Anarchie bleibt das Fernziel der Menschheit. SPIEGEL-Interview mit Augustin Souchy (1983)

Der Spiegel hat einen großen Teil seiner alten Ausgaben inzwischen online verfügbar - ein Besuch seines Archivs ist durchaus interessant.

Der Alt-Anarchist Augustin Souchy über Staat, Freiheit und Revolution

SPIEGEL: Herr Souchy, vor 72 Jahren sind Sie das erste Mal als Anarchist verhaftet worden, damals noch von den Gendarmen des Kaisers. Zweimal, 1914 und 1933, mußten Sie aus Deutschland emigrieren. In verschiedenen Ländern der Erde haben Sie die Gefängnisse von innen kennengelernt und nun, am Ende des Jahrhunderts, sind Sie immer noch Anarchist?

SOUCHY: Ja, ich bin immer noch Anarchist. Allerdings halte ich es mit dem Philosophen Immanuel Kant. Der hat gesagt: "Anarchismus ist Gesetz und Freiheit ohne Gewalt."


SPIEGEL: Andere sagen anderes. Für die Mehrheit der Deutschen ist "Anarchie" gleichbedeutend mit Unordnung, Chaos, im besten Fall Gesetzlosigkeit.

SOUCHY: Das ist leider wahr. Es ist ein weitverbreitetes falsches Bewußtsein. "Anarchie" leitet sich in Wirklichkeit von der griechischen Vorsilbe "a" und dem Wort "archos" her, und das heißt nicht etwa "Unordnung", sondern "Herrschaftslosigkeit", "Freiheit von Herrschaft". Was wir Anarchisten wollten, ist noch immer durch die Postulate der Französischen Revolution von 1789 ausgedrückt.


SPIEGEL: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit?

SOUCHY: Ja, so steht es auf den französischen Münzen. Pierre Proudhon, ein französischer Philosoph, den man den "Vater der Anarchie" nennt, hat 1864 sinngemäß definiert, daß die Anarchie eine Regierungsform ist, in welcher das öffentliche und private Gewissen allein zur Erhaltung der Ordnung und Sicherstellung aller Freiheiten genügt.


SPIEGEL: Also keine Parteien mehr, keine staatlichen, kirchlichen, rechtlichen und polizeilichen Autoritäten?

SOUCHY: Anarchie ist freiwillige Ordnung, keine erzwungene Unterordnung. Die Autoritäten sind schädlich, weil es mit ihnen niemals eine freiheitliche Gesellschaft geben wird. Aber der Anarchismus ist eine sozio-kulturelle Bewegung und nicht eine politische Partei zur Eroberung der Macht. Deshalb gibt es in ihm selbstverständlich verschiedene Strömungen, die individualistische, die kollektivistische und die kommunistische.


SPIEGEL: Für den Egoismus des individualistischen Anarchismus haben Sie ja wohl nichts übrig? Oder würden Sie, wie sein Prophet Max Stirner, sagen wollen: "Mir geht nichts über Mich. Jedes höhere Wesen über Mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit"?

SOUCHY (lacht): Dieses Zitat darf nicht wortwörtlich genommen werden. Das muß Max Stirner in seinen jungen Jahren, um 1845, geschrieben haben. Er war Lehrer an höheren Töchterschulen. Ich halte es mehr mit dem Fürsten Peter Kropotkin - Stichwort: "Jedem nach seinen Bedürfnissen" - und mit Bakunin.


SPIEGEL: Auch adelig, auch Russe.

SOUCHY: Und Karl Marx`s bedeutendster Gegner. Der Anarchist Bakunin wollte allerdings nicht, wie Marx, die Diktatur, sondern die Abschaffung des Proletariats. Er wollte eben eine wirklich freie neue Gesellschaft, autonome Gemeinden und soziale Gleichheit.


SPIEGEL: Zurück zu Bakunin. Dafür hat doch, lang ist`s her, 1926 schon ein Anarchist namens Herbert Wehner geworben. Zurück zu Bakunin wollte der allerdings nur bis 1927, dann wurde er hauptberuflicher Funktionär der KPD.

SOUCHY: Ich kenne ihn aus diesen Berliner Jahren. Wir haben miteinander diskutiert. Wehner gehörte damals zu Erich Mühsams "Anarchistischer Vereinigung". Seither hat er sich sehr verändert. Als er zur KPD ging, soll er die Kasse mitgenommen haben.


SPIEGEL: Viel wird nicht drin gewesen sein.

SOUCHY: Erich Mühsam war ein Dichter und immer ein armer Mann, arm und anständig. Die Nazis haben ihn 1934 im KZ Oranienburg ermordet.


SPIEGEL: Daß es mit der politischen Bedeutung des Anarchismus im großen und ganzen seit hundert Jahren bergab geht, liegt also nicht daran, daß seine namhaften Vertreter keine guten, charismatischen Menschen waren?

SOUCHY: So pauschal kann man von "bergab" nicht reden. Sicher ist, daß die namhaften Anarchisten - und ich habe sie ja fast alle gekannt - persönlich meist sehr liebenswerte Menschen waren, bescheiden, optimistisch, der Sache hingegeben.


SPIEGEL: Wenn die Idee - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - so einsichtig ist und seine Vertreter persönlich liebenswert und sympathisch, weshalb, glauben Sie, ist "Anarchist" dann ein Schimpfwort und der Anarchismus so verrufen?

SOUCHY: Das hat mehrere Gründe. Ende des letzten Jahrhunderts gab es, vor allem in Frankreich, Anarchisten, die Attentate verübten. Einer von ihnen war Francois Ravachol, ein Mann der Gewalt.


SPIEGEL: Als man ihn, vor großem Publikum, zur Guillotine führte, sang er bis zum letzten Atemzug ein freches Lied gegen die Reichen und gegen die Kirche.

SOUCHY: So war er, Ravachol. Gestorben 1892. Ich weiß es so genau, weil es mein Geburtsjahr ist. In Deutschland war damals gerade das Sozialistengesetz aufgehoben worden. Es richtete sich gegen die "gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" und war von Bismarck auch mit angeblichen anarchistischen Gewalttaten gegen den Kaiser begründet worden. Uns Anarchisten rechnete man damals - ganz zu Unrecht - sogar den Bürgermeister Tschech zu.

(Ludwig Tschech, Bürgermeister im Regierungsbezirk Potsdam, fühlte sich um seine Pension geprellt und schoß deshalb am 26. 7. 1844 auf Friedrich Wilhelm IV., der unverletzt blieb. Tschech wurde fünf Monate später enthauptet.)


SPIEGEL: Fast den König bracht' er um,
vor dem ganzen Publikum. Schoß sogar der Landesmutter durch den Rock ins Unterfutter.

SOUCHY: Tja, die Bänkelsänger. Im Ernst: Von Ravachol und anderen Attentätern ging für einige Menschen eine starke Faszination aus, so wie vor einigen Jahren von der Baader-Meinhof-Gruppe.


SPIEGEL: Waren das Anarchisten?

SOUCHY: Nein, sie waren es nicht. Es waren Marxisten und Leninisten. Ich habe ihr Programm hier. Sie erklärten selbst: "Wir sind keine Anarchisten." Trotzdem ist oft wider besseres Wissen versucht worden, diese wildgewordenen Bürgersöhne und Bürgertöchter mit dem Etikett "Anarchist" zu versehen.


SPIEGEL: Wider besseres Wissen? Denken Sie da an den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt?

SOUCHY: Leider auch. Ich kenne Brandt seit 1936, seit der Zeit des Spanischen Bürgerkrieges. Er weiß, was Anarchisten sind. Wegen seiner Bemerkung über die "Baader-Meinhof-Anarchisten" habe ich ihm geschrieben, er hat leider ausweichend geantwortet.


SPIEGEL: Sie selbst, Herr Souchy, sind stolz darauf, niemals persönlich Gewalt angewendet zu haben. Aber es gibt doch unbestritten in der Geschichte anarchistische Gewalttäter, auch Attentäter.

SOUCHY: Ja, die gibt es. Unter den vielen tausend Anarchisten, denen ich in meinem langen Leben begegnet bin, waren drei: Alexander Berkman, Simon Radowicki und Buenaventura Durruti.

Berkman verübte ein Attentat auf den Fabrikdirektor Frick in Pittsburgh, USA, der auf streikende Arbeiter hatte schließen lassen, wobei elf Menschen ums Leben kamen. Der Direktor wurde übrigens nur leicht verletzt, Berkman bekam 20 Jahre Zuchthaus.

Radowicki warf eine selbstgebastelte Bombe auf den Wagen des Polizeipräsidenten von Buenos Aires, Falcon, auf dessen Befehl acht Teilnehmer einer Maidemonstration niedergeschossen worden waren. Sogar die bürgerliche Presse hatte - vergebens - Falcons Bestrafung gefordert.

Durruti war seit den zwanziger Jahren der international bekannteste Kämpfer gegen die spanischen Diktaturen von Primo de Rivera bis Franco. Im Rahmen dieses Widerstandskampfs ging es nicht immer gewaltfrei zu. Ihm wurden aber auch Attentate angelastet, an denen er nicht beteiligt war. Er fiel 1936 im Spanischen Bürgerkrieg. Durruti hat übrigens früher bei mir in Berlin gewohnt.

Alle drei, von denen ich rede, wollten Schuldige bestrafen, die trotz ihrer Verbrechen von der Justiz verschont geblieben waren. Die drei waren keine schlechten Menschen. Sie setzten ihr eigenes Leben für die Gerechtigkeit ein.


SPIEGEL: Kann es sein, daß dieses Verhältnis von Anarchismus und Gewalt sich im öffentlichen Bewußtsein gegen den Anarchismus gewendet hat?

SOUCHY: Gewalt und Anarchismus haben an und für sich nichts miteinander zu tun. Anarchismus ist nur gewaltfrei denkbar. Anarchismus ist Gesetz und Ordnung ohne Gewalt. Mit Gewalt kann man eine Ordnung niederschlagen, beseitigen. Mit Gewalt kann man auch eine neue Ordnung aufrichten, aber mit Gewalt kann man keine freie Gesellschaft schaffen. Wenn man dazu Gewalt benutzt, ist sie ja nicht mehr frei. Gewalt ist Zwang, und Zwang ist der Antipode der Freiheit. Natürlich haben die Mächtigen in den letzten hundert Jahren durch Propaganda und durch Verdummungskampagnen alles getan, den eigentlichen Sinn der anarchistischen Idee, nämlich Freiheit, im öffentlichen Bewußtsein in sein Gegenteil, in Chaos und Gewalt, umzukehren.


SPIEGEL: Halten Sie es für denkbar, daß die anarchistische Idee auch deshalb so energisch abgelehnt und bekämpft wird, weil sie die Notwendigkeit von Herrschaft überhaupt leugnet?

SOUCHY: Das kann man sagen. Für die Machthaber ist das das Schlimmste.


SPIEGEL: Nun mußten sich die Mächtigen, jedenfalls in den großen Zeiten des Anarchismus, ja nicht nur davor fürchten, die Herrschaft zu verlieren, sondern zugleich auch das Leben. So manche Revolution ging durch die Brust der Könige.

SOUCHY: Ich habe in diesem Jahrhundert mehrere Revolutionen erlebt, einige ganz aus der Nähe. In den ersten Jahrzehnten meines Lebens glaubte ich an die Allmacht der Revolution, später habe ich ihre Grenzen kennengelernt.


SPIEGEL: Man hat Sie "Student der Revolution" genannt, wohl deshalb, weil Sie immer wieder Inhalt, Bedeutung und Ablauf von Revolutionen analysiert haben.

SOUCHY: Revolutionen haben mich fasziniert, aus vielen Gründen. Heute weiß ich, daß eine Revolution ausbricht, wenn politische, wirtschaftliche, soziale oder nationale Verhältnisse unerträglich geworden sind und die Volksseele in Aufruhr bringen. Tiefe und Dauer der Revolution sind nicht vorhersehbar, deshalb auch nicht ihre geschichtliche Bedeutung. Keine Revolution kann alle sozialen Übel ein für allemal aus der Welt schaffen. Nehmen Sie die große Französische Revolution von 1789. Sie beseitigte den Feudalismus und die absolute Monarchie, konnte aber das Aufkommen des ausbeuterischen Privatkapitalismus nicht verhindern.


SPIEGEL: Und 1917 sind in Petrograd und Moskau Ihre Träume auch nicht wahr geworden?

SOUCHY: Nein. Wir Anarchisten hofften damals, die russische Revolution würde ein neues Zeitalter einleiten, aber es wurde für uns eine bittere Enttäuschung. Der Zarismus wurde zwar gestürzt, doch die neuen Machthaber errichteten bald ein staatskapitalistisch-hierarchisches Diktatursystem und einen Polizeistaat, unter dem das Volk noch heute aller Freiheiten beraubt ist und in dem die sozialen Ungleichheiten fortbestehen.


SPIEGEL: Die Revolutionen sind also Ihrer Meinung nach nicht, wie Karl Marx sagt, die Lokomotiven der Geschichte?

SOUCHY: Eine gewaltsame Revolution kann ein autoritäres Herrschaftssystem stürzen und den Weg für freiere Gesellschaftsformen ebnen. Wenn eine Revolution kommt, kann vieles rasch verändert werden. Sie ist dort erforderlich, wo es weder Demokratie gibt noch andere Möglichkeiten, eine Zwangsherrschaft abzuschaffen.


SPIEGEL: Demnach wäre, aus der Sicht eines Anarchisten, in den westlichen Ländern, auch in der Bundesrepublik Deutschland, eine Revolution nicht nötig?

SOUCHY: Sie ist vor allem nicht möglich. Die Volksseele ist nicht in Aufruhr, es gibt keine revolutionären Kollektivenergien, kein Revolutionsklima.


SPIEGEL: Fänden Sie eine Revolution denn wünschenswert?

SOUCHY: Das kommt darauf an. Man muß sich fragen, würde eine neue Gesellschaft die Ideale verwirklichen, die wir uns ausgedacht haben?


SPIEGEL: Glauben Sie, sie würde?

SOUCHY: Das wird schwer sein. Revolutionen sind nicht der einzig wichtige Faktor der Geschichte. Mitunter kommt der Evolution eine ebenso große Bedeutung zu. Die Errungenschaften einer Revolution sind immer in Gefahr. Ein evolutionärer Fortschritt hat keine wirklich starken Gegner, er ist deshalb gesicherter als der Fortschritt durch Revolution.


SPIEGEL: Was ist Ihre Ansicht über den Einfluß des Militärs und des Krieges auf die Revolution?

SOUCHY: Wenn ein Land einen Krieg verliert, kommt es leichter zur Revolution. Hätte Deutschland den Ersten Weltkrieg gewonnen, wären die Hohenzollern heute noch an der Macht, so wie die Monarchen in England, Belgien oder Skandinavien. Nach einem verlorenen Krieg sind nicht nur die Arbeiter, sondern auch die nationalen Elemente unzufrieden. Das lehrt uns die Geschichte.


SPIEGEL: Lehrt uns die Geschichte auch, in welchen Ländern jetzt eine Revolution nötig wäre?

SOUCHY: Vielleicht in Rußland. Damit möchte ich sagen: überall dort, wo es ein Regime gibt, das nicht durch den Volkswillen an der Macht ist und nicht freiwillig zurücktritt. Der Staatskapitalismus in Rußland kann aber nicht beseitigt werden, indem man von oben eine neue Regierung einsetzt. Das müssen die Arbeiter von unten machen.


SPIEGEL: Sie sind Lenin ja schon 1917 in Stockholm begegnet, als er mit Hilfe des deutschen Generalstabes von der Schweiz aus Richtung Rußland fuhr. Aber richtig lebhaft wurde es zwischen Lenin und Ihnen ja wohl erst 1920.

SOUCHY: Richtig. Im Sommer 1920 nahm ich als Delegierter der deutschen Anarcho-Syndikalisten in Moskau am 2. Kongreß der Dritten Internationale teil. Wir alle, Kommunisten und Anarchisten in gleicher Weise, glaubten damals, daß die Weltrevolution sozusagen vor der Tür stände. Aber es gab zwischen uns lebhafte Meinungsverschiedenheiten darüber, wie diese Revolution durchzuführen sei. Lenin ...


SPIEGEL: Was war Lenin für ein Mensch?

SOUCHY: Er war freundlich, aber sehr bestimmt. Ein hinreißender Redner war er nicht. Man hatte jedoch immer den Eindruck, daß er genau wußte, was er wollte. Auf mich wirkte er 1920 schon ein bißchen starr, eben wie jemand, der an der Macht ist.


SPIEGEL: Stimmt es, daß er Sie in den Kreml hat rufen lassen, um Ihnen die Leviten zu lesen?

SOUCHY: Wir Jüngeren, ich war damals 28 Jahre alt, litten nach Lenins Auffassung an "ideologischen Kinderkrankheiten". Er wollte uns Anarchisten davon überzeugen, daß ohne die Eroberung der politischen Macht durch die Kommunisten und ohne die Diktatur des Proletariats der Sozialismus nicht siegen könne. Die Produktionsmittel müßten unbedingt verstaatlicht werden, sagte mir Lenin, und die von den Arbeitern übernommenen Betriebe müssen unter eine straffe zentrale Leitung gestellt werden.


SPIEGEL: Und Sie plädierten dagegen für "Alle Macht den Räten"?

SOUCHY: Ja. Damals gab es die Möglichkeit kollektiver Produktion, also der Selbstbestimmung des Produzenten über seine Produkte. Aber die Kommunisten haben alles verstaatlicht, und nun gibt es in der Sowjet-Union weniger Freiheit als in den Vereinigten Staaten. Das ist die Folge von diesem verdammten "demokratischen Zentralismus".


SPIEGEL: Als Sie 1920 in Moskau waren, wollte Lenin aber doch zugleich, daß das "Beste im Anarchismus" integriert werden sollte. Das ist nicht gelungen?

SOUCHY: Nein. Ich bin dagegen gewesen. Ich war von April bis November 1920 in Rußland und habe mich dort gründlich umgesehen. Die Arbeiterräte, die "Sowjets", hatten überhaupt keine Rechte. Alle Arbeitsbedingungen, alle Löhne wurden zentral vom Ministerium festgelegt, selbstverständlich die Produktion erst recht. Die "Sowjets" durften nur ganz sekundäre Dinge erledigen, Essensmarken in den Betrieben verteilen und dergleichen.

Dabei waren, unmittelbar nach dem Sturz des Zarismus, die Voraussetzungen für einen freiheitlichen Sozialismus eigentlich günstig. Selbst 1921 hätten die Weichen noch mal neu gestellt werden können: Wenn die Matrosen von Kronstadt, gemeinsam mit den linken Sozialrevolutionären, Maximalisten und Anarchisten, gesiegt hätten, dann wäre Rußland heute wahrscheinlich eine authentische Räterepublik. Mit autonomen Kollektivwirtschaften, mit politischer Freiheit - und ohne die Schande der Arbeitslager, Gefängnisse und psychiatrischen Anstalten für die Regime-Gegner.

Lenins und Stalins Kaderpartei hat das verhindert. Es ist immer so: Die Eroberung der politischen Macht durch eine Partei führt nicht zur Emanzipation des Proletariats, sondern zur Errichtung einer neuen Herrschafts-Elite.


SPIEGEL: Demnach wären zum Beispiel die polnischen Arbeiter Ihrer Meinung nach auf dem richtigen Wege?

SOUCHY: Die Aktivitäten der Solidarnosc nähern sich ohne Zweifel dem Anarcho-Syndikalismus. Dieser begnügt sich ja nicht mit dem Kampf für bessere Lebensbedingungen der Arbeiter, sondern die Gewerkschaften in den Betrieben sollten auch die Keimzellen sein für den Aufbau einer neuen Gesellschaft, und das will die Solidarnosc jetzt auch in Polen.


SPIEGEL: Geben Sie den polnischen Arbeitern eine realistische Chance?

SOUCHY: Das kommt auf Rußland an. Aber Rußland wird es nicht zulassen.


SPIEGEL: Halten Sie denn in Rußland selber Veränderungen im Sinne eines freiheitlichen Sozialismus für möglich?

SOUCHY: Ja - in hundert Jahren. Man muß in Betracht ziehen: Rußland hatte niemals eine bürgerliche Demokratie. Heute repräsentiert Rußland das, was früher Preußen war - einen militärischen Staat. Wirtschaftlich ist das Reich weit hinter den anderen zurück. Wenn sich das aber nicht in Bälde ändert, wird auch dort Unzufriedenheit aufkommen. Ich bin kein Prophet, ich kann nicht sagen, wann. Aber: Daß es nicht immer so bleibt, dessen bin ich sicher.


SPIEGEL: "Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine", hat sich Bertolt Brecht schon getröstet, "die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag." Wenn Sie als Anarchist Bilanz ziehen, liegen Ihre Ideen und Ideale dann nicht aber immer noch im tiefen Dunkel, während weltweit marxistisch-zentralistische Parteien groß werden, zur Macht kommen, Geschichte machen?

SOUCHY: Der Anarchismus entzieht sich nicht der sozialen Verantwortung. Sein Bereich ist aber nicht die Ausübung, sondern die Kritik von Herrschaft. Die Einzigartigkeit und Bedeutung der Anarchisten für den Fortschritt liegt ja gerade darin, daß sie sich an der praktischen Politik nicht beteiligen, denn dann würden sie ja auch selbst korrupt. Proletarisches Klassenbewußtsein, gekoppelt mit Elitedenken, endet in Lenins demokratischem Zentralismus. Und das ist ein Danaer-Geschenk für die Arbeiterklasse. Freiheit ohne Sozialismus führt zur Ausbeutung, Sozialismus ohne Freiheit zur Unterdrückung.


SPIEGEL: Warum, glauben Sie, sehen das immer weniger Arbeiter ein? In Ihrer Jugend gab es doch noch viele Millionen Anarchisten in Westeuropa, in den zwanziger Jahren hatte die anarchistische Zeitschrift "Der Syndikalist" ...

SOUCHY: ... deren Redakteur ich war ...


SPIEGEL: ... immer noch 120.000 Auflage, und nun, 1983, könnten Sie alle anarchistischen deutschen Arbeiter bequem in Ihrer Wohnung versammeln. Wie kommt das?

SOUCHY: Unter allen Revolutionären sind die Anarchisten von den Herrschenden immer besonders gnadenlos verfolgt worden, überall. Hinzu kommt, daß der Rubel und der Dollar stets gemeinsam gegen die Anarchisten gekämpft haben. In Deutschland ist es nach 1945 auch deshalb nicht gelungen, die anarchistischen Organisationen, zum Beispiel Anarcho-Syndikalistische Gewerkschaften, wiederaufzubauen, weil das einfach von den Besatzungsmächten verboten war.


SPIEGEL: In Frankreich, Italien und selbst in Spanien sind die anarchistischen Ideen auch zurückgedrängt worden.

SOUCHY: Das ist richtig. Sie dürfen aber nicht vergessen, daß während des Spanischen Bürgerkrieges eines der bedeutendsten freiheitlichen Sozialexperimente des 20. Jahrhunderts gelang.


SPIEGEL: Sie meinen den kurzen Sommer der Anarchie, den Hans-Magnus Enzensberger beschrieben hat, als in manchen spanischen Regionen freiwillig alles Geld abgeschafft wurde, Kollektivwirtschaften entstanden und die Unternehmen von allen Arbeitern gemeinsam geleitet wurden?

SOUCHY: Ich war während des ganzen Spanischen Bürgerkrieges im Land, habe also alles selbst miterlebt. Es war wirklich so, daß die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit und der persönlichen Freiheit zumindest zeitweise verwirklicht waren. Alles funktionierte ohne Gesetze, ohne staatliche Verordnungen, ohne äußeren Zwang. Weil auch der Gegensatz von Kapital und Arbeit aufgehoben war, verschwanden die sozialen Gegensätze.


SPIEGEL: Romantisieren Sie Ihre Erinnerungen nicht ein wenig?

SOUCHY: Dazu neige ich nicht. Es gab natürlich Schwierigkeiten. Als Anarcho-Syndikalisten nahmen wir zwar an der Regierung teil, verzichteten jedoch auf die Diktatur. Nicht einmal dort, wo die Anarchisten notgedrungen Polizeiaufgaben wahrnehmen mußten, wurden sie autoritär.

Ich erinnere mich noch gut, wie der Anarchist Eroles als Polizeipräsident von Barcelona einen Konflikt um die Frage, wer als Straßenhändler arbeiten durfte, durch eine einzige Vollversammlung der Gewerkschaften lösen ließ. Wie sollte es auch anders gehen? Der Grundsatz der Gewaltlosigkeit ist dem Anarchismus inhärent, Herrschaftslosigkeit läßt sich nun mal nicht mit Gewalt durchsetzen. Deshalb ist der Anarchismus immer auch pluralistisch.


SPIEGEL: Kann das die Ursache dafür sein, daß einige der anarchistischen Ideen jetzt Unterschlupf in anderen sozialen Bewegungen gefunden haben?

SOUCHY: Von unseren Idealen, nämlich Selbstbestimmung des einzelnen, Verfügungsrecht des Produzenten bei der Produktion und Selbständigkeit der Gemeinden sind die meisten Länder, auch Deutschland, weit entfernt. Aber es gibt heute Bewegungen, die haben viele anarchistische Elemente aufgenommen. Denken Sie nur an die jugendlichen Deutschen, die Alternativen.


SPIEGEL: Unlängst haben sich bei einer repräsentativen Umfrage 15 Prozent der Studenten selbst als "Anarcho-Sozialisten" eingeordnet.

SOUCHY: 15 Prozent? Das wären ja, wenn man hochrechnet, rund 150.000.


SPIEGEL: Macht es Ihnen Mut?

SOUCHY: In meiner Jugend glaubte ich an ein tausendjähriges Reich der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, und ich glaubte auch, daß ich seinen Anbruch noch erleben würde. Heute weiß ich, daß sich das Pendel der Geschichte zwischen den beiden entgegengesetzten Polen Autorität und Freiheit bewegt. Auf dem langen Weg zur Freiheit hat besonders die Jugend die Aufgabe, so viele Teilfreiheiten wie möglich zu erkämpfen.


SPIEGEL: Was meinen Sie - geht es denn damit, alles in allem, voran?

SOUCHY: Alles in allem: Ja. Denken Sie doch nur mal daran, daß es heute keine "Aufgänge für Herrschaften" mehr gibt, daß die Kinderarbeit abgeschafft ist, daß selbst die Arbeitslosen keinen Hunger mehr leiden und daß die Frauen gleichberechtigt geworden sind. Es ist doch auch erfreulich, daß die Grünen und Alternativen wenigstens versuchen, ihre Funktionäre wählbar, abwählbar und rechenschaftspflichtig zu halten, daß die Mandatsträger nicht mehr als ein Durchschnittsbürger verdienen und nicht zu Berufspolitikern werden sollen.


SPIEGEL: Sollte sich ein Anarchist parlamentarisch betätigen?

SOUCHY: Nein, da mache ich nicht mit. Nach einigen Jahren im Parlament geht so ein Mann die gleichen ausgetretenen Wege wie die anderen.


SPIEGEL: Also keine repräsentative Demokratie, sondern Basisdemokratie.

SOUCHY: Ja, dafür bin ich.


SPIEGEL: Small is beautiful?

SOUCHY: Yes.


SPIEGEL: Aber der Staat, den die Anarchisten eigentlich "zerschlagen" und den Friedrich Engels "absterben" lassen wollte, wird doch überall immer mächtiger.

SOUCHY: Nun ja, die Polizisten jedenfalls werden immer mehr. Aber das ist nur die eine Tendenz. Die andere ist, daß die von uns Anarchisten seit jeher propagierten Humanforderungen, nämlich Wohlstand für alle, Freiheit für jeden, Respektierung der Menschenwürde, von den Gewalthabern und Regierungen nicht mehr überall so zynisch verletzt werden wie früher.


SPIEGEL: Die Menschheit braucht also nur einen besonders langen Atem, um schließlich doch noch die Anarchie zu erleben - ist es das, was Sie meinen?

SOUCHY: Ja. Früher dachte ich in Zeiträumen von zehn Jahren, heute in Jahrhunderten.


SPIEGEL: Liegt das am Alter oder an der Politik?

SOUCHY: An beidem. Man muß Realist sein, obgleich der Anarchismus als Sozialideal natürlich auch utopische Züge hat. Er kann deshalb nicht innerhalb weniger Jahrzehnte verwirklicht werden. Ich selber werde die Anarchie nicht mehr erleben. Aber sie bleibt das Fernziel der Menschheit, eine gewaltlose Ordnung anstelle der organisierten Gewalt.


SPIEGEL: Herr Souchy, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Aus: DER SPIEGEL 16/1983

Originaltext: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14020636.html