maifeier seit zwanzig Jahren schon überall äußerst lax gehandhabt wird (Zustimmung und Widerspruch). Endlich möchte ich auch bei der Frage der Arbeitslosenversicherung, deren Wichtigkeit ich keineswegs verkenne, nicht allzu lange verweilen. Das von Herrn Timm überaus fleißig zusammengetragene Zahlenmaterial hat ja doch kaum mehr als statistischen Wert (oho!), solange keine ernsthafteren Abhilfsmaßregeln empfohlen werden, als die fast kindliche Forderung an die staatlichen Kommunen, den Arbeiterorganisationen in die Arbeitslosen-Unterstützungskassen Beiträge zu zahlen. Wenn Sie das erreichen sollten, was doch sehr unwahrscheinlich ist, so begeben Sie sich damit in eine vom Staat, und das heißt von den Kapitalisten, abhängige Stellung, und mit der Autonomie Ihrer Koalitionen ist es einfür allemal aus. Wenn ich mir eine Anregung in dieser Frage erlauben darf, so rate ich Ihnen, sich mal mit Hans Ostwald in Verbindung zu setzen, der bekanntlich unter staatlicher Protektion die Urbarmachung von Ödland durch Arbeitslose betreibt (Lachen). Ich glaube, daß Ihre Mitwirkung bei seinen Bestrebungen manches Gute fördern könnte. (Peus-Dessau: Das wäre noch gar nicht so dumm.)

Ich komme nun zu den beiden Hauptpunkten  Ihrer Beratungen: zur Massenstreik- und zur Steuerfrage. Verehrte Anwesende! Nach der Art, wie Sie diese beiden Gegenstände hier erledigt haben, lehne  ich es ab, meine von Ihren Beschlüssen weit abweichenden Meinungen näher zu begründen (große Unruhe). Ich begnüge mich damit, aus Ihrem Verhalten selbst einige Schlüsse zu ziehen (Lärm und Schluß-Rufe). Regen Sie sich doch nicht auf! Sie verraten damit nur, daß Sie ein schlechtes Gewissen haben (Ledebour: Sehr wahr!). Die Resolutionen, die Sie in den beiden Angelegenheiten gefaßt haben, die Referate, mit denen die Resolutionen begründet wurden, und die Diskussionen, die sich an diese Referate anschlössen, weisen dem eben beendeten Parteitag in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie in der Tat einen besonderen Platz an. Seit Ihrem Jena von 1913 wird man von Revisionisten in Ihrer Partei nicht mehr wohl reden können. Die Revision ist vollzogen. Sie haben sich in diesem Saal in optima forma selbst als eine staatserhaltende, nationale, bürgerliche und militärfromme Partei bekannt (großer anhaltender Lärm). Lesen Sie doch das „Berliner Tageblatt“, lesen Sie die ganze liberale Kapitalistenpresse, und schämen Sie sich der Zärtlichkeit, mit der man Sie als verlorenen und endlich heimgefundenen Sohn in die Arme schließt! Diese Blätter haben ganz recht, wenn sie in der Freude über Ihren vollkommenen Verzicht auf alle Opposition gegen die neuerdings vom Staat inaugurierte Steuerpolitik zur Deckung der Heereskosten für Ihre platonische Liebeserklärung an den politischen Massenstreik ein verzeihendes Lächeln finden. Sie wissen genau, daß Dr. Franks plötzlich wild gewordene Opportunistenseele (Glocke des Vorsitzenden) auch in der preußischen Wahlrechtsfrage weitaus sanfter ist als sie scheinen möchte (Protest Dr. Franks).

Ach ja, Herr Doktor! Ihr schönes Schlagwort: Wir werden das freie Wahlrecht in Preußen haben, oder wir werden den Massenstreik haben! hat keinen Anspruch darauf, sehr feierlich genommen zu werden (lebhafter Widerspruch). Ihr Eintreten für die unverbindliche Parteivorstands-Resolution beweist doch, daß auch Sie die Frage, wie lange Sie noch auf die Abänderung des Wahlrechts warten sollen, ehe Sie zu dem Zwangsmittel der allgemeinen Arbeitseinstellung greifen werden, lieber nicht beantworten möchten. (Rosa Luxemberg: Sehr richtig!) Und Scheidemanns Referat? Was war das für ein ängstliches, vorsichtiges Beschwichtigungsgetue! Die Resolution, die den Eindruck erwecken soll, Sie seien für das herrliche Gut des preußischen Wahlrechts zum Äußersten entschlossen, wurde begründet unter Beschwörungen, man möge nicht über den Massenstreik reden. Seit Scheidemann zu Ihrem Bebelino avanciert ist (Pfui!), hat sich sein gärend Drachengift in die geronnene Milch der frommen Denkart gewandelt (vereinzelter Beifall, Protestrufe). Aber es scheint, wem Gott ein Amt gibt, dem nimmt er auch den Verstand (heiterer Beifall bei den Radikalen). Die Resolution Luxemburg unterschied sich ja eigentlich nicht sehr bedeutend von der zum Beschluß erhobenen. Aber es war doch wenigstens im Unterton eine Art Entschlossenheit darin zu spüren, und die Begründungsrede der Frau Luxemburg zeichnete sich denn doch sehr wesentlich vor Scheidemanns und gar erst Bauers Elegieen aus durch einen erfreulich energischen, temperamentvollen, männlichen — (stürmische Heiterkeit). Na ja, es kann ruhig einmal ausgesprochen werden, daß sich der Rest von Tatkraft, Angriffslust und Idealismus, der noch in Ihrer Partei lebt, fast ganz auf diese eine Frau konzentriert hat (oho!), auf diese Frau, die um ihrer Leidenschaft willen von dem witzlosen Hohn aller liberalen Schmöcke vogelfrei erklärt ist (lebhafte Zustimmung), und vor deren Klugheit und Charaktergradheit ich trotz meiner überall  abweichenden Ansichten respektvoll den Hut ziehe (Bravo!). Woran sich Frau Luxemburgs Logik festrannte, das war die Kleinheit des Zwecks der empfohlenen Aktionen (Widerspruch). Doch, Herr Ledebour! Daß Frau Luxemburg selbst nicht alles Heil im Parlamentarismus erkennt, wird sie wohl selbst nicht leugnen, und ihr Antipode Bauer hat den Idealismus der Gewerkschafter für die preußische Wahlreform hier sehr eindeutig in Frage gestellt. (Bauer: Das ist ein Mißverständnis.) Ja, Bauer, das ist ganz was anderes (große Heiterkeit): ob man nämlich gegen einen Parteigenossen oder gegen einen Anarchisten polemisieren soll. Ich hätte gewünscht, einer Ihrer Redner, die den Massenstreik als stärkstes Mittel, über das die Arbeiterschaft verfügt, anerkannt haben, hätte seine Anwendung auch für den Zweck der Verhinderung eines Krieges in Erwägung gezogen (aha!). Das ist von keiner Seite geschehen, und so bleibt das Resultat Ihrer Massenstreikdebatte, daß im Ausland das Odium auf der deutschen Sozialdemokratie lasten wird, ihr sei ein allgemeines Wahlrecht in Preußen wichtiger als die Erhaltung des Friedens (lärmender Widerspruch.).

Dieser Gedankengang führt mich nun zu der  merkwürdigen Haltung des Parteitages zum Verhalten Ihrer Reichtagsfraktion in der Deckungsfrage (Hört! Hört!). Ich will mich nicht lange bei dem interessanten Naturschauspiel aufhalten, das sich hier vor unseren Augen vollzog, indem der blutrote Wurm sich plötzlich als ein sanft schillernder Schmetterling entpuppte (stürmische Heiterkeit). Ich glaube überdies, daß der verjüngte Wurm, der nun zum ersten Male an den duftigen Blüten des Opportunismus nippt (erneute Heiterkeit), nur die Konsequenz zieht aus der Taktik, die Ihre ganze parlamentarische Vergangenheit bezeichnet hat (Zustimmung und Widerspruch). Die steuerpolitischen Grundsätze, die Wurm dargelegt hat, sind vom staatssozialistischen Standpunkte aus unanfechtbar, und Geyers, Luxemburgs und Ledebours Widerstand dagegen ist wohl mehr im revolutionären Gewissen als in marxistisch faßbarer Logik begründet. Mir, der ich kein Marxist bin, werden Sie freundlich gestatten, in diesem Gewissen mehr Wahrheit zu finden, als in all Ihrer pedantischen Gelehrsamkeit. Für mich bleibt die verhängnisvolle Tatsache bestehen, daß eine sich antimilitaristisch gebärdende Partei dem kapitalistischen Staat geholfen hat, die Mittel zur Deckung einer geradezu unerhörten Armeevergrößerung herbeizuschaffen (sehr wahr!). Die Folgen dieser Konzession an Ihre Wahlbündnisfähigkeit — denn allein darauf läuft Ihr Verhalten hinaus (lebhafte Zustimmung) — werden Sie noch schmerzhaft zu spüren bekommen, und mit der landläufigen Redensart: Diesem System keinen Mann und keinen Groschen! werden Sie fernerhin keine Geschäfte mehr machen können! (Sehr gut! bei den Radikalen.)

Aber, verehrte Anwesende, das Ärgste, was die Fraktion auf dem Gewissen hat, ist in Ihren Debatten kaum gestreift worden. Das ist die Lässigkeit, mit der die sozialdemokratischen Abgeordneten die Heeresvorlage selbst bekämpft haben (sehr richtig!). Wenn mein Gedächtnis nicht trügt, hat nur Heilmann-Chemnitz in mildem Tadel bemängelt, daß die Fraktion sogar dafür gestimmt hat, daß der Reichstag sofort in die zweite Lesung des Gesetzes eintrat. Davon, daß hier die schärfste Obstruktion am Platze war, daß die stärkste Partei des Parlaments unter allen Umständen Mittel zur Verschleppung der Sache hätte finden müssen, hat kein Mensch geredet. Bei einer solchen Gefahr, wie dieser Gesetzentwurf sie darstellte, meine ich, wäre die äußerste Anstrengung  am Platze gewesen, um den Gegenstand bis zum Herbst hinauszuschieben (Zustimmung). Es hätten Dauerreden gehalten werden können. Mit namentlichen Abstimmungen war zu arbeiten. Vor allem aber hätten die Massen mobil gemacht werden müssen. Daß Straßendemonstrationen ihre Wirkung tun, haben Sie ja im Laufe der Zeit einsehen gelernt. Und wenn sie die Massen zum Generalstreik gerufen hätten, um gegen die entsetzliche neuerliche Belastung des Volkes zu protestieren — Sie können sicher sein, viele Streikbrecher hätte es dann nicht gegeben! (Lebhafter Beifall.) Aber, was Ledebour hier angedeutet hat, die bekannte Feriensehnsucht der Abgeordneten, die in der verzweifelt nach Korruption riechenden Art der Diätenzahlung im Reichstag begründet ist, — darin können Sie zum größten Teil die Gründe suchen, weshalb die Regierung ihre Riesenvorlage so glatt in den Hafen brachte (große Unruhe). Ich kann Ihnen prophezeien, daß wir Anarchisten uns dieses Moment bei der Bekämpfung des Parlamentarismus nicht länger entgehen lassen werden (Bewegung).

Daß von allen diesen Dingen hier nur so wenig  und so vorsichtig gesprochen wurde, das, verehrte Anwesende, werden sich die, die links von Ihnen stationiert sind, zu merken wissen. Warum aber soviel Beherrschung geübt wurde, das hat uns ja Ihr Parteivorstandsmitglied Molkenbuhr wissen lassen, als er den lebensgroßen Schatten August Bebels über Ihre Verhandlungen warf (Unruhe). „Wir werden der Diskussion den Hals umdrehen“, stand in dem Brief, mit dem Molkenbuhr diesen letzten Willen Bebels vollstreckte (erregte Zwischenrufe). Da hat Bebel zum letzten Male fast leibhaftig unter Ihnen gestanden und — ein Leichengräber seines eigenen Lebenswerkes — zum opportunistischen Sammeln geblasen. (Betäubender Lärm. Rufe: Schluß! Pfui! Abtreten! Herunter! Gemeinheit! — Bock-Gotha schwingt hilflos die Präsidentenglocke.) Ich komme schon zum Schluß. (Nein! Nicht weiterreden! Schluß! Die Delegierten drängen sich wütend zum Redepult. Der Redner verläßt achselzuckend die Tribüne und begibt sich, die Internationale pfeifend, ins Caféhaus.)

Aus: Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit, 3. Jahrgang, Nr. 7/1913. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.