Anarchismus und „Recht"

«Rechts»staat nennt sich heute mit besonderer Vorliebe das bestehende Konglomerat von Regierenden und Regierten, von Bedrückern und Unterdrückten, von Bevorrechteten und — Rechtlosen. Diese Anmaßung kommt daher, daß man Gesetze geschaffen, Normen, nach denen sich — dem Wortlaut nach; wir wissen: nicht auch nach dem Geiste! — alle Staatsbürger gleichmäßig zu richten haben. Ihnen heißt eben Recht die erlaubte oder geforderte Betätigung des Einzelnen nach Maßgabe des Verlangens der Gesamtvertretung, genannt Staat. Durch Majestäts- oder Majoritätsbeschluß sanktionierte Verbote und Gebote gelten als die Grundlage jenes Rechtsbegriffes und daran hält man fest, wie an der Offenbarung — bis zum Unrecht.

Ich verzichte in dieser Abhandlung darauf, die historische Abstammung der heutigen bürgerlichen Rechtsform von der Gewalt darzulegen; ebenso halte ich es für unnötig, Beweise beizubringen, die da dokumentieren, daß das bourgeoise «gleiche Recht für Alle» nichts anderes ist als der gesetzliche Deckmantel für die allseitige Übervorteilung und Ausbeutung der Besitzlosen, die sich unter das Recht zu beugen haben, zu Gunsten der Besitzenden, die — sich auch im Besitze der Ausdrucksmittel dieses Rechtes, der Rechtsprechung, befinden. Es kommt mir darauf an, zu zeigen, daß in der anarchistischen Gesellschaft trotz oder gerade wegen des Fehlens allgemein gültiger Gesetzesvorschriften, dorten eine Rechtsgleichheit besteht, die nichts zu wünschen übrig lassen kann.

Es hieße, Eulen nach Athen tragen, des weiteren auseinandersetzen zu wollen, daß die garantierte Freiheit im Denken, Sprechen, Schreiben und Tun, nichts anderes als die Voraussetzungen der anarchistischen Gesellschaft wie auch das absolute - «absolut» im Sinne der Notwendigkeit für seine Existenz — Recht des erwachsenen, denkfähigen Menschen ausmachen. Wenn die Handhabung dieses vorausgesetzten Rechtes der Initiative jedes Einzelnen überlassen bleibt, so ist dieses erst in Wirklichkeit das gleiche Recht, das Recht an sich.

Dies für eine Gesellschaft vollreifer Individuen zu bestreiten, dürfte auch kein einigermaßen kritischer Kopf wagen. «Aber» so wirft man dem Anarchismus von jener Seite entgegen, «Ihr werdet trotzdem zweierlei Maß für die Regelung der sozialen menschlichen Zusammengehörigkeit aufstellen müssen; sobald Ihr nämlich an die Kinder und die Unzurechnungsfähigen überhaupt denkt». Zum Beweise, daß der Anarchismus wirklich solch Zweiseelentheorie in sich berge, stützt man sich dann auf einseitige Aussprüche einzelner Anarchisten und solcher Theoretiker, die nur eine entfernte Verwandtschaft mit unserer Idee zeigen (z.B. Rousseaus). Aus so ganz bestimmt und individuell gefärbten Zukunftsidealen Einzelner extrahiert man dann eine Gesellschaftsform, von der der eigene Wunsch der Vater des Gedankens ist, daß die Anarchie sich nach dieser zu richten hätte.

Was man dadurch beweist, ist aber in Wirklichkeit nichts anderes, wie das eigene Unverständnis grundlegender anarchistischer Wahrheiten, womit man sich eigentlich auch der Möglichkeit begeben sollte, gegen den Anarchismus zu polemisieren. Die Eigentümlichkeit des Anarchismus ist ja gerade, daß er nicht mit einer bestimmten Gesellschaftsform rechnet, sondern mit möglichst großer Mannigfaltigkeit. Die Freiheit keines Einzelnen wird dadurch gefährdet werden, daß man ihm irgend eine Gesellschaftsgruppierung aufzwängt; der eigenen Initiative wird es immer überlassen sein, die Form zu finden, die den respektiven Gesellschaftsmitgliedern als Höchstmaß ihres eigenen Freiheits- und Rechtsempfindens gilt.

Als Grundlage dieser Untersuchung wird deshalb kein von irgendwem konstruierter Gesellschaftszustand dienen können, sondern nur die Vorstellung jener möglichen Form, der das Ideal jedes wahren Anarchisten, die Anerkennung der Autonomie jedes Menschen am nächsten kommt. Vollständige Freiheit und Gleichberechtigung für jedermann. Aus der Erkenntnis sozialer und natürlicher Selbstverständlichkeiten geborene freie Gruppierung und das Fehlen jeglicher Herrschafts- und Befehlshabermöglichkeiten, die Abwesenheit jeder Gewalttätigkeit — dies ist das anarchistische Ideal.

Und dieses sollte durchbrochen werden, um für die Kinder, Kranken und sonstwie Vertragsunfähige bestimmte Lebensnormen zu schaffen?

Nun, ich bin der Ansicht, daß die «vertragsunfähigen Kranken» mit dem Bestehen und Sein anarchistischer Gesellschaften in wenigen Generationen verschwinden werden. Sind solche Kranke doch meist das Produkt von Vererbung und Verhältnis, an dem der bürgerliche Staat mit seinem Verlangen der Versorgung der Frau und des «legitimen» Erbenforderns des Mannes die Hauptschuld trägt. Hygiene und Sittlichkeit, die selbstverständlichen Forderungen verantwortungsbewußter Persönlichkeiten, sprechen im Rechtsstaat nur soweit mit, wie das Gesetz, der persönliche oder staatliche Vorteil und die Hoffnung auf die nächste Generation, die man noch zu erleben rechnet, es unbedingt notwendig machen. In der anarchistischen Gesellschaft hat das Solidaritätsgefühl die bewußte Tat zur natürlichen Folge. Da in dieser alle kapitalistischen und dynastischen Vorurteile und Wünsche von selbst verschwinden, die freie und befreite Liebe aber eo ipso die Verbindung zwischen körperlich und geistig gesunden Personen begünstigt, wird ihre einfache Existenz jene Produkte krankhafter Sozialzustände aussterben lassen, die wir heute haben. Bis dahin wird man allerdings den betreffenden Gruppierungen der heutigen Familie ähnliche Gruppen dürften dafür in Frage kommen - die Erziehung und Wartung dieser Kranken nach eigenem Ermessen überlassen können, ja müssen.

Und die Kinder? Diese werden doch durch das «droit naturel» (natürliche Recht) der Eltern von diesen in ihre eigenen Assoziationen hineingezwungen werden? Aber durchaus nicht.

Wer sich nur einigermaßen in das anarchistische Geistesleben hineinzudenken vermag, muß zu der Überzeugung kommen, daß dies durchaus nicht beabsichtigt werden kann. Allerdings wird bei jedem Neugeborenen eine ähnliche Übergangszeit eintreten, eine Zeit der Fürsorge der Nächstbeteiligten, wie sie bei dem Übergang von der jetzigen Staatsform zur freien Vereinigung und Gruppierung der Zukunft den Vertragsunfähigen zugute kommt. Aber diese Selbstverständlichkeit hängt mit der natürlichen Menschwerdung so eng zusammen, daß nur die Voreingenommenen daraus für die Idee einen Widerspruch konstruieren können. Auch der vernünftige Individualist weiß, daß auch er, um Mensch sein zu können, sich mit andern vereinigen muß. Der Mensch ist auf die Gesellschaft angewiesen. Und naturgemäß wird das Kind in eine solche hineingeboren. Ohne seinen Willen und sein Zutun. Unbewußt und unfähig, für sich selbst zu sorgen und über sich selbst zu bestimmen.

Hier heißt es nun, das »droit naturel« richtig zu bewerten. Nach welcher Seite neigt das »natürliche Recht«, auf die Seite der Eltern oder der Kinder?

Mit dem Willen und der Vornahme der Zeugung haben die Eltern die jeweilige Verpflichtung übernommen, für das Kind zu sorgen — solange es nicht selbst dazu imstande ist. Mit dem Erwachen der Denkkraft wird das Kind selbständig und verfügungsfähig. Das ist sein »natürliches Recht«. Ohne Gesetz und ohne Rechtsprechung unbefugter, weil von keinem der Interessenten angerufener Dritter, wird niemand sein Kind zwingen können, sich einer Autorität zu fügen, die garnicht vorhanden ist. In der freien Gesellschaft kann auch das Kind tun und lassen, was es will. An die Eltern bindet es nur die Liebe, die diese sich allerdings, mehr wie heute, und täglich neu zu erwerben versuchen werden, da sie wissen, daß diese das einzige Bindeglied zwischen ihnen und dem Kind sein wird. Sonst geht das Kind dorthin, wo es sich besser aufgehoben fühlen wird; und irrt es sich, kommt es zurück. Denn den Eltern bleibt die »natürliche Pflicht«, für das ohne seinen Willen gezeugte Kind immer wieder einzutreten.

Nebenbei will ich hier nur erwähnen, daß durch diese Freiwilligkeit der Zusammengehörigkeit mehr genützt werden wird als durch den Zwang der heutigen Verhältnisse, wo die Kinder bei ihren Eltern — und was für welchen manchmal! — bleiben müssen. Es sei denn, sie werden ihnen vom Staate fortgenommen. Und dann ebenso oft mit Unrecht wie Recht — von Gesetzeswegen beurteilt.

Das Recht, das der Staat in seinen Gesetzen statuiert, ist allerdings »auf alle immer nur möglichen und denkbaren Menschengruppen anwendbar«. Aber was ist's, das die Menschen und Menschengruppen dafür einbüßen? Ihr vornehmstes Menschenrecht, die Selbstbestimmung. Während in der herrschaftslosen Gesellschaft nur diejenigen — und solange sie keinen eigenen Willen kundgeben — zur Menschwerdung und Freiheit durch ein erziehendes Beispiel geleitet werden, müssen sich im Gesetzesstaat alle Menschen ihrer persönlichen Freiheit zu Gunsten der imaginärsten Größe, nenne man sie nun Staat, Gesetz oder Majorität, begeben. Im Staat herrscht das Gesetz, die Macht, die Autorität — in der Anarchie walten Autonomie (Selbstverwaltung), Freiheit und Gerechtigkeit — das Recht!

Alfred Bader

Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 2 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.