Die Frau und der freie Gedanke

Niemand mehr als wir, meine Schwestern, niemand mehr als wir Frauen, kann sich der Arbeit und Siege der freiheitlichen Idee freuen; denn niemand hat mehr gelitten, und leidet noch unter den Irrtümern und Ungerechtigkeiten, welche die Gründer von Dogmen und Gesetzen erzeugt haben. Vergessen wir das nie, meine Schwestern: Wenn die Frau noch heute in den zivilisiertesten Ländern durch die verschiedenen Gesetzbücher als Unmündige und als Unfähige behandelt wird, so geschieht es nur darum, weil alle kirchlichen Religionen, die ausschließlich von Männern erfunden wurden, welche vom Wunsche beseelt waren, die ihrem Geschlecht unter Mithilfe der brutalen Gewalt erworbene Überlegenheit zu rechtfertigen, das unsere verkannt und beschimpft haben. Wenn die Zivilgesetze, die sozialen Institutionen, uns überall unterdrücken und uns in Fesseln schlagen, uns demütigen und uns quälen, so geschieht dies darum, weil jene selbst durch alle Revolutionen hindurch tief vom alten dogmatischen Geist durchdrungen geblieben sind, welcher, in den Zeitaltern der Unwissenheit und des Glaubens, ihre Urheber inspirierte und ihre Entstehung beherrschte.

Wenn wir freien Frauen, mitten unter uns, bis in unsere Vorhutreihen unter jenen, welche Kraft ihrer Prinzipien selbst und in ihrem wie in unserem Interesse uns brüderlich die Hand reichen sollten noch so viele Gegner und so viele Gleichgültige finden; wenn wir noch so viele Männer sehen, die die Menschheit auf das Geschlecht beschränken, zu welchem sie zählen wie andere sie auf ihre Farbe, auf ihre Rasse oder auf ihr Vaterland beschränken — und sich weigern, im Manne und im Weibe zwei Wesen von gleichberechtigter Art und von gleicher Wichtigkeit zu sehen, die das gleicht Recht haben auf vollständiges Leben, auf die Freiheit, auf das Glück: so liegt der Grund darin, weil der Atavismus von Kirche und Staat in ihnen noch nicht erstorben ist; weil, ohne ihr Wissen, die Vorurteile ihrer Vorfahren noch auf ihrem Gehirn lasten; weil die theologische Legende, welche die erste Frau zum Urheber aller menschlichen Übel und zum Instrument der Verdammung des Mannes stempelt, noch nicht ihren Einfluß verloren hat, was man auch sagen möge.

Umsonst erhoben sich zu allen Epochen unsterbliche weibliche Glorien am Firmament der Wissenschaft und des Denkens; es war umsonst, daß keine Revolution, kein Schritt des Volkes nach vorwärts, dem Licht und der Freiheit entgegen, gemacht wurde, ohne daß Heldinnen ihm ihr Blut geopfert hätten; umsonst bringt jeder Tag im Familienleben einen neuen Beweis der Weisheit, der Energie, der Intelligenz der Frau: das Weib bleibt in den Augen des durchschnittlichen Mannes die "unreine" und die "untergeordnete" Kreatur, welche alle weiberfeindlichen und versessenen Propheten gebrandmarkt haben.

Der theologische, kirchlich staatliche Atavismus ist stärker als die Vernunft, stärker als die Liebe selbst. Dieser Atavismus ist es, welcher den abscheulichen Kampf zwischen den Geschlechtern unterhält. Der Atavismus ist es, welcher jene, die unsere Brüder, unsere Gefährten und unsere Freunde sein sollten, als Herren uns gegenüber stellt. Der Atavismus der kirchlichen und staatlichen Lehren ist, es, welcher zwischen sie und uns eine Schranke stellt und schuld ist, daß sie leider so oft die Hand zurückweisen, die wir, die nach Freiheit ringenden Frauen, ihnen entgegenstrecken!

Aber wir, die befreiten Frauen, die Kämpferinnen, die Empörerinnen, wir werden diesen verfluchten Atavismus, dieses aus der Vergangenheit fortwirkende rückständige Gefühl, ohne Unterlaß verfolgen. Wir werden ihn von allen Seiten, in allen seinen Formen, in allen seinen Äußerungen ausrotten. Wir werden diesen Atavismus aus dem Gewissen herausreißen, und wir werden darin den neuen Geist der Gerechtigkeit und der Liebe, welcher die Welt neu beleben wird, entstehen und sich erweitern lassen!

Wir werden den Männern sagen, daß sie gesunden Verstand und den Mut, ihn bis ans Ende zu bewahren, haben müssen; daß es nichts nützt, Tempel zu zerstören, wenn ihre aufgehäuften Trümmer den gleichen traurigen und frostigen Schatten um sich werfen; daß es nichts nützt, Götter zu vernichten, wenn die in deren Namen vollführten Unbilligkeiten sie überleben und sich verewigen sollen!

Und dann werden wir unseren Schwestern, unseren armen, unwissenden Schwestern, die klagend und gepeinigt am Fusse der Altäre und in den staatlichen Gesetzeshallen illusorischen Trost suchten, alles sagen, was diese Lehren die sie nur verehren, weil sie sie in ihrem inneren Wesen nicht begreifen — hinter dem perfiden und hübschen Schleier der Symbole verbergen. Wir werden ihre erwachte Frauenwürde unter der Beschimpfung sich aufbäumen lassen; und es werden keine Gebete mehr sein, die von ihren Lippen zu den so entlarvten Götzen emporsteigen!

Und wenn dann ihre Blicke, von den Vorspiegelungen abgelenkt, um sich herum nach neuen Horizonten suchen, werden wir gegenüber der beschimpfenden, Knechtschaft erzeugenden Kirche und dem Staate uns aufrichten an der Sonne, dem freien Gedanken, diesem Pfleger der Gerechtigkeit, aufrichten, weil er Ketten bricht und alle Joche abschüttelt.

Und die nach Freiheit ringenden Frauen werden in langer Reihe, durch den zuerst rauhen Pfad, dessen Ranken im Vorbeigehen ihre Sklavinnen Livre wegreißen werden, welcher aber nach und nach, unter ihren Anstrengungen, sich zu breiter Triumphesstraße erweitere sie werden aufsteigen, leuchtend voll Hoffnung, ihre gebundenen Arme, ihre, von Dornen gepeinigten Stirnen hinhaltend, zur großen, zur einzigen, zur ewigen Befreierin!

Nelly Roussel. Aus "La Pensée" (Brüssel), übersetzt von Robert Rohner.

Aus: "Erkenntnis und Befreiung", 2. Jahrgang, Nr. 49 (1920). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.