Emma Goldman - Die Russische Revolution und das autoritäre Prinzip (1924)

I

Nichtbolschewistische Kritiker des russischen Mißerfolgs beschränken sich auf die Erklärung, die Revolution habe in Rußland nicht zum Erfolg führen können, weil die industrielle Entwicklung in diesem Lande nicht den notwendigen Höhepunkt erreicht hatte. Sie verweisen auf Marx, der lehrte, daß eine soziale Revolution nur in Ländern mit einem hochentwickelten industriellen System und den es begleitenden Antagonismen möglich sei. Sie behaupten daher, daß die Russische Revolution gar keine soziale Revolution habe sein können, sondern auf Grund historischer Bedingungen in konstitutionellen, demokratischen Bahnen habe verlaufen müssen. Erst ihre Ergänzung durch eine Entwicklung der Industrie könne das Land ökonomisch reif werden lassen für die grundlegende Veränderung.

Diese orthodox-marxistische Ansicht läßt einen bedeutsamen Faktor außer Betracht, einen Faktor, der vielleicht essentieller für Möglichkeit und Erfolg einer sozialen Revolution ist als selbst der industrielle. Das ist der psychologische Zustand, in dem sich die Massen zu einer gegebenen Zeit befinden. Warum kommt es z. B. in den USA, in Frankreich oder auch in Deutschland nicht zu einer sozialen Revolution? Diese Länder haben doch ohne Zweifel den Grad an Industrialisierung erreicht, der von Marx als Kulminationspunkt bezeichnet wurde. Die Wahrheit ist, daß industrielle Entwicklung und scharfe soziale Gegensätze allein keineswegs genügen, eine neue Gesellschaft entstehen zu lassen oder eine soziale Revolution hervorzurufen. Das notwendige soziale Bewußtsein, der erforderliche psychologische Zustand der Massen fehlt in den USA und in den anderen genannten Ländern. Daraus erklärt sich das Fehlen einer sozialen Revolution dort.

In dieser Hinsicht war Rußland anderen industrialisierteren und „zivilisierteren“ Ländern überlegen. Es ist wahr, daß Rußland industriell weniger entwickelt war als seine westlichen Nachbarn. Aber das Bewußtsein der russischen Massen, inspiriert und vertieft durch die Februar-Revolution, erweiterte sich mit derartiger Geschwindigkeit, daß die Volksmassen innerhalb weniger Monate auf so ultrarevolutionäre Slogans wie „Alle Macht den Räten“ und „Das Land den Bauern, die Fabriken den Arbeitern“ vorbereitet waren.

Man sollte die Bedeutung dieser Slogans nicht unterschätzen. Wenn sie auch in hohem Grade Ausdruck eines instinktiven und halbbewußten Volkswillens waren, so bedeuteten sie doch gleichzeitig die völlige soziale, ökonomische und industrielle Reorganisation Rußlands. Welches Land in Europa oder Amerika wäre bereit, solche revolutionären Schlachtrufe zum Leben zu erwecken? In Rußland aber, in den Monaten Juni und Juli des Jahres 1917, wurden diese Slogans populär, und die große Masse des industriellen und agrarischen Bevölkerungsteils des mehr als Einhundertfünfzig-Millionen-Volkes nahm sie begeistert auf und setzte sie in direkte Aktion um. Das war Beweis genug dafür, daß das russische Volk „reif“ war für die soziale Revolution.

Was das ökonomische „Vorbereitetsein“ im Marxschen Sinne anlangt, so darf nicht vergessen werden, daß Rußland vornehmlich ein Agrarland ist. Marxens Doktrin setzt die Industrialisierung der bäuerlichen Bevölkerung in hochentwickelten Gesellschaften voraus, als Schritt, der sie zur Revolution tauglich macht. Aber die Ereignisse von 1917 in Rußland bewiesen, daß die Revolution diesen Prozeß der Industrialisierung nicht abwartet und - was noch wichtiger ist - nicht dazu gebracht werden kann zu warten. Die russischen Bauern begannen, die Gutsherren zu expropriieren, und die Arbeiter nahmen die Fabriken in Besitz, ohne sich um das Marxsche Diktum zu kümmern. Diese Volksaktion leitete aufgrund der ihr eigenen Logik in Rußland die soziale Revolution ein und warf alle Marxschen Berechnungen über den Haufen. Die Psychologie des Slawen erwies sich stärker als sozial-demokratische Theorien.

Diese Psychologie enthält ein leidenschaftliches Verlangen nach Freiheit, dessen Quelle ein Jahrhundert revolutionärer Agitation unter allen Klassen der Gesellschaft war. Das russische Volk war glücklicherweise politisch unverbildet und unberührt geblieben von der Korruption und Konfusion, die sich durch „demokratische“ Freiheit und Selbstregierung im Proletariat anderer Länder ausgebreitet hatten. Der Russe blieb in dieser Hinsicht natürlich und einfach, mit Spitzfindigkeiten des politischen Spiels, mit parlamentarischen Tricks und legalen Notlösungen war er nicht vertraut. Andrerseits war aber sein primitiver Sinn für Recht und Gerechtigkeit stark und lebendig und frei von jener desintegrierenden Finesse des Halbgebildeten. Er wußte genau, was er wollte, und wartete nicht erst ab, daß „historische Unvermeidlichkeit“ es ihm brachte: er ging zur direkten Aktion über. Die Revolution war ihm ein Faktum des Lebens und nicht eine bloße Diskussionsgrundlage.

Deshalb fand die soziale Revolution in Rußland trotz der industriellen Rückständigkeit des Landes statt. Aber die Revolution, einmal gemacht, war nicht vollendet. Sie mußte fortschreiten und sich erweitern, mußte sich in ökonomischer und sozialer Rekonstruktion fortsetzen. Diese Phase der Revolution erforderte den höchsten Einsatz an individueller Initiative und kollektiver Anstrengung. Entwicklung und Erfolg der Revolution hingen ab vom Spiel der schöpferischen Kraft des Volkes auf breitester Basis, von der Zusammenarbeit des intellektuellen mit dem manuellen Proletariat. Gemeinwohl ist das Leitmotiv aller revolutionären Bemühungen, besonders in der konstruktiven Phase. Dieser Geist der Solidarität im Interesse eines gemeinsamen Ziels durchwogte Rußland in mächtigen Wellen in den ersten Tagen der Oktober/November-Revolution.

Diesem Enthusiasmus wohnten Kräfte inne, die, bei intelligenter Führung, unter ausschließlicher Berücksichtigung des Volkswohls, Berge hätte versetzen können. Es lag auf der Hand, wer eine solche wirkungsvolle Führung hätte übernehmen können: die Arbeiterorganisationen und die Kooperative, die Rußland wie mit einem Brückennetz überzogen, das Stadt und Land miteinander verband; die Sowjets, die als Antwort auf die Bedürfnisse des russischen Volkes entstanden waren und schließlich die Intelligentsia, zu deren Tradition seit einem Jahrhundert die heroische Hingabe an die Sache der Befreiung Rußlands gehörte.

Aber eine solche Entwicklung gehörte keineswegs ins Programm der Bolschewiki. Für einige Monate, im Anschluß an die Oktober-Ereignisse, duldeten sie die Manifestation der verschiedenen Kräfte des Volkes, duldeten, daß sich die Revolution in immer weiter werdende Kanäle ergoß. Aber sobald sich die Kommunistische Partei fest genug im Regierungssattel fühlte, begann sie den Spielraum der Aktivität des Volkes einzuengen. Alle folgenden Aktionen der Bolschewiki, ihre Politik mit all ihren Änderungen, ihre Kompromisse und Rückzüge, ihre Methoden der Unterdrückung und Verfolgung, ihr Terrorismus und die Ausrottung aller abweichenden politischen Ansichten - all das waren nur verschiedene Mittel zu einem Ziel: die Behauptung der Staatsmacht in den Händen der Kommunisten. In der Tat machten die Bolschewiki selbst in Rußland gar kein Hehl aus diesem Vorhaben. Die Kommunistische Partei, so behaupteten sie, sei die Avantgarde des Proletariats, und die Diktatur müsse infolgedessen in ihrer Hand ruhen. Aber die Bolschewiki hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht - ohne die Bauern, die weder durch die Tscheka, noch durch Massenerschießungen dazu gebracht werden konnten, das bolschewistische Regime zu unterstützen. Die Bauern waren der Fels, an dem die subtilsten Pläne und Vorhaben Lenins zerschellten. Aber Lenin, ein behender Akrobat, war geschickt genug, auch in den engsten Grenzen noch zu agieren. Die „Neue ökonomische Politik“ (NEP) wurde gerade rechtzeitig eingeführt, um die Katastrophe abzuwenden, die langsam aber sicher über das kommunistische Gebäude hereinzubrechen drohte.

II

Die „Neue ökonomische Politik“ kam für die meisten Kommunisten als Überraschung und Schock. Sie sahen in ihr eine Umkehrung all dessen, was ihre Partei proklamiert hatte - eine Umkehrung des Kommunismus selbst. Einige der ältesten Parteimitglieder, Männer, die sich unter dem Zarenregime Gefahr und Verfolgung ausgesetzt hatten, während Lenin und Trotzki im Ausland in Sicherheit lebten, verließen, verbittert und enttäuscht, aus Protest die Partei. Daraufhin begannen die Führer mit Ausschlußverfahren. Sie ordneten die Säuberung der Partei von allen „zweifelhaften“ Elementen an. Jeder, der einer unabhängigen Haltung verdächtig war, und alle, die die „Neue ökonomische Politik“ nicht als der revolutionären Weisheit letzter Schluß akzeptierten, wurden ausgestoßen. Unter ihnen waren Männer, die jahrelang voller Hingabe der Sache des Kommunismus gedient hatten. Einige von ihnen, bis ins Innerste getroffen durch das ungerechte und brutale Vorgehen und zutiefst erschüttert über den Zusammenbruch dessen, was ihnen als Höchstes gegolten hatte, begingen sogar Selbstmord.

Aber die ungehinderte Verkündigung des Leninschen neuen Evangeliums mußte gesichert werden, des Evangeliums von der Heiligkeit des Privateigentums und der Freiheit zu halsabschneiderischer Konkurrenz, das auf den Ruinen von vier Jahren der Revolution errichtet wurde.

Die kommunistische Entrüstung über die „Neue ökonomische Politik“ war jedoch lediglich ein Beweis für die geistige Verwirrung von Lenins Gegnern. Wer anders als ein geistig Verwirrter konnte den zahllosen akrobatischen Kunststücken Leninscher Politik beipflichten, um sich dann beim letzten Purzelbaum, beim logisch notwendigen Höhepunkt, zu entrüsten? Das Unglück dieser gläubigen Kommunisten war, daß sie an die „Jungfrauengeburt“ des kommunistischen Staates glaubten, der mit Hilfe der Revolution die Welt erlösen sollte. Aber die meisten der kommunistischen Führer gaben sich niemals einer solchen Täuschung hin. Am allerwenigsten Lenin selbst.

Während meines ersten Interviews gewann ich den Eindruck, daß er ein gewiefter Politiker war, der genau wußte, was er wollte, und der vor nichts zurückschrecken würde, um sein Ziel zu erreichen. Nachdem ich ihn bei mehreren Gelegenheiten hatte reden hören und seine Werke gelesen hatte, gelangte ich zu der Überzeugung, daß die Revolution Lenin sehr wenig bedeutete und der Kommunismus ihm eine Angelegenheit ferner Zukunft war. Der zentralisierte politische Staat war Lenins Gott, dem alles andere geopfert werden mußte. Irgendjemand sagte, Lenin würde die Revolution opfern, um Rußland zu retten. Lenins Politik hat jedoch bewiesen, daß er bereit war, sowohl die Revolution als auch das Land zu opfern; oder zumindest einen Teil des Landes, um in dem Rest Rußlands seine politischen Pläne zu verwirklichen.

Lenin war der anpassungsfähigste aller Politiker der Geschichte. Er konnte zu gleicher Zeit ein Ultra-Revolutionär, ein Kompromißler und ein Konservativer sein. Als der Schrei „Alle Macht den Räten!“ wie eine gewaltige Welle Rußland durchwogte, schwamm Lenin mit dem Strom. Als die Bauern vom Land, die Arbeiter von den Fabriken Besitz ergriffen, stimmte Lenin diesen direkten Aktionen nicht nur zu, sondern ging sogar noch weiter. Er lancierte die berühmte Devise „Beraubt die Räuber!“, ein Schlachtruf, der Verwirrung in den Köpfen der Leute stiftete und dem revolutionären Idealismus unerhörten Schaden zufügte. Nie zuvor hatte irgendein wahrer Revolutionär die gesellschaftliche Enteignung als Übertragung des Reichtums von einer Gruppe von Individuen auf eine andere interpretiert. Doch genau das bedeutete Lenins Schlachtruf. Die blind wütenden und verantwortungslosen Überfälle, die Akkumulation des Reichtums der früheren Bourgeoisie in den Händen der neuen Rätebürokratie, die Schikane, der man jene aussetzte, deren einziges Verbrechen in ihrem ehemaligen gesellschaftlichen Status bestand, waren alle das Ergebnis von Lenins „Beraubt die Räuber“-Politik. Die gesamte folgende Geschichte der Revolution ist ein Kaleidoskop, das sich zusammensetzt aus Lenins Kompromissen und seinem Verrat an seinen eigenen Wahlsprüchen.

Bolschewistische Handlungen und Methoden seit den Oktobertagen mögen der „Neuen ökonomischen Politik“ zu widersprechen scheinen. In Wirklichkeit aber waren sie Glieder in der Kette, die die allmächtige zentralistische Regierung mit dem Staatskapitalismus als ihrem ökonomischen Ausdruck zusammenschmieden sollte. Lenin besaß Klarheit der Vision und einen eisernen Willen. Er wußte, wie er seine Genossen innerhalb und außerhalb Rußlands glauben machen konnte, daß seine Pläne wahrer Sozialismus und seine Methoden die Revolution waren. Kein Wunder, daß Lenin Verachtung für seine Anhänger empfand, die er nie zögerte ihnen ins Gesicht zu schleudern „Nur Narren können glauben, daß Kommunismus im Rußland von heute möglich ist“, antwortete Lenin den Gegnern der „Neuen Ökonomischen Politik“.

Lenin hatte in der Tat recht. Wahrer Kommunismus war in Rußland niemals ausprobiert worden, sofern man nicht 33 verschiedene Lohnstufen, verschiedene Lebensmittelrationen, Privilegien für einige und Gleichgültigkeit gegenüber den Massen als Kommunismus ansehen will.

In der frühen Phase der Revolution war es für die Kommunistische Partei relativ leicht, sich in den Besitz der Macht zu setzen. Alle revolutionären Elemente, im Banne der ultrarevolutionären Versprechungen der Bolschewiki, verhalfen ihnen zur Macht. Einmal im Besitz des Staates begannen die Kommunisten mit ihrer Eliminierung. Alle politischen Parteien und Gruppen, die sich weigerten, sich der neuen Diktatur zu unterwerfen, mußten gehen. Zuerst die Anarchisten und die frühen sozialistischen Revolutionäre, dann die Menschewiki und andere Gegner von rechts und zuguterletzt jeder, der es wagte, nach einer eigenen Meinung zu streben. Das Los aller unabhängigen Organisationen war ähnlich. Sie wurden entweder den Bedürfnissen des neuen Staates untergeordnet oder ganz zerstört, wie z. B. die Räte, die Gewerkschaften und die Kooperative - drei wichtige Faktoren für die Verwirklichung der Hoffnungen der Revolution. Die Räte waren zum erstenmal in der Revolution von 1905 aufgetreten. Sie spielten eine bedeutende Rolle während jener kurzen, aber wichtigen Periode. Obwohl die Revolution zerschlagen wurde, blieb die Idee der Räte in den Köpfen und Herzen der russischen Massen verwurzelt. Beim ersten Dämmern, das Rußland im Februar 1917 erhellte, lebten die Räte wieder auf und standen in kürzester Frist in Blüte. Das Volk sah in den Räten keineswegs eine Beschränkung des Geistes der Revolution. Ganz im Gegenteil: Die Revolution sollte ihren höchsten und freiesten praktischen Ausdruck durch die Räte finden. Das war der Grund für das spontane und rasche Sichausbreiten der Rätebewegung über ganz Rußland. Die Bolschewiki erkannten die Bedeutung des populären Trends und schlossen sich dem Schrei an. Aber als sie die Regierung unter ihre Kontrolle gebracht hatten, erkannten die Kommunisten, daß die Räte eine Bedrohung für die Souveränität des Staates darstellten. Sie konnten sie aber nicht willkürlich zerstören, ohne ihr eigenes Prestige als Förderer des Rätesystems zu Hause und im Ausland zu untergraben. Sie begannen, sie allmählich von der Macht abzuschneiden, um sie schließlich ihren eigenen Bedürfnissen unterzuordnen.

Die russischen Gewerkschaften waren einer Verstümmelung bei weitem zugänglicher. Zahlenmäßig und der revolutionären Struktur nach steckten sie noch in den Kinderschuhen. Indem man die Mitgliedschaft bei den Gewerkschaften obligatorisch machte, gewannen die russischen Arbeiterorganisationen an physischer Statur, blieben jedoch geistig im Kindheitsstadium stecken. Der kommunistische Staat wurde zur Amme der Gewerkschaften. Diese wiederum dienten als Speichellecker des Staates. „Eine Schule für den Kommunismus“ nannte Lenin sie in der berühmten Auseinandersetzung über die Funktionen der Gewerkschaften. Ja. Aber eine antiquierte Schule, in der der Geist des Kindes an Fesseln gelegt und zerstört wird. Nirgendwo auf der Welt zeigen sich die Gewerkschaften dem Willen und Diktat des Staates gegenüber so unterwürfig wie im bolschewistischen Rußland. Das Schicksal der Kooperative ist zu bekannt, um der Erläuterung zu bedürfen. Die Kooperative waren die wichtigsten Bindeglieder zwischen Stadt und Land. Sie waren von unschätzbarem Wert für die Revolution als ein beliebtes und erfolgreiches Medium für Tausch und Verteilung und für die Rekonstruktion Rußlands. Die Bolschewiki verwandelten sie in Zahnräder der Regierungsmaschine und zerstörten so ihre Nützlichkeit und Wirksamkeit.

III

Es dürfte jetzt klar sein, warum die Russische Revolution, da sie von der Kommunistischen Partei geführt wurde, mißlingen mußte. Die politische Macht der Partei, im Staate organisiert und zentralisiert, suchte sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu behaupten. Die zentralen Autoritäten versuchten die Aktivitäten des Volkes in Formen zu zwingen, die den Zwecken der Partei entsprachen. Deren alleiniges Ziel war es, den Staat zu stärken und alle ökonomischen politischen und sozialen Aktivitäten zu monopolisieren - ja sogar alle kulturellen Schöpfungen. Der Revolution ging es um etwas ganz anderes, und schon ihrem Charakter nach war sie die Negierung von Autorität und Zentralisation. Sie strebte es an, der Selbstdarstellung des Proletariats immer weitere Gebiete zu öffnen und die Entwicklungsstufen individueller und kollektiver Anstrengung zu potenzieren. Die Ziele und Tendenzen der Revolution waren denen der herrschenden Partei entgegengesetzt.

Dasselbe gilt für die Methoden von Revolution und Staat. Die Methoden der Revolution waren auch von revolutionärem Geist inspiriert: das heißt von der Befreiung von allen unterdrückenden und einschränkenden Mächten; kurz, von libertären Prinzipien. Die Methoden des Staates dagegen - des bolschewistischen Staates wie auch jeder anderen Regierung - basierten auf Zwang, der im Zuge der Entwicklung notwendigerweise in systematischer Gewaltanwendung, in Unterdrückung und Terrorismus endete. So kämpften also zwei einander entgegengesetzte Richtungen um die Vorherrschaft: der bolschewistische Staat und die Revolution. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. Die beiden in Zielen und Methoden antagonistischen Richtungen konnten nicht harmonisch zusammenarbeiten: der Triumph des Staates bedeutete die Niederlage der Revolution.

Es wäre ein Irrtum anzunehmen, die Revolution sei ausschließlich am Charakter der Bolschewiki gescheitert. Ihr Fehlschlag war grundsätzlich das Resultat der Prinzipien und Methoden des Bolschewismus. Es waren der autoritäre Geist und die Prinzipien des Staates, die die freiheitlichen und befreienden Bestrebungen erstickten. Hätte irgendeine andere politische Partei die Regierung unter ihrer Kontrolle gehabt, das Ergebnis wäre im wesentlichen dasselbe gewesen. Es waren weniger die Bolschewiki selbst, die die Russische Revolution töteten, als vielmehr die bolschewistische Idee. Es war der Marxismus, wie modifiziert auch immer, kurz fanatische Regierungsgläubigkeit. Nur ein Wissen um die grundlegenden Gewalten, die die Revolution unter sich zermalmten, kann die wahre Lektion dieses weltbewegenden Ereignisses darstellen. Die Russische Revolution spiegelt im Kleinen den Kampf eines Jahrhunderts zwischen dem libertären und dem autoritären Prinzip wider. Denn was ist Fortschritt, wenn nicht eine allgemeinere Anerkennung der Prinzipien der Freiheit gegenüber denen des Zwangs? Die Russische Revolution war ein libertärer Schritt, der durch den bolschewistischen Staat rückgängig gemacht wurde, durch den vorläufigen Sieg der reaktionären Idee der Herrschaft.

Dieser Sieg hatte eine ganze Reihe von Ursachen ...

Die Hauptursache ist jedoch nicht in der Rückständigkeit Rußlands zu suchen, wie so viele Kritiker behaupteten. Die Hauptursache war das kulturelle Niveau der Russen, das ihnen nicht nur gewisse Vorteile über ihre aufgeklärteren Nachbarn gab, sondern auch einige fatale Nachteile mit sich brachte. Die Russen waren „kulturell rückständig“ im Sinne eines Unverdorbenseins durch politische und parlamentarische Korruption. Die Kehrseite der Medaille aber waren Unerfahrenheit im politischen Spiel und ein naiver Glaube an die wunderbare Gewalt der Partei, die am lautesten schrie und die meisten Versprechungen machte. Dieser Glaube an die Macht der Regierung machte das russische Volk zum Sklaven der Kommunistischen Partei, noch bevor die große Masse erkannte, daß ihre Nacken unter das Joch gebeugt waren. In den Anfangstagen der Revolution war das libertäre Prinzip stark, das Bedürfnis nach freier Ausdrucksmöglichkeit alldurchdringend. Aber als die erste Woge der Begeisterung im prosaischen Alltagsleben verebbte, da war feste, gesicherte Überzeugung nötig, wenn die Flamme der Freiheit nicht verlöschen sollte. In der ganzen Weite Rußlands gab es nur eine Handvoll Männer, die das Feuer unterhalten konnten - die Anarchisten, deren Zahl gering war und deren Bemühungen, zur Zarenzeit absolut unterdrückt, keine Zeit gehabt hatten, Früchte zu tragen. Das russische Volk, das bis zu einem gewissen Grade instinktiv anarchistisch ist, war noch zu wenig vertraut mit den wahren Prinzipien und Methoden der Freiheit, um sie wirkungsvoll im Leben anzuwenden. Die meisten der russischen Anarchisten waren unglücklicherweise noch in begrenzte Gruppenaktivitäten und individualistische Bemühungen verstrickt, anstatt sich den bedeutungsvolleren sozialen und kollektiven Anstrengungen anzuschließen. Die Anarchisten, so wird der unvoreingenommene Historiker der Zukunft zugeben müssen, haben eine sehr wichtige Rolle in der Russischen Revolution gespielt - eine größere und erfolgreichere Rolle als ihre relativ kleine Anzahl hätte vermuten lassen. Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit zwingen mich jedoch zuzugeben, daß ihre Arbeit von unendlich viel größerem praktischen Wert gewesen wäre, wären sie besser organisiert und darauf vorbereitet gewesen, die entfesselten Energien des Volkes in die Bahnen einer Reorganisation des Lebens auf der Basis der Freiheit zu lenken.

Aber das Versagen der Anarchisten in der Russischen Revolution - im eben angedeuteten Sinne - ist keineswegs ein Argument gegen das libertäre Prinzip. Die Russische Revolution hat im Gegenteil wider jeden Zweifel bewiesen, daß die Idee des Staates - der Staatssozialismus - in all ihren Manifestationen (ökonomisch, politisch, sozial, bildungsmäßig) auf völlig hoffnungslose Weise bankrott ist. Nie zuvor in der Geschichte haben sich Autorität, Staat, Regierung so ihrem Wesen nach statisch, reaktionär, ja konterrevolutionär in ihrer Wirkung erwiesen. Kurzum, sie sind geradezu die Antithese der Revolution.

Es bleibt so wahr, wie es in jedem Fortschritt gewesen ist, daß nur der Geist und die Methode der Freiheit den Menschen einen Schritt vorwärtsbringen können in seinem ewigen Kampf für ein besseres, verfeinerteres und freieres Leben. Angewandt auf die großen sozialen Umwälzungen, die man Revolutionen nennt, ist diese Tendenz ebenso mächtig wie im gewöhnlichen Prozeß der Entwicklung. Die autoritäre Methode hat die ganze Geschichte hindurch versagt, und nun war ihr in der Russischen Revolution dasselbe Los beschieden. Bis heute hat der menschliche Erfindungsgeist kein besseres Prinzip entdeckt als das der Freiheit, und der Mensch verlieh in der Tat seiner höchsten Weisheit Ausdruck, als er die Freiheit die Mutter und nicht die Tochter der Ordnung nannte. Allen politischen Doktrinen und Parteien zum Trotz kann keine Revolution von wirklichem und dauerndem Erfolg sein, wenn sie nicht jeder Tyrannei und Zentralisation ein nachdrückliches Veto entgegensetzt und entschieden dafür kämpft, die Revolution zu einer wirklichen Umwertung aller ökonomischen, sozialen und kulturellen Werte zu machen. Nicht die bloße Ersetzung einer Partei durch eine andere in der Kontrolle der Regierung, nicht die Verbrämung der Autokratie mit proletarischen Parolen, nicht die Diktatur einer neuen Klasse über eine alte, nicht politischer Szenenwechsel irgendwelcher Art, sondern allein die vollständige Umkehrung all dieser autoritären Prinzipien wird der Revolution dienen.

Auf ökonomischem Gebiet muß die Transformation in den Händen der Industriearbeiter liegen, die die Wahl haben zwischen einem Industriestaat und dem Anarcho-Syndikalismus. Entschieden sie sich für den Industriestaat, so wäre die konstruktive Entwicklung der neuen sozialen Struktur von dieser Seite aus ebenso bedroht wie von der des politischen Staates. Das Wachstum neuer sozialer Lebensformen würde verhindert. Aus diesem Grund genügt der Syndikalismus (oder Industrialismus) allein noch nicht, auch wenn seine Anhänger es behaupten. Nur wenn der Geist der Freiheit die ökonomischen Organisationen der Arbeiter durchdringt, können die vielfältigen schöpferischen Energien des Volkes sich manifestieren, nur dann kann die Revolution geschützt und verteidigt werden. Nur durch freie Initiative und Beteiligung der Massen an den Angelegenheiten der Revolution können die entsetzlichen Fehler vermieden werden, die in Rußland begangen wurden. Die Einwohner von Petrograd hätten zum Beispiel nicht unter der Kälte zu leiden gehabt, wenn die ökonomischen Arbeiterorganisationen der Stadt frei gewesen wären, die Initiative zugunsten des allgemeinen Besten zu ergreifen, denn nur hundert Werst von Petrograd entfernt gab es Brennmaterial. Die Bauern der Ukraine wären nicht an der Bestellung ihrer Felder gehindert worden, hätten sie Zugang zu den Werkzeugen gehabt, die in den Lagerhäusern Charkows und anderer industrieller Zentren gestapelt waren. Aber ihre Verteilung wurde von Moskau aus dirigiert. Dies sind charakteristische Beispiele für die zentralistische Regierungsweise der Bolschewiki, und sie sollten die Arbeiter Europas und Amerikas vor den zerstörerischen Auswirkungen des Etatismus warnen.

Nur die industrielle Macht der Massen, wie sie sich in ihren libertären Assoziationen - im Anarcho-Syndikalismus - manifestiert, ist in der Lage, das ökonomische Leben zu organisieren und die Produktion voranzutreiben. Die Kooperative hingegen, die mit den industriellen Körperschaften harmonisch zusammenarbeiten, dienen als Tausch- und Distributionsmedien zwischen Stadt und Land und binden gleichzeitig die industriellen und agrarischen Massen brüderlich aneinander. Ein gemeinsames Band gegenseitiger Dienst- und Hilfsleistungen wird geschaffen, das das stärkste Bollwerk der Revolution ist - viel stärker als Zwangsarbeit, Rote Armee oder Terrorismus. Es ist dies der einzige Weg, auf dem die Revolution als Hefe wirken kann, die die Entwicklung neuer sozialer Formen vorantreibt und die Massen zu größeren Leistungen anstachelt.

Aber libertäre industrielle Arbeiterassoziationen und Kooperative sind nicht die einzigen Medien im Zusammenspiel der vielfältigen Elemente des sozialen Lebens. Die kulturellen Kräfte sind zwar den ökonomischen eng verbunden, haben aber dennoch eigene Funktionen zu erfüllen. In Rußland wurde der kommunistische Staat zum alleinigen Schiedsrichter über alle Bedürfnisse der Gesellschaft. Das Ergebnis... waren vollkommene kulturelle Stagnation und Lähmung jedes schöpferischen Bemühens. Wenn ein solcher Zusammenbruch künftig vermieden werden soll, müssen die kulturellen Kräfte, wenngleich im ökonomischen Leben verwurzelt, doch unabhängig in ihrem Spielraum und frei in ihrem Ausdruck sein. Nicht Verbundenheit mit der herrschenden politischen Partei, sondern Hingabe an die Revolution, Wissen, Können und vor allem der schöpferische Impuls sollten Kriterien sein für die Befähigung zu kulturellem Schaffen. In Rußland wurde dies nahezu von Beginn der Oktoberrevolution an durch die gewaltsame Trennung von Intelligenz und Massen unmöglich gemacht. Es ist durchaus richtig, daß in diesem Fall der Ursprung der Schuld bei der Intelligenz selbst zu suchen ist, die sich in Rußland - wie in anderen Ländern auch - mit Zähigkeit an die Rockschöße der Bourgeoisie klammerte. Diese Gruppe, die nicht fähig war, die Bedeutung der revolutionären Ereignisse zu erfassen, bemühte sich, die Flut durch großangelegte Sabotage aufzuhalten. Aber es gab in Rußland auch noch eine andere Intelligenzschicht, eine mit einem Jahrhundert glorreicher revolutionärer Vergangenheit. Dieser Teil der Intelligenz blieb dem Volk treu, obwohl er die neue Diktatur nicht vorbehaltlos akzeptieren konnte. Es war ein fataler Irrtum der Bolschewiki, daß sie zwischen diesen beiden Gruppen der Intelligenz nicht zu unterscheiden vermochten. Sie begegneten Sabotageakten mit massenhaftem Terror gegen die Intelligenz als Klasse und begannen eine Haßkampagne gegen diese, die die Verfolgung der Bourgeoisie an Intensität noch übertraf. Auf diese Weise wurde ein Abgrund zwischen der Intelligenz und dem Proletariat geschaffen und eine Barriere gegen konstruktive Arbeit errichtet.

Lenin erkannte diesen verbrecherischen Fehler als erster. Er wies darauf hin, daß es ein gefährlicher Irrtum sei, die Arbeiter zu dem Glauben zu verführen, sie könnten Industrien aufbauen und kulturelle Arbeit verrichten ohne die Hilfe und Kooperation der Intelligentsia. Das Proletariat besaß weder Wissen noch Training für eine solche Aufgabe, und die Intelligentsia mußte daher wieder mit der Leitung des industriellen Lebens betraut werden. Aber die Einsicht in einen solchen Fehler rettete Lenin und seine Partei nicht davor, sofort einen neuen zu begehen. Die technische Intelligenz wurde zu Bedingungen zurückgerufen, die dem Antagonismus gegen das Regime auch noch ein Element der Desintegration hinzufügte. Während die Arbeiter weiter hungerten, erhielten Ingenieure, Experten und Techniker hohe Gehälter, besondere Privilegien und die besten Rationen. Sie wurden die gehätschelten Angestellten des Staates und die neuen Sklaventreiber der Massen. Diese, in denen jahrelang der trügerische Glaube genährt worden war, Muskelkraft allein genüge für eine erfolgreiche Revolution und nur physische Arbeit sei produktiv, und die durch eine Hetzkampagne dazu verleitet worden waren, in jedem Intellektuellen einen Konterrevolutionär und Spekulanten zu sehen, konnten nicht Frieden schließen mit denen, die zu hassen man sie gelehrt hatte.

Unglücklicherweise ist Rußland nicht das einzige Land, in dem diese Art proletarischer Haltung der Intelligenz gegenüber vorherrscht. Überall bedienen sich politische Demagogen der Unwissenheit der Massen, um sie zu lehren, Erziehung und Kultur seien bürgerliche Vorurteile, die Massen könnten ohne sie auskommen und seien allein befähigt, die Gesellschaft wieder aufzubauen. Die Russische Revolution hat klar bewiesen, daß Gehirn und Muskeln gleich unentbehrlich sind für ein Werk der sozialen Erneuerung. Intellektuelle und manuelle Arbeit sind einander im sozialen Körper ebenso nahe verbunden wie Hirn und Hand im menschlichen. Eines kann ohne das andere nicht funktionieren.

Es ist wahr, daß die meisten Intellektuellen sich als eine Sonderklasse betrachten, die den Arbeitern überlegen ist, aber überall sind die sozialen Bedingungen dabei, den hohen Sockel zu zerstören, auf den die Intelligentsia sich gestellt hat. Sie werden gezwungen einzusehen, daß auch sie Proletarier sind und daß sie sogar noch abhängiger vom ökonomischen Gebieter sind als die Handarbeiter. Während der physisch arbeitende Proletarier sein Werkzeug zusammenpacken und sich in der ganzen Welt nach einer neuen Stelle umsehen kann, um einer unerträglichen Situation zu entgehen, ist der geistig arbeitende Proletarier viel stärker in seinem besonderen sozialen Milieu verwurzelt und kann seine Beschäftigung und seine Lebensart nicht so leicht aufgeben und verändern. Es ist daher von höchster Bedeutung, die Arbeiter über die rapide Proletarisierung der Intellektuellen und das dadurch entstehende Band zwischen ihnen zu informieren. Wenn die westliche Welt von den Lehren der Russischen Revolution profitieren soll, so muß die Demagogie aufhören, mit der man den Massen schmeichelt und in ihnen einen blinden Antagonismus gegen die Intellektuellen nährt. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Arbeiter völlig von den Intellektuellen abhängig werden sollen. Die Massen müssen im Gegenteil gleich jetzt damit beginnen, sich auf die große Aufgabe vorzubereiten, die die Revolution ihnen auferlegen wird. Sie sollten das theoretische und praktische Wissen erwerben, das notwendig ist, den komplizierten Mechanismus der industriellen und sozialen Struktur ihrer jeweiligen Länder in Gang zu halten und zu leiten. Aber auch im günstigsten Fall bedürfen die Arbeiter der Kooperation der technischen und kulturellen Intelligenz. Umgekehrt muß diese einsehen, daß ihre wahren Interessen mit denen der Massen identisch sind. Sobald diese beiden gesellschaftlichen Kräfte gelernt hätten, ein harmonisches Ganzes zu bilden, würden die traurigen Aspekte der Russischen Revolution zu einem großen Teil verschwinden. Niemand würde mehr erschossen, weil er „irgendwann einmal eine Erziehung genoß“. Der Wissenschaftler, der Ingenieur, der Spezialist, der Forscher, der Erzieher und der Künstler ebenso wie der Zimmermann, der Maschinist und der ganze Rest sind alle Teile der kollektiven Macht, die die Revolution in die großartige Architektur des neuen sozialen Gebäudes verwandeln soll. Nicht Zwietracht, sondern Eintracht; nicht Antagonismus, sondern Kameradschaft; nicht Erschießen, sondern Sympathie - das ist die Lehre, die Intelligenz und Arbeiter aus dem russischen Zusammenbruch zu ziehen hatten. Alle müssen den Wert gegenseitiger Hilfe und freiwilliger Zusammenarbeit schätzen lernen. Doch jedermann muß in seiner eigenen Sphäre unabhängig bleiben und aus einem Gefühl der Harmonie heraus der Gesellschaft sein Bestes geben. Nur so werden in Produktion, Erziehung und Kultur immer neue und reichere Formen ihren Ausdruck finden. Das ist für mich die allumfassende und essentielle Moral aus der Russischen Revolution.

IV

In den vorangegangenen Seiten habe ich zu zeigen versucht, warum die bolschewistischen Prinzipien, Methoden und Taktiken fehlschlugen, und daß die Anwendung ähnlicher Prinzipien und Methoden in anderen Ländern, selbst in den industriell höchstentwickelten, zu denselben Ergebnissen führen müsse. Ich habe ferner demonstriert, daß nicht nur der Bolschewismus versagte, sondern der Marxismus selbst. Das heißt die Staatsidee, das autoritäre Prinzip hat mit der Russischen Revolution den Bankrott erklärt. Wollte ich meine gesamte Argumentation in einem Satz zusammenfassen, so würde ich sagen: Die dem Staate innewohnende Tendenz ist es, alle gesellschaftlichen Aktivitäten zu konzentrieren, einzuengen und zu monopolisieren; in der Natur der Revolution hingegen liegt es, zu wachsen, sich auszuweiten und immer weitere Kreise zu ziehen. Mit anderen Worten, der Staat ist institutionell und statisch; die Revolution ist fließend und dynamisch. Diese beiden Tendenzen sind nicht miteinander in Einklang zu bringen und wirken zerstörerisch aufeinander. Die Staatsidee hat die Russische Revolution erwürgt, und sie muß in allen anderen Revolutionen dasselbe Resultat zeitigen, wenn die Idee der Freiheit nicht zur Vorherrschaft gelangt.

Aber ich gehe noch viel weiter. Es sind nicht nur Bolschewismus, Marxismus und Regierungsdenken, die der Revolution wie auch jedem wesentlichen menschlichen Fortschritt tödlich sind. Die Hauptursache der Niederlage der Russischen Revolution liegt viel tiefer. Sie ist in der sozialistischen Konzeption der Revolution selbst zu suchen.

Die dominierende Idee der sozialistischen Revolutionskonzeption, ja geradezu der Generalnenner, auf den sie sich bringen läßt, ist die Vorstellung, daß Revolution eine gewaltsame Veränderung der sozialen Bedingungen sei, durch welche eine gesellschaftliche Klasse, nämlich die der Arbeiter, die Herrschaft über eine andere Klasse, nämlich die der Kapitalisten, erlangt. Es ist die Konzeption einer rein physischen Veränderung, und als solche beinhaltet sie einen bloßen politischen Szenenwechsel und institutionelle Umorganisation. Bürgerliche Diktatur wird ersetzt durch die „Diktatur des Proletariats“ - oder durch die ihrer „Avantgarde“, der Kommunistischen Partei; Lenin nimmt den Sitz der Romanows ein, das kaiserliche Kabinett wird umgetauft in Rat der Volkskommissare, Trotzki wird zum Kriegsminister ernannt, und ein Arbeiter wird militärischer Generalgouverneur von Moskau. So sieht im wesentlichen die bolschewistische Konzeption der Revolution aus, wie sie in die Praxis übersetzt wurde. Und mit einigen geringfügigen Änderungen ist das auch die Revolutionsidee anderer sozialistischer Parteien.

Diese Konzeption ist auf fatale Weise von innen heraus falsch. Revolution ist in der Tat ein mit Gewalt verbundener Prozeß. Aber wenn er in einem bloßen Wechsel des Diktators, in einem Austausch der Namen und Personen enden sollte, so lohnte er die Mühe kaum. Umsonst wären dann all die Kämpfe und Opfer, der unerhörte Verlust an Menschenleben und kulturellen Werten, die zu jeder Revolution gehören. Selbst wenn eine solche Revolution zu größerem sozialen Reichtum führte, was in Rußland nicht der Fall war, selbst dann wäre sie den ungeheuren Preis, den sie kostete, nicht wert: Bloße materielle Verbesserung kann ohne blutige Revolution erreicht werden. Die wahren Ziele und Zwecke einer Revolution, wie ich sie verstehe, erschöpfen sich nicht in Beruhigungsmitteln und Reformen.

Meiner Meinung nach, die sich durch die russische Erfahrung tausendfach bestätigt und bestärkt sieht, liegt die große Mission der Revolution, der Sozialen Revolution, in einer fundamentalen Umwertung aller Werte. Einer Umwertung nicht nur der sozialen, sondern auch der menschlichen Werte. Die letzteren sind sogar die bedeutsameren, beruhen doch auf ihnen alle sozialen Werte. Unsere Institutionen und Verhältnisse stützen sich auf tiefverwurzelte Ideen. Diese Verhältnisse zu verändern, bei gleichzeitigem Bestehenlassen der ihnen zugrundeliegenden Ideen und Werke, käme einer oberflächlichen Transformation gleich, die weder von Dauer sein noch wirkliche Verbesserungen bringen kann. Es wäre ein Wechsel der Form, nicht der Substanz, wie das russische Beispiel es auf tragische Weise gezeigt hat.

Es ist zugleich das große Versagen und die große Tragödie der Russischen Revolution, daß sie unter der Führung der herrschenden Partei versuchte, nur die Institutionen und Verhältnisse zu verändern, ohne sich im geringsten um die menschlichen und sozialen Werte zu kümmern, die die Revolution involvierte. Ja schlimmer noch, in seiner wahnwitzigen Machtgier suchte der kommunistische Staat gerade jene Ideen und Konzeptionen noch zu stärken und zu verteidigen, deren Vernichtung Ziel der Revolution war. Er unterstützte und ermutigte die scheußlichsten antisozialen Eigenschaften und zerstörte systematisch die sowieso schon geschwächte Konzeption der neuen revolutionären Werte.

Der Sinn für Gerechtigkeit und Gleichheit, die Liebe zur Freiheit und menschlichen Brüderschaft - diese Grundvoraussetzungen einer wirklichen Erneuerung der Gesellschaft - wurden vom kommunistischen Staat in einer Weise unterdrückt, die ihrer Vernichtung gleichkam. Der instinktive menschliche Sinn für Recht und Billigkeit wurde als Sentimentalität gebrandmarkt; Menschenwürde und Freiheit wurden als bürgerlicher Mummenschanz entlarvt; die Heiligkeit des Lebens, die zentral ist für jede soziale Erneuerung, wurde als unrevolutionär, gar konterrevolutionär verdammt. Diese fürchterliche Perversion fundamentaler Werte trug den Keim der Zerstörung schon in sich. Die Konzeption, daß die Revolution lediglich ein Mittel sei, an die Macht zu gelangen, brachte es unvermeidlich mit sich, daß alle revolutionären Werte den Bedürfnissen des sozialistischen Staates untergeordnet, ja gar benutzt werden mußten, der Förderung der Sicherheit der frisch erworbenen Regierungsgewalt zu dienen. „Staatsräson“, maskiert als „Interesse von Volk und Revolution“, wurde zum einzigen Kriterium des Handelns, ja sogar des Fühlens. Gewalt, tragischerweise unvermeidlich in revolutionären Umwälzungsprozessen, wurde zum etablierten Brauch, zur Gewohnheit und wurde sogleich als die mächtigste und „idealste“ Institution inthronisiert. Kanonisierte nicht Sinowjew selbst Dzershinski, das Haupt der blutigen Tscheka, als den „Heiligen der Revolution“? Wurden nicht Uritzki, dem Begründer und sadistischen Boß der Petrograder Tscheka, die höchsten Auszeichnungen des Staats zuteil?

Diese Perversion der ethischen Werte kristallisierte sich bald in dem allmächtigen Motto der Kommunistischen Partei: DAS ZIEL RECHTFERTIGT DIE MITTEL. Die Inquisition und die Jesuiten hatten sich in der Vergangenheit dieselbe Devise zu eigen gemacht und ihr die gesamte Moral untergeordnet. Sie rächte sich an den Jesuiten nicht anders als an der Russischen Revolution. In ihrem Gefolge zogen Lüge, Täuschung, Heuchelei und Verrat und Mord vor aller Augen und im Geheimen. Es sollte für Studenten der Sozialpsychologie von größtem Interesse sein, daß zwei zeitlich so weit auseinanderliegende Bewegungen wie das Jesuitentum und der Bolschewismus, die in ihren Ideen so stark differieren, doch genau dieselben Resultate erzielten durch die Anwendung des Prinzips, daß das Ziel alle Mittel rechtfertige. Die historische Parallele, bis heute beinahe vollständig ignoriert, enthält eine sehr wichtige Lektion für alle kommenden Revolutionen und für die gesamte Zukunft der Menschheit.

Es gibt keinen größeren Irrtum als den Glauben, Ziele und Zwecke seien eine Sache, Methoden und Taktiken eine andere. Diese Konzeption bedeutet eine potentielle Bedrohung aller sozialen Erneuerung. Jede menschliche Erfahrung lehrt, daß Methoden und Mittel nicht vom Endziel zu trennen sind. Durch individuelle Gewöhnung und soziale Praxis werden die angewandten Mittel zum integrierenden Bestandteil des Endziels; sie beeinflussen und modifizieren es, und schon werden Ziele und Mittel identisch. Vom Tage meiner Ankunft in Rußland an fühlte ich es, zunächst vage, dann immer klarer und bewußter. Die großen und begeisternden Ziele der Revolution wurden so umwölkt und verdunkelt durch die Methoden der herrschenden politischen Macht, daß es schwer war, zwischen temporären Mitteln und letztem Ziel zu unterscheiden. Sowohl psychologisch als auch sozial gesehen müssen die Mittel die Ziele beeinflussen und verändern.

Die gesamte Geschichte der Menschheit ist ein fortgesetzter Beweis für den Satz, daß, wenn man sich in seinen Methoden ethischer Konzepte entledigt, man in die Abgründe äußerster Demoralisierung versinkt. Darin liegt die wahre Tragödie der bolschewistischen Philosophie, wie sie in der Russischen Revolution angewandt wurde. Möge diese Lektion nicht umsonst gewesen sein.

Keine Revolution kann jemals zu einem erfolgreichen Faktor der Emanzipation werden, wenn nicht die angewandten Mittel in Geist und Tendenz mit den zu erreichenden ZWECKEN identisch sind. Revolution ist die Negation des Bestehenden, ein gewaltsamer Protest gegen die Inhumanität des Menschen dem Menschen gegenüber, mit all den tausendundeinen Sklavereien, die diese Inhumanität impliziert. Sie ist der Zerstörer herrschender Werte, auf denen ein komplexes System der Ungerechtigkeit, Unterdrückung und des Unrechts errichtet worden ist mit Hilfe von Unwissenheit und Brutalität. Sie ist der Herold NEUER WERTE, der die Transformation der grundlegenden Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Gesellschaft ankündigt. Sie ist nicht ein bloßer Reformer, der ein paar soziale Übel übertüncht; nicht lediglich eine Veränderung der Formen und Institutionen; nicht nur ein Umverteiler sozialen Wohlstandes. Sie ist all dies, jedoch bei weitem mehr. Zuerst und vor allem ist sie der UMWERTER ALLER WERTE, der Träger neuer Werte. Sie ist der große LEHRER DER NEUEN ETHIK, der den Menschen mit einer neuen Konzeption des Lebens und seiner Manifestationen in den sozialen Beziehungen inspiriert. Sie ist der geistige und seelische Erneuerer.

Ihr erster ethischer Grundsatz ist die Identität der angewandten Mittel mit den verfolgten Zielen. Das Endziel aller revolutionären sozialen Veränderung ist die Heiligkeit des Lebens, die Würde des Menschen, das Recht des Individuums auf Freiheit und Glück. Wären dies nicht die wesentlichen Ziele einer Revolution, so entbehren gewaltsame soziale Veränderungen der Berechtigung. Denn äußerliche soziale Veränderungen waren und sind zu erreichen auf dem Wege normaler Evolution. Revolution hingegen bedeutet nicht bloße äußerliche, sondern grundlegende innere Veränderung. Dieser innere Wechsel von Vorstellungen und Ideen, der immer weitere Strata der Gesellschaft durchdringt, kulminiert schließlich in jener Art gewaltsamen Umsturzes, die man Revolution nennt. Soll dieser Höhepunkt den Prozeß der Umwertung der Werte entbehren, sich gegen ihn wenden, ihn verraten? Das ist es, was in Rußland geschah. Ganz im Gegenteil soll die Revolution den Prozeß, dessen verdichteter Ausdruck sie ist, beschleunigen und fördern; ihre vornehmste Mission ist es, ihn zu inspirieren, zu großen Höhen fortzureißen, ihm den weitesten Spielraum für sein Wirken zu verschaffen. Nur dann bleibt die Revolution sich selbst treu.

Auf die Praxis angewandt bedeutet das, daß die Periode der aktuellen Revolution, die sog. Übergangsphase, die Einleitung, das Vorspiel zu neuen sozialen Bedingungen sein muß. Sie ist die Schwelle zum NEUEN LEBEN, zur neuen WOHNUNG DES MENSCHEN UND DER MENSCHHEIT. Als solche muß sie mit dem Geist des neuen Lebens harmonieren, mit der Konstruktion des neuen Gebäudes.

Das Heute ist der Vater des Morgen. Die Gegenwart wirft ihre Schatten weit voraus in die Zukunft. Das ist ein Gesetz individuellen und sozialen Lebens. Eine Revolution, die sich ethischer Werte entkleidet, legt damit den Grundstein zu Ungerechtigkeit, Täuschung und Unterdrückung in der Gesellschaft der Zukunft. Die Mittel, die man beim Bau der Zukunft verwendet, werden zu ihrem Eckstein. Nehmt das tragische Schicksal Rußlands zum Zeugen. Die Methoden staatlicher Zentralisation haben individuelle Initiative und Anstrengung lahmgelegt; die Tyrannei der Diktatur hat das Volk in sklavischer Unterwürfigkeit geduckt und die Flamme der Freiheit beinahe vollständig zum Erlöschen gebracht; organisierter Terror hat die Massen verdorben und barbarisiert und jeden Hauch Idealismus erstickt; institutionalisierter Mord hat das menschliche Leben verbilligt, und jeder Sinn für die Würde des Menschen und den Wert des Lebens wurde eliminiert; Zwang auf Schritt und Tritt hat Mühe bitter gemacht, Arbeit zur Strafe und hat das ganze Dasein in ein System gegenseitigen Betrugs verwandelt, in dem die niedrigsten und brutalsten Instinkte des Menschen wieder zur Blüte gelangen. Ein trauriges Erbe, um ein neues Leben der Freiheit und Brüderlichkeit zu beginnen.

Es kann nicht genug betont werden, daß Revolution umsonst ist, wenn sie nicht von ihrem Endziel inspiriert ist. Revolutionäre Methoden müssen in Gleichklang sein mit revolutionären Zielen. Die Mittel, die man anwendet, um die Revolution zu fördern, müssen mit deren Zielen harmonisieren. Kurz, die ethischen Werte, die die Revolution in der neuen Gesellschaft etablieren möchte, müssen schon mit den revolutionären Aktivitäten der sog. Übergangsphase zum Tragen kommen. Diese kann als wahre und verläßliche Brücke zu einem besseren Leben nur dann dienen, wenn sie aus demselben Material gebaut ist wie das zu erreichende Leben. Revolution ist der Spiegel des kommenden Tages; sie ist das Kind, das der Mann von Morgen sein soll.

Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970

Nach: Emma Goldman: My further disillusionment in Russia. Garden City, 1924, pp. 144-178. Aus dem Amerikanischen von Ingeborg Brandies

Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s

Gescannt von anarchismus.at