Erich Mühsam - Amnestie: auch in Rußland (1926)

Es ist keine "Hetze gegen Sowjet-Rußland", sondern leidvolle Pflicht des revolutionären Gewissens, wenn man sich der Kameraden annimmt, die dort im Gefängnis sitzen, weil sie an der Politik der bolschewistischen Partei revolutionäre Kritik geübt haben. Das Verlangen des ganzen internationalen Proletariats nach Amnestierung der politischen Gefangenen, die für den Sieg des Sozialismus gekämpft haben, darf nicht vor den Grenzen Rußlands verstummen. Die Forderung: Heraus mit den proletarischen politischen Gefangenen in Deutschland, Polen, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, heraus mit Sacco und Vanzetti, mit den Opfern Mussolinis! begegnet überall dem zynischen Feixen der Staatserhalter und ihrem Hinweis auf Rußland, wo eine Regierung von Arbeitervertretern, die fast alle selbst einmal vom Zaren nach Sibirien geschickt waren, sich auch nicht anders zu helfen wisse, als indem sie die Gefängnisse mit Sozialrevolutionären, Anarchisten und oppositionellen Kommunisten fülle, die den Ruf "Alle Macht den Räten" wörtlich genommen haben.

All unsre Agitation für die Rote Hilfe wird um einen guten Teil des Erfolges gebracht, die gesamte Atmosphäre des gemeinsamen Kampfes der revolutionär gesinnten Arbeiterschaft wird vergiftet durch die unfaßbare Starrköpfigkeit der russischen Regierung, die sich, nun volle 9 Jahre an der Macht, noch nicht ein einziges Mal entschließen konnte, wenigstens diejenigen politischen Gefangenen zu amnestieren, deren Organisationen im Oktober 1917 auf derselben Seite der Barrikade wie die Bolschewiken für den Sieg der roten Fahne ihr Blut verspritzt haben. Wenn sich denn aber schon das gegenwärtige Parteiregime zu schwach fühlen sollte, um die Freiheit der Gefangenen und die Heimkehr der revolutionären Emigranten ertragen zu können, so bekenne es sich wenigstens zu dieser Schwäche und lasse die europäische Arbeiterschaft wissen, daß die Argumente der Anarchisten zu stark, dem russischen Arbeiter und Bauern zu überzeugend sind, als daß diese Ideen propagiert werden dürften. Statt dessen streitet man Tatsachen ab, die tausendmal erweislich sind, macht die Solidarität mit den Kameraden zum Arbeiterverrat, peitscht die gläubigen Proletarier gegen die Klassengenossen auf, die Bescheid wissen und stößt diejenigen von sich zurück, denen zufällig einmal doch Beweise vor die Augen kommen.

Naive, zur Bewunderung herzlich gewillte Arbeiter fahren mit Delegationen nach Rußland, überall begeistert aufgenommen, und sie wollen alles sehn, um wahrheitsgetreu zuhause berichten zu können. Sicherlich ist es Unsinn zu behaupten, es würden ihnen nur Potemkinsche Dörfer aufgebaut; sicherlich hat das nachrevolutionäre Rußland vieles zu zeigen, wessen es sich ganz und garnicht zu schämen braucht. Aber eins steht fest: in die Gefängniszellen der politischen Gefangenen erhalten sie keinen Einblick, der sie die reine Wahrheit sehen läßt. Das Vereinigte Komitee zum Schutze der in Rußland gefangenen Revolutionäre (Berlin O 34) versendet einen Brief, der am 15. September 1926 von den Sozialisten und Anarchisten des Charkower Gefängnisses Nr. 1 an das Präsidium der Allukrainischen Zentralexekutive der Räte gerichtet wurde. Da wird berichtet, daß am Abend vor dem Eintreffen der 2. deutschen Arbeiterdelegation die politischen Gefangenen gegen ihren Protest unter schlimmsten Mißhandlungen ins Gewahrsam der Tscheka verschleppt wurden, um ein Zusammentreffen mit der Delegation zu verhindern. Die Gefangenen sind zum Protest dagegen in den Hungerstreik getreten. Als kurz nachher eine holländische Delegation das Charkower Gefängnis besuchte und ausdrücklich nach politischen Gefangenen fragte, wurde ihr wahrheitswidrig versichert, es gebe dort keine. Die Delegation deutscher Arbeiterinnen wurde ebenfalls nicht in den Flügel der politischen Gefangenen geführt, obwohl die Gefangenen selbst verlangten, mit den Genossinnen sprechen zu dürfen.

Die gefangenen Genossen, die den Brief unterschrieben haben - 7 Anarchisten, 1 linker Sozialrevolutionär, 5 Zionisten-Sozialisten und 4 Mitglieder der Sozialistischen Jugend -, halten nicht zurück mit ihrer Kritik dieses Verfahrens. Erklärbar ist es doch nur aus der Befürchtung, ein Besuch bei den politischen Gefangenen werde bei den Delegierten einen so unschönen Eindruck machen, daß dadurch alle freundlichen Bilder von der Reise durchs gastfreie Sowjet-Rußland verwischt werden könnten. Also schämt sich die russische Regierung, fremden Arbeitern Einblick in die Behandlung der politischen Gefangenen zu geben. Scham ist eine Empfindung anständiger Gesinnung, die vor den eigenen Handlungen Abscheu hat. Mögen die regierenden Genossen in Rußland, die doch keine deutschen Schulmeister sind, die bei aller wissenschaftlichen Strenge der Gedanken und Überlegungen außer ihrem ökonomisch geschulten Hirn auch noch die fühlende Seele haben, die alle seine Dichter dem russischen Volke nachsagen und selbst ihren Spott daran auslassen, - mögen sie die Empfindung der Scham hereinlassen in ihre Köpfe und dort zu der Erkenntnis werden lassen, daß es nicht nur immer moralisch angenehmer, sondern auch praktisch lohnender ist, keine Scham empfinden zu müssen. Geht ihr mit einer großen Amnestie voran, Genossen in Sowjet-Rußland! Hunderttausenden braver revolutionärer Proletarier auf der ganzen Welt wäre die Kehle frei, euch zu grüßen in euerm Bemühen, euer revolutioniertes Land nach euerm besten Wissen und Können dem Sozialismus entgegenzuführen.

Die Meinungsverschiedenheiten zwischen euerm Streben und anderm Denken und Glauben werden fortbestehen, aber ihnen wird der Giftstachel der hassenden Verbitterung genommen sein. Den proletarischen politischen Gefangenen in allen kapitalistischen Staaten aber ginge neue stärkste Hoffnung auf, daß auch für sie die Kerkertore aufspringen werden. Denn die Kraft der Solidarität ihrer Klassengenossen wäre verzehnfacht, wenn kein gespaltenes Gefühl mehr ihre Helferfreude beengt. Den Tag, an dem Rußland seine linken Gefangenen, Verschickten und Emigranten amnestiert, wird das Weltproletariat mit einem Jubel begrüßen, wie ihr ihn, russische Freunde, seit Wrangels Vertreibung nicht mehr vernommen habt. Wartet keinen Gedenktag ab, um mit seiner Feier eine große Geste des Vergebens und Vergessens zu verbinden. Schafft den Gedenktag, den wir ersehnen, durch die Amnestie!

Aus: Fanal, 1. Jahrgang, Nr. 3, Dezember 1926. Digitalisiert von www.anarchismus.at anhand eines PDF der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien (bearbeitet, Ue zu Ü usw.)