Was ist Anarchismus?

Der Anarchismus erstrebt ein Zusammenleben der Menschen ohne Herrschaft. Sein Ziel ist eine Gesellschaft, die jedem ihrer Mitglieder vollkommene Befriedigung aller seiner Bedürfnisse nach Wohlstand und Freiheit möglich macht, welche also durch den freiwilligen Entschluß der sie bildenden Menschen besteht.

Der Anarchismus will alles beseitigen, durch was Menschen gezwungen werden können, nach dem Willen anderer zu leben und als Werkzeuge zur Befriedigung fremder Bedürfnisse zu dienen: Allen Glauben an irgendwelche göttliche oder menschliche höhere Gewalten, alle Furcht, Verehrung und Gehorsam vor denselben, alle religiöse und politische Autorität und deren Verehrung; alle wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheit, alle Vorrechte und Regierungsformen, alle geschriebenen Gesetze, Vorschriften und Befehle. Er trachtet danach, den Menschen die große Wahrheit zum Bewußtsein zu bringen, daß ihr Leben nicht von einer äußeren Gewalt oder einem Zufall abhängt, sondern eins ist mit dem Naturganzen, und aus eigener innerer Naturnotwendigkeit auf dem Wege des gesellschaftlichen Zusammenwirkens emporwächst und besteht.

Der Wohlstand, die Freiheit und das Glück eines jeden hängt ab von dem Wohlstand, der Freiheit und dem Glück Aller, die mit ihm zusammen unter den gleichen Bedingungen mit ihm leben — und so, im weitesten Sinne genommen, vom Leben der ganzen Menschheit. Der Mensch kann nur durch einträchtiges Zusammenwirken, gemeinschaftliche Arbeit und gegenseitige Hilfe; mit einem Wort: durch die Solidarität mit seinen Gefährten, bestehen; und ein Jeder der durch Bekämpfung, Schädigung und Unterdrückung derselben für sich allein Vorteile zu verschaffen versucht, gefährdet dadurch das Bestehen der Gesellschaft und so sein eigenes Wohl.

Dieses Bestreben nach Solidarität und Herrschaftslosigkeit bedeutet eine vollständige Umwälzung aller bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen. Der Anarchismus will an Stelle des Privateigentums den gemeinsamen Besitz und gemeinsamen Genuß alles gesellschaftlichen Reichtums; an Stelle des Kapitalismus und der Lohnarbeit will er freie Arbeitsgruppen, welche nach eigener Initiative und nach eigenen Bedürfnissen alles zum Leben Notwendige hervorbringen, und in freier Vereinbarung und Vereinigung miteinander die Produktion und die Verteilung und den Austausch der Produkte regeln; an Stelle des Staates und seiner Regierung, Administration und Gerichtsbarkeit strebt er die freiwillige Vereinigung der Menschen in autonom föderierte Gemeindeverbände an, deren Mitglieder ohne Obrigkeit, ohne Gesetze, ohne Beamten und Gerichtshöfe alle ihre eigenen Angelegenheiten nach ihrem gemeinsamen Willen und Interessen selbst erledigen, und welche sich zur Durchführung gemeinsamer Angelegenheiten nach den Bedürfnissen der betreffenden Aufgabe in Freiheit verständigen und verbünden; an Stelle der jetzigen staatlich beherrschten und dementsprechend begrenzten Länder und politischen Nationen ein brüderliches Bündnis zwischen den unabhängigen Gemeinden und Föderationen über die ganze Erde; an Stelle der Religionen und feststehender Moralvorschriften und -Gebräuche das selbständige Denken und das Suchen nach Wahrheitserkenntnis, das Handeln nach eigenem besten Einsehen und Willen und den Anforderungen des Augenblicks, wie das Erziehen des eigenen Selbst und der Kinder zu dieser individuellen und sozialen Freiheit; an Stelle von Prostitution und Zwangsehe und der auf die Autorität des Oberhauptes gegründeten Familie den freien geschlechtlichen Verkehr zwischen Männern und Frauen, die sich nur aus gegenseitiger Liebe und Leidenschaft einander hingeben; und eine Lebensgemeinschaft von Mann und Weib, Eltern und Kindern, die durch Bedürfnis und Liebe zusammengehalten werden und frei ihren eigenen Lebensweg gehen können, sobald diese aufhören.

Kurzum: An Stelle von jeglichem Herrschen, von Zwang und Gewalt will der Anarchismus in allem die Solidarität, die freie Vereinbarung und das freie Zusammenwirken der Menschen setzen. Diese vollständige Änderung des gesamten Lebens der Menschheit erscheint dem Anarchismus nur durch die vollständige Änderung der Weltanschauung und der daraus folgenden Handlungsweise der Menschen selbst möglich.

Der Zustand einer Gesellschaft ist der Ausdruck und das Ergebnis des geistigen Niveaus der Menschen, die sie bilden, und kann nicht von außen her, durch Taten und Verfügungen Einzelner oder einer kleinen Minderheit, ohne das selbstbewußte Mittun der großen Masse des Volkes, geändert werden. Der Anarchismus ist eben nichts anderes, als das aus der eigenen Vernunft entspringende selbständige Handeln aller Gesellschaftsmitglieder, und die aus dem Zusammenwirken dieser Handlungen naturgemäß entstandene soziale Ordnung und Harmonie.

Nur wenn ein ausschlaggebender Teil der Menschen — in einer bestimmten Gesellschaft — durch vorurteilsfreies Denken zur klaren Erkenntnis der anarchistischen Idee gelangt und fähig ist, aus eigener Kraft, ohne sich auf Andere zu verlassen und Anderen zu folgen, das zu tun, was ein Jeder für sich selber im gegebenen Falle für richtig und zweckmäßig hält — erst dann kann sich die anarchistische Gesellschaft — das einzige Zukunftsheil der Menschheit — verwirklichen.

Der Anarchismus erkennt aber, daß diese neue Gesellschaft nicht glatt und allmählich aus der alten Gesellschaft hervorwachsen kann. Er ist in Allem ein Gegensatz und nicht eine Fortsetzung derselben. Diejenigen, die herrschen, streben notwendigerweise immer danach, ihre Macht zu erhalten und trachten mit allen Mitteln, es zu verhüten, daß die Beherrschten vernünftig und selbständig denken und handeln sollen; denn dadurch wird die Existenz der Machthaber, welche einzig auf dem Gehorsam und den Arbeitsdiensten der Beherrschten ruht, unmöglich gemacht. Deshalb ist es ebenso unvermeidlich, daß das Streben der Beherrschten nach Befreiung, welches gewaltsam zurückgehalten werden konnte, so lange der überwiegende Teil derselben noch in Unwissenheit und Respekt vor der Autorität befangen war, sich bis zur sozialen Revolution steigert, sobald eine genügend zahlreiche und starke Masse der Unterdrückten die Ursache ihres Elendes und die Mittel zur Beseitigung desselben erkennt.

Die soziale Revolution ist die gesellschaftliche Neugestaltung der gemeinsamen Lebensformen und-Institutionen. Die Herrschaftsformen der alten Gesellschaft werden aufgehoben, und die anarchistische Organisation tritt an deren Stelle. Die Befreiten werden sich in freien Arbeitsgruppen und Kommunen vereinigen und die Befreiung all ihrer Bedürfnisse und die Erledigung ihrer eigenen Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen, ohne sich um die ihnen aufgezwungenen Beschränkungen durch Vorrechte, Gesetze und staatliche Institutionen zu kümmern. Die soziale Revolution ist der Weg zur Verwirklichung des Anarchismus; und diese soziale Revolution muß vornehmlich von Jenen durchgeführt weiden, die am meisten unter den Folgen des gegenwärtigen Gesellschaftssystems leiden: von den proletarischen Arbeitern.

Die anarchistische Bewegung stellt sich zur Aufgabe, durch Aufklärung, Beispiel und fortwährende Übung im selbständigen Handeln (bei Streiks, Massenbewegungen, freien Vereinigungen auf allen Gebieten des Lebens etc.) immer größere Massen der Arbeiterschaft für dieselbe vorzubereiten. Diese paar Zeilen werden vielleicht genügen, um ein allgemeines Bild von der Idee des Anarchismus zu geben, und wenigstens soviel klarzulegen, daß derselbe etwas anderes ist als ein Geheimbund von Königsmördern und Bombenwerfern — für was ihn noch viele heute halten.

Wir Anarchisten bilden uns aber nicht ein, daß diese Ausführungen auch nur einen einzigen zur Macht gelangten Gegner des Anarchismus überzeugt haben, oder die Verfolgung desselben durch seine mannigfachen Feinde im geringsten mildern zu können. Diejenigen, welche ihre bestehende Herrschaft und bevorzugte Lebensstellung aus Interesse oder auch aus Überzeugung aufrechterhalten wollen, sowie diejenigen, welche danach trachten, mit Hilfe des Volkes ein neues, für sie vorteilhaftes Herrschaftssystem zu begründen, haben den Anarchismus mit Recht zu fürchten. Die Machthaber des gegenwärtigen Staates — Kapitalisten, Parlament, Regierung, Polizei — und die Streber nach Macht in einem Zukunftsstaat — die Politiker und Volksführer, insbesondere die sozialdemokratischen — werden den Anarchismus immer und überall aufs Schärfste verfolgen, und die Verbreitung und Betätigung der anarchistischen Idee mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln zu verhindern trachten.

Denjenigen aber, die sich nicht nach Macht und Vorrechten, sondern nach Freiheit und brüderlichem Zusammenleben der Menschen sehnen, die sich aber von den ererbten und anerzogenen Ideen über Religion, die Notwendigkeit der Herrschaft und den Respekt und Gehorsam vor der Autorität noch nicht haben befreien können, wird es eine Hilfe sein, ein klares Bild von den Ideen des Anarchismus zu gewinnen, welchen man ihnen bisher totgeschwiegen, oder als lächerlichen Wahn oder blutiges Schreckgespenst dargestellt hat. Vielleicht wird dies dazu beitragen, daß die österreichischen Arbeiter den Weg finden aus dem Elend und der Unvernunft der heutigen Zustände zu einer schöneren, besseren, glücklicheren Zukunft.

Aus:
"Wohlstand für Alle", 1. Jahrgang, Nr. 9 (1. Mai 1908). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.