Der Kampfruf, Organ der AAU (RBO) - Wir und der deutsche Syndikalismus
I.
In der Nr. 15 des „Kampfruf“ find die Richtlinien veröffentlicht worden, die von einer hierfür gebildeten Kommission aus den Reihen der Berliner Allgemeinen Arbeiter-Union mit Vertretern der Syndikalisten bezüglich einer beide Organisationen umfassenden Aktionsgemeinschaft in einer gemeinsamen Sitzung vereinbart wurden. Wir wissen, daß große Teile unserer Mitglieder – und zwar sind es die besten – einem Zusammenarbeiten mit den Syndikalisten äußerst mißtrauisch gegenüberstehen und Inhalt und Tendenz dieser Richtlinien – als Ganzes betrachtet – für völlig undiskutabel betrachten.
Schon eine oberflächliche Prüfung der für die geplante „Aktionsgemeinschaft“ ausgearbeiteten Leitsätze zeigt, daß von gewisser Seite nicht nur an eine Aktionsgemeinschaft gedacht war, sondern daß unter dem Vorwand einer angeblich von beiden Seiten gewünschten Aktionsgemeinschaft auf eine ideologische Annäherung hingearbeitet werden sollte. Das geht schon aus dem einleitenden Absatz der Richtlinien hervor, wo die merkwürdige Wendung von den „sich ideologisch nahestehenden“ Organisationen bei A.A.U. und F.A.U. gebraucht wird. Wir müssen gestehen, daß uns diese plötzlich entdeckte ideologische Nachbarschaft etwas überraschend kommt. Wir waren bisher der naiven Auffassung, daß die Allgemeine Arbeiter-Union als ein Instrument des Klassenkampfes im Dienste des Kommunismus zu gelten hatte. Wir waren weiter der Auffassung, daß die Freie Arbeiter-Union unter dem Banner des Syndikalismus arbeitet und waren des Glaubens, daß es eher zwischen der Geisteswelt der deutschnationalen „Deutschen Tageszeitung“ und der Hilferdingschen „Freiheit“ eine ideologische Annäherung geben könnte als zwischen Kommunismus und Syndikalismus.
Nun wird uns auf einmal zu unserer größten Überraschung die ideologische Annäherung bereits als Tatsache sozusagen auf den Tisch des Hauses niedergelegt, und es bleibt daher nur die Schlußfolgerung übrig, daß den Vätern jener Richtlinien entweder bis heute noch nicht die unüberbrückbare Kluft, die uns vom Syndikalismus trennt, klar zum Bewußtsein gelangt ist, oder daß sie bewußt auf die Verkleisterung von Gegensätzen grundsätzlicher Natur, die nicht von uns, sondern von der Geschichte selbst gezogen sind, mit vollen Segeln hinsteuern.
Zum Beweis dafür zitieren wir wörtlich aus Nr. 4 der „Richtlinien“ den nachstehenden äußerst charakteristischen oder vom revolutionären Standpunkte aus äußerst charakterlosen Satz: „Bisher ist von den verschiedensten Richtungen in der revolutionären Arbeiterbewegung allzusehr das Trennende in den Vordergrund der Meinungskämpfe gestellt worden, das Einigende aber, das alle revolutionären Richtungen miteinander verbindet, wurde unter dem wütenden Bruderkampf erstickt.“
Man kann nicht gut annehmen, daß die Verfasser dieses Satzes sich nicht über das ABV des proletarischen Klassenkampfes im klaren sein sollten. Sie wissen doch wohl so gut wie wir, daß es in der proletarischen Revolution – in großen Linien betrachtet – nur zwei Fronten gibt: die der revolutionären Proletarier, die für die Diktatur der Arbeiterklasse mit allen Mitteln kämpfen, und die der Konterrevolution, zu der alles gehört, was sich dem proletarisch-revolutionären Kampfe direkt oder indirekt entgegenstellt. Damit diese beiden Fronten für jeden Proletarier in den Umrissen klar und scharf hervortreten und er sich sodann entscheiden kann, auf welcher Seite der Barrikade er mitzukämpfen gedenkt, ist es notwendig, daß man die Scheidemänner und Hilferdinge nicht weniger als die Wortführer der Syndikalisten als das brandmarkt was sie sind: als Lakaien der Konterrevolution, und vor allem ihre Theorien als das charakterisiert, was sie sind: als den Versuch, unter dem Deckmantel der revolutionären Phrase dem proletarischen Klassenkampf die Spitze abzubrechen, den Kampfeswillen der revolutionären Proletarier einzudämmen, die Revolution – die eben wie jede Neugeburt nicht ohne Blutverlust verläuft – ins Uferlose zu vertagen. Mit das schlimmste Betäubungsmittel aber wäre für die deutschen Arbeiter der Syndikalismus, wenn er in bedeutendem Umfang Macht über sie gwänne.
Die Einigungsapostel möchten gern das Einigende, das uns angeblich mit dem Syndikalismus verbindet, in den Vordergrund gestellt wissen. Sie sagen auch gleich, was ihrer Meinung nach das Einigende ist. Nämlich: „Mit der F.A.U. verbindet uns der gleiche Haß gegen die kapitalistische Welt und der brennende Wunsch, die kapitalistische Wirtschaft durch die freie kommunistische Wirtschaft abzulösen.“
Ist das nicht herrlich? Wollen wir nicht beide dasselbe? Völlige Übereinstimmung in den Zielen – was will man mehr? Mit Verlaub, diese völlige Übereinstimmung hat ein Loch. Einmal: der gemeinsame Haß gegen die kapitalistische Welt ist zunächst weiter nichts als gemeinsame Gefühlsverschwommenheit, die sich außerdem auf der negativen Linie bewegt. Mit solcher Gefühlsverschwommenheit kann man in der Revolution nichts anfangen. Wir sind anspruchsvoller. Wir brauchen Klarheit über das Wesen der kapitalistischen Welt, über ihre Gesetze und inneren Widersprüche, über das Verhältnis der kapitalistischen Wirtschaft zu ihrem politischen Machtapparat, dem bürgerlichen Klassenstaate, um daraus unsere Lehre zu ziehen. Wir wissen aber auch nicht, um auf die positive Seite zu kommen, was sich die Väter der Richtlinien unter der „freien kommunistischen Wirtschaft“ vorstellen. Dieser Begriff ist offenbar absichtlich so verschwommen formuliert, damit sich jeder darunter das vorstellen kann, was ihm beliebt. Wer einmal einen Blick in die syndikalistische Literatur geworfen hat, weiß, daß nach deren Theorie der Aufbau der Wirtschaft von Grund aus anders sich gestalten muß als nach wissenschaftlich-marxistischer Erkenntnis, die im Prinzip der Gemeinwirtschaft (Kollektivismus) gipfelt, sowohl was Produktion wie Verwaltung anbelangt, während der Syndikalismus niemals auf eine Gemeinwirtschaft hinarbeiten kann, solange er an dem Grundsatz der Autonomie für jede Produktionsstätte festhält und in der Praxis damit jeden Betrieb so wirtschaften lassen müßte, wie es dessen lokal-individualistischem Interesse angepaßt erscheint.
Das bedeutet niemals kommunistische Wirtschaft, sondern wäre nur der Abklatsch der jetzigen kapitalistischen Ordnung, nur mit dem Unterschiede, daß statt der Konkurrenz der einzelnen Kapitalisten der sogenannte freie Wettbewerb der in einem Betriebe beschäftigten Arbeiter mit den autonom wirtschaftenden Arbeitern anderer Betriebe treten würde. Das ist die bürgerlich-individualistische Ordnung in vermehrter und verschlechterter Auflage.
Der Syndikalismus wie jede Form des utopischen Sozialismus kann nicht anders als zu solchen geistigen Verrenkungen gelangen, weil er eben im utopistichen Sumpfboden wurzelt, d.h. weil er sich ein Bild der zukünftigen Wirtschaft und Gesellschaft in seinem Kopf zurechtgezimmert hat, nach dem er die Wirklichkeit modeln möchte. Er ignoriert die Gesetze der geschichtlichen Dialektik oder richtiger: er leugnet sie, er leugnet die Grundprinzipien der materialistischen Geschichtsauffassung und bleibt so vollkommen im Kielwasser der bürgerlich-idealistischen Geschichtstheorie. Während der historische Materialismus als Grund aller geschichtlichen Veränderungen in letzter Instanz immer wieder ökonomische Faktoren konstatiert und den menschlichen Willen in einer bestimmten Abhängigkeit von den jeweiligen Produktionsbedingungen erblickt, die jener natürlichen auch wieder seinerseits zu beeinflussen vermag, hält der Syndikalismus an der bürgerlich-ethischen Auffassung von der persönlichen Willensfreiheit fest und ist des naiven Glaubens, daß es genüge, zu wollen, um jederzeit und überall das Wesen der bestehenden Gesellschaft zu verändern.
Hier haben wir die Wurzel der syndikalistischen Ideologie und damit aber auch den fundamentalen Gegensatz bloßlegt, der zwischen utopistischem Syndikalismus und wissenschaftlichem Kommunismus besteht. Ebenso groß wie der Gegensatz zwischen Bürgertum und Proletariat ist auch der Gegensatz zwischen bürgerlich-idealistischer und materialistisch-historischer Weltbetrachtung. Daraus ergeben sich dann von selbst die Unterschiede in der Einstellung zum Klassenkampf, zur proletarischen Revolution und den vom revolutionären Proletariat anzuwendenden Kampfmethoden. Das wird in einem späteren Artikel noch eingehend behandelt werden müssen.
II.
Der Syndikalismus stellt sich zwar in der Theorie auf den Boden des Klassenkampfes, aber vom Standpunkt seiner utopistisch-kleinbürgerlichen Gedankenwelt aus steht er den Bedingungen des Klassenkampfes und seinen geschichtlichen Notwendigkeiten völlig verständnislos gegenüber. Er begreift den Wahnsinn und die historische Unhaltbarkeit des kapitalistischen Systems, aber seiner unhistorischen Denkmethode gemäß verneint er auch gleichzeitig die harten Notwendigkeiten des proletarisch-revolutionären Kampfes, die auf die Beseitigung des Kapitalismus abzielen. Er hat sich ein Kulturideal der künftigen sozialistischen Gesellschaftsordnung ausgemalt, wo die Wölfe neben den Lämmern friedlich grasen, und ist des Glaubens, daß auch die Mittel, mit denen um dieses Ideal gekämpft werden soll, ebenso friedlichen Charakter haben müßten. Die Brutalitäten des bürgerlichen Klassenstaates verleiten ihn zu der Schlußfolgerung, daß der Gedanke des Staates überhaupt, also auch des proletarischen Staates, zu den Dingen gehört, die mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden müßten. Der Syndikalismus erstrebt, wie wir, die klassenlose Gesellschaft und folgert – da er das Weltgeschehen mit ethischen anstatt mit historischem Auge betrachtet -, daß der proletarische Staat dasselbe Hindernis für die Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft bedeute wie die bürgerlich-kapitalistische Herrschaftsorganisation. Er leugnet darum die Notwendigkeit der proletarischen Diktatur, weil er im Staate an sich das Übel aller Übel erblickt, ohne zu begreifen, daß das jeweilige Staatssystem von Grund aus seinen Charakter ändert mit den veränderten Produktionsverhältnissen, und ohne zu begreifen, daß die Produktionsverhältnisse im kommunistischen Sinne nur geändert werden können unter der revolutionären Diktatur des Proletariats. Der Syndikalismus wettert mit echt kleinbürgerlich-moralischer Entrüstung gegen die Scheußlichkeiten des proletarischen Staates, ohne jedoch den Weg zu zeigen, der ohne das Mittel der proletarischen Diktatur zum Kommunismus führt. Der Gedanke, daß sich die Diktatur der Arbeiterklasse auch gegen einzelne (konterrevolutionäre!) Teile der Arbeiterschaft richten könnte, ist für den frommen Syndikalisten so beängstigend, daß er nicht begreift, daß die kapitalistische Konterrevolution ihre Armeen eben immer aus proletarischen Elementen rekrutieren wird und daß diese Elemente als Teile der Konterrevolution mit allen Mitteln bekämpft werden müssen.
Der Abscheu vor dem staatlichen Zwangssystem an sich bestimmt demgemäß auch die Methoden des Kampfes. Verneinung des Staates überhaupt heißt Verzicht auf die Eroberung der politischen Macht. Mit dieser Ablehnung der politischen Machtergreifung dünkt sich der Syndikalismus nun wer weiß wie radikal und merkt nicht, wie das Bürgertum sich darüber lustig macht. Der Gedanke, die ökonomische Machtpositionen zu erobern bezw. zu behaupten ohne den Besitz der politischen Macht, ist eigentlich zu naiv, als daß man diesen handgreiflichen Unsinn als Unsinn noch besonders klar machen müßte. Die Geschichte der unter syndikalistischer Leitung im Vorjahr stattgefundenen Betriebsbesetzungen in Italien, hat wohl jedem einsichtigen Proletarier den Beweis erbracht, daß der Besitz der ökonomischen Macht, der Produktionsstätten, eine Illusion ist, solange es der herrschenden Kapitalistenklasse vermöge ihres Staatsapparats möglich ist, den Produktionsprozeß zu unterbinden. Um den Produktionsprozeß zu ermöglichen, genügt es aber nicht, die wichtigsten Fabrikbetriebe in Besitz zu nehmen, sondern es ist immerhin auch notwendig, der Bourgeoisie die Verfügungsgewalt über ihren gesamten Staats- und Verwaltungsapparat zu entreißen, da sie sonst vielleicht auf den Gedanken verfallen könnte, mit Hilfe ihrer bewaffneten weißen Garden die Betriebe zurückzuerobern.
Der Einwurf, daß die Bourgeoisie die Arbeiterschaft nicht mit Gewalt zur Arbeit zwingen kann, ist erstens nur bedingt richtig. Sie hat dieses Kunststück schon mehr als einmal fertiggebracht. Und außerdem lautet der Grundsatz heute im Zeichen des bankrotten Kapitalismus für das Bürgertum: Nicht Aufbau der Wirtschaft, sondern Abbau. Das heißt: das Kapital hat an einer geregelten Produktion nur noch bedingtes Interesse. Gerade im Stadium des bankrotten Kapitalismus tritt die Tatsache immer deutlicher zutage, daß bei der abnehmenden ökonomischen Machtstellung der Bourgeiosie ihre politische Machtstellung immer stärker ausgebaut und täglich gefahrdrohender werden. Das bedeutet, daß der Kampf umd die Produktionsmittel in ungleich höherem Grade als bisher noch einen Kampf um die Staatsgewalt darstellt. Daraus folgt, daß dieser Kampf neben den wirtschaftlichen Kampfmitteln auch die Anwendung von allen politischen, den bewaffneten Aufstand inbegriffen, notwendig macht.
Der Syndikalismus, der den bewaffneten Aufstand grundsätzlich verwirft, leugnet damit die Notwendigkeiten der proletarischen Revolution und landet im Sumpfe des ausgesprochenen bürgerlichen Pazifismus, wie die literarische Mitarbeit einer Helene Stoecker und eines Armin T. Wegener am „Syndikalisten“ wohl unzweideutig genug beweisen.
Aus: Der Kampfruf, Organ der AAU (RBO), Berlin, 2. Jg. Nr. 2 / 1921 und Nr. 3 / 1921
Aus: Barrikade. Streitschrift für Anarchosyndikalismus, Unionismus und revolutionären Syndikalismus Nr. 3