Albert Weidner - Robert Reitzel und seine Bedeutung für den deutschen Anarchismus

Am 30. März jährte sich der Todestag Reitzels zum neunten Male. Mit Wehmut werden diejenigen, die ihn bei Lebzeiten in seinem "Armen Teufel" bewundern und lieben gelernt, seiner gedenken. Aber noch mag es viele geben unter den deutschen Anarchisten, die nicht einmal vom Leben und Wirken dieses Mannes wissen, geschweige denn von der Bedeutung, die derselbe auf die Entwicklung des deutschen Anarchismus gehabt. Diese Bedeutung in kurzen Worten darzulegen, soll der Zweck dieser Zeilen sein.

Robert Reitzel wurde geboren in den Tagen der letzten deutscheu Revolution, am 27. Januar 1849 zu Schopfheim in Baden, als Sohn eines Schullehrers. Seine Mutter war eine freiheitlich gesinnte Frau und stand mit den badischen Revolutionären, u.a. mit Herwegh, in freundschaftlicher Verbindung. Ihre geistige Regsamkeit gewann auf die Entwicklung des Sohnes Einfluss, während der Vater durch mürrische Strenge sich wenig Liebe zu erwerben wusste. Nach Besuch der unter Leitung seines Vaters stehenden Schule absolvierte Reitzel das Gymnasium der Reihe nach in Karlsruhe, Mannheim und Konstanz, um alsdann, zum Prediger bestimmt, die Universität Heidelberg zu beziehen. Mehr, als die protestantische Theologie, zog ihn jedoch das Studium der Philosophie und der Literatur an. Er gab den ursprünglichen Plan schliesslich auf und wanderte ohne Ablegung eines Examens im Jahre 1871 nach Amerika aus.

Ohne Geld, ohne Verbindungen, erging es ihm hier zunächst sehr schlecht. Von der Hand in den Mund lebend, die verschiedenartigsten Arbeiten verrichtend, oft hungernd und obdachlos, irrte er umher, bis er endlich, nachdem er zeitweilig als Tabakarbeiter in Baltimore gearbeitet, auf Veranlassung eines daselbst lebenden Pastors dazu gelangte, in Washington vor der evangelisch-reformierten Synode das vorgeschriebene Priesterexamen abzulegen und daraufhin das Predigtamt an der gleichen Gemeinde derselben Stadt anzutreten. In diesem wirkte er, bis seine freien Anschauungen, die er in religiös-philosophischen Vorträgen rückhaltslos aussprach, zum Bruch mit der Kirchenbehörde führten. Es kam jedoch zu keiner eigentlichen Amtsniederlegung: die Gemeinde stellte sich auf seine Seite und konstituierte sich als Freie Gemeinde von Washington mit Reitzel als Sprecher an der Spitze. In Verfolg seiner Tätigkeit unternahm er eine grosse Anzahl Vortragsreisen, die ihn während der nächsten zehn Jahre — 1874 bis 1884 — nach zahlreichen Städten der Mittel- und Oststaaten führten.

Reitzel war ein in jeder Beziehung glänzender Redner, dessen sympathische Erscheinung und freimütiges Auftreten die Zuhörer gefangen nahm und dessen geistvoller Vortrag und mit klangvoller Sprache verbundene fliessende Beredsamkeit sie hinriss. Die deutsche Bevölkerung, zum nicht geringen Teil durch die Wogen der letzten deutschen Revolution nach Amerika geworfen und die fortschrittlichen Anschauungen dieser Zeit nach wie vor bewahrend, bereitete Reitzel allerorten einen freundlichen Empfang und bot einen fruchtbaren Boden für die von ihm propagierten freidenkerischen und radikal-politischen Ideen. Reitzel selbst kam in Berührung mit Karl Heinzen und anderen radikalen Elementen, befreundete sich mit dem Sozialismus und entwickelte sich mehr und mehr nach links. Im Jahre 1876 hatte er in Detroit gesprochen. Er fand hier zahlreiche Freunde im Detroiter Turnverein. Diese veranstalteten nochmals in den Jahren 1882—83 einen Cyclus von Vorträgen Reitzels, bei denen er religiöse, philosophische und literarische Themen behandelte. Nachdem er dann noch eine Vortragstour in die Weststaaten unternommen und zahlreiche deutsche Freidenker- und Turnvereine besucht, liess er sich, dem Rufe gleichgesinnter Freunde folgend, endgiltig in Detroit nieder. Treue Freunde verschafften ihm die Mittel zur Herausgabe einer Wochenschrift, und im Oktober 1884 erschien die erste Nummer derselben: Der arme Teufel.

Im Armen Teufel erstand ein Bindemittel für zahlreiche freigeistige, fortschrittliche Männer und Frauen. In seinem originellen Briefkasten trat er zu seinen Lesern in persönliche Beziehungen und knüpfte auch Beziehungen unter ihnen an. Sie waren gleichsam eine Familie, und das Haupt, die Seele des Ganzen war er, der unermüdlich das Leben, die Schönheit, die Liebe predigte, der aber auch dem Spott und dem Hass, wenn es sein musste, beredten Ausdruck zu leihen verstand. Unerschrocken und kraftvoll trat er hervor, das Schlechte, Niedrige und Gemeine in den Staub zu werfen. Er kannte kein feiges Wägen und Zagen. Gerade wenn die Wolken am schwärzesten hingen, gerade wenn die Tyrannei sich am weitesten vorwagte, schlug das Herz Robert Reitzels am höchsten, dann zitterte jede Faser in ihm vor Entrüstung und Rebellentrotz, und dann trug der Arme Teufel seine flammende Sprache hinaus in die Welt, gleiche Gefühle überall auslösend, wo er gelesen wurde.

Als im Jahre 1887 nach dem verhängnisvollen Vorfall auf dem Heumarkt in Chicago die Bourgeoisie der Vereinigten Staaten blutige Rache verlangte, lange nicht befriedigt durch die Hinrichtung von Spies, Parsons, Lingg, Engel und Fischer, als die radikal-sozialistische Bewegung Nordamerikas in höchster Gefahr schwebte, da eine feige Presse die Regierung zu den furchtbarsten Greueln aufzustacheln suchte, da drang Reitzels Stimme, kühner als je, in die Reihen der Verfolgten, und als mancher Tapfere mit Bangen zu kämpfen hatte — denn der Strick des Henkers war geknotet —, da hielt Robert Reitzel an der offenen Gruft der ermordeten Fünf die Grabrede vor den Tausenden, die herzugeströmt waren, Zorn, Empörung und düsteres Drohen in gewaltiger Sprache zusammenballend.

Bis zum letzten Moment hatte er, der, im Gegensatz zu vielen anderen, die Vollstreckung des Urteils von vornherein für möglich hielt, gehofft und hingearbeitet auf die Befreiung der Opfer; tagelang vor der Vollziehung des Schlussaktes in diesem entsetzlichen Drama hatte er in Chicago geweilt, fieberhaft tätig an der Organisierung eines kühnen Befreiungsversuchs. Als dann im letzten Moment schliesslich doch alles scheiterte, da wollte er schier verzweifeln.

Bis an sein Lebensende ist Reitzel eine aktive Natur geblieben. Unabhängig nach allen Seiten hin, hatte er ein feines Gefühl für das Freie und Schöne, und er jubelte ihm zu, gleichviel woher es kam. Andererseits vereinigte der Arme Teufel unter seinen Freunden die Vertreter der verschiedensten politischen und sozialen Richtungen. Demokraten wie Heinzen und Michael Georg Conrad, Freidenker wie Ruedebusch und Bruno Wille, Sozialdemokraten wie Karl Henckell und Robert Seidel, Kommunisten wie Most und Individualisten wie Tucker, G. Schumm und Mackay, dazu Hansjakob, der katholische Pfarrer, Männer aller Klassen und Stände vereinigten sich um ihn in gleicher Verehrung. Er legte keinen Wert auf Parteietiketten; wenn es besonders anrüchig und gefährlich war, so bei Gelegenheit der Tat Angiolillos, nannte er sich laut und freudig Anarchist.

Im Jahre 1893 fing Reitzel an zu kränkeln und bald war das Leiden zu erkennen und mit ihm das furchtbare Schicksal zu ahnen, dem er verfallen sollte: ein langsam, aber unaufhaltsam fortschreitendes Rückenmarksleiden. Im Jahre 1894 trat die Lähmung der unteren Extremitäten ein, und im nächsten Jahre verfiel Reitzel dem Schicksal des von ihm überaus geliebten Heine, der Matratzengruft. Drei Jahre hindurch, bis zu seinem Tode, redigierte er den Armen Teufel von seinem Bette aus. Rührend war es zu sehen, wie er die schmerzfreien Stunden, deren leider mit dem Wachsen des Leidens immer weniger wurden, seinem Blatt zuwandte. Hier stand der sieche Held stark und ungebrochen vor uns in Kampfeslust und Lebensfreude, das mit Rosen umwundene Schwert war nach wie vor sein Schild. Dazu kam sein unverwüstlicher Humor. Und sonnige Stunden wusste er selbst jetzt noch dem Leben abzutrotzen. Bis der Tod ihn am 30. März 1898 von den grossen Qualen, die er mit Standhaftigkeit zu ertragen wusste, erlöste. Am 2. April wurden seine körperlichen Überreste im Krematorium zu Detroit verbrannt. —

Robert Reitzels Bedeutung für den deutschen Anarchismus liegt in dem vorurteilslosen, von keiner Spur Doktrinismus eingeengten Geiste, der aus seinem Armen Teufel in die deutsche anarchistische Presse drang. Mit gleicher Frische und Kraft, mit gleich rücksichtslosem Temperament hat kein anderer die freiesten Ideen vertreten. Die edelste Triebkraft der anarchistischen Anschauungsweise: nämlich die vollkommene Toleranz und Förderung gegenüber jeder persönlichen Initiative, sie war geradezu in Reitzel verkörpert. So hat er denn jederzeit der Intoleranz auch da den Krieg erklärt, wo sie sich im eigenen Lager einzunisten drohte. Es ist ein trauriges Kapitel der anarchistischen Bewegung, das von dem Unverständnis für persönliches Wirken handelt. Wie hat z.B. Most oft darunter leiden müssen, dass Mitglieder von sogen. Kommissionen für Presse und Agitation ihm die Arbeit sauer machten, und wie bitter und wütend hat er wieder und wieder die Sucht der Bevormundung gegeisselt, die jedem selbständig Denkenden das Wirken verekeln muss und verekelt hat.

Reitzel selbst hat zum Glück niemals anders als selbständig zu arbeiten brauchen. Ingrimmig höhnte er die Pseudo-Anarchisten, die, statt Selbständigkeit zu fördern und selbst zu bezeigen, dort hemmen und schädigen, wo Selbständigkeit zum Durchbruch kam. Es ist fraglich, ob es ihm unter solchen Umständen in seinem deutschen Vaterlande gelungen wäre, seine glänzende Feder im Dienste der freiheitlichen Sache so frei und rücksichtslos, und deshalb so wirksam zu betätigen, wie er es unter den Deutschen Amerikas vermochte. Da fand er unter den Nachkommen der alten 48er Revolutionäre, deren deutsche Arbeitskraft und Zähigkeit einen gewissen Wohlstand errungen, treue Genossen, die mit finanzieller Unterstützung sein Blatt gründen und erhalten halfen. Da war keine vom Zentralismus und Organisationswut besessene Arbeiterbewegung, die dem Einzelkämpfer misstrauisch gegenübertrat. Da konnte ein Blatt gedeihen, von dem jeder wusste, dass eine einzige und ungehemmte Kraft es leitete, frei im Entschluss und persönlicher Agitation, und doch gestützt von dem Beistand aller, die er erhob, von rückständigen Vorurteilen befreite und zu Männern erzog, denen nichts verhasster war, als die Tyrannei in jeder Form.

Von Reitzels Bedeutung für den deutschen Anarchismus will ich reden. Kann ich das, nachdem ich des Mannes beste und höchste Eigenart solchermassen dargestellt? Kann ich das, dessen Hand als letzte es war, welcher der "Sozialist" und "Der arme Konrad" entwunden und vernichtet wurde; dessen deutscher "armer Teufel" keinen ausreichenden Boden fand, weil er nicht von Bewegungswegen gestempelt war; der nach zweieinhalbjähriger, von offensichtlichem Erfolge gekrönter Arbeit am "Freien Arbeiter" sich genötigt sah, zurückzutreten, um nicht mit gebundenen Händen zum Idealisten auf Tagelohn gepresst zu werden; der schliesslich gerade jetzt wieder den Versuch unternimmt, im Reitzeischen Sinne dem freien Rebellentum ein Organ zu schaffen, dessen Bestand und Charakter an keinerlei Kommissions- und Organisationsfragen gebunden ist?

Trotzalledem — Reitzel hat eine grosse Bedeutung für den deutschen Anarchismus gehabt und wird sie haben. Auf die sein Geist gewirkt, sie können ihn nimmermehr verleugnen. Und in den deutschen Gauen stösst man mit Stolz und Freude auf manchen Gleichgesinnten, der in gefestetem Selbstbewusstsein die kleinlichen, entzweienden Strebungen belächelt und das Zentrum eines Kreises von Freunden bildet, die gar nicht anders können, als in der Familie wie in der Werkstatt und am Biertisch ihren Einfluss auf andere fördernd auszuüben. Einer von ihnen, den ich in seinem Wohnort, einem kleinen süddeutschen Städtchen aufsuchte, und dem ich sagte: „Man behauptet, Du bist nicht mehr Anarchist!" antwortete lächelnd: „als ob man das sein oder nicht sein könnte! Wer es ist, wird es sein und bleiben müssen, es liegt in der Natur und ist unabhängig vom Wollen oder Nichtwollen!" Das ist Reitzeischer Geist.

Ursprünglich, nicht abhängig von blasser Theorie oder gar von der Mitgliedschaft zu einer Organisation, ist der wahre Anarchismus, dessen Mission darin besteht, die Menschen zu befreien und durch Selbständigkeit zu Lebens- und Schaffensfreude zu führen. Gegenwärtig ist die deutsche Arbeiterbewegung im Begriff, einen Wandlungsprozess durchzumachen, der zunächst nur taktische Gebiete betrifft. Die Rückschlags-Taktik, den die überspannten Hoffnungen auf die parlamentarische Taktik nicht erst durch den Ausfall der letzten Wahlen, sondern schon durch die letzten Streik-Niederlagen erlitten haben, drängt zu Radikalismus und starkem wirtschaftlichen Kampf.

Im anarchistischen Lager gibt man sich der Hoffnung hin, als sei damit bereits eine prinzipielle Wandlung zum Anarchismus eingeleitet. Das ist ein Irrtum. Und er schliesst die Gefahr in sich, dass anarchistische Kräfte von der im Grunde noch immer durchaus demokratischen Massenbewegung in Deutschland aufgesogen werden. Dieser Gefahr entgegenzuwirken ist nichts so geeignet als die Rückbesinnung auf die ursprünglichen, anti-demokratischen anarchistischen Grundbegriffe. Und da sie nirgends so laut und mächtig zu Tage getreten, so hinreissend vertreten worden sind als bei Robert Reitzel, so wird die Bedeutung seiner Persönlichkeit in Deutschland, zu unbestrittener Geltung gelangen, wenn diese Rückbesinnung eingetreten ist. Was zum Gedeihen einer neuen freien Generation für einen recht nahen Moment zu wünschen ist.

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 1. Jahrgang, Nr. 10, April 1907. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.