Clara und Paul Thalmann - Im spanischen Bürgerkrieg
Von der Schwierigkeit, nach Spanien zu reisen
Anfang Juli 1936 tippelte Clara mit einem Freund nach Barcelona. Sie wollte als Schwimmerin an der «Spartakiade» teilnehmen, einem Gegenstück zur bürgerlichen Olympiade in Nazi-Berlin. In den Jahren 1932 bis 1934 hatten wir ganz Südspanien von Barcelona bis nach Las Lineas und Gibraltar und anschließend das spanisch-marokkanische Rifgebiet durchwandert. Land und Leute waren uns nicht fremd, wir hatten das spanische Volk kennen und lieben gelernt und von der unendlichen Armut der spanischen Bauern und Tagelöhner in den kleinen Dörfern Andalusiens und Kastiliens unauslöschliche Eindrücke empfangen.
In der Nacht vom 17. auf den 18. Juli sollte die «Spartakiade» in Barcelona eröffnet werden. Die spanischen Generäle begannen ihren Putsch gegen die Republik. Die Nachrichten überstürzten sich. Die spanischen Arbeiter und Bauern, die Republikaner, setzten dem Coup hartnäckigen Widerstand entgegen; große Teile der Iberischen Halbinsel, die Hauptstadt Madrid, die Städte Valencia und Malaga, ganz Katalonien, weite Gebiete Nordspaniens und das Baskenland blieben in den Händen der legalen republikanischen Regierung. Mittelspanien sowie die südspanischen Städte Sevilla, Granada und Córdoba gehörten nach hartem Kampf zum Bereich der meuternden Generäle, und Spanisch-Marokko, von wo der Putsch seinen Ausgang nahm, stand völlig unter ihrer Fuchtel. Mit Unterstützung der spanischen Fremdenlegion und der «Moros», den marokkanischen Truppen, marschierten die Aufständischen gegen die spanische Hauptstadt. Aus den verwirrenden Nachrichten schälte sich nur eine Gewißheit heraus: In Spanien begann ein blutiger Bürgerkrieg, dessen Ausgang nicht abzusehen war. Was tun? Von Clara und unserem Freund fehlte jede Kunde. Waren sie noch vor dem Putsch nach Spanien gekommen? Konnte man dem Freiheitskampf aus der Ferne tatenlos zusehen? Zwei Tage wartete und zögerte ich, dann quittierte ich meine Arbeit auf dem Bau, löste eine Karte nach Cerbere und fuhr nach Spanien.
Im Bahnhof von Toulouse wehte mir der Gluthauch der Ereignisse entgegen. Hunderte von Spaniern drängten sich ungestüm in den Zug, sangen Lieder ihrer Heimat, schwangen rote und schwarz-rote Fahnen und die Farben der Republik. Vor dem großen Tunnel nach Cerbere standen französische Mobilgarden, alles mußte aussteigen und den Tunnel zu Fuß durchqueren. Die spanische Grenze war von Arbeitern und Bauern besetzt, die, mit alten Jagdflinten bewehrt, Revolver am Gürtel, eine strenge Kontrolle ausübten. Für spanische Bürger gab es keine Schwierigkeiten, die meisten konnten sich mit einem Mitgliedsbuch einer spanischen Organisation ausweisen. Für Ausländer wurde es problematischer. Nach stundenlangem Herumstehen kam ich mit einem jungen Franzosen, der sich zu mir gesellt hatte, an die Reihe. Die Grenzkontrolleure sahen unsere Papiere kaum an. Konnten sie lesen? Mit meinen wenigen spanischen Brocken versuchte ich zu erklären, daß ich am Kampf gegen die aufständischen Generäle teilnehmen wolle. Sie blieben mißtrauisch. Aus ihren Unterhaltungen hörte ich heraus, daß sie keine «Marxistas» ins Land lassen wollten. Wir hatten es mit katalanischen Anarchisten zu tun, deren Abneigung gegen alles, was nach Marxismus roch, mir nur zu gut bekannt war. Mit dem Franzosen zusammen quälte ich mich stundenlang mit den braven Männern ab; sie gaben nicht nach und verweigerten uns hartnäckig die Einreise.
Gegen Abend zogen wir durch den Tunnel zurück. Gemeinsam mit dem Franzosen versuchte ich in der Nacht, durch die bewaldeten Höhen über die Grenze zu schleichen. Es war ein aussichtsloses Unterfangen, wir kannten uns nicht aus, verirrten uns hoffnungslos im Wald, irgendwo wurde dauernd geschossen; wir gaben auf. Erschöpft, hungrig, enttäuscht traten wir den Rückweg nach Toulouse an. Dort hoffte ich, mit Hilfe des Schweizer Konsulats nach Hause fahren zu können. Auf einen zweiten Versuch wollte ich mich besser vorbereiten! Mein Gefährte erwischte bald einen Landsmann, der ihn in seinem Wagen mitnahm. Zwei Stunden später glückte es mir ebenfalls, und am Abend kam ich in Toulouse an. In einem Postbüro fischte ich mir die Adresse des schweizerischen konsularischen Vertreters heraus und marschierte stracks hin. Pech. Es war Samstag, das Büro geschlossen, bis Montag hieß es warten. Bis zur Dunkelheit trieb ich mich in der Stadt herum und legte mich dann vor einer Kirche im Gebüsch aufs Ohr. Ein Tritt in den Hintern weckte mich unsanft auf. Vor mir standen zwei französische Polizisten und verlangten meine Papiere. Sie schleppten mich auf ein Kommissariat, dort durfte ich in einer Zelle weiterschlafen. Am Morgen mußte ich dem Kommissar meine Situation erklären. «Na ja», sagte er schließlich zu seinen Untergebenen, «der Mann ist in Ordnung, am Montag wird ihm sein Konsul weiterhelfen, es hat keinen Sinn, ihn in eine verlauste Zelle zu stecken. Lassen wir ihn laufen.»
Draußen war ich, verflogen der Traum von einem warmen Kaffee und einem Stück Brot.
Hungrig und ohne Zigaretten, trieb ich mich den ganzen endlosen Sonntag an den Ufern der Garonne herum. Nach einer langen Nacht erschien ich Montagfrüh als erster und einziger Kunde auf der schweizerischen Vertretung, einem kleinen Büro mit einem einzigen Schalter und Beamten. Freundlich war der Herr nicht. Da ich meinen Hunger eingestand, gab er mir Eßcoupons für eine Volksküche. «Und meine Rückreise?» fragte ich.
«Gehen Sie zurück, wie Sie gekommen sind, Geld geben wir prinzipiell nicht.» Erst ging ich mal essen, mit vollem Bauch läßt sich besser verhandeln. Am Nachmittag rückte ich dem Herrn wieder auf die Bude. «Na, was wollen Sie denn noch?» erkundigte er sich leutselig. «Ein Rückreisebillet nach Genf, von dort helfe ich mir selbst weiter.» «Wir haben kein Geld für Touristen, die sich in fremde Händel einmischen», erwiderte er trocken.
«Ich werde mein Billet zurückbezahlen», versicherte ich. Er lachte hämisch: «Das sagen sie alle, hab' aber noch nie was davon gesehen.»
Energisch ließ er das Schalterfenster niederrasseln. Da stand ich. Von Toulouse nach Genf ist kein Katzensprung. Ich blieb sitzen. Klopfte wieder an seine Scheibe. Hartnäckig. Mit bösem Blick öffnete er abermals.
«Und wenn ich Ihnen meine Armbanduhr als Pfand da lasse?» Er wurde schwankend, wollte endlich den unbequemen Gast loswerden. Ich hinterlegte meine Uhr und erhielt eine Fahrkarte nach Genf. Von Genf kam ich mit Hilfe von Freunden rasch nach Basel. Stolzer Spanienfahrer war ich nicht.
Zu Hause fand ich eine Karte von Clara aus Barcelona vor: Ich solle sofort nachkommen! Dazu war ich mehr denn je entschlossen.
In der Basler «Arbeiterzeitung» erschien eben ein Bericht von Chefredakteur Schneider über Spanien, der mir allerlei Aufschlüsse gab. Schneider war als Mitglied des Organisationskomitees für die «Spartakiade» nach Barcelona gefahren, mußte aber trotz all seiner Papiere als Nationalrat, Redakteur und Mitglied des Spartakiadekomitees an der Grenze die gleichen Erfahrungen machen wie ich. Ausführlich schilderte Schneider, wie er wütend an der Grenze herumirrte, erbittert, daß ihn nur wenige, aber offenbar unüberwindliche Bahnstunden von den geschichtlichen Ereignissen trennten. Plötzlich stieß er an der Grenze auf Clara.
«Was treiben Sie denn hier?» fragte er sie erstaunt. «Ich gehe nach Barcelona in die Milizarmee, ich warte nur noch auf eine Mitfahrmöglichkeit«, gab sie ihm zur Antwort. «Wie zum Teufel stellen Sie denn das an, über die Grenze zu kommen, mich weisen diese verrückten Anarchisten doch dauernd zurück!» Clara lachte und versprach, ihm zu helfen. Sie war mit den anarchistischen Grenzwachen schon gut bekannt, diskutierte und scherzte mit ihnen. Als «rubia», die Blonde, sah man sie überall gern, die Männer waren sehr beeindruckt von ihrem Entschluß, zur Miliz zu stoßen. Aber wie nach Barcelona kommen? Die Bahn verkehrte nicht mehr, es gab keine Autos. Doch Clara lag auf der Lauer. Da wurde an der Grenze ein französischer Automobilist zurückgehalten. Der Mann war verzweifelt, seine Frau und zwei Kinder weilten in Barcelona in den Ferien, er wollte sie aus dem Hexenkessel herausholen. Clara mischte sich ein. Sie versprach dem Franzosen den Grenzübertritt, sofern er bereit sei, drei Personen mitzunehmen. Der Handel wurde sofort akzeptiert, rasch überredete Clara die Grenzwachen - und gondelte stolz mit Armin und Friedrich Schneider in dem französischen Wagen nach der katalanischen Metropole ... Auf diesen Bericht hin ging ich sofort in die Redaktion zu Friedrich Schneider.
«Holen Sie Ihre Frau zurück, es ist heller Wahnsinn, in die Miliz einzutreten. An Mut fehlt es ihr nicht, ich werde nie im Leben vergessen, wie sie mich nach Barcelona brachte. War ein ganz tolles Abenteuer.» Ich lachte und schlug ihm vor: «Mit Ihrer Hilfe will ich versuchen, sie zu erreichen. Geben Sie mir einen Ausweis als Korrespondent der ‹Arbeiterzeitung›, damit ich nach Spanien hineinkomme.» Er tat mehr. Zwei Tage später fuhr ich als Berichterstatter der INSA, der schweizerischen sozialistischen Presseagentur, zum zweitenmal Richtung Cerbere. Diesmal in Begleitung von Hans Wirz, einem Freund, der für die Basler «Nationalzeitung» einen Auftrag hatte. Mit klopfendem Herzen ging es wieder durch den schwarzen Tunnel an die Grenze. Ein amerikanischer Journalist der Hearstpresse hatte sich uns angeschlossen. Händereibend malte er uns die Stories aus, die er seiner Agentur kabeln würde. Noch war es nicht soweit. Unsere Korrespondenten-Papiere erweckten nicht den geringsten Eindruck, fast achtlos schob man sie uns zurück. Wir verlangten einen Übersetzer oder Lesekundigen. Schließlich kam jemand und prüfte unsere Dokumente sorgfältig. Daraufhin entspann sich unter den Männern eine lebhafte Diskussion, aus der wir immer wieder die Worte «Marxistas», «Periodistas» heraushörten. Die Leute lehnten uns ab, kategorisch. Weder von Marxisten noch von Journalisten wollten sie etwas wissen. Es war zum Verzweifeln. Da hatten wir nun unsere prächtigen Ausweise präsentiert - doch die Anarchisten zuckten nur desinteressiert die Achseln, für sie waren das wertlose Papierfetzen. Wütend über schüttete der Amerikaner die Leute, die ihn verständnislos angafften, mit einem englischen Redeschwall.
Unverhofft kam die Wendung. Mein Freund Hans hatte zufällig den Reisebericht von Friedrich Schneider in der «Arbeiterzeitung» mitgenommen; darin waren einige Stempel der anarchistischen Grenzkontrolle abgedruckt. Wir hielten ihnen die deutlich lesbaren Initialen der CNT und der FAI vor die Nase. Ah, das verstanden sie, kannten sie alle. Die Zeitung machte die Runde, mit kindlicher Freude wurden die anarchistischen Zeichen immer wieder bestaunt. Das Eis war gebrochen. Ihre Gesichter wurden freundlicher, sie klopften uns auf die Schultern, als Freunde der «rubia» wollten sie uns passieren lassen. Wir wurden mit Wein traktiert, mit Sardinen und Tomaten versorgt. Noch zwei Stunden mußten wir uns gedulden, bis sie uns in einem halb zerschossenen Lastwagen, der mit Milizionären nach Barcelona fuhr, Platz verschafften. Der Hearstkorrespondent hatte sich wie ein Schoßhündchen an uns gehängt und von der ganzen Prozedur nichts mitgekriegt. Nun stieg er strahlend mit uns ein.
Barcelona 1936
Wilde Fahrt durch Katalonien. Unsere Milizionäre sangen begeistert ihre Kampflieder. Am Straßenrand lagen ausgebrannte Autos und Lastwagen. Vor jedem Dorfeingang und Ausgang versperrten, von Bauern bewacht, Barrikaden den Weg. Erst nach Kontrolle der Papiere durften wir weiterfahren.
Im Hafen von Barcelona wurden wir sofort ins Propagandaministerium geführt. Von Jaime Miratvitles, einem Vertreter der katalanischen Links-Republikaner, erhielten wir Ausweise zum Besuch der Front.
In der Stadt waren die Spuren der schweren Kämpfe überall sichtbar: zerschossene Häuser, verbrannte Autos, aufgerissene Straßen. Aus vielen Fenstern der Wohnhäuser hingen weiße Tücher - Zeichen der Ergebenheit, der Waffenruhe oder der Loyalität? Ich kannte Barcelona von meinem früheren Besuch her und steuerte schnurstracks die Rambla de las Flores an, die zu Barcelonas Hauptstraße gehört. Wenn irgendwo, mußte ich da meine Clara treffen. An der Kolumbussäule, dem Eingang zur großen Verkehrsader, empfing uns ein Höllenbetrieb. Eine dichte Menschenmenge drängte sich auf der Straße, die Uniformen der Miliz (einfacher blauer Overall, buntfarbene Mütze) überwogen. An den Farben der Fahnen, der Mützen oder Armbinden erkannte man die Richtung. Schwarz-Rot, die Farbe der Anarchisten, dominierte bei weitem. Lastwagen und Privatautos, mit bis an die Zähne bewaffneten Milizionären besetzt, durchrasten die Straßen in waghalsigem Tempo. Vor Partei- und Gewerkschaftshäusern formierten sich militärische Einheiten mit primitiver Bewaffnung zum Abmarsch an die Front. Jede abrückende Abteilung wurde vom Publikum begeistert gefeiert.
Aus einem Halbdutzend Lautsprechern dröhnten Gesänge, Ansprachen und Nachrichten in die Luft. Alles sah schrecklich martialisch und doch irgendwie gemütlich aus. Ziellos schlenderten Hans und ich auf der Rambla umher und schauten uns den Betrieb an. Plötzlich erblickten wir dicht vor uns Clara. Im blauen Overall, das Gewehr umgehängt, stand sie mitten in einer Gruppe diskutierender Männer.
«Endlich bist du da, ich habe dir schon ein Interview mit Andre Nin organisiert. Du mußt noch heute zu ihm, denn morgen fahre ich mit Armin und unserer Gruppe an die Front.»
«Nur langsam, wir kommen ja eben an, wissen noch nicht, wo wir schlafen, essen, wohin wir an die Front fahren.»
«Ach was, das ist schon alles geregelt, ich war überzeugt, daß du kommst. Ihr schlaft im Hotel Falcon. Die POUM hat das Hotel besetzt und als Unterkunft für ausländische befreundete Organisationen, für Journalisten und Parteivertreter eingerichtet. Jetzt gehen wir gleich zu Nin, ich hab ihn vorbereitet und kann zu ihm, wann ich will.»
Andre Nin war einer der Führer der POUM. Als jahrelanger Mitarbeiter der Roten Gewerkschaftsinternationale hatte er einige Jahre in Moskau geweilt. Er kannte die Männer der bolschewistischen Partei und der Kommunistischen Internationale ausgezeichnet. Mit Trotzki hatten ihn freundschaftliche und politische Bande verbunden; sie brachen, als Nin in Spanien die trotzkistische Gruppe auflöste und gemeinsam mit Joachim Maurin und Juan Andrade die POUM gründete. In Moskau hatte ich Nin öfters gesehen, aber keinen Kontakt mit ihm gehabt.
Das politische Hauptquartier der POUM befand sich direkt gegenüber dem Hotel Falcon in einem ehemaligen Theater. Nun stand er vor mir im weiten Saal, in dem noch Theaterrequisiten herumlagen, ein halbes Dutzend Schreibmaschinen klapperten. Dauernd stürmten Milizionäre herein und hinaus. Auch Nin trug die einfache Uniform der Miliz, am Gürtel den Revolver umgeschnallt. Seine pechschwarzen Haare, straff zurückgekämmt, kontrastierten mit seinem bleichen, etwas eingefallenen Gesicht. Nin schien übernächtigt, müde und nervös. Es war ihm anzumerken, daß er zu Interviews wenig Lust verspürte, aber dank Claras intensiver Vorarbeit konnte er sich dem gegebenen Versprechen nicht entziehen. Claras Optimismus und Tatendrang hatten ihn beeindruckt. Nun gab er uns einen knappen Situationsüberblick.
«Zunächst, wir haben Krieg. Es wird ein richtiger langer Krieg werden. Wir sind schlecht organisiert, unser Volk weiß nicht, was Krieg ist. Im Vordergrund stehen der Aufbau einer Armee und die Versorgung der Front. Die Regierung in Madrid ist unfähig, sie wird bald abtreten müssen. Hier in Katalonien hat der Krieg einen absolut revolutionären Einschlag. Praktisch ist die katalanische Regierung unter Luis Companys eine Schattenregierung, eine Fassade. Die wirkliche Macht liegt in den Händen des zentralen antifaschistischen Milizkomitees. In ihm sind die CNT, die FAI (die gewerkschaftliche und politische Organisation der Anarchisten), die UGT und die POUM je mit drei Mitgliedern vertreten, die PSUC und die katalanischen Republikaner mit je einem Mitglied. Diese Vertretung entspricht keineswegs den tatsächlichen Verhältnissen. Die Anarchisten müßten entsprechend ihrer Stärke im Komitee die absolute Majorität besitzen; sie verzichten aber darauf, weil sie genau wissen, daß sie über eine sichere Mehrheit im Volk verfügen, und weil sie getreu ihrer Theorie den politischen Machtmitteln keine Bedeutung zumessen. Dieses Komitee ist unsere „Räteregierung“. Sie unterscheidet sich aber von allen historischen Vorbildern, da die Anarchisten bekanntlich keine „Politik“ betreiben wollen und gegen den Staat in jeder Form sind. Gelingt es uns, die anarchistischen Massen zu überzeugen und nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die politische Macht zu übernehmen, kommen wir ein gutes Stück weiter. Das wird nicht leicht sein, die anarchistische Tradition ist in Spanien verwurzelt und die russische Politik mit ihren autoritären Allüren behindert diesen Annäherungsprozeß. In den übrigen Provinzen Spaniens ist die Lage anders. In Madrid sind die Sozialisten ausschlaggebend, POUM und Anarchisten schwächer. Im Baskenland werden die Probleme wie bei uns in Katalonien durch die Nationalitätenfrage kompliziert. Auf keinen Fall werden wir in eine künftige Volksfrontregierung eintreten. Die revolutionären Errungenschaften in Katalonien, nämlich die Enteignung der herrschenden Klasse, die Übernahme der Wirtschaft durch die Gewerkschaften, die Kollektivierung des Landes, die Arbeitermiliz und die katalanische Autonomie, sind nicht mehr rückgängig zu machen. Wir bemühen uns, die Entwicklung in Katalonien so zu gestalten, daß sie für das ganze Land richtungweisend wird. Jetzt müssen wir vor allem den Krieg gegen Franco gewinnen. Die beginnenden Einmischungen von Italien und Deutschland in unseren Konflikt können unabsehbare internationale Konsequenzen haben. Im Prinzip ist unser Kampf nur durch revolutionäre Maßnahmen ohne Kompromisse und Zweideutigkeiten zu gewinnen.» Dieser Darstellung hatten wir, die wir erst ein paar Stunden in Barcelona weilten, nichts hinzuzufügen.
Clara führte uns ins Hotel Falcon. Dort schwirrte ein Schwarm von Journalisten, Politikern, Emigranten aus aller Welt herum, gaben sich sämtliche sozialistischen und kommunistischen Oppositionsgruppen ein Stelldichein. Die SAP, vertreten durch Max Diamant und Willy Brandt, Funktionäre der KPO - Richtung Brandler, Rätekommunisten aus Holland, Trotzkisten aus Amerika, Frankreich, England, Südamerika, italienische Maximalisten, deutsche Anarcho-Syndikalisten, der Jüdische Bund, sie waren alle da. Als einzige bildeten die italienischen Maximalisten und die SAP eigene militärische Einheiten, die sich der POUM-Miliz eingliederten. Viele dieser Emigranten hatten im Weltkrieg als Soldaten gedient, besaßen militärische Erfahrung, brannten in echter Begeisterung darauf, der spanischen Revolution politisch und militärisch beizustehen. Die Leiter der POUM hatten weder Zeit noch Lust, an den Diskussionen und Fraktionsintrigen dieser Gruppen teilzunehmen. Deshalb bestellten sie den Österreicher Kurt Landau, den Leiter der Gruppe «Funke», zum Koordinator und Ratgeber, der die brauchbaren Kräfte dieser Freiwilligen sammeln und organisieren sowie die internationalen Beziehungen ausbauen sollte. Im Hotel Falcon trafen wir den Österreicher Franz Borkenau, einst Leiter des roten Studentenbundes in Deutschland. Nervös, dauernd in Debatten über die Perspektiven des Konfliktes verstrickt, ständig auf der Jagd nach Informationen, schrieb er für englische Zeitungen. Er verfaßte eines der ersten und besten Bücher über den Bürgerkrieg, das unter dem Titel «Spanish Cockpit» erschien. (Erst nach dem Zweiten Weltkrieg lernten wir Franz Borkenau näher kennen und befreundeten uns mit ihm. Er war ein anerkannter Soziologe. Von seinem politischen Temperament ließ er sich dazu hinreißen, sich speziell mit russischen Fragen zu beschäftigen - leider, denn seine Abscheu vor der inhumanen Politik in Rußland trieb ihn oft zu antikommunistischen Positionen und zu einigen Fehlleistungen. Trotzdem sind seine Bücher über den europäischen Kommunismus heute noch lesenswert. Bei Ausbruch des Koreakrieges setzte er sich und seine Familie, da er überzeugt war, ein weltweiter Konflikt stehe bevor, aus Berlin nach Paris ab. Die Familie logierte einige Monate bei uns. Sein früher Tod war ein Verlust für die soziologische Wissenschaft. Er hinterließ einige unvollständige Manuskripte über die Rolandsage, die Geschichte und die Kunst der französischen Kathedralen.)
In dem jungen rumänischen Arzt Felix Ippen, den wir aus seiner Basler Studienzeit kannten und der sich der SAP anschloß, verbarg sich unter physischer Trägheit eine lebendige Intelligenz; Ippen ist später als Arzt der Internationalen Brigaden in der Schlacht von Brunete gefallen.
Alle diese Ausländer schliefen in einem großen Saal auf Strohsäcken. Schon in der ersten Nacht brachte uns ein donnerndes Schnarchen um den Schlaf. Der Ruhestörer wurde aufgespürt, wir verschlossen ihm den Mund mit Klebestreifen, ohne daß er erwachte. Wie wir am Morgen lachend feststellten, handelte es sich um den amerikanischen Trotzkisten Mark Sharron, der später in Mexiko zur Leibgarde Trotzkis gehörte.
Am dritten Tag unseres Aufenthalts in Barcelona wohnten Hans und ich dem Abmarsch der Gruppe bei, mit der Clara an die Front zog. Stolz marschierte sie in den Reihen der Männer mit und winkte uns fröhlich zu. Sie rückten in ihre Kaserne ein, von wo sie mit Lastwagen an die Front fuhren.
Mit der Verpflegung hatten wir Ausländer in den ersten zwei Wochen keine Schwierigkeiten. Einige Tage lang durfte die gesamte Bevölkerung in den Restaurants und Hotels gratis essen und trinken. Alle diese Betriebe waren kollektiviert und standen unter Leitung der Gewerkschaften. Später konnten sich die Korrespondenten einfach in den Milizkantinen verköstigen; es gab noch keinen Schwarzmarkt, und mit Geld war kein Essen zu kaufen. Bargeld übrigens spielte auch später an der aragonesischen Front, in Madrid, auf all unseren Frontfahrten eine untergeordnete Rolle. Wir wurden stets von der Miliz verpflegt und sogar mit Tabak und Zigaretten versorgt. In der zweiten Woche unseres Aufenthaltes in der katalanischen Hauptstadt fand der Prozeß gegen die beim Militärputsch gefangenen Generäle und Offiziere statt. Die Verhandlung war öffentlich. Andre Nin, der im zentralen Milizkomitee der Justizabteilung vorstand, leitete souverän die Verhandlungen. Hauptangeklagter war General Godet, Militärkommandant von Barcelona, der sich dem Putschisten Franco angeschlossen hatte. Angeklagte und Verteidiger kamen trotz der dauernden stürmischen Unterbrechungen durch das zahlreiche Publikum ausgiebig zu Wort. General Godet wurde zum Tode verurteilt, eine Anzahl höherer Offiziere erhielt Freiheitsstrafen, ein erheblicher Teil der unteren Chargen kam mit Freisprüchen davon. Beim Verlesen der Urteile gab es dramatische Szenen, da Verwandte der Verurteilten und Freigesprochenen im Saal anwesend waren.
Wenige Tage später begann in Moskau der große Schauprozeß gegen Sinowjew und Kamenew ...
Feuertaufe am Monte Aragon
Durch Vermittlung von Andre Nin konnten wir an die Front von Huesca fahren. Bei Morgengrauen starteten wir; in unserem Wagen saß neben dem Chauffeur ein Mitglied der POUM. Die rötlichen Hügel Aragoniens gleißten in der aufsteigenden Sonne. Unser Mitfahrer war voll Begeisterung und fest überzeugt, die POUM werde in den kommenden Ereignissen eine größere Rolle spielen. Sein einfacher Gedankengang: Nur unsere Partei verfügt über ein ähnliches politisches Dreigestirn wie es die bolschewistische Partei in Lenin, Trotzki, Bucharin besaß. Ihnen entsprachen für die POUM Joachim Maurin, der Organisator, Andre Nin, der politische Führer, und Juan Andrade, der Theoretiker. (Über das Schicksal Maurins, des eigentlichen Begründers der POUM, allerdings herrschte damals Ungewißheit. Er war beim Ausbruch des Bürgerkrieges auf einer Propagandafahrt in MittelSpanien vom republikanischen Landesteil abgeschnitten worden. Nun zirkulierten zahlreiche Gerüchte - einmal hieß es, er organisiere in Francos Hinterland Partisanengruppen, dann wieder hörte man, er sitze im Gefängnis von Burgos. Erst nach Kriegsende wurde bekannt, daß Maurin tatsächlich den ganzen Krieg in besagtem Gefängnis verbracht hatte.) Auf diese vereinfachten Thesen war — zumal bei unseren geringen sprachlichen Verständnismöglichkeiten - schwer etwas zu erwidern. So hörten wir denn schweigend zu. Die zwei Männer lieferten uns in Barbastro, einem Hauptquartier der Anarchisten, ab. Dort wurden wir erneut verladen und erreichten nach einigen Stunden ein kleines Dorf, wo uns Capitan Medrano empfing, ein Artillerieoffizier der regulären Armee. Seiner Einheit wurden wir als Berichterstatter zugeteilt. Medrano, ein junger, schlanker Mann in den Dreißigern, begrüßte uns mit der gewohnten spanischen Grandezza. Um seine Schultern wallte ein Mantel, unter der Nase guckte keck ein Menjoubärtchen hervor. Trotz seiner Höflichkeit fühlten wir, daß wir nicht sehr willkommen waren. Medrano wußte einfach nichts mit uns anzufangen. Er übergab uns einem Unteroffizier, mit dessen Gruppe wir die Kampagne erleben sollten. Medranos Streitmacht bestand aus einer leichten Artillerieabteilung, verstärkt durch eine Kompanie Infanterie und eine Abteilung der Guardia de Asalto, einer Schutztruppe zur Verteidigung der Republik. Zwei «Panzerwagen», in Wirklichkeit mit dickem Blech bestückte Lastwagen, unterstützten die Abteilung. Von den Offizieren abgesehen, waren Artilleristen wie Infanteristen ungediente Arbeiter aus Barcelona und Umgebung. Politisch gehörten sie zur syndikalistischen Richtung von Angel Pestana, einer anarcho-syndikalistischen Abzweigung. Gruppenführer unserer Einheit war der dicke Lopez, ein rundlicher, gemütlicher Knabe, eher für ein Komiker-Kabarett geschaffen als für den Kriegsschauplatz. Lopez besaß aber organisatorisches Talent, verstand es ausgezeichnet, mit Witz und Geschrei seine Leute zusammenzuhalten. Die zwölf Mann der Gruppe - mit Hans und mir war das Dutzend voll - logierten im Landhaus eines geflohenen Gutsbesitzers. Der Weinkeller war reichhaltig, zu jedem Essen gab es einen guten Roten und Weißen. Wir freundeten uns mit den Männern rasch an, Gebärden und Gesten überbrückten die Sprachlücken.
Am dritten Abend flüsterte sich das Gerücht herum, in der Nacht werde eine Aktion gestartet. Geheimnisvolle Vorbereitungen begannen. Um zwei Uhr morgens gab es Alarm. Die ganze Formation bestieg ein Dutzend Lastwagen, auf die bereits einige Feldgeschütze verladen worden waren. Alles vollzog sich schweigsam. Medrano tauchte hie und da in seinem schwarzen Mantel wie ein Nachtgespenst auf. An der Spitze fuhren die zwei «Panzerwagen», den Schluß bildeten einige Autos mit Medrano und seinen Offizieren.
In der Frühe parkten wir auf einer bewaldeten Hügelkuppe. Man brachte die sechs Geschütze in Stellung, schleppte Munition in die Nähe, traf alle Vorbereitungen zum Feuern. Gegenüber, auf einer etwas höher gelegenen Bergspitze, zeichneten sich in der Morgendämmerung die Umrisse der Bergfestung Aragon ab. Die Entfernung mochte sieben bis acht Kilometer Luftlinie betragen. Im Schutze unseres Hügels stellten sich unsere Infanterie und die Guardia Asalto zum Vormarsch auf. Die beiden «Panzerwagen» sollten den Angriff vortragen. Um fünf Uhr ging die Infanterie hinter den beiden plattenbewehrten Ungetümen im Gelände vor.
Hans und ich hatten uns ganz vorne am Hügelrand bei Capitán Iglesias, der das Scherenfernrohr bediente, eingenistet. Von unserem Standort aus konnten wir das Vorrücken der Infanterie gut beobachten. Sie arbeitete sich vorsichtig hinter den zwei blechernen Lastwagen vor, jede noch so geringe Deckung durch die Olivenbäume ausnutzend. Punkt sechs Uhr gab Medrano das Feuerzeichen, und nacheinander donnerten die Geschütze los. Mit bloßem Auge konnten wir die Einschläge feststellen, die Kanoniere zielten viel zu kurz. Salve auf Salve krachte. Capitán Iglesias dirigierte am Scherenfernrohr das Feuer. Nach zehn Minuten saßen die Schüsse besser, einige mußten mitten ins Ziel getroffen haben. Von Zeit zu Zeit ließ uns Iglesias durch das Fernrohr schauen. Von vorne ertönte Gefechtslärm, die Infanterie hatte Feindberührung. Ein plötzliches Sausen in der Luft schreckte uns auf - der Gegner vom Monte Aragon antwortete. Seine Schüsse gingen erst viel zu weit, doch bald hatte sich die feindliche Artillerie von ihrer höheren Stellung aus eingeschossen und faßte unsere Batterie. Zwei oder drei Granaten platzten dicht in der Nähe unserer Geschütze, die Bedienungsmannschaft wurde unruhig. Capitán Iglesias, sehr nervös, verließ öfters sein Fernrohr. Als die Einschläge präziser wurden, einige Artilleristen Splitter abkriegten, brach Panik aus. Die Kanoniere waren nicht mehr zu halten, Medrano mußte den Rückzugs befehl geben. In wilder Hast wurden die Geschütze zurückgerollt und wieder auf die Lastwagen verladen. Hans und ich blieben verwaist beim Scherenfernrohr zurück, abwechselnd das Terrain beobachtend. Unsere Infanterie befand sich auf dem Rückzug. Wir warteten auf die Wiederkehr von Capitán Iglesias - vergeblich, er ließ sein Instrument im Stich. Die Panik steckte auch uns an; das Gefühl, allein im Gebüsch zu sitzen und die ganze Kolonne abfahren zu sehen, war unangenehm. Kurzerhand packten wir das Scherenfernrohr trotz der sich mehrenden Einschläge zusammen, rannten damit zum Wagenpark und konnten gerade noch rechtzeitig auf die anfahrenden Wagen aufspringen. Im ersten Dorf hinter der Hügelkuppe hielten wir an. Medrano versammelte alle Offiziere in einem Bauernhaus zur Beratung, an der wir beide teilnahmen. Er hatte sich beim Laufen einen Fuß verstaucht, den ließ er sich während der Beratung von seinem Adjutanten massieren. Die Aktion hatte Artillerie und Infanterie einige Leichtverletzte gekostet. Die Infanterieoffiziere behaupteten, ein weiteres Vordringen sei unmöglich gewesen, die Truppe sei auf mehrere starke Maschinengewehrnester gestoßen. Der ausgedehnte Kriegsrat erbrachte keine weiteren Erkenntnisse, und nach einem ausgiebigen Mittagessen zog sich die ganze Mannschaft zum obligaten Mittagsschläfchen bis vier Uhr zurück. Besonders aufregend war unsere Feuertaufe nicht ausgefallen.
Bei den Anarchisten in La Zaida und Gelsa
Wir langweilten uns in dem Nest zu Tode. Dauernd hinter der Weinflasche und dem Kochtopf zu sitzen, war ja ganz angenehm, doch wenig interessant. Von den anderen Fronten kamen Nachrichten über harte Kämpfe, die Gerüchte über eine Regierungsumbildung in Madrid wurden deutlicher. Wir beschlossen, nach Barcelona zurückzugehen. Ich wollte Clara von der Front wegholen und mit ihr zusammen nach Madrid fahren. Dort waren, alles wies darauf hin, bald wichtige politische und militärische Ereignisse zu erwarten. Aber ich hatte noch einen besonderen Grund. Ich wußte aus Erfahrung, was es bedeutet, eine blonde Frau zu haben, vorausgesetzt, daß die Blondheit echt ist. Auf echte Blondinen sind die spanischen Männer wild. Oft hatten wir, weil Clara eine «Rubia» war, die Bahn gratis benützen können, alle Türen zu den höchsten Amtsstellen hatten sich vor ihr ohne Ausnahme geöffnet. Ihre Zivilcourage, ihr Sinn für tägliche Realitäten, gepaart mit einer oft berückenden Naivität, ihre Verachtung aller offiziellen Autoritäten waren unersetzliche Hilfsmittel. Franz Borkenau drückte das später während der Belagerung von Madrid mit den Worten aus: «Sie wissen ja nicht, was für Gold Sie in Händen haben, mit dieser Frau ist alles möglich.» Ich wußte es nur zu gut.
In Barcelona fand ich nach etlichen Mühen die Verpflegungsabteilung, die Claras Einheit in La Zaida versorgte. Jeden dritten Tag ging ein Lebensmitteltransport dorthin, und wir konnten mitfahren. Hans Wirz, ein passionierter Schürzenjäger, verliebte sich in Barcelona in eine hübsche deutsche Emigrantin und blieb da hängen. Felix Ippen, der noch keinen Frontbesuch hinter sich hatte, schloß sich mir an. Unser Vehikel war voll beladen mit Fleisch, Gemüse, lebenden Hasen und Hühnern in Kisten und Körben, Mehlsäcken, Konservenbüchsen, kleinen Wein- und Olivenölfässern. Drei bewaffnete Milizionäre begleiteten uns. Den ganzen Vormittag fuhren wir in sengender Hitze durch die Ebenen Aragoniens, durstig, müde, gerädert, die Ohren taub vom ewigen Gegacker der Hühner und die Hosen voll Hühnerdreck. Kaum in La Zaida angelangt, suchten wir unverzüglich die Wasserstelle auf, um uns zu waschen und den Durst zu löschen. Sie war belagert von Milizionären, die sich ihre Feldflaschen, Krüge und Fässer mit dem köstlichen Naß füllten.
Ein breiter Sombrero, unter dem blonde Locken hervorquollen, zog mich an: Clara. Stürmische Begrüßung. Sie war braun gebrannt und kerngesund, schleppte uns sofort zu ihrer Gruppe. Ihre Einheit setzte sich aus Spaniern, Italienern, Franzosen und Deutschen zusammen.
Im weiten Hof eines großen Bauernhauses befand sich die Küche; in riesigen Kesseln, bis an den Rand mit Olivenöl gefüllt, brodelten mächtige Hammelkeulen. Koch war der Italiener Antonio, militanter Anarchist, fünfzig Jahre alt. Weil er Bombenattentate gegen faschistische Parteihäuser organisiert hatte, mußte er zwei Jahre ins Gefängnis. Nach einigen Jahren Verbannung auf den Liparischen Inseln konnte er entfliehen. Er gelangte nach Paris und zog bei Ausbruch des Bürgerkriegs sofort nach Spanien. Clara und er waren gute Freunde. Sehr herzlich aufgenommen wurden wir nicht; die Männer hatten eine gesunde Abneigung gegen Journalisten und Fronttouristen. Clara half uns über diese Schwierigkeiten hinweg, es war zu spüren, daß sie Ansehen genoß und auf ihre Stimme gehört wurde. Die paar Tage in La Zaida wurden hervorragend langweilig. Außer dem Wacheschieben in den Schützengräben geschah gar nichts. Mit viel Überredungskunst kriegte ich Clara herum mit mir nach Madrid zu fahren. Vor der Abreise wollten wir noch das Hauptquartier der anarchistischen Kolonne Durutti in Gelsa besuchen.
Gelsa lag am anderen Ebroufer, ungefähr zehn Kilometer von La Zaida entfernt. Ohne Waffen war eine Flußüberquerung gefährlich, aber nach langen Verhandlungen durften wir Gewehre mitnehmen. Zwei Milizionäre setzten uns in einem Boot über den Fluß und versprachen, uns am Abend zu abgesprochener Stunde zu holen. In der sengenden Sonne zogen wir am Ebroufer entlang. Von irgendwo knallten Schüsse, Kugeln sausten uns um die Köpfe. Unsere in der Sonne aufblinkenden Gewehrläufe hatten uns verraten, wir umwickelten sie mit unseren Taschentüchern und marschierten vorsichtig weiter. In Gelsa führte man uns in ein schönes altes Kloster, in dessen langgestrecktem, kühlem Refektorium an schweren Tischen über hundert bunt uniformierte Männer der FAI saßen. Sie hatten eben eine Konferenz hinter sich und hockten nun beim Wein zusammen. Ohne Umstände nahmen sie uns in ihren Kreis auf, bewirteten uns, um uns dann mit zahlreichen Fragen zu überschütten. Unter ihnen befand sich Michel Michaelis, ein deutscher Anarcho-Syndikalist, der sich bereitwillig als Übersetzer betätigte. Aus seinen Darlegungen ging hervor, daß diese Leute fest überzeugt waren, der iberische Anarchismus werde diesen Kampf mit den Marxisten oder gegen sie siegreich beenden. Es beflügelte sie eine unüberwindliche Kampfmoral. Aus rauhen Männerkehlen ertönten die Kampflieder der spanischen Anarchisten, oft vom fernen Donner der Kanonen untermalt. Die hartgeschnittenen, von der Sonne gebräunten Gesichter, die kräftigen Gestalten, den Revolver umgeschnallt oder das Gewehr neben sich stehend, boten in dem klösterlichen Raum einen unwirklichen, phantastischen Anblick. Die zwei in ihrem Kreis erlebten Stunden sagten uns über den Kampfgeist und die Ziele der spanischen Anarchisten mehr als alle dicken Wälzer.
Die Rückkehr nach La Zaida gestaltete sich schwierig. Unsere Fergen waren nicht da. Zum Glück entdeckten wir im Ufergebüsch versteckt ein altes Boot, mit dem wir uns über den Fluß hinübertreiben ließen. Mitten im Fluß begegnete uns ein anderes Boot. Freund oder Feind? Wir machten unsere Gewehre schußbereit. Zurufe klärten uns auf, es waren unsere verspäteten Bootsleute.
Clara erhielt nach ausgiebiger Diskussion in ihrer Hundertschaft einen längeren Urlaub bewilligt. Sie war traurig, ihre Kameraden verlassen zu müssen. Die Autobusfahrt nach Barcelona vollzog sich ohne Zwischenfälle.
Madrid, September 1936
Einige Tage vor der Bildung der Volksfrontregierung unter dem Sozialisten Largo Caballero trafen wir in Madrid ein. Die politische Atmosphäre unterschied sich von der in Barcelona grundlegend, da hier die Sozialistische Partei und die von ihr beeinflußte UGT den Ton angaben. Das Straßenbild der Hauptstadt war dafür ein ausgezeichnetes Barometer. Hier überwogen die roten Fahnen, die roten Mützen und Armbinden bei weitem; manchmal trugen die roten Fahnen Hammer und Sichel. Die Spanische Kommunistische Partei war noch schwach, ihr Anteil an der Niederwerfung des Militärputsches kaum ins Gewicht gefallen. Jetzt aber konnte sie dank der russischen Hilfe mit einem raschen Wachstum rechnen. Auch in Madrid basierte die Milizarmee noch auf Freiwilligkeit und gliederte sich in politische Richtungen auf. Sozialisten, Republikaner, Kommunisten, Anarchisten und die POUM hatten ihre eigenen militärischen Einheiten. Doch in Madrid war der Einfluß der Zentralregierung deutlich spürbar. Die Volksfrontregierung setzte sich aus Sozialisten, Kommunisten und Republikanern zusammen; Anarchisten und Poumisten waren darin nicht vertreten. Die Regierung unternahm Anstrengungen, um eine straffere militärische Führung, eine Art Oberkommando zu schaffen, stieß aber auf starke Widerstände. Der betont revolutionäre Charakter, der Barcelona prägte, trat in Madrid mehr in den Hintergrund. Die Enteignung der Bourgeoisie hatte sich hier auf die Beschlagnahme von Betrieben und Gütern beschränkt, deren Besitzer geflüchtet waren. Wer sich der Republik ehrlich zur Verfügung stellte, wurde nicht enteignet, eine Arbeiterkontrolle der Gewerkschaften überwachte in diesen Fällen das reibungslose Funktionieren. Auf dem flachen Lande bot sich allerdings ein anderes Bild. Der Boden war kollektiviert und in den Händen der Bauern. Die Mehrheit der Landarbeiter stand unter anarchistischem Einfluß. Außerhalb der Hauptstadt, ja bereits in den großen Vororten mit Arbeiterbevölkerung herrschten fast unumschränkt die lokalen Komitees der Gewerkschaften, der Parteien und der Miliz; ohne ihre Erlaubnis war nichts zu unternehmen, auch Erlasse der Regierung wurden nicht beachtet.
Mit den Papieren der katalanischen Regierung und des zentralen antifaschistischen Milizkomitees präsentierten wir uns auf dem Kriegsministerium. Die Organisation der Kriegskorrespondenten, von denen es knapp ein Dutzend in Madrid gab, lag in den Händen von Miguel, einem schweigsamen, undurchsichtigen, aber seine Arbeit beflissen ausführenden Berufsoffizier. Er verfügte über einen kleinen Wagenpark mit Chauffeuren, den die Korrespondenten unter der Bedingung benützen konnten, dem Capitán nach jedem Frontbesuch einen Bericht über den besichtigten Frontabschnitt zu liefern. Capitán Miguel wies uns im Hotel Savoy Quartier an; dort sollten wir auch verpflegt werden. Das Hotel war von der Miliz requiriert. Wir meldeten uns in der Kantine des Hotels, wo man uns erklärte, Verpflegung werde nur gegen Eßcoupons der Miliz abgegeben. Wir mußten die Bons einige Straßen weiter in einer Kirche abholen, die in ein Lebensmitteldepot umgewandelt worden war. Wir speisten mit den Milizionären zusammen und hörten aus deren turbulenten Unterhaltungen heraus, daß sie eine Höllenangst vor den «Moros» hatten. Über die Grausamkeit dieser marokkanischen Truppen gingen zahlreiche Gerüchte um. Als Ehepaar erhielten wir ein Zimmer für uns allein, die Milizionäre schliefen auf Strohsäcken, Betten und Decken in den Hotelzimmern. Obwohl die Milizionäre oft von der Front zurückkamen, herrschte eine tadellose Sauberkeit im ganzen Hotel.
Es drängte uns nun zu einem ersten Frontbesuch. Die Nachrichten waren schlecht, der Feind rückte überall gegen Madrid vor. Die erste Fahrt unternahmen wir weit über Toledo hinaus nach Talavera de la Reina, wo der Vormarsch der Franquisten besonders fühlbar war. Unser Chauffeur, ein kleiner, sehniger Andalusier mit einem riesigen Revolver, wagte sich nicht zu weit vor. Er fuhr uns ins Hauptquartier, ziemlich weit hinter der Font. Dort empfing uns sehr höflich der kommandierende General Asensio, ein Soldat der alten Schule; er offerierte uns Bonbons, die er selbst eifrig lutschte. Auf einer großen Landkarte zeigte er uns die «Frontlage» und behauptete, der auf der Gegenseite kommandierende General sei sein Bruder. Außer dieser pikanten Einzelheit ernteten wir keine weiteren Informationen. Schließlich konnten wir unseren widerstrebenden Wagenfahrer überreden, uns weiter nach vorne zu kutschieren. Ohne vom Feind etwas zu hören oder zu sehen, gelangten wir weit über Talavera de la Reina hinaus. Das Städtchen wimmelte von Truppen aller Parteirichtungen, die großen Straßenzüge waren von riesigen Barrikaden versperrt. Sobald wir ein Dorf oder ein Städtchen verließen, wähnte man sich im tiefsten Frieden. Wo war da Krieg? Es gab weder Schützengräben, Patrouillen noch irgendwelche Stellungen. Immer wieder knüpften wir mit den Milizionären hinter den Barrikaden in den Dörfern Gespräche an, erkundigten uns nach der «Front». «Da, wo geschossen wird», erklärten sie lachend. «Warum sind lediglich die Dörfer und Städte bewacht? Der Gegner braucht doch nur daran vorbeizumarschieren», fragten wir ahnungslos. Und jedesmal lautete die Antwort: «So etwas gibt es bei uns in Spanien nicht, wir führen den Krieg um unsere Häuser.» Auf dem Rückweg kamen wir durch das von den republikanischen Truppen besetzte Toledo. Rund um die Felsenfestung des Alcazar war ein Kordon von Barrikaden und besetzten Häusern gezogen. Die Belagerten schossen sich mit der Miliz in der Stadt herum. Anfang September begannen zahlreiche ausländische Korrespondenten in Madrid einzutreffen. Die Kriegsberichterstattung organisierte sich, die Regierung richtete eine Zensurbehörde ein, der die Auslandsnachrichten unterbreitet werden mußten. Viele der Journalisten reisten direkt aus Moskau an; beinahe ausnahmslos waren sie Parteikommunisten oder Mitläufer. Die Berichterstatter wurden zusammengefaßt und alle im Hotel Gran Via im Zentrum von Madrid untergebracht. Vorbei war es mit den schönen Tagen im Hotel Savoy, wo wir ständig unmittelbaren Kontakt mit den Milizionären gehabt hatten. Für uns bedeutete die Maßnahme eine einschneidende Änderung, unsere Bewegungsfreiheit schränkte sich ein, wir ahnten Schwierigkeiten. Sie blieben auch nicht aus. Beim ersten gemeinsamen Abendessen der Korrespondenten im Hotel knüpften wir Bekanntschaft mit dem deutschen Schriftsteller Gustav Regler an; Regler schrieb Berichte für die «Deutsche Zeitung» in Moskau. Bedingungslos unterstützte er die Stalin‘sche Politik, beurteilte die Moskauer Schauprozesse als verdiente Abrechnung mit Verrätern und Spionen. Von ihm unzertrennlich war der deutsche Kommunist Stern; ihre Gespräche lebten von der Hoffnung auf die einsetzende russische Hilfe, von überquellender Begeisterung über Stalins geniale Politik. Keinen Moment zweifelten die beiden am Sieg. Der Amerikaner Louis Fisher schrieb für die «Nation», er repräsentierte den damals häufigen Typ des Fellow-travellers, der, wenn auch ausgeglichener und reservierter, die russische Politik unterstützte. Von Zeit zu Zeit tauchte das fahle Mondgesicht von Michael Kolzow, dem Korrespondenten der «Prawda», auf. Kolzow verfügte in Madrid über eine eigene Wohnung und über beste Beziehungen zu den damals schon anwesenden russischen Technikern und Offizieren. Auch Franz Borkenau war dort - übrigens der einzige, mit dem wir offen reden konnten. Er warnte uns vor allzu freien Meinungsäußerungen, da Stalin bereits begonnen habe, seinen Polizeiapparat in Spanien aufzubauen. Borkenau wußte, daß wir längere Zeit der trotzkistischen Richtung angehört hatten. Das taten wir (offiziell) noch und doch schon nicht mehr; der ideologische Bruch war für uns bereits zu tief, um uns noch als Mitglieder der Vierten Internationale zu betrachten. Wir glaubten nicht mehr an die «verratene Revolution», an die sozialistischen Grundlagen der Oktoberrevolution. Für uns war mit Stalins Herrschaft die offene Konterrevolution ausgebrochen. Von freien Sowjets bestand in Rußland nichts mehr, dafür gab es ein mit Terror wie geschmiert funktionierendes Einparteiensystem. Und dann Kronstadt: Immer wieder hatten wir versucht, die Erklärungen Trotzkis zu verstehen, aber es wollte nicht gelingen. Es gab keine plausible Erklärung für die plötzliche Umwandlung der revolutionären Matrosen von Kronstadt in wilde Gegenrevolutionäre. Nein, diese Männer hatten sich gegen den Parteienterror der Bolschewiki erhoben, sie wollten freie Sowjets, in denen sich alle Parteien und Richtungen ungehindert äußern konnten. Darüber, über die Schauprozesse und die Massendeportationen in die Konzentrationslager Sibiriens, entzweiten wir uns endgültig mit den Trotzkisten. Diese geistige Haltung hätten die von Stalins Gnaden befeuerten Journalisten nie verstehen können. Schon an einem der ersten Abende kam es zum Disput.
Mit viel Verve und Erbitterung griffen Stern und Regler den Sozialisten Leon Blum an, der als französischer Ministerpräsident den ominösen Nichtinterventionspakt zusammen mit England veranlaßt hatte. Die Kritik war um so berechtigter, als bereits bekannt war, daß Hitler und Mussolini Francos Truppen massiv unterstützten. Deutsche und italienische Flugzeuge beherrschten den Luftraum um Madrid, italienische Truppen waren in Cadiz gelandet. Ich fand die Angriffe gegen Blum zu primitiv und schaltete mich ein. «Ihr habt tausendmal recht, Blum anzugreifen, doch ist er der Alleinschuldige?»
«Was soll das heißen?» riefen Stern und Regler entrüstet. «Nun, wir haben doch in Frankreich eine von den Kommunisten unterstützte Volksfrontregierung, wie sie sich für die baldige Zukunft auch hier in Spanien abzeichnet. Die französischen Arbeiter besetzen die Betriebe, zwingen die Unternehmer zu großen sozialen Zugeständnissen. Doch weiter geht ihr Kampfwille nicht. Fast drei Monate steht Spaniens Volk nun schon im schwersten Abwehrkampf, ohne daß sich die französischen Arbeiter gerührt hätten. Nicht ein einziger Solidaritätsstreik hat stattgefunden. Die Arbeiter, die mit den Fabrikbesetzungen die Unternehmer in die Knie zwangen, sollen nicht stark genug sein, um die Regierung Blum zu zwingen, die Grenzen zu öffnen, materielle und politische Hilfe zu leisten?»
Einige Minuten Schweigen, dann brach der Sturm los, alle redeten durcheinander. Borkenau starrte betroffen auf seinen Teller. «Unerhört, es sind doch die Führer, die die Arbeiter am Handeln hindern! Zudem haben wir auf Veranlassung der Kommunistischen Partei bereits französische Freiwillige hier!» schrie mir Regler empört entgegen.
Langsam ebbte die Erregung ab. Doch Clara und ich waren fortan suspekt. Das hinderte Regler keineswegs, Clara aufdringlich den Hof zu machen, wobei es zu komischen Intermezzos kam. Es gab im Hotel zwei Aufzüge; fuhren wir nach dem Essen auf unser Zimmer, so drängte sich Regler jedesmal in den Lift, den Clara benützen wollte. Im letzten Moment entschlüpfte sie, und verärgert fuhr er allein hinauf. Eines Morgens tranken wir an der Hotelbar unseren Kaffee. Ein uns unbekannter Journalist kam herein, der sich sofort für Clara interessierte. Er stellte sich vor: Arthur Koestler. Koestler kam gerade aus Sevilla, im letzten Augenblick hatte er das republikanische Lager erreichen können. Koestler schrieb für den «Manchester Guardian». Lebhaft und geistreich schilderte er uns, wie er den in Sevilla kommandierenden Franco-General Queipo de Lano auf eine Art interviewt hatte, die diesen sturen und dummen Haudegen vor aller Welt bloß stellte. (Koestler sollte das Interview teuer bezahlen. Der faschistische General hatte geschworen, diesen Kerl am nächsten Baum aufzuhängen, falls er ihn je erwische. Bei der Eroberung von Malaga geriet Koestler in die Hände der Franco-Truppen, kommandiert von Queipo de Lano. In seinem «Spanischen Testament» hat er ein erschütterndes Dokument hinterlassen.)
Rasch hatte sich die Nachricht verbreitet, Talavera de la Reina, das wir wenige Tage vorher noch besucht hatten, sei gefallen. Wir wollten nochmals in die Gegend fahren, um uns zu vergewissern. Die Chauffeure von Capitán Miguel, von denen uns einige gut kannten, liebten uns nicht sonderlich. Sie hatten keine große Lust, für unsere, wie sie fanden, viel zu kühnen Frontexpeditionen ihre Haut zu Markte zu fahren. Nach einigen Verhandlungen ließ sich Jose, der uns das erste Mal nach Talavera gebracht hatte, ein zweites Mal überreden. Wieder ging es an Toledo vorbei. Hinter der Stadt drosselte Jose das Tempo beträchtlich, reckte seinen dünnen Hals nach rechts und links. Es war nichts zu sehen und zu hören. Silbern leuchteten die Olivenbäume in der herbstlichen Sonne. Vorsichtig nahm Jose eine scharfe Kurve auf dem etwas schmalen Weg, stoppte unverhofft. Zwei dicht mit Milizionären besetzte Lastwagen näherten sich langsam. Hinter den Wagen, zur Seite, zu Fuß und auf Eseln, eine Kolonne Menschen in wilder Flucht.
«Los Moros, los Moros!» schrien uns die Männer entgegen. Wir stiegen aus. Mit einer raschen Bewegung riß Clara dem verdutzten Jose den Revolver aus dem Gürtel, sprang vor die Männer, und die Waffe schwenkend, rief sie laut: «Atras» (Zurück). Wie von Zauberhand gebannt, blieb alles stehen, starrte fasziniert auf die blonde Frau, die ihnen den Weg versperrte. Sie redeten und gestikulierten durcheinander, umringten uns. Wir alle drei, auch Jose war mutig genug, beruhigten die Männer, wiesen darauf hin, daß kein Schuß fiel, weit und breit keine Mauren zu sehen seien. Hingegen seien doch hier ein kleiner Fluß und Anhöhen, gut geeignet für eine Verteidigung. Allmählich kehrte Ruhe ein und die Vernunft zurück. Einige beherzte Milizionäre übernahmen das Kommando, verteilten ihre Leute zu beiden Seiten des Flusses, postierten sie hinter Felsbrocken und Olivenbäumen. Die Lastwagen wurden auf der Straße quergestellt. Die Panik war vorbei. Jose, verlegen und beschämt, zugleich stolz, die Flucht seiner Landsleute gebremst zu haben, nahm seine Waffe wieder in Empfang. Wir machten kehrt, wollten rasch Capitán Miguel informieren. Auf dem Rückweg mußten wir die Straße für drei Autobusse freigeben, die mit einigen Offizieren, Milizionären und Abgeordneten der Cortes auf der Suche nach der Front waren. Unter ihnen befand sich die sozialistische Abgeordnete Marguerita Nelken. Wir berichteten kurz über unser Erlebnis, dann fuhren die drei Busse bis zum Schauplatz weiter.
Rund um den Alcázar
Wird Toledo in die Hände Francos fallen, oder werden die republikanischen Truppen die Festung Alcazar vorher erobern? Die Bedrohung Toledos erhöhte sich täglich, es war ein Wettlauf mit der Zeit. Mit dem kubanischen Journalisten Brea, dessen Sprachkenntnisse für uns wertvoll waren, fuhren wir wieder nach Toledo. Mitten in der Stadt, auf einer Anhöhe tief in den Fels gemauert, ragte der Alcazar empor, die Militärschule der Kadetten. Die dort verschanzten Rebellen — Kadetten, Offiziere, Guardia Civil - hatten bisher jeden Angriff abgeschlagen. Die Belagerten wurden durch die Luft, wahrscheinlich von deutschen Flugzeugen, verproviantiert. Die Stadt befand sich in den Händen der Republikaner. Rund um die Festung, in Häusern, auf Dächern, hinter Straßenbarrikaden, schossen sich die Milizionäre mit einem unsichtbaren Gegner herum. Da lagen und standen sie hinter den Barrikaden in ihren buntscheckigen Fantasieuniformen: rote Hemden, rot-schwarze Hosen und Halsbinden, Baskenmützen oder breite Sombreros tragend, knallten die Männer von Zeit zu Zeit ihre Büchsen ab. Hinter den Barrikaden kochten sie sich am Holzfeuer ihren Kaffee, in den Schenken der Umgebung klatschten die Dominosteine auf die Marmortische.
In den dem Alcazar ferner gelegenen Stadtteilen war es ruhig. Wäre nicht das Artillerie- und Gewehrfeuer gewesen, so hätte man sich vor der hohen, majestätischen Kathedrale im tiefsten Frieden gewähnt. Kinder spielten auf der Straße, Frauen wuschen ihre Wäsche am Trog, besorgten ihre Einkäufe, Katzen räkelten sich träge in der warmen Sonne.
Wie überall zerfielen die republikanischen Einheiten in politische Richtungen; es gab bürgerliche Republikaner, Anarchisten, Sozialisten, Kommunisten. Ein Oberkommando war nicht festzustellen. Immerhin traten die militärischen und politischen Führer von Zeit zu Zeit zu einem Kriegsrat zusammen, mühten sich um bessere Koordination, um wirksamere militärische Aktionen. Wir durften an einem solchen Kriegsrat teilnehmen. Es gab unüberwindliche Probleme zu bewältigen. Der völlige Mangel an schweren Waffen, zum Beispiel Artillerie, und an Flugzeugen verhinderte eine gemeinsame, aussichtsreiche Unternehmung. Die Rivalitäten zwischen den verschiedenen politischen Gruppen verbesserten die Atmosphäre nicht. Wohl standen auf einem Hügel vor der Stadt zwei alte, leichte Feldgeschütze, die alle zehn Minuten losböllerten - mit viel Lärm und ohne Wirkung. In langen, stürmischen Verhandlungen, die wir dank Breas Dolmetschen gut verstanden, begriffen wir, um welche Schwierigkeiten es ging. Die in der Festung eingeschlossenen Rebellen hatten bei ihrem Rückzug aus der Stadt eine erhebliche Zahl von Zivilpersonen, Frauen, Kinder, Männer, als Geiseln mitgeschleppt. Konnte man das Leben dieser Gefangenen aufs Spiel setzen? Alle bisherigen Verhandlungen waren ergebnislos geblieben, die Angehörigen dieser Gefangenen indes für größere Aktionen nicht zu haben. Trotzdem beschloß der Kriegsrat, unter der Festung einen Tunnel zu graben und in die Mauern mit Dynamit eine Bresche für einen Angriff zu sprengen.
Wir gingen mit Brea zur «Artillerie» vor den Stadtmauern. Wie immer fühlten sich die spanischen Milizionäre durch die Anwesenheit von Ausländern geehrt. Sie wollten ihre Kriegskunst und ihre Grandezza vorführen. Kaum waren wir bei den Geschützen angelangt, kam der befehlende Offizier zu uns und ließ sofort schneller schießen. «Will uns die Senorita das Vergnügen machen und selbst einen Schuß abfeuern?» sagte er mit eleganter Verbeugung zu Clara. Lachend willigte sie ein. Die Kanoniere bereiteten alles vor, dann gab ihr der Offizier die Zündschnur in die Hand, kommandierte laut «Fuego», und der Schuß krachte los.
Der Offizier lud uns gleich zum Mittagessen ein. Ab zwölf Uhr war, wie überall üblich, der Krieg bis vier Uhr zu Ende. Die Mittagspause wurde geheiligt; es dauerte monatelang - Marokkaner, Fremdenlegionäre, deutsche und italienische Truppen hielten sich nicht an diese Tradition -, bis die Spanier sich an den «ununterbrochenen Krieg» gewöhnten.
Im Kriegsrat hatten wir gehört, die asturischen Bergarbeiter, von denen eine Gruppe in Toledo weilte, die «dinamiteros», würden am Abend ein Unternehmen starten. Wir wollten dabei sein. In einer Weinschenke verfolgten wir die Vorbereitungen. Ein halbes Dutzend Männer stopften Konservenbüchsen mit Dynamit voll und befestigten ihre Zündschnüre. Jeder hängte sich zwei bis drei Büchsen an den Bauchriemen, dann zogen wir mit ihnen los. Vorerst ging es durch einige leerstehende Häuser, vorsichtig durch Hinterhöfe, wir überkletterten ein paar Mauern und stiegen zuletzt durch eine Dachluke auf ein Hausdach. Schweigend, jeden Lärm vermeidend, krochen wir mit ihnen über mehrere Dächer, uns näher und näher an den Alcazar heranpirschend. Hinter einem Kamin auf hohem Giebeldach blieben wir liegen. Von hier konnten wir hinter die Mauern der Festung blicken. Im Schutze des Kamins wurden die Zündschnüre angesteckt. Eine Minute später flog im hohen Bogen die erste Büchse durch die Luft. Es gab einen Donnerkrach, sofort wurden wir unter Gewehrfeuer genommen. Eine Konservenbüchse nach der anderen landete hinter den Festungsmauern, die Explosionen rissen nicht ab. Die Aktion war geglückt, befriedigt zog sich alles zurück.
Siguenza
Mit Brea unternahmen wir eine Fahrt nach Siguenza. Nachrichten zufolge sollten dort italienische Truppen im Vormarsch sein. Das Städtchen war noch von den legalen Truppen besetzt. Unsere Frage nach der Front wurde ausweichend beantwortet, mit einer Handbewegung nach vorne. Deutlich hörten wir in der Ferne Kanonendonner. Links und rechts der Hauptstraße nach Zaragoza lagen Milizionäre in kaum knietiefen Schützengräben, Gewehr im Anschlag. Es war eine anarchistische Hundertschaft, Bauern aus der Provinz unter dem Kommando einer Frau, Mica Etsdoebehere. Ihr Mann war vor wenigen Tagen in einem Gefecht gefallen. Im Einverständnis mit der Mannschaft übernahm Mica das Kommando. Sie war Argentinierin und mit einem Basken verheiratet. Spanien wurde ihre zweite Heimat. In einer Unterredung äußerte sie ihre Befürchtung, den gut ausgerüsteten Gegner nicht lange aufhalten zu können. Es fehlte an Waffen, ihre Leute besaßen großenteils nur alte Jagdflinten, jegliche Verbindung nach hinten fehlte, es gab keinen Nachschub. Ohne Hilfe aus Madrid Siguenza halten, einen wichtigen Riegel in Richtung Zaragoza? Sie zweifelte. Ihre Männer, der Waffen ungewohnt, flüchteten sich bei jedem Fliegerangriff in die nahen Bauernhäuser.
«Die Italiener setzen Tanks ein, jedesmal, wenn die Miliz die Ungetüme sieht, laufen sie wie die Hasen davon. Wir haben nichts, um sie zu bekämpfen. Wenn Sie nach Madrid zurückkehren, berichten Sie, was Sie hier gesehen haben.»
Auf der Rückfahrt wurden wir von Fliegern überrascht; eilig retteten wir uns aufs freie Feld. Unser Chauffeur und Brea warfen sich in den Acker, wickelten sich fest in ihre Decken, um nichts zu sehen und zu hören. Die Maschinen flogen über uns hin und bestrichen uns mit Maschinengewehrfeuer. Clara und ich konnten die Köpfe nicht in die Erde stecken, wir mußten einfach das Hin und Her der Vögel über uns beobachten. Bald war es ohne großen Schaden vorbei. Unser Auto, wir hatten es auf der Straße stehenlassen, wies einige Einschüsse auf, die uns aber an der Weiterfahrt nicht hinderten. Wenige Tage später fiel Siguenza in die Hände der Italiener. Mica wurde mit etwa dreißig Mann in der Kirche eingeschlossen. Nach wenigen Tagen peinigten sie Durst und Hunger, auf Entsatz war nicht zu hoffen. In heftigen Debatten entschloß sich die Mehrheit der noch kampffähigen Männer zum Ausbruch, eine Minderheit wollte bleiben und sich ergeben. Mica und ihre Männer seilten sich aus einem Kirchenfenster ab, es gelang ihnen, mit geringen Verlusten sich in die nahen Berge zu schlagen. Da die Bauern jeden Weg und Steg der Gegend kannten, entkamen sie glücklich in das republikanische Gebiet.
Radio POUM
Am 30. September fiel Toledo, der Alcazar war befreit. In regelloser Flucht zogen sich die Milizionäre auf die Hauptstadt zurück. Die Franco-Truppen, voran Marokkaner und Fremdenlegionäre, näherten sich unaufhaltsam Madrid; die feindlichen Flugzeuge, unbehindert, begannen die Stadt zu bombardieren. Die ersten Fliegerangriffe richteten heillose Verwirrung an, die Sirenen heulten, die Menschen flüchteten in ihre Keller oder in die U-Bahn. Eine nennenswerte Flugabwehr existierte noch nicht, die wenigen veralteten Flugzeuge, die den Kampf mit den deutschen und italienischen Fliegern aufnahmen, waren Todeskandidaten. Durch die Stadt rasten Feuerwehrautos, Ambulanzen, in zahlreichen Stadtteilen brannten Häuser. Mit einigen Journalisten stiegen wir auf das Dach unseres Hotels, um den wenigen Luftkämpfen zuzusehen, was man uns bald verbot.
Anfang Oktober wurden wir ausländische Journalisten beim gemeinsamen Abendessen von einem heftigen Fliegerangriff überrascht. Pausenlos Einschläge in der nächsten Umgebung. Das große Gebäude zitterte, Fenster barsten, alles sprang verstört und bleich auf. «In den Keller, rasch», riefen einige. «Nein, sitzen bleiben, Ruhe bewahren», schrien andere. Manche verschwanden im Keller, die Mehrzahl harrte auf ihren Stühlen still und bedrückt des nächsten Einschlags. Bleich, nervös, sein Taschentuch zwischen die Zähne geklemmt, wanderte Franz Borkenau zwischen unseren Tischen und der Kellertür hin und her. Dann entwarnten die Sirenen. Wir stürzten hinaus; in der Nähe brannten mehrere Häuser. Vor einem Lebensmittelgeschäft war eine Bombe mitten in eine Schlange von Frauen und Kindern gefallen, grünlich-gelb lagen die Leichen auf dem Bürgersteig und der Straße. Verwundete jammerten und schrien, dichte Rauchwolken wogten über den Häusern. Feuerwehr, Sanitäter und Freiwillige arbeiteten fieberhaft. Hilflos standen wir dem Leid und Tod gegenüber.
Mit Gomez, einem der Leiter der Madrider POUM-Organisation, hatten wir Freundschaft geschlossen. Kaum vierundzwanzig Jahre alt, Madrilener, gelernter Metallarbeiter, hatte er viel für die Aufstellung einer schlagfertigen Milizabteilung geleistet, die vor Madrid kämpfte. Bei der Niederschlagung der Militärrevolte in Madrid war es der POUM gelungen, ein Hochhaus in der Stadt zu besetzen, in dem sich eine Sendestation befand. Mit Hilfe dieses Senders gab die POUM Nachrichten ins Ausland durch und stellte die Entwicklung des Bürgerkrieges von ihrem Standpunkt aus dar. Der Sender war den Kommunisten und der Regierung ein Dorn im Auge. Mehrmals versuchten die Kommunisten, ihn durch Überfall zu kapern, was dank der Wachsamkeit der Besatzung mißlang.
Wir schlugen Gomez vor, über den Sender auch Texte in deutscher und französischer Sprache ins Ausland zu funken. Ein polnischer Trotzkist, der seit wenigen Tagen in Madrid weilte, wollte Berichte in polnischer Sprache beisteuern. Wir einigten uns mit Gomez über den Inhalt, und Clara sprach in Deutsch und Französisch die von mir verfaßten Sendungen.
«Hier Madrid, Radio POUM. An alle, alle.» Darauf folgte eine genaue Darstellung der Lage Madrids, ein Appell an die Solidarität der ausländischen Arbeiter. Der Hauptparole der Kommunisten: «Erst den Krieg gewinnen, dann die Revolution machen», stellten wir die Losung gegenüber: «Durch die Revolution den Krieg gewinnen.» Schon die ersten zwei Sendungen wirkten. Beim Abendessen der Korrespondenten tobten Regler, Stern und andere Parteitreue wütend gegen den «verräterischen trotzkistischen» Sender.
«Dieses Weib gehört an die Wand gestellt, wir werden sie noch erwischen, mit dieser konterrevolutionären Station räumen wir auf!» schrie Stern außer sich. Wir stocherten schweigend in unseren garbanzos (Knallerbsen). Bei einer unserer Sendungen organisierten die Kommunisten wieder einen Überfall auf das Hochhaus. Wir konnten das Haus nicht verlassen, am Eingang hatte sich die POUM-Wache verbarrikadiert und schoß sich mit den Angreifern herum. Sie kamen nicht durch und traten den Rückzug an.
Als wir eines Tages mit dem Lift in den Senderaum hinauffuhren, stieg mit uns Michael Kolzow ein. Er erkannte uns nicht, verließ den Aufzug einige Stockwerke tiefer. War es Zufall? Oder kundschaftete Moskaus offizieller Berichterstatter den Ort aus?
Aranjuez
Auf der Zensur und im Hotel Gran Via, wo er ebenfalls logierte, lernten wir den Deutsch-Russen Rodolfo Selke kennen. Seine vielseitige Sprachbegabung prädestinierte ihn zum Zensorenamt. Sowohl dienstlich wie im persönlichen Verkehr war er ein umgänglicher Mensch. Seit einigen Tagen fand Clara in ihrem Hotelfach jedesmal entweder ein Bündel Spargel oder eine Tafel Schokolade, wahre Leckerbissen in der belagerten Stadt. Der aufmerksame Spender blieb nicht lange unbekannt, Selke war in Clara verliebt und machte daraus bald kein Geheimnis mehr.
Mit ihm und einem polnischen Journalisten beschlossen wir, nach Aranjuez zu fahren. Nach dem Fall Toledos hatte sich ein Teil der republikanischen Truppen nach Aranjuez abgesetzt und sollte jetzt neu organisiert werden. An einem herrlichen Herbsttag starteten wir. Unser Fahrer Jose hatte sich inzwischen an unsere Frontsucherei gewöhnt. Durch Alleen hoher, sich leise im Wind wiegender Ulmen näherten wir uns dem alten, in ockergelben Farben gehaltenen Schloß. Am Algodor, einem Nebenfluß des Tajo, ist die neue Front, erzählten uns versprengte Milizionäre. Da wollten wir denn hin, an den Algodor. Zuvor wies man uns in den Schloßpark, wo ein Kommandoplatz bestehen sollte. Im weiten Park, unter Büschen und Bäumen, lagen und standen sie, die Geschlagenen von Toledo, ein buntgemischter verlorener Haufen. Einige Offiziere und Unteroffiziere der alten Armee versuchten, Ordnung herzustellen, die zerstreuten Verbände zu reorganisieren. Ein Leutnant, schwarze Binde über dem linken Auge, las von einer Liste langsam die Namen der Kolonnen ab: «Löwen von Valencia», «Schrecken der Sierra», «die Unbesiegbaren» antworteten durch Zurufe, stellten sich zusammen, ihre Ausrüstung wurde geprüft und ergänzt, Instruktoren übernahmen ihre Unterweisung. Der Leutnant lud uns ein, am Nachmittag an einer Kundgebung der Schriftsteller-Allianz im Schloß teilzunehmen. Der katholische Philosoph Jose Bergamin werde eine Vorlesung über Thomas von Aquino halten, der Schriftsteller Rafael Alberti Kriegsgedichte rezitieren und seine Frau Theresa Leon Märchen aus ihrem Kinderbuch vortragen. Wir schauten uns schweigend an, Clara schnitt eine Grimasse. War dazu Zeit? Wir wollten doch die neue Front sehen, wissen, ob sie bestand, ob sie hielt. Unser Zaudern und Widerstreben entging dem Offizier nicht. «Nun ja, Freunde, das würde Ihnen vielleicht helfen, alles besser zu verstehen, glauben Sie nicht? Sie sehen den Krieg aus einer anderen Perspektive, und das kann nie schaden, doch wie Sie wollen, Freunde.» Uns zog es an den Fluß, den Algodor, die neue Front. Wir fuhren weiter, durch langgestreckte Pappelalleen, die zum Schloß hinaufführten. Hinein in die kastilische Ebene, durch sanfte Hügelwellen, blühende und duftende Obstgärten. Kein Laut durchbrach die Morgenstille. Jose fuhr immer langsamer und vorsichtiger. An einer Wegkreuzung stand eine Tafel. Algodor, 500 Meter, stand da. Fluchend drehte Jose um, hastete zurück zum Wagen, kurbelte den Motor an und wendete. Wir stürzten in den Wagen, Clara, auf dem Trittbrett, schrie wütend auf Jose ein: «Die Front, wir wollen wissen, wo die Front ist!» Jose war bockbeinig, mochte nichts hören, nichts wissen, in diesem Moment haßte er uns, wollte zurück.
Im Schloßpark stand immer noch der Leutnant und rief Namen aus. Der weite Park hatte sich in ein wimmelndes Heerlager verwandelt; eine Feldküche rauchte, Milizgruppen exerzierten, Instruktoren erklärten den Mechanismus der Maschinengewehre, unterwiesen im Gebrauch der Handgranaten.
«Nein, zur Schriftstellertagung wollen wir nicht», antworteten wir auf eine nochmalige Einladung des Offiziers. Er blieb freundlich und zuvorkommend.
«Gehen Sie sich ausruhen. Lassen Sie sich in die Flußschenke fahren, da gibt es einen feinen Wein, einen guten kastilischen Schinken, so etwas finden Sie in Madrid nicht mehr.»
Jose saß mit einem Kollegen aus dem Kriegsministerium am Wegrand. Sie tranken ihren Wein, dazu ihre Choritza schmatzend. Unbekümmert wetteiferten sie, wer es besser verstehe, aus dem bauschigen Flaschensack den dünnen Weinstrahl in den offenen Mund spritzen zu lassen...
Franco vor Madrid
Die Lage Madrids wurde täglich bedrohlicher, Francos Truppen standen wenige Kilometer vor der Stadt. Madrid war umzingelt. Nur die Straße über Aranjuez nach Valencia und Katalonien befand sich noch fest in der Hand der legalen Regierung. Im Guadarramagebirge rannte sich der Gegner an inzwischen stark befestigten Stellungen den Kopf ein. Die technische Überlegenheit der Putschisten war eindeutig, vernichtend. Die «Moros», die «Bandera» (Fremdenlegion), die italienischen Einheiten, artilleristisch und fliegerisch gut ausgerüstet und ausgebildet, die Macht der deutschen Messerschmittmaschinen wirkten auf die Kampfmoral der Regierungstruppen niederschmetternd. Die Republik hatte alldem nichts oder doch nur veraltetes Material entgegenzustellen. Andre Malraux, der von Zeit zu Zeit bei den Berichterstattern auftauchte, versuchte mit leidenschaftlicher Energie, die republikanische Luftwaffe zu organisieren. Francos Artillerie, vor der Stadt zusammengezogen, hämmerte nun Tag und Nacht ins Häusermeer. Unter der doppelten Wucht der Fliegerangriffe und des Artilleriefeuers begann Madrids Leidensweg.
Ende Oktober setzten sich Francos Vorhuten in den Vororten von Madrid fest. Im Kreise der ausländischen Korrespondenten begannen nervöse Diskussionen. Wird Madrid fallen? Bleibt die Regierung in der Hauptstadt? Viele bereiteten eine überstürzte Abreise vor, forderten Flugzeuge, um schnell wegzukommen.
Ohne die Initiative der schwankenden Regierung abzuwarten, dekretierten Gewerkschaften und Parteien die allgemeine Mobilmachung. Die Sirenen heulten, die Lautsprecher forderten die Einwohner auf, die Verteidigung der Stadt selbst in die Hand zu nehmen. Das Volk von Madrid erhob sich. Männer, Frauen, Kinder marschierten in langen Kolonnen, Lieder singend, Waffen und Werkzeuge tragend, in die bedrohten Stadtviertel, hoben Gräben aus, schleppten Sandsäcke, bauten Barrikaden aus Steinen und Möbeln, verschanzten sich in den Häusern. Eine neue Energiewelle riß die Bevölkerung mit, die Hauptstadt zu retten. Niemand wußte genau, wo die feindlichen Truppen angriffen, wichtig war nur, sie aufzuhalten, nicht durchzulassen. «No pasaran» («Sie kommen nicht durch») wurde zur Losung des Tages. Langsam kam Ordnung in den bislang chaotischen Abwehrkampf, nahm die Verteidigung militärische Formen an. Im Hotel wurden wir Berichterstatter nicht mehr bedient, die Kellner hatten ihre Schürzen abgebunden, lagen irgendwo im Schützengraben, hinter Barrikaden, organisierten die Verpflegung für die vorderste Linie. Die Kommunistische Partei, von der russischen Propaganda geführt, von russischen Offizieren geleitet, baute ihr fünftes Regiment auf, aus dem sie in wenigen Wochen eine moderne und schlagkräftige Einheit schuf. General Miacha, Offizier der alten republikanischen Armee, wurde zum Oberbefehlshaber von Madrid ernannt. Das Volk brauchte eine Gestalt, ein Symbol, das seinem Verteidigungswillen konkreten Ausdruck gab. Von unserem bisher verschonten Hotel sahen wir nachts die Feuersbrünste, hörten das Sirenengeheul der Feuerwehr und Ambulanzen, das Einschlagen der Geschosse.
Aus Katalonien eilte der anarchistische Führer Buenaventura Durutti mit zweitausend Mann Madrid zu Hilfe. Durutti, der populärste Leiter der FAI, fiel schon in den ersten Abwehrkämpfen. Seinen Tod umwitterten dunkle Gerüchte; seine Anhänger ließen durchblicken, er sei von den Kommunisten liquidiert worden.
Die ersten ausländischen Freiwilligen, vier- bis fünfhundert deutsche Emigranten, meist Kommunisten, im Bataillon «Thälmann» organisiert, marschierten Anfang November unter dem Jubel der Bevölkerung durch die Straßen von Madrid. Das Bataillon hatte an der Aragonfront, bei Tardienta, schwere Verluste erlitten. Jetzt krallte sich die kriegsgewohnte Einheit in den Gräben und den zerstörten Häusern des Universitätsviertels fest, schlug die wilden Angriffe der marokkanischen Truppen zurück. Der deutsche Kommunist Hans Beimler, ehemaliger Reichstagsabgeordneter, waltete als politischer Kommissar. Beimler fand einen raschen Tod. Auch um ihn wurde gemunkelt, er sei innerparteilichen Intrigen zum Opfer gefallen und hinterrücks erschossen worden.
Das Bataillon «Thälmann», daneben aber auch Tausende von polnischen, jugoslawischen, italienischen und deutschen Antifaschisten mit und ohne Parteibuch, waren die Keimzelle der internationalen Brigaden. In die anarchistischen und sozialistischen Formationen der Volksmiliz, der POUM, selbst in die bürgerlich-republikanischen Militär verbände reihten sich Freiwillige ein, um die sich keine Legenden woben.
Volksfrontregierung Largo Caballero
Anfang September wurde die bürgerlich-republikanische Regierung durch die Volksfrontregierung des Sozialisten Largo Caballero ersetzt. Der Wechsel war fällig und erwartet. Für den weiteren Verlauf des Bürgerkrieges sollte er entscheidend werden. Das wirtschaftliche, politische und militärische Gewicht des Kampfes trugen die Arbeiterschaft und die Bauern. Sie hatten den Putsch der Rebellengeneräle niederge schlagen, die Milizarmee gebildet; die Komitees und die Gewerkschaften brachten unter größten Schwierigkeiten die Wirtschaft in Gang, bauten die Verpflegung der Milizarmee und der Zivilbevölkerung auf, versuchten die Landwirtschaft zu kollektivieren. All das hatte in den ersten Monaten gegen die bürgerliche Regierung durchgesetzt zu werden. Die neue Regierung mußte die wirklichen Machtverhältnisse im Lande repräsentieren. Nach Verhandlungen hinter den Kulissen, an denen der russische Konsul Marcel Rosenberg entscheidenden Anteil nahm, wurde die Volksfrontregierung gebildet. Largo Caballero, Präsident der UGT, wurde Ministerpräsident und Kriegsminister. Sein Gegenspieler in der sozialistischen Partei, Indalecio Prieto, erhielt das Marine- und Luftfahrtministerium. Zwei Vertreter der kleinen Kommunistischen Partei traten in die Regierung ein: Uribe für die Landwirtschaft, Jesus Hernandez für Erziehung und Kultur. Fünf bürgerliche Republikaner saßen in diesem Kabinett, das bei einer solchen Zusammensetzung den Volks willen nur teilweise widerspiegelte. Die starke anarchistische Bewegung wurde gar nicht erst gefragt; es war klar, daß eine Regierungsbeteiligung der Anarchisten nicht in Frage kam. Die Volksfrontregierung sollte den legalen Rahmen der Republik nicht sprengen, die Beziehungen zum Ausland aufrechterhalten. Das konnte aber nur gelingen, wenn auch im Innern und nicht nur nach außen die Legalität gewahrt wurde. Die Regierung Caballero wollte und sollte eine «starke» Regierung sein. Sie war es nicht und wurde es nicht. Ihre Bildung erweckte in den kämpfenden Massen keinen starken Widerhall, wurde mit Mißtrauen aufgenommen. Die Macht lag bei den Gewerkschaften und den lokalen und regionalen Komitees der Arbeiter, Bauern und der Miliz. Auf diese Unzahl von Gruppen hatte die Regierung wenig Einfluß, sie waren beherrscht von Anarchisten und Sozialisten, die sich um Legalität keinen Deut kümmerten und ohne Rücksicht auf die Regierung ihren Kampf um eine soziale Umwälzung fortsetzten, so wie sie ihn verstanden. Diese «Unkontrollierbaren», wie sie von den Kommunisten genannt wurden, mußten der Regierungskontrolle unterstellt werden. Die russische Inspiratoren der spanischen Kommunisten versuchten es mit der bewährten Devise «Teile und herrsche» sowie mit politischer Erpressung. Um den Ausschüssen die Macht zu entreißen, forderten sie energisch den Eintritt der Anarchisten in die Regierung. Damit hofften sie, die anarchistische Bewegung zu spalten, ihren Einfluß zu brechen. Das Manöver gelang einige Monate später. Mit der Drohung, sie würden keine Waffen und Lebensmittel mehr liefern, erzwangen sie den Eintritt anarchistischer Führer in die Regierung Caballero. Mit dem Wachsen des russischen Einflusses nahm der Kampf gegen die Komitees scharfe Formen an: Das Bürger- und Kleinbürgertum sollte durch revolutionäre Maßnahmen nicht erschreckt werden. Ziel war die Bildung einer bürgerlichen Republik unter russischer Steuerung. Als «unkontrollierbar» galt den Russen alles, was sie selbst nicht lenken konnten, ob es sich nun um anarchistische, sozialistische oder andere Gruppierungen handelte. Mit dem Eintritt von Carcia Oliver und Federica Montseny in die Regierung wurden die Anarchisten Gefangenen der kommunistischen Politik. Getreu ihrer jahrzehntelangen staatsfeindlichen und anti-parlamentarischen Tradition hatten die spanischen Anarchisten sich nie weder an Wahlen noch am Parlamentsbetrieb beteiligt und auch nie Bündnisse mit marxistischen Parteien geschlossen. Die einzige Ausnahme bildeten die Volksfrontwahlen von 1936, als es darum ging, durch einen Wahlsieg die Gefängnistore für über 30 000 Arbeiter zu öffnen, die nach dem asturischen Aufstand verurteilt worden waren.
Das anarchistische Ideal war eine freie Gesellschaftsordnung, aufgebaut auf föderativer Basis von unten nach oben, ohne jedes staatliche Gefüge, durch gesellschaftliche Selbstverwaltung. Jetzt wirkte die Regierungsbeteiligung ihrer Führer wie eine Bombe auf die anarchistischen Arbeiter und Bauern. Die Organisationen der CNT und FAI wurden in ihren Grundlagen erschüttert, zersetzten und zerrieben sich in unaufhörlichen Kämpfen und Zänkereien. Damit war für die Kommunisten der Hauptfeind, auf den sie bisher gar keinen Einfluß ausübten, weitgehend lahmgelegt. Der Feldzug der Kommunisten mit Regierungshilfe gegen die Komitees und die revolutionären Errungenschaften führte innerhalb der anarchistischen Bewegung zu zahlreichen Neugruppierungen. So entstand vor allem in Katalonien die Richtung der «Amigos de Durutti», die am alten anarchistischen Gedankengut festhielt, sich jedoch in der Folge marxistischen Ideen annäherte. Besonders aber wandte sich die «Juventud libertaria», die anarchistische Jugendorganisation, gegen die Volksfrontpolitik ihrer Führer. Es kam in allen Teilen des republikanischen Gebietes zu scharfen Zusammenstößen zwischen anarchistischen und kommunistischen Gruppen. Dem bürgerlichen Flügel der Volksfront behagte die Unterstützung der kommunistischen Strategie; diesen mehr oder weniger republikanischen Vertretern konnte es nur nützen, wenn die Anarchisten und mit ihnen alle revolutionären Elemente ausgerottet wurden. Die Rückgabe der Betriebe an ihre alten Besitzer, des Landes an privatwirtschaftliche Unternehmen ging parallel mit der Zerstörung der landwirtschaftlichen Kollektiven, selbst der Genossenschaften, soweit sie nicht kommunistischer Kontrolle unterstanden. Kurz, die Wahrung der Legalität um jeden Preis mußte zum Konflikt mit all den Elementen führen, die eine revolutionäre, soziale Umwälzung anstrebten. Gleichzeitig mit dem politischen Angriff auf die «Unkontrollierbaren» setzte die polizeiliche Unterdrückung ein. Stalins Sicherheitspolizei etablierte ihren eigenen Apparat neben dem Regierungsapparat, um die physische Liquidierung aller unbequemen Rivalen in die Wege zu leiten. Mit ihrer Erfahrung gelang es ihnen, dafür zahlreiche Teile der Regierungsmaschinerie einzuspannen, zumal sie in ihr überall ihre Vertrauensleute hatten und auf die wirksame Mithilfe ihrer bürgerlichen Partner rechnen konnten.
Die russischen Flugzeuge
Das belagerte und bombardierte Madrid wurde für das Volk zu einer wahren Hölle. Für die Korrespondenten gab es nun keine Frontfahrten mehr, dafür genügte die U-Bahn. Im Hotel kamen wir mit einem Italiener ins Gespräch, der sich an unseren Tisch setzte. Er war Flugzeugtechniker und arbeitete in Alicante. Vertraulich und etwas naiv erzählte er uns, in Alicante ständen seit über einem Monat mindestens fünfzig russische Flugzeuge einsatzbereit.
«Und warum erscheinen sie nicht über Madrid?» war unsere erstaunte Frage.
«Oh, sie werden kommen, glauben Sie mir! Nach allem, was ich gehört habe, werden die Flugzeuge am 7. November, dem Jahrestag der russischen Revolution, da sein. Sie werden sehen, ob ich recht habe.» Er behielt recht. Am 7. November tauchten zum erstenmal die russischen Flugzeuge am Madrider Himmel auf. Die Bevölkerung erlebte das Schauspiel heftiger Luftkämpfe. Wir sahen sie wieder vom Hoteldach aus mit an. Der Jubel war unbeschreiblich. Auf den Straßen wurde getanzt, demonstriert, musiziert. Die leise Hoffnung, die Stadt werde von nun an nicht mehr unter den feindlichen Fliegerangriffen leiden, erfüllte sich allerdings nicht. Doch wenigstens mußte der Gegner jetzt schwere Verluste in Kauf nehmen, seine Raids wurden vorsichtiger und seltener. Mit dem Einsatz der russischen Flugzeuge und Tanks gewann die Verteidigung Madrids, ja der ganze Kriegsverlauf neue, hoffnungsvollere Perspektiven. Die Regierung Caballero proklamierte ihre Siegeszuversicht, denn jetzt schien zumindest die materialmäßige Überlegenheit Francos ausgeglichen. Diese Hoffnung stützte sich auf die in Volk und Regierung weit verbreitete Meinung, die russische Hilfe werde nun mit voller Wucht einsetzen, die italienische und deutsche Einmischung gebührend beantworten.
Die politischen Wirkungen der russischen Hilfe waren sofort zu spüren. Sprunghaft stieg die Mitgliederzahl der schwachen Kommunistischen Partei an, ihre Forderungen wurden schärfer, ihr militärisches Potential verdoppelte sich. Die russischen Flugzeuge, die Artillerie, die Tanks und die Techniker standen ausschließlich ihren Einheiten zur Verfügung. Von Moskau aus geleitet, organisierten die kommunistischen Parteien der ganzen Welt den Zustrom von Freiwilligen nach Spanien. Freiwillige waren sie wohl alle jene, die in Spanien dem Faschismus Einhalt gebieten wollten: hingebungsvoll, enthusiastisch und naiv, dabei ahnungslos, von welchen Kräften sie gesteuert wurden. Schon im Ausland, vor allem in Paris, wurden die Freiwilligen auf ihre politische Zuverlässigkeit geprüft und dann in Spanien nochmals durchleuchtet, bevor man sie in die internationalen Brigaden schleuste. Anfänglich bildeten sich die Brigaden nach sprachlichen, später als gemischte Gruppen. Ihre militärischen Leiter waren entweder treue Parteikommunisten oder bewährte Mitläufer, die politischen Kommissare ausgewählte kommunistische Parteiführer. Die Kader der Brigaden bestanden zu sechzig Prozent aus Kommunisten, im Hintergrund agierten die russischen Offiziere Techniker, Spezialisten und Ausrottungsagenten.
Mit den russischen Offizieren, Technikern und Spezialisten konnte kein Kontakt hergestellt werden. Die Leute wohnten in besonderen, jedem Unbefugten streng verschlossenen Gebäuden; mit der Bevölkerung hatten sie kaum Berührung: Die Militärpersonen kamen nicht einmal mit ihren militärischen Einheiten zusammen. Letztere wurden aus dem Generalstabszimmer dirigiert, die Befehlsübermittlung erfolgte durch spanische oder ausländische nichtrussische Kommunisten. Mit den Fachleuten erschienen aus Moskau und dem Westen die Praktiker der Geheimpolizei mit dem Auftrag, alle Gegner der kommunistischen Politik auszumerzen. Den geheimen Polizeiapparat, der mit seinen Tribunalen, Privatgefängnissen und Überfallkommandos unabhängig von der spanischen Polizei und Justiz funktionierte, leiteten die Russen nicht direkt; vielmehr benützten sie auch dazu spanische und ausländische Kommunisten. Die Gegner der Kommunisten sollten diesen Apparat bald zu spüren bekommen und fürchten lernen. Bei unseren Besuchen an der Stadtfront von Madrid, in Gesprächen mit deutschen und italienischen Freiwilligen auf Urlaub in Madrid merkten wir nur zu oft die feindliche Einstellung dieser Leute gegen alles, was nicht russisch oder nicht kommunistisch war. Auf meine Frage, wie es denn komme, daß nicht ein einziger russischer Soldat, von Infanterieeinheiten ganz abgesehen, in den Brigaden diene, erhielt ich von diesen Freiwilligen die Antwort: «Bringen Sie Ihre antikommunistische Propaganda woanders an!»
Auf meinen Hinweis, bei Franco stünden doch eine ganze italienische Armee und starke deutsche Einheiten im Einsatz, kam die Erwiderung: «Keine Angst, die Russen kommen noch.» Es war pure Zeitverschwendung. Die moralische Wirkung der russischen Hilfe, die geschickte Propaganda der Kommunisten, die diesen Beistand politisch auszunützen wußte, zauberten das krasse Mißverhältnis zwischen der deutschitalienischen Waffenhilfe für Franco und der politisch genau dosierten russischen Unterstützung für die Republik glatt hinweg. Voller Mißtrauen, teils zu Tode erschreckt, wandten sich unsere Gesprächspartner von uns ab, mieden uns künftig wie die Pest.
Rodolfo Selke, verliebt wie er war, warnte Clara. Da er öfters mit Russen zusammentraf, hörte und sah er vieles, was anderen verborgen blieb. Er hatte mitgekriegt, wir beide seien sehr verdächtig. Am 8. November beschloß die Regierung Caballero, ihren Sitz von Madrid nach Valencia zu verlegen. Zur ungehinderten Abwicklung der Regierungsgeschäfte war das wohl notwendig, aber auf das spanische Volk, die Bevölkerung von Madrid wirkte der Entschluß niederschmetternd. Das Volk wollte die Regierung in der Stunde der Gefahr auf ihrem Posten in der bedrohten Hauptstadt wissen. Selbstverständlich mußte die ganze Kohorte der ausländischen Journalisten mit dem Regierungsapparat umziehen. Das paßte uns nicht, denn wir wollten in Madrid bleiben und in der Miliz aktiv sein. Wir sprachen darum bei der POUM vor, die sofort bereit war, mich aufzunehmen. Frauen allerdings durften laut Regierungsbeschluß jetzt nicht mehr mitkämpfen. Wir waren unentschieden, konnten keinen raschen Entschluß fassen. Rodolfo Selke suchte uns auf, beschwor uns, Madrid den Rücken zu kehren. Wir ließen uns überzeugen. Am 9. und 10. November setzte sich eine lange Autokolonne von Madrid nach Valencia in Bewegung. Es wurde scheußlich. Immer wieder hielten uns örtliche Kontrollen auf, unterzog man die Papiere einer genauen Prüfung und reichte sie dann mit finsterem Gesicht zurück. Einige Male mußten wir ausgiebige Beschimpfungen als Feiglinge hinnehmen. Rubio Hidalgo, dem Chef der Zensur, wurde ins Gesicht gespuckt, da er jeweils die Papiere vorzeigte. Den Ministern erging es nicht besser; erst nach langen Verhandlungen und Telefonaten mit Madrid wurde die Regierungskolonne durchgelassen. Die Arbeiter und Bauern verstanden nur eines: Die Regierung flieht...
Valencia war keine Frontstadt, hier ging das ruhige Provinzleben gemächlich weiter. Wohl wimmelte die Stadt von Militär, doch wußte niemand etwas Genaues über ihre Verwendung. Im Hotel einquartiert, fragten wir uns: Was wird nun? In den Büros herumlungern, die letzten Nachrichten aufschnappen, das lag uns nicht. Wir beschlossen, Spanien für eine gewisse Zeit zu verlassen. Mit Selke und Rubio Hidalgo hatten wir eine lange Aussprache. Da aus Madrid und anderen bedrohten Gebieten Frauen und Kinder zu Tausenden evakuiert worden waren, baten uns Selke und Hidalgo, in der Schweiz die Möglichkeiten zu sondieren, dort spanische Kinder und Waisen unterzubringen. Hinzu kam, daß ich unbedingt über den bisherigen Verlauf des Bürgerkrieges eine kurze Darstellung geben wollte. Aber eines war für uns ausgemacht - wir würden wieder nach Spanien zurückkehren.
Um diese Rückkehr zu sichern, gingen wir in Perpignan auf das Grenzbüro der FAI. Mit unseren Frontpapieren der zahlreichen anarchistischen Kolonnen, die wir besucht hatten, wurden wir gut empfangen, und es half auch, daß Clara blond war.
Während wir uns auf dem Büro mit den anarchistischen Kameraden unterhielten, hörten wir aus einem Nebenzimmer schweizerdeutsche Laute. Zwei junge Schweizer versuchten mühselig, den Anarchisten klarzumachen, daß sie an der Verteidigung der Republik teilnehmen wollten. Als Ausweisdokumente legten sie ihre Militärpapiere vor. Die Spanier verstanden einen blauen Dunst und lehnten mißtrauisch ab. Wir verwickelten die zwei in ein Gespräch. Sie kamen beide aus dem Tessin; der jüngere lebte dort bei seiner Mutter und war Rußlandschweizer, der ältere, ein Zürcher, trieb sich arbeitslos im Tessin herum. Beide waren politisch unbeschriebene Blätter, 21 und 23 Jahre alt, offenbar aufrechte Antifaschisten. Sie wollten sich in das Abenteuer des spanischen Krieges stürzen und verteidigten ihre Absicht energisch. Wir rieten ihnen davon ab, stellten ihnen vor, Spanien benötige eher Waffen und Lebensmittel als Menschen, brauche mehr die revolutionäre Unterstützung der europäischen Arbeiter. Es war in den Wind gesprochen, sie blieben jeglichen Vernunftsgründen unzugänglich, verlegten sich auf Bitten um unsere Intervention. Die naive Begeisterung rührte uns; wir rieten ihnen, die Sache zu überschlafen und verabredeten mit ihnen nochmals eine Zusammenkunft für den anderen Tag.
Sie waren pünktlich zur Stelle, entschlossener denn je, nach Spanien zugehen.
«Wenn ihr beide beim Komitee interveniert, lassen sie uns sicher hinein», bettelten sie. Wir taten es. Die Anarchisten kannten uns, auf unsere Bitte hin stellten sie den beiden die Grenzpapiere aus. Wir gaben ihnen verschiedene Adressen in Barcelona und überließen es ihnen, sich einer anarchistischen Organisation oder der POUM anzuschließen.
Helvetisches Intermezzo
Kaum in Basel angelangt, erfuhren wir von Freunden, Clara werde von der Polizei gesucht.Obwohl wir keine blasse Ahnung hatten, was die Polizei von uns wollte, hielten wir es für besser, Clara bei einer Freundin unterzubringen, indes ich unsere Wohnung bezog. Um acht Uhr früh klopfte ein Bote der Hermandad bei mir an und erkundigte sich nach meiner Frau. «Sie ist noch in Barcelona», log ich ihn ruhig an. «Ja, dann müssen Sie eben mitkommen, Herr Jud will Sie sprechen.» Wir zogen gemeinsam auf den Lohnhof. Herr Jud, mein alter «Bekannter», der mich schon etliche Male verhaftet und verhört hatte, begrüßte mich mit saurem Lächeln.
«Na, aus Spanien zurück. Und Ihre Frau?»
«Sie ist noch in Spanien.»
«Wann kommt sie zurück?»
«Das weiß ich nicht.» Der Kommissar betrachtete mich forschend. «Kennen Sie einen Herrn Wollenberg?» «Ja, den kenne ich.»
«Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?»
«Gesehen habe ich ihn noch nie.»
«Wieso wollen Sie ihn dann kennen?»
«Wollenberg ist ein bekannter kommunistischer Journalist, sein Name ist ein Programm.»
«Und Ihre Frau kennt ihn?»
«So wie ich — wenn Sie das kennen heißen.»
«Aber Herr Wollenberg war doch vor einiger Zeit hier in Basel.» «Keine Ahnung, Herr Jud.»
«Geben Sie mir eine Probe Ihrer Handschrift.» Ich kritzelte meinen Namen auf einen Fetzen Papier, er verglich ihn schnell mit einem Schriftstück. Ich wußte, daß es ein Grenzschein war. Herr Jud schien enttäuscht, die Regie klappte offenbar nicht ganz. Er zögerte und fragte nochmals: «Wann kommt Ihre Frau zurück?» «Wahrscheinlich nicht so bald, denn ich gehe auch wieder nach Spanien.»
Damit war ich entlassen.
Erich Wollenberg, den wir natürlich gut kannten, war tatsächlich bei uns in Basel gewesen, bevor wir nach Spanien reisten. Er wollte nach Paris und besaß keinen Paß. Clara holte ihm einen Grenzpassierschein, den Wollenberg mit meinem Namen unterzeichnete, und Clara brachte ihn sicher über die Grenze. Bei seiner Rückkehr aus Frankreich wurde er erwischt, in seiner Rocktasche fand sich noch der Passierschein. Im Verhör mußte ihm entschlüpft sein, daß ihn Clara über die Grenze geleitet hatte. Da das Papier nicht von mir unterschrieben war, konnte Herr Jud gegen mich nichts unternehmen. Inzwischen sprach Clara in Genf, Lausanne und Neuenburg in gut besuchten Versammlungen über Spanien. In Genf hatte sie eine scharfe, aber sachliche Kontroverse mit Paul Graber, dem sozialistischen Nationalrat des Kantons. Graber war ein überzeugter Pazifist. Er gestand auf der Tribüne unumwunden, es falle ihm schwer, gegen diese junge und ehrliche Begeisterung anzutreten.
Während Clara in der französischen Schweiz stürmisch gefeiert wurde, sprach ich in Basel auf vom Gewerkschaftskartell und der Sozialdemokratischen Partei organisierten Versammlungen. Aus Spanien hatten wir eine Menge Plakate der revolutionären Graphiker mitgebracht, die anläßlich der Versammlungen ausgestellt wurden. Die Stalinisten versuchten jedesmal zu stänkern, erlitten aber überall eine Abfuhr. In Zürich sprach ich im Kreis der Freunde von Fritz Brupbacher. In der zweiten Reihe saß Jules Humbert-Droz, damals noch einer der leitenden Männer der Schweizer Kommunisten. Als die Diskussion begann, verschwand Humbert-Droz stillschweigend. Am Schluß einer Versammlung in Basel klopfte mir jemand auf die Schulter: Joseph Burckhardt. Mit ihm und seiner Freundin Friedet waren wir 1934 durch den Balkan gewandert, in Belgrad hatten wir uns von ihnen getrennt. Wir kannten das Gerücht, Joseph und Friedel hätten sich in seine Vaterstadt Frankfurt am Main verzogen. «Wo kommst du denn her?» fragte ich ihn. «Aus Deutschland», sagte er, verlegen lachend.
«Aus Deutschland? Bist du Nazi geworden?» «Ja und nein. Ich werde dir das erklären. Friedel und ich hatten von der Globetrotterei die Nase voll. Ich wollte wieder nach Spanien zurück, wo ich vorher drei Jahre weilte. Sie lehnte ab. So blieb uns nichts übrig, als nach Deutschland zu gehen. Meine geschiedene Frau verhalf mir zu einer Anstellung bei einer Nazi-Zeitung. Um als Journalist zu arbeiten, mußte ich natürlich in die Partei eintreten, auch Friedel trat ein. Im Herzen war ich alles andere als ein Nazi, aber ich heulte mit den Wölfen. Alles schien gutzugehen. Leider erwachten bei meiner ersten Frau eifersüchtige Regungen, sie wollte wieder mit mir zusammenleben, ich sollte mich von Friedel trennen. Da ich mich weigerte und sie wußte, daß ich früher Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war, drohte sie, mich zu denunzieren, gab mir aber eine kurze Bedenkzeit. Da brach der spanische Konflikt aus, wir entschieden uns, Deutschland zu verlassen und wieder nach Spanien zu gehen. Gestern bin ich in Basel eingetroffen und hörte von deinem Vortrag. Ich hoffe, du hilfst uns, nach Spanien hineinzukommen. Wir wollen dort ehrlich mitanpacken und gutmachen, was wir gesündigt haben. Friedel wird in einigen Tagen eintreffen.» Schweigend hatte ich der Beichte zugehört.
«Weder für dich, noch für Friedel kann und will ich etwas unternehmen. Für Leute, die zu den Nazis laufen, rühre ich keinen Finger.
Zudem, aus Nazideutschland ins rote Spanien, das könnte euch den Kopf kosten. Jedenfalls rate ich euch ab, nach Spanien zu reisen, du wirst verstehen, unsere Wege gehen radikal auseinander.» Knapp zwei Monate blieben wir in der Schweiz. Unter dem Decknamen Franz Heller schrieb ich eine kleine Broschüre mit dem Titel «Für die Arbeiterrevolution in Spanien». Darin sparte ich nicht mit herber Kritik an der Stalinschen Politik, die eine im Gang befindliche soziale Revolution verhindern wollte und in der zweideutigen Waffenhilfe für Spanien ein Alibi für die Schausprozesse und Massendeportationen suchte. Die Broschüre wurde im Dynamoverlag in Zürich gedruckt, dessen Leiter der Trotzkist Walter Nelz war. Unsere Verhandlungen mit der schweizerischen Arbeiterkinderhilfe betreffs der spanischen Kinder hatten Erfolg: Die Aktion lief an, und tatsächlich fanden im Verlauf des Bürgerkrieges Hunderte von Kindern in der Schweiz eine Heimstätte.‹
Nun waren wir bereit, nach Spanien zurückzukehren. Diesmal wollten wir aktiv in der Milizarmee mittun. Die Berichterstattung für die INSA hatte nie richtig geklappt. Nur ein Teil meiner Berichte war erschienen; offenbar hatte die Agentur Siegesnachrichten erwartet, womit ich nicht dienen konnte. Geld hatte ich ein einziges Mal erhalten.
Der Pole Moulin, der in Genf Soziologie studierte, wollte uns begleiten. Er gehörte in Genf zur trotzkistischen Gruppe, war vierundzwanzig Jahre alt, groß und hager, mit stark gelichtetem Haar, ein fanatischer Anhänger der 4. Internationale und, wie er nie zu betonen vergaß, ein eiserner Bolschewik. Mit ihm hatte ich schon in der Schweiz harte politische Kämpfe ausgefochten, da wir für seinen Geschmack nicht stubenrein waren. Er brauchte uns aber, um nach Spanien hineinzukommen. Wir gingen über Paris nach Barcelona.
Bei der DAS in Pina
Bei unserem ersten Aufenthalt in Barcelona hatten wir die Bekanntschaft von Augustin Souchy gemacht. Souchy war deutscher Anarcho-Syndikalist, übte in der IAA leitende Funktionen aus. Er kannte die spanische Arbeiterbewegung und ihre Geschichte gut. Souchy war mit einer temperamentvollen Pariserin verheiratet, die an Clara viel Gefallen fand. Für uns war durchaus klar, wo wir mitkämpfen wollten. Niemals hätten wir bei den internationalen Brigaden Unterschlupf gefunden. Uns interessierte auch höchlichst die anarchistische Bewegung in Spanien.
Die spanischen Anarchisten, ganz in der Tradition von Michael Bakunin lebend, begannen schon 1920 mit einer heftigen Kritik an der russischen Revolution. In Rußland saßen ihre Freunde im Kerker. Seit der Parteiherrschaft der Bolschewiki wurden sie zu erklärten Todfeinden der Theorien von Lenin und Trotzki, sie lehnten überhaupt den Marxismus als Theorie des Klassenkampfes ab. In der blutigen Unterdrückung des Kronstädter Aufstandes, der Vernichtung aller nichtbolschewistischen Richtungen, den Verstaatlichungen, die die Ausbeutung des Menschen nicht aufhoben, dem Aufbau des ungeheuren Armee- und Polizeistaates sahen sie das Konterfei der kapitalistischen Welt. Dem autoritären Sozialismus stellten sie den freiheitlichen Sozialismus entgegen. Staatliche Institutionen und Gewalt waren ihnen in jeder Form ein Greuel. Sie wollten eine freie Gesellschaft, basierend auf den Gemeinden, den Arbeiter- und Bauernorganisationen, auf Körperschaften, die in freier Volkswahl den gesellschaftlichen Aufbau sichern sollten.
Würden sich die Anarchisten im Bürgerkrieg gegen die marxistischen Parteien durchsetzen? Würde die anarchistische Theorie in der Praxis den täglichen Anforderungen des Kampfes, der Organisierung einer Armee, der Wirtschaft und des Verkehrs, der Kollektivierung der Landwirtschaft, kurz all den gewaltigen Problemen des sozialen Umbaus gewachsen sein? Das alles bewog uns zum Anschluß an eine anarchistische Truppe in Katalonien oder an der Aragonfront. Souchy empfing uns zuvorkommend. Wir setzten ihm unser Anliegen auseinander. Sofort entspann sich mit ihm eine hitzige Diskussion über den weiteren Verlauf des Kampfes, die Aussichten einer revolutionären Lösung. Auf unsere Kritik der anarchistischen Regierungsbeteiligung entgegnete er unwillig: «Ja, ihr lieben Leute, wie ihr jetzt redet, habe ich vorher auch gesprochen. Steht man aber hinter dem Bürotisch und nicht davor wie ihr, so stellen sich die Probleme anders.» Das war für uns eine kalte Dusche.
Hinsichtlich unseres Eintritts in die Miliz wies er uns an die DAS (Deutsche Anarcho-Syndikalisten). Die Gruppe unterhielt an der Aragonfront eine Hundertschaft; daß Frauen noch in der Miliz würden mitkämpfen dürfen, bezweifelte er sehr. «Ihr wißt ja, die Regierung in Valencia hat dagegen ein Dekret erlassen. Nun, bei uns in Katalonien entscheiden die Komitees, in eurem Fall das zuständige Milizkomitee. Viel Glück.»
In der uns angegebenen Kaserne trafen wir den Verantwortlichen der DAS, Michel Michaelis. Auch er gehörte zu jenen deutschen Anarchisten, die vor Hitler in Spanien Zuflucht fanden. Michel war überzeugter Anarchist, kannte seinen Bakunin und Kropotkin, für die Marxisten aller Schattierungen hatte er nichts übrig. Doch die Empfehlung von Souchy, unsere Frontpapiere aus Madrid minderten sein Mißtrauen. Nur sei fraglich, ob er Frauen mitnehmen könne. Auf Claras Drängen erklärte er endlich, sie möge immerhin mitfahren, an Ort und Stelle werde die Hundertschaft entscheiden. In wenigen Tagen ziehe er mit dreißig Neuankömmlingen an die Front. Als wir aus der Kaserne auf die Straße traten, marschierte eine Gruppe ausländischer Freiwilliger unter dem Beifall der Spanier vorbei. Auffällig an dieser ansonsten alltäglichen Schau war, daß eine Frau an der Spitze die Fahne der Republik vorantrug. In der Bannerträgerin erkannten wir Friedel. Also waren sie und Joseph doch hereingekommen. Noch bevor wir an die Front fuhren, hatten wir mit ihr eine Aussprache. Dank ihrer vielseitigen Sprachkenntnisse arbeitete sie seit einigen Tagen als Sekretärin bei der POUM. Sie versicherte uns, sie hätte ihr Abenteuer in Deutschland gebeichtet, was, wie wir feststellten, der Wahrheit entsprach. Joseph Burckhardt hatte sich bei den internationalen Brigaden in Madrid engagiert. Während der zwei Monate unseres Schweizer Aufenthaltes hatte sich in Spanien vieles geändert. Beinahe gleichzeitig mit der Bildung der Regierung Caballero war Badajoz gefallen und Spanien in zwei Teile getrennt. Im Norden hatte Franco das ganze Baskenland erobern können, im Süden war Malaga bedroht. Die Aussichten eines Sieges über die Faschisten standen schlechter, das Volk bereitete sich auf eine lange Kriegsdauer vor.
Moulin, der keineswegs beabsichtigte, an die Front zu gehen, nahm sofort Verbindung mit der kleinen trotzkistischen Gruppe auf. Vor der Abfahrt - wir schliefen in der Kaserne - wurden wir eingekleidet, erhielten Gewehre und Munition. Zu den Gewehren tschechischer Herkunft bekamen wir je fünfzig Patronen. Unser Ziel war das Dorf Pina an der Aragonfront, vor den von den Franco-Truppen besetzten Städten Huesca und Zaragoza. In einem alten Autobus brachen wir, etwa vierzig Leute, an einem Nachmittag auf. Niemand nahm Anstoß daran, daß Clara mitfuhr. Die neugebackenen Milizionäre waren in der Mehrzahl deutsche Emigranten ohne parteipolitische Bindung, nur wenige waren überzeugte Anarchisten. Wie gewöhnlich gab es unterwegs eine Menge lokaler Kontrollen; Clara versteckte sich jedesmal unter den Bänken, um nicht zurückgewiesen zu werden.
In Pina wurden wir mit großem Hallo von der dort stationierten Hundertschaft begrüßt. Alle zeigten sich begeistert von unserer Ankunft und neugierig auf Nachrichten aus dem Ausland und aus Barcelona. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen von Antifaschisten aus allen Ländern. Der Stamm bestand aus Deutschen, doch hatten sich auch Holländer, Schweizer, Luxemburger und einige Spanier eingefunden, die sich bei den Ausländern wohl fühlten. Clara wurde gebührend bestaunt und akzeptiert. Außer ihr gab es da noch eine einzige Frau, Pepita, eine Spanierin, die gemeinsam mit einem spanischen Arzt den Sanitätsdienst versah.
Als provisorischer militärischer Leiter fungierte ein Saarländer, ein gedienter Frontsoldat des Ersten Weltkrieges. Die endgültige Wahl sollte erst nach der Neukonstituierung der Hundertschaft erfolgen. Michel Michaelis versah die Aufgaben des politischen Leiters, die Bezeichnung Kommissar war verpönt. Er war der weitaus aufgeklärteste von allen und bemüht, aus den Männern überzeugte Anarchisten zu machen, wozu ihn jene unumgängliche moralische Autorität befähigte, die allein Ansehen und Geltung verschaffen kann. Michaelis lebte genau wie jeder andere Milizmann, ohne irgendwelche Vorrechte. Jeder, aber auch jeder einzelne Beschluß in der Formation wurde vorher von der gesamten Mannschaft besprochen, ehe eine Abstimmung dann definitiv entschied.
Unsere Hundertschaft gehörte zu der großen anarchistischen Kolonne Durutti, die in Katalonien und Aragonien eine Milizarmee von dreißig- bis vierzigtausend Mann stellte. Buenaventura Durutti war der in Spanien bekannteste anarchistische Führer gewesen; sein früher Tod bedeutete für die anarchistische Bewegung einen schweren Verlust.
Pina, ein typisches aragonesisches Bauerndorf von etwa zweitausend Einwohnern, lag an den Ufern des Ebro. Unsere Hundertschaft hatte sich in zwei großen, leerstehenden Bauernhäusern einquartiert. Wir schliefen alle im Stroh, jeder bekam zwei Decken. Die Hundertschaft gliederte sich in Zehnergruppen, deren jede einer Bauernfamilie zugeteilt wurde, wo sie essen konnte. Der Verantwortliche der Zehnergruppe - gewählt nach einem bestimmten Turnus - holte das Essen im Verpflegungsmagazin ab und mußte dort jeweils den genauen Bestand der Gruppe angeben, sowie die Zahl der Köpfe der Bauernfamilie, bei der gekocht und gegessen wurde. Täglich erhielten drei Mann den Auftrag, mit der Bauernfamilie gemeinsam das Essen vorzubereiten. In den geräumigen Küchen der aragonesischen Bauernhäuser wurde am offenen Kaminfeuer gekocht. Die betreffenden Bauernfamilien fanden dabei ihren Profit, aßen sie doch auf Kosten der Miliz mit. Das System hat während unseres dreimonatigen Aufenthaltes in Pina nie zu Unzuträglichkeiten geführt.
Alles Land war kollektiviert. Ein von den Bauern gewähltes Dorfkomitee organisierte die Arbeit und die Verteilung der Produkte. Jeden Morgen um sechs Uhr versammelten sich die arbeitsfähigen Bauern mit ihren Geräten und Eseln auf dem Dorfplatz; die zu leistende Arbeit wurde festgelegt und jedem zugewiesen. Der größte Teil des Ertrages an Gemüse, Wein, Früchten, Kartoffeln, Oliven, dazu eine Unmenge Hammelfleisch, wurde von der Armee aufgekauft, der Rest in Barcelona und kleineren Städten des Hinterlandes vertrieben. Als Arbeitslohn erhielten die Bauern in der Hauptsache Coupons im Wert der abgeleisteten Werkstunden; sie konnten damit alles kaufen; Lebensmittel, Wein, Tabak, Kleider und Schuhe und sogar zum Friseur gehen. Auch für die Kranken, Kinder und Alten war gesorgt. Ein kleiner Teil der Löhnung wurde in Pesetas ausbezahlt, für persönliche Bedürfnisse und falls einer zum Beispiel bestimmte Samen, Pflanzen oder Gemüse besonders gern haben wollte. Natürlich ging so manches Entgelt auch für eine Reise nach Barcelona, Kinos, Restaurants und so weiter drauf.
Das Couponsystem funktionierte auch in der Milizarmee. Hier bestand die Besoldung aus zehn Pesetas pro Tag. Jeder erhielt täglich ein Päckchen Zigaretten oder Tabak; wem es nicht genügte, der konnte zukaufen. Wein und Tabak blieben beschränkt, und mehr als ein Liter Wein pro Mann wurde nicht ausgegeben.
Da nichts im Dorf zu irgendwelchen Sonderausgaben verlockte, sparten die Milizionäre einen schönen Batzen vom wöchentlich ausbezahlten Sold. Der Wunsch, Geld auszugeben, war groß, doch Gelegenheit dazu bot einzig Barcelona. Das Urlaubssystem aber war streng geregelt. Alle drei Monate hatte jeder Anrecht auf eine Woche Urlaub. Wer mehr verlangte, mußte das vor einem Urlaubskomitee begründen, das aus dem politischen und militärischen Leiter und drei Milizionären bestand. Im allgemeinen wurde mit dem Urlaub kein Mißbrauch getrieben. In unserem Frontabschnitt gab es keine Kämpfe, und so zogen oft einige Trupps Milizionäre mit den Bauern zur Landarbeit aufs Feld. Unsere militärische Ausbildung bestand in Ausmärschen, Schießübungen, Unterweisung im Gebrauch der Handgranaten und im Ausheben von Schützengräben längs dem Ebroufer. Auf der anderen Flußseite lag der Gegner, von dem selten etwas zu sehen war. Gegenüber von Pina, auf der Feindseite des Ebro, hatten Franco-Truppen ein großes, weißes Haus besetzt. Mit den unsichtbaren Insassen des weißen Hauses schossen wir uns gelegentlich herum. Oft war von ferne Kanonendonner zu hören, auch der Lärm von Fliegerangriffen drang manchmal zu uns. Außer einigen Patrouillengängen erfolgten keine militärischen Aktionen. Größere militärische Unternehmungen standen nicht in unserer Kompetenz und waren bei unserer rudimentären Bewaffnung auch vollkommen ausgeschlossen. Es gab in der Hundertschaft vier verschiedene Gewehrmodelle, nämlich tschechische, spanische, französische und mexikanische, meist veraltet. Zu unseren täglichen Beschäftigungen gehörte es, die zu den Gewehren passende Munition zu sortieren. Wir hatten sehr viele Eierhandgranaten zur Verfügung, deren Behandlung nicht ungefährlich war und deren Wirkung beschränkt blieb. Unsere einzige schwere Waffe bestand in einem Maschinengewehr vom Typ Maxim.
Jede Funktion in der Abteilung wurde durch demokratische Wahl besetzt. Die Gewählten konnten jederzeit durch Beschluß der Hauptversammlung abgelöst werden. Die erste große Debatte entstand um die Frage, ob Clara in der Hundertschaft bleiben dürfe. Michaelis hatte das Problem zur Diskussion gestellt. In unserer Zehnerschaft erhob sich keine Opposition gegen sie. Mehrere Abende lang zog Clara von einer Zehnergruppe zur anderen, um ihre Sache zu verteidigen. Als es schließlich in der allgemeinen Versammlung zur Abstimmung kam, siegte sie mit einigen Stimmen Mehrheit - in Anbetracht des bestehenden Regierungsverbotes ein bemerkenswertes Resultat.
An den Feuerstellen, in den Schlafhütten und auf den Hauptversammlungen wurde die Entwicklung des Krieges eifrig besprochen. Manchmal gab Michaelis Informationen und seinen Kommentar dazu. Die Nachrichten waren schlecht. Der Verlust des Baskenlandes wirkte sich militärisch und moralisch katastrophal aus. Italienische Truppen rückten auf Malaga vor. Der zunehmende Einfluß der Kommunisten war unleugbar, mit aller Kraft operierten sie gegen die Milizarmee, forderten die Bildung einer regulären Armee mit Einheitskommando. Im Prinzip waren viele Anarchisten damit einverstanden, doch wollten sie unter keinen Umständen einen russisch-kommunistischen Oberbefehl.
Gerade zu dieser Zeit kam unverhofft unser Zürcher Freund Heiri Eichmann in Pina an. Eichmann hatte uns in Zürich gebeten, ihm die Einreise nach Spanien zu erleichtern, wo er mitkämpfen wollte. Da er nicht sofort mit uns reisen konnte, ließen wir ihm die Adresse der Grenzkontrolle in Perpignan zurück. Schon mehrfach hatten wir uns seines Ausbleibens wegen Sorgen gemacht, aber letzten Endes vermutet, er habe seine Absicht geändert. Nun erschien er in Begleitung eines deutschen Emigranten und erzählte seine Geschichte. Sie waren beide, ohne es zu ahnen, der kommunistischen Grenzkontrolle in die Hände gefallen und sofort wie alle Freiwilligen nach Albacete transportiert worden. Dort regierte der französische Kommunist André Marty als Oberkommissar der Brigaden. Im obligaten politischen Verhör entdeckten die kommunistischen Agenten die beiden rasch als unsichere Kantonisten. Statt sie an die Front zu schicken, setzte man sie ohne Federlesen in einer Kaserne fest. Ihr Glück war, daß Marty in seinem blinden Wüten gegen politisch Andersdenkende seit Wochen rücksichtslos alle einkerkerte, denen er politisch mißtraute. In der in ein Gefängnis umgewandelten Kaserne saßen bereits über hundert Anarchisten, Sozialisten, oppositionelle Kommunisten, Freiwillige ohne Parteizugehörigkeit, die alle verdächtig schienen. Die Atmosphäre in Albacete war wie mit Sprengstoff geladen, die gegenseitigen Überfälle und Morde zwischen Anarchisten und Kommunisten häuften sich. Die Explosion erfolgte spontan. Ein Kommando der FAI stürmte nach kurzem Feuergefecht mit den kommunistischen Wachen das Gefängnis und befreite alle Inhaftierten. Eichmann und Gernsheimer konnten nach Barcelona zurückfahren, meldeten sich bei der DAS und fanden den Weg zu uns nach Pina.
An den langen Winterabenden wurden für Interessierte Kurse und Vorträge gehalten. Es ging dabei oft ruppig zu, sobald die Rede auf den Kriegsverlauf kam. Die meisten Mitglieder der Hundertschaft waren weit entfernt davon, Anarchisten zu sein; sie hatte entweder der Zufall oder die Abneigung gegen die Kommunisten in diese Ecke des Kriegsgeschehens verschlagen. Einige zwanzig bekannten sich zu marxistischen Lehren und bildeten einen ziemlich kompakten Block.
Ein kleiner Teil der Milizionäre spielte Karten. Als sich herausstellte, daß dabei um Geld gespielt wurde, setzte es einen großen Skandal. Eine Hauptversammlung befaßte sich mit der Angelegenheit, verurteilte die Schuldigen und bestrafte sie mit vermehrtem Wachdienst. Ein einziges Mal kam es zu einer Sauferei und Prügelei; den Betroffenen wurde bei Wiederholung mit dem Ausschluß aus der Militz gedroht. Auf einer Hauptversammlung der Hundertschaft lernten wir den Spanier Manuel kennen. Manuel, von Beruf Schiffsheizer, hatte alle Meere befahren. Er kauderwelschte in sechs Sprachen und war ein altes, überzeugtes Mitglied der FAI. In irgendeiner Abstimmung votierte Manuel als einziger gegen den von allen unterstützten Vorschlag. Seelenruhig erklärte der Versammlungsleiter: «Also die Sache ist mit einer gegen alle Stimmen beschlossen.» Wie ein Teufel sprang Manuel auf und schrie schrill: «Nichts ist beschlossen, ich bin gegen Diktatur, das ist eine Vergewaltigung!»
In unserer Zehnerschaft befanden sich ein Berliner und ein Sachse. Willi Joseph war ein Arbeiter aus den Markthallen von Berlin. Bärenstark, einsneunzig groß, besaß er einen unverwüstlichen, bissig-skeptischen Humor, den er, der keiner Partei angehörte, gerecht auf alle Fraktionen und Fraktiönchen verteilte. Willi war undenkbar ohne seine Mundharmonikas, von denen er stets ein halbes Dutzend in allen Größen bei sich trug. Er ergötzte uns alle mit seinen lustigen Weisen, doch bei entsprechender Laune konnte er auch klassische Sachen blasen. Dauernd zu den tollsten Streichen aufgelegt, erhielt er in der Hundertschaft den Spitznamen «Dorfnarr». Er kannte aber seinen Heine, Goethe und Lessing auswendig, fand in jeder Unterhaltung die passenden Verse, die den Nagel auf den Kopf trafen. Sein Gegenstück war der «Giftzwerg», ein kleiner, lebendiger, gift spritzender Sachse aus Dresden. Garlanty gehörte politisch zur KPO, Richtung Brandler und Thalheimer, und verfügte über ein solides marxistisches Rüstzeug. Die zwei waren unzertrennlich, nahmen an allen Debatten regen Anteil und unterstützten meist die von uns vertretenen Anschauungen. Die freiwilligen Kurse und Vorträge besuchten regelmäßig dreißig bis vierzig Milizionäre. Neben kulturellen und künstlerischen Problemen stand selbstverständlich das Kriegsgeschehen im Vordergrund. Michaelis verteidigte den offiziellen anarchistischen Standpunkt der CNT und FAI. Seinem ganzen Temperament gemäß, neigte er eher zu einer revolutionären Einstellung, doch in seiner Position konnte er sich mit der marxistischen Kritik nicht identifizieren. Seine Argumentation ließ sich etwa so zusammenfassen: «Um dem spanischen Volk die russische Hilfe zu erhalten, müssen wir mit den Kommunisten wohl oder übel bestimmte Kompromisse eingehen. Aber solange wir die Betriebe beherrschen, uns auf die Arbeiter- und Bauernkomitees stützen, die Milizarmee auf unserer Seite haben, sind wir in der Lage, den kommunistischen Einfluß zu kontrollieren und weitgehend unschädlich zu machen.»
Unsere Kritik richtete sich gegen die ungenügende Verteidigung und den ungenügenden politischen Ausbau der Komitees als der Basis einer revolutionären Umwälzung, die bereits begonnen hatte. Der Eintritt der Anarchisten in die Volksfrontregierung hemme, ja zerstöre diese revolutionäre Entwicklung; mit ihm sei die anarchistische Bewegung auf die Linie der Kommunisten eingeschwenkt, deren Losung: «Erst den Krieg gegen Franco gewinnen, dann mit der Revolution beginnen» die Sozialrevolutionäre Umwälzung verhindere. Der Krieg lasse sich nur durch revolutionäre Methoden und Ziele gewinnen. Die Kompromisse mit der kommunistischen Politik seien heute so tiefgehend, die revolutionären Kräfte bereits so weit geschwächt und zersetzt, daß sich der Bürgerkrieg langsam, aber unaufhaltsam in einen simplen imperialistisch-militärischen Konflikt verwandle.
Michaelis wollte seine Autorität stärken und holte sich aus Barcelona einen versierten anarchistischen Theoretiker, um unsere Kritik zu entschärfen. Die dauernden Niederlagen gegenüber den Franco-Truppen, der Fall Malagas, der sich mitten in unserer Diskussion ereignete, gaben den Debatten einen immer herberen Charakter. Eines Tages lud uns Michaelis vor und erklärte uns, so könne das nicht weitergehen. Nun wußten wir, was die Glocke geschlagen hatte. Da er durchblicken ließ, er könne nicht länger für unsere Sicherheit garantieren, hielten wir Rat. Fünfzehn Mitglieder der Hundertschaft beschlossen, gemeinsam die Front zu verlassen. Michaelis war mit dieser Entscheidung sehr zufrieden und bereitete unserem Abmarsch keine Schwierigkeiten. Er ließ uns sogar die Gewehre mitnehmen, die wir erst kurz vor Barcelona abgeben mußten. Da er uns auch ein Schreiben an die Milizinstanzen aushändigte, das uns berechtigte, im Milizheim zu Barcelona eine Woche Urlaub zu verbringen, vollzog sich der Abschied reibungslos. Michaelis hatte wahrscheinlich übertrieben, als er unsere persönliche Sicherheit gefährdet zu sehen behauptete; ihm ging es mehr darum, unbequeme Kritiker loszuwerden. Immerhin war nicht zu bestreiten, daß die Hundertschaft in Pina im großen Meer der anarchistischen Kolonne Durutti nur ein kleiner Tropfen war, was unserer Kritik natürlich Grenzen setzte.
Eine Woche hausten wir im Milizheim in Barcelona. Für jeden stellte sich die Frage: Sich weiter in Spanien engagieren oder aufgeben? Willi Joseph, Heiri Eichmann, Armin Walter und einige andere hatten die Nase voll und entschlossen sich, Spanien zu verlassen; einige andere traten in ein sogenanntes «Todesbataillon» der Anarchisten ein. In Barcelona hatte sich vieles verändert. Aus der bisher unscheinbaren PSUC (Katalanische Kommunisten) war eine starke Organisation geworden, deren Hauptaufgabe darin bestand, den Kampf gegen die Trotzkisten, die POUM, die «Unkontrollierbaren» zu führen. Unter Anleitung der russischen Agenten lernte die PSUC ausgezeichnet, wie man das Kleinbürger- und Bürgertum beruhigte und es gegen die revolutionären Elemente aufwiegelte. Im Zusammenspiel mit der katalanischen Generalidad mit Luis Companys an der Spitze, die seit Beginn des Bürgerkrieges ein Schattendasein geführt hatte und nur ein Vollzugsorgan des antifaschistischen Milizkomitees gewesen war, gelang es den Kommunisten, eine ganze Reihe von Prärogativen den Milizkomitees zu nehmen und den offiziellen Regierungsstellen zuzuweisen. Die Vertreter der POUM im Milizkomitee waren mit Hilfe russischer Drohungen und Erpressungen aus dem Komitee ausgeschlossen worden. Die führende Rolle der CNT in den Betrieben wurde Stück für Stück abgebaut und kommunistischen Instanzen unterordnet. Das zentrale Milizkomitee mußte nun wichtige Beschlüsse von der Generalidad bestätigen lassen, deren Bewilligung einholen. Zahlreiche kollektivierte Betriebe wurden den früheren Unternehmern ausgeliefert, die sich «loyal» verhalten hatten.
Die Machtbefugnisse der lokalen Komitees wurden mit allen Mitteln beschnitten. Wo sich Widerstand zeigte, brach man ihn mit legalen und illegalen Methoden. Die vormals dominierende FAI und CNT waren völlig in die Defensive gedrängt, die bislang ungehindert freie anarchistische Presse sowie das Organ der POUM, «La Batalla», sahen sich der strengen Regierungszensur unterstellt und erschienen jetzt öfters mit weißen Stellen.
Die Atmosphäre der Stadt war wie ausgewechselt. Obwohl natürlich noch überall der Milizoverall auftauchte, überwog wieder die Zivilkleidung, die bessere, durchaus bürgerliche Garderobe. Die Ernährungslage verschlechterte sich katastrophal, vor den Lebensmittelgeschäften standen die Frauen in langen Schlangen. Zugleich hatten die feinen Restaurants, wo für Geld alles zu haben war, wieder geöffnet. Da verkehrten Zivilisten mit undurchsichtiger Beschäftigung, viele Offiziere der «Volksarmee» in nagelneuen Uniformen, eine Menge Bürokraten aller Schattierungen. Mit sämtlichen Lebensmitteln außer dem streng rationierten Brot blühte ein schwunghafter Schwarzhandel. Der alte gesellschaftliche Gegensatz, der in der Revolutionsperiode fast ganz verschwunden war, feierte fröhliche Urstände. Die ehemaligen Begrüßungsformeln tauchten wieder auf, das «Salud» der Milizionäre hieß jetzt wieder «Buenos dias», die Anrede nicht mehr «Companeros»; das alte «Senor» und «Senorita» ließ jeden wissen, daß das Leben wieder «legal» und «normal» geworden war.
Mit Erbitterung mußten die Milizionäre der FAI, der CNT und der POUM die frischgebackenen Offiziere der «Volksarmee» in ihren adretten Monturen herumstolzieren sehen. In geschniegeltem Khaki, glänzenden Schaftstiefeln, moderne Pistolen umgehängt, bildeten sie einen dramatischen Kontrast zu der zerlumpten Kluft der hier urlaubernden Milizionäre. Die Revolutionsbegeisterung war einer dumpfen Resignation gewichen. Sprachen die Leute vom Krieg, und das war jetzt gar nicht so oft der Fall, dann nur um zu fragen: Wann hört er auf?
Politisch befanden wir uns im Niemandsland. Vom Trotzkismus hatten wir uns ideologisch gelöst. Der offiziellen anarchistischen Politik, die, naiv und romantisch, den Kriegsanforderungen wie den russischen Manövern nicht gewachsen war, standen wir kritisch ablehnend gegenüber. Die POUM? Sie war eine Minderheit, von heftigen Richtungskämpfen geschüttelt, den täglichen verleumderischen Angriffen der Kommunisten ausgesetzt, die sie als verbrecherische trotzkistische Organisation denunzierten. Dazu stieß sie, die marxistische Partei, auch bei den Anarchisten auf scharfe Ablehnung. Das änderte sich zum Teil erst, als auch die Anarchisten mehr und mehr Zielscheibe der kommunistischen Angriffe wurden. Trotzdem beschloß ich, in die POUM-Miliz einzutreten.
Bei der POUM
Wir wurden mit zwei Kameraden aus Pina sofort aufgenommen, nicht jedoch Clara. Nun waren die Zeiten endgültig vorbei, da Frauen in vorderster Linie mitkämpfen konnten. Trotzdem fuhr sie mit uns an die Front. Die uns zugewiesene Einheit war ein Stoßtrupp aus Deutschen, Holländern und wenigen Spaniern. Die deutschen Emigranten kamen fast ausschließlich aus der SAP und machten 80 Prozent der Formation aus. Ihr Quartier lag in Fananas, einem Dorf in der Nähe von Sietamo, an der Aragonfront. In einigen Punkten unterschied sich das Leben von demjenigen in Pina. Gegessen wurde in einer Kantine, das Kochen besorgte eine Feldküche. Die Besoldung betrug noch immer zehn Peseten, doch gab es Offiziere mit höherem Sold, überdies auch straffere Disziplin und eine Befehlsausgabe wie in einer regulären Armee. Das Milizsystem der Anarchisten war hier schon stark durchlöchert. Einen Tag lang blieb Clara bei uns, dann kehrte sie nach Barcelona zurück, wo sie mit Moulin wieder Verbindung aufgenommen hatte.
Bataillonschef war der ehemalige deutsche Fremdenlegionär Hans Reiter, ein Haudegen ohne jede politische Meinung. Wie sich bald herausstellte, war es auch mit seinen militärischen Kenntnissen nicht weit her.
Schon in der ersten Woche gab es Nachtalarm. Binnen einer Viertelstunde waren wir auf Lastwagen verfrachtet und sausten davon. Nach kurzer Fahrt wurden wir ausgeladen und umstellten in weitem Kreis eine Waldlichtung. Ein seltsames Bild bot sich uns da im Morgengrauen: Auf einer großen Wiese lagerten etwa zweitausend Milizionäre, ohne Waffen, in den buntscheckigen Monturen der FAI. Wir umzingelten diesen Haufen, ohne zu ahnen, für was wir hier eingesetzt wurden. Im Gespräch mit den Männern erfuhren wir, daß es sich um eine Einheit einer anarchistischen Kolonne handelte, die sich geweigert hatte, länger an der Front zu bleiben. Seit Monaten ohne Ablösung in der vordersten Linie, hatten sie mehrere verlustreiche Scharmützel durchgestanden und schwere Einbußen erlitten. Eine größere, gemeinsam beschlossene militärische Aktion scheiterte blutig, da die republikanischen und kommunistischen Truppen nicht wie angeordnet zur Unterstützung herbeieilten. Die Männer waren fest überzeugt, daß es sich um Sabotage handelte. Diese «Meuterer» sollten wir bewachen? Scham und Wut packte mich; denn um Polizei zu spielen, war ich nicht gekommen. Den anderen Kameraden ging es ebenso, wir verständigten uns, sandten einen Kameraden zu Reiter und verlangten kategorisch, zurückgenommen zu werden. Reiter wußte natürlich von nichts, setzte sich aber sofort mit dem Oberkommando der POUM in Verbindung. Eine halbe Stunde später konnten wir abziehen. Den anarchistischen Kameraden hatten wir deutlich zu verstehen gegeben, daß unsere Sympathien auf ihrer Seite lagen, und so verabschiedeten wir uns von ihnen herzlich.
In einer dunklen Aprilnacht schob ich am Dorfeingang Wache. Die Dorfkirchenuhr schlug Mitternacht, als ein Motorradfahrer herange rast kam und nach dem Bataillonsbüro fragte. «Was ist los?» fragte ich ihn. «Alarm», erwiderte er knapp.
Fünf Minuten später gellte die Trompete, in aller Eile bestiegen wir unsere Wagen und fuhren davon. In der Ferne war Geschützdonner zu vernehmen, dem wir uns rasch näherten. Hinter einer Gruppe Olivenbäume duellierte sich eine leichte Artillerieabteilung mit dem Feind. Der Feuerleitoffizier fiel mir auf, weil er weiße Handschuhe trug. (Später stellte sich heraus, daß es sich um den belgischen Sozialisten Kopp handelte; er geriet nach den Maitagen in die Hände der russischen Polizei und konnte erst nach einer internationalen Kampagne befreit werden.)
Wir sprangen ab und formierten uns. Reiter erläuterte kurz: «Der Gegner ist in unsere Stellungen eingedrungen, wir müssen ihn wieder hinauswerfen, in zehn Minuten gebe ich das Zeichen zum Angriff.» Wir pflanzten die Bajonette auf und warteten. Das Zeichen kam. Die Internationale singend, stürmten wir in das nächtliche Dunkel. Der Kanonendonner dauerte an. In der Finsternis war nichts zu sehen. Neben mir lief Georg Gernsheimer, ein Pfälzer, wir erkannten uns nur an der Stimme. Plötzlich schlugen wir lang hin, beide waren wir über knöchelhohen dünnen Draht gestolpert. Im gleichen Moment setzte von vorne rasendes Maschinengewehrfeuer ein, dicht über unseren Köpfen sausten die Geschosse dahin. Sich aufzurichten war reiner Selbstmord; keuchend lagen wir nebeneinander im Gras. Rings um uns hörten wir Stimmen, Gebrüll, Explosionen, sahen flüchtige Schatten springender Männer, leblose Gestalten am Boden liegen. Ein starker Schlag ganz in der Nähe ließ den Boden erzittern, ein kurzer Blitz erhellte die Nacht, jemand begann laut zu stöhnen: «Madre, madre ...»
«Die Schweine schmeißen uns Handgranaten an den Kopf!» schrie mir Georg ins Ohr. Das Maschinengewehrfeuer brach plötzlich ab, wir konnten uns erheben. Wir rannten zu dem Verletzten, der sein «Madre, madre» in die Nacht jammerte. Es war ein Spanier, von einer Handgranate verwundet, zusammen trugen wir ihn zum Gefechtsstand zurück. Nach und nach kamen die meisten unserer Leute zurück, ein Teil von ihnen hatte sich bis in die - leeren - feindlichen Gräben vorgearbeitet. Zwei Deutsche und ein holländischer Kamerad waren gefallen, es gab mehrere Leichtverletzte, darunter der Spanier, der nicht zu unserer Einheit gehörte.
In Katalonien, der anarchistischen Hochburg, war das Milizsystem im Prinzip intakt geblieben, während es den Kommunisten im übrigen Spanien gelungen war, ein Volksheer unter ihrer Führung zu bilden. Sie konnten allerdings die politisch-militärischen Formationen nicht aufheben, unterstellten sie aber ihrem militärischen Oberkommando. Nun versuchten sie dasselbe mit aller Energie auch in Katalonien. Die FAI, die CNT, vor alle die «Juventud libertaria» leisteten dagegen verzweifelten Widerstand. Die Schaffung einer regulären Armee war ihnen ihrer ganzen Tradition nach verhaßt. Sie wollten am Milizsystem festhalten, seiner Freiwilligkeit, der Wahl der Offiziere, der demokratischen Gleichheit. Keineswegs leugneten sie die Notwendigkeit einer besseren Organisation, einer einheitlichen Kriegsführung, doch glaubten sie, das sei auch auf der Basis der Milizarmee und ohne die Vorherrschaft einer politischen Partei zu erreichen. Mochte die politische Schulung, das intellektuelle Niveau der anarchistischen Arbeiter und Bauern gering sein, sie wußten und fühlten instinktiv, daß die Aufhebung des Milizsystems das Ende der revolutionären Periode einleitete. Dem wachsenden Einfluß der kommunistischen Parteiherrschaft wollten sie sich nicht unterwerfen.
Bei der POUM, einer marxistischen Partei, war der Widerstand gegen eine reguläre Armee geringer, vielleicht auch deshalb, weil ein Teil der POUM stark autonomistisch eingestellt war und ein anderer Teil den überragenden Einfluß der Anarchisten brechen wollte. Diese Entwicklung spürten wir in der Einheit der POUM sehr deutlich. Die formale Disziplin wurde immer stärker betont, die Besoldung war bereits gestuft, jetzt sollten die Offiziere von der Mannschaft gegrüßt werden. Zum öden Gewehrgriffeklopfen kam, daß man die bisherigen praktischen Übungen durch Kehrtwendungen sowie Sauberkeitsprüfungen der Waffen und Uniformen ersetzte. All diese Erscheinungen wurden in der Gruppe lebhaft diskutiert. Die Mehrheit, Mitglieder der SAP, befürwortete die Bildung einer regulären Armee, hielt das Milizsystem für überholt und veraltet, einer wirksamen Kriegsführung nicht gewachsen. Mit einigen wenigen verfocht ich den Milizgedanken, wies auf die wahren Hintergründe der angeblich nur militärischen Reformen hin.
Inzwischen hatten mehrere Exemplare meiner Broschüre Eingang in Spanien gefunden. Auch in unserem Bataillon wurden die dort vertretenen Gedanken besprochen; viele ahnten wohl, wer hinter dem Pseudonym steckte, obwohl ich es nie lüftete.
Da ich mit meinen Befürchtungen allein auf weiter Flur blieb, stand ich vor der Entscheidung, mich in das von den Kommunisten dirigierte Volksheer einzugliedern oder die Front zu verlassen. Ich entschied mich für das letztere. Reiter, dem ich meine Ansicht vortrug, war bitterböse, warf mir Feigheit vor und erklärte, die Bewilligung zum Verlassen der Einheit müsse ich beim Militärkommando der POUM einholen. Als Reiter einige Tage später ins Hauptquartier von Sietamo fahren mußte, nahm er mich mit. Ganz offen vertrat ich vor dem Militärkommando meine Auffassung. Die Männer hörten mir schweigend zu, berieten sich in katalanischer Sprache, die ich nicht verstand, und erklärten sich dann mit meiner Entlassung einverstanden. Auf der Rückfahrt sagte mir Reiter, er werde bereits am nächsten Tag ganz in die Nähe von Barcelona fahren, um für die Truppe Wein einzukaufen, und ich könne mitkommen.
Die Kameraden nahmen meine Entlassung und Rückkehr nach Barcelona sehr frostig auf. Einige machten kein Hehl aus ihrer Ansicht, meine politische Begründung sei nur ein Vorwand, um mich zu drücken.
Mit Reiter fuhr ich nach Abgabe der Waffen und Effekten los. In jedem größeren Dorf hielten wir an, und Reiter probierte in den Weinkellern den Wein. Genußvoll sog er aus dem ins Faß getauchten Schlauch tiefe Züge, um die Güte des Weines zu prüfen. Lange vor der Hauptstadt war er schon ordentlich besoffen und wurde gesprächig.
«Weißt du, mein Lieber», vertraute er mir an, dabei dauernd aufstoßend, «ich hätte dich ja unterwegs abknallen können, kein Hahn hätte nach dir gekräht. Schon bei deiner Ankunft im Bataillon wurde mir vom Militärkommando befohlen, auf dich gut aufzupassen, du seist als gefährlicher Trotzkist bekannt. Ich habe ja keine politische Meinung und verstehe von deinen Ansichten nichts, aber persönlich habe ich nichts gegen dich, ich laß' dich laufen. Mach was du willst, sieh zu, daß du einen Wagen bis nach Barcelona bekommst, ich kehre hier um, unseren Wein hab ich bestellt...» Schweren Schrittes wankte Reiter davon.
Der Maiaufstand in Katalonien
In Barcelona war Clara inzwischen mit Fritzchen Arndt, einem deutschen Emigranten, bekannt geworden. Fritzchen, ein bescheidener, bedürfnisloser und guter Mensch, gehörte seiner ganzen Gemütsart nach zu jenem Typ Anarchisten (ohne Mitglied einer Organisation zu sein), die mit Menschenliebe die Welt verändern wollten. Jede Art Gewalttätigkeit verabscheute er tief, stets war er in tolstoische Meditationen versunken. Dem Geschehen in Spanien stand er hilflos gegenüber, obwohl alle seine Sympathien beim spanischen Volk lagen. Er arbeitete in der Pelzindustrie und hatte weit oben im Quartier Lesseps in einer Villa zwei kleine Zimmer. Die Villa war von Helmut Rüdiger und seiner Frau bewohnt. Rüdiger amtierte als Sekretär der anarchistischen Arbeiter-Internationale, schon lange hatte er seine Zelte in Spanien aufgeschlagen. Bereitwillig stellte uns Fritzchen eines seiner Zimmer zur Verfügung, sehr zum Ärger von Rüdiger und dessen Frau. Mit Moulin hatten wir lange Gespräche. Seine Entwicklung war interessant. Nach Wochen fruchtloser und steriler Diskussionen mit der trotzkistischen Gruppe, die in mehrere Fraktionen und Unterfraktionen zerfiel, gab er es auf, dort weiter zu wirken. Den tatsächlichen Ereignissen konfrontiert, insbesondere der Theorie und Praxis der FAI und CNT (sie stellte für ihn ein absolutes Novum dar), konzentrierte er seine ganze Aktivität auf jene anarchistischen Kreise, die im Kampf mit der offiziellen Führung standen.
Es war ihm gelungen, zu den «Amigos de Durutti» enge Verbindungen zu knüpfen. Diese kleine, aber aktive Gruppe lehnte sich offen gegen die anarchistische Führung auf. Zielscheibe ihrer Kritik war die Regierungsbeteiligung und das ständige Zurückweichen vor den stalinistischen Provokationen, nämlich der Entmachtung der Komitees und der Preisgabe der revolutionären Errungenschaften. Moulin wollte der Auffassung, man sollte einfach zur traditionellen anarchistischen Politik zurückkehren, einen positiven, konkreten Inhalt verleihen. In nächtelangen Diskussionen konnte er das angeborene Mißtrauen der Anarchisten gegen die Marxisten lockern und sie zu einer gewissen Zusammenarbeit bringen. Der wichtigste Mann der «Amigos de Durutti», der in Barcelona bekannte Anarchist Balius, war ein durch Kinderlähmung verkrüppelter Invalide, der sich mühselig an Krücken bewegte. Schon bei unserer ersten Begegnung mit Balius und seinen Freunden dominierte der Eindruck, daß Balius eine außerordentliche Begabung in der Behandlung von Menschen besaß. Seine Einschätzung der Lage war einfach: Die anarchistische Leitung hat versagt, durch ihre Beteiligung an der Volksfrontregierung den tragfähigen Boden revolutionär-anarchistischer Politik verlassen und ist zu einem Anhängsel der kommunistischen Strategie geworden. Einziger Ausweg: Wiederherstellung der Macht und Souveränität der Komitees, Verjagen der katalanischen Generalidad mit Companys an der Spitze, Austritt der Anarchisten aus der Regierung, Neubelebung und bessere Organisation der Milizarmee. Auf dieser Linie sollte in Katalonien und in Aragonien, im Gebiet von Valencia, wo starker anarchistischer Einfluß bestand, die Macht ergriffen, mit der Zentralregierung verhandelt und Kontakt mit allen revolutionären Richtungen aufgenommen werden, die sich in Spanien den Einmischungen der Kommunisten entgegenstellten. Nach Balius' fester Überzeugung ließen sich auf dieser Grundlage, von der katalonischen Bastion aus, dem ganzen Land neue, revolutionäre Impulse geben. In diesen Ideen war schon eindeutig das Denken von Moulin spürbar.
Die zahlenmäßige Schwäche der «Amigos de Durutti» wurde wettgemacht durch ihren überragenden Einfluß auf die anarchistische Jugendbewegung, die sich schon seit längerer Zeit einen mörderischen Kleinkrieg mit der PSUC lieferte. Für jeden Mord an einem ihrer Mitglieder, für jeden Überfall auf eines ihrer Heime rächten sie sich mit Überfällen auf kommunistische Funktionäre, stalinistische Kasernen. Allein schon dank dieser energischen und aktiven Abwehrmaßnahmen war die anarchistische Jugendorganisation der offiziellen Führung entglitten, weit nach links abgerutscht und nur zu bereit für revolutionäre Aktionen. Die Kommunisten wollten den 1. Mai des ersten Kriegsjahres unbedingt mit den Anarchisten gemeinsam begehen, hatten mit ihren intensiven Bemühungen aber nicht überall Erfolg. Im Zeichen verdoppelter Kriegsanstrengungen sollten die Maifeiern allerdings am Abend durchgeführt werden, also ohne Arbeitsruhe tagsüber. Hinter diesem Plan stand auch die Befürchtung der Kommunisten, die anarchistischen Arbeiter könnten die Arbeitsruhe zu Manifestationen benützen. Die Gegensätze zwischen den beiden Lagern waren so stark geworden, daß selbst der gemeinsame Haß gegen Franco sie nur notdürftig zu übertünchen vermochte.
Zusammen mit Moulin, einigen Freunden und den «Amigos de Durutti» verfaßten wir ein Flugblatt, das wir vor den Maifeier-Lokalen verteilen wollten. In ihm wurde die Politik der Stalinisten, die schwankende Haltung der Anarchisten und der POUM angeprangert. Moulin, Bob, ein amerikanischer Trotzkist, und ich übernahmen die Verteilung in dem Industrievorort Sabadell. Meinen Vorschlag, die Flugblätter erst am Schluß zu verteilen, lehnte Moulin kategorisch ab. Er begann sofort damit, während Bob und ich warteten. Nach wenigen Minuten stellten wir Unruhe fest, Männer kamen aus dem Lokal und musterten Moulin kritisch. Sie holten Verstärkung; im Nu war unser Freund von Bewaffneten umringt, die ihm die Flugblätter entrissen. Bob, ein kräftiger Kerl, warf sich in das Gedränge, beschimpfte die Leute auf Englisch, mit dem Erfolg, daß er mit Moulin zusammen abgeführt wurde. Ich war unbemerkt geblieben und benützte das Ende der Versammlung, um ungestört meine Flugblätter zu verteilen. Aus der Unterhaltung der Männer, die Moulin und Bob in einem Auto weggefahren hatten, glaubte ich verstanden zu haben, daß man die beiden auf die Bürgermeisterei des Ortes führte. Ich eilte hin, stand aber vor verschlossenen Türen. Was tun? Der letzte Zug nach Barcelona ging in wenigen Minuten. Fest entschlossen, am nächsten Morgen alles zu unternehmen, um die beiden Kameraden freizubekommen, reiste ich zurück. Frühmorgens machte ich mich auf den Weg zu Andre Nin, um ihn zu informieren. Als ich eintraf, fand ich Moulin und Bob bereits in lebhafter Aussprache mit Nin vor. Sie hatten Glück gehabt, die Stadtverwaltung von Sabadell lag in den Händen oppositioneller Anarchisten, mit denen sie die ganze Nacht diskutierten und die sie dann in einem Hotel unterbrachten. Nachdrücklich hatten sie Bob und Moulin vor den Stalinisten gewarnt, insbesondere vor Agenten der GPU, mit denen sie schon mehrfach zusammengestoßen waren. Nin selbst mahnte zur Vorsicht; ihm mißfiel die Kritik an seiner Partei, obwohl er einige Vorbehalte seinerseits offen zugab. Der an sich belanglose Zwischenfall bewies uns, wie sehr sich die Anarchisten selbst in der katalonischen Hochburg ihrer Bewegung schon unsicher und bedroht fühlten.
Die gemeinsamen Maifeiern hatten den Konflikt keineswegs aus der Welt geschafft. Die Stalinisten empfanden die Kontrollpatrouillen der Anarchisten und der POUM seit langem als einen Dorn im Fleisch. Die Kontrollpatrouillen - eine Sicherheitstruppe im Hinterland zur Bekämpfung faschistischer Elemente oder Sabotage - waren ausgezeichnet ausgerüstet und für ihre Aufgabe gedrillt. Schon daß diese Kerntruppe von Anarchisten und der POUM gestellt wurde, unter Ausschluß der PSUC oder republikanischer Elemente, beunruhigte die kommunistische Leitung. Auf dem Weg über die Generalidad verlangten sie die Auflösung der Kontrollpatrouillen; sie wollten sie durch die offizielle Polizei ersetzt sehen. Dieser Angriff auf eine der letzten Festungen der revolutionären Epoche schuf viel böses Blut und verschärfte die Spannung. Die politische Atmosphäre war mit Elektrizität geladen, jeder fühlte das und erwartete den unvermeidlichen Zündfunken. Der Kurzschluß kam überraschend schnell. Clara und ich hatten mit Moulin ein Rendezvous auf dem Cataluna-Platz verabredet. Moulin ließ auf sich warten. Vor dem großen Eingangstor des stattlichen Telefongebäudes an der Ecke der Rambla de las Flores stand unschlüssig eine Gruppe Guardia de Asalto. Sie war bald von einer Menge Zivilisten umringt, hitzige Diskussionen entwickelten sich. Aus den teilweise in Spanisch und Katalanisch geführten Wortgefechten ergab sich, die Guardia de Asalto habe Befehl, das Telefongebäude zu besetzen, woran die anarchistischen Milizen im Haus sie hinderten. Oben, an der Haupttreppe, sah man die Miliz männer hinter einem aufgestellten Maschinengewehr ruhig abwarten. Die Menschenmenge schwoll an, mehr und mehr bewaffnete anarchistische Arbeiter umringten die Guardia de Asalto und nahmen eine drohende Haltung ein. Fiel ein einziger Schuß, so mußte es losgehen, das war der zündende Funke, mit dem alle rechneten. Da das National komitee der FAI seinen Sitz in der nahen Laetana hatte, schickte ich Clara dorthin, um das Komitee zu informieren und einen Verantwortlichen zu holen.
Bevor sie zurück war, krachten Schüsse, die Menge stob auseinander, die Guardia de Asalto flüchtete aus dem Torbogen und zerstreute sich. Wie auf Kommando rasselten die Jalousien der Geschäfte und Restaurants nieder, wurden in den Wohnhäusern die Fensterläden geschlossen. An den Fenstern des Hotels Colon, des Hauptquartiers der Kommunisten, erschienen wie auf Zauberschlag Sandsäcke. Offenbar wußte man dort, was die Stunde geschlagen hatte. Als Clara mit einem Funktionär der FAI ankam, war die Knallerei schon im vollsten Gange, überall entstanden Barrikaden, zwischen dem Hotel Colon und dem Telefonamt tobte ein wütendes Feuergefecht. Auf den Dächern der Häuser, in und an den Gebäuden um das Hotel Colon nisteten sich Dach- und Fensterschützen ein, die sich mit den Stalinisten herumschossen. Mit spontaner Wucht und Geschlossenheit brach der Generalstreik aus, die Straßenbahnwagen blieben auf der Strecke stehen und wurden, wo das günstig erschien, in Barrikaden verwandelt, an allen Straßen und Verkehrsknotenpunkten wuchsen Barrikaden wie Pilze aus dem Boden.
Der Versuch, das Telegrafenamt zu besetzen, wurde von der Bevölkerung als eine Provokation betrachtet, die den dünnen Geduldsfaden zerriß. Niemand wußte, ob die Initiative von der Regierung in Valencia ausging oder einfach ein regelrechter Überfall der Stalinisten war. Das von der FAI und CNT kontrollierte Telegrafenamt war schon lange ein Zankapfel zwischen der Regierung und den anarchistischen Verbänden. Für den Verkehr zwischen Valencia und Barcelona und mit dem Ausland mußte die Regierung das Amt von Barcelona benützen. Der Kontrolle durch die Anarchisten überdrüssig, griff die Regierung oft zu einer Kriegslist. Die Frau des ganz unter stalinistischem Einfluß stehenden Außenministers Alvárez del Vayo war eine gebürtige Bernerin, ihre Schwester war verheiratet mit dem Botschafter der Republik in Paris, Aristaquain. Um Ohren, die nicht mithören sollten, auszuschalten, sprach del Vayos Frau mit ihrer Schwester in Paris in echtem Berndeutsch, das kein Mensch verstehen konnte. Die Situation war völlig undurchsichtig, die spontane Aktion entlud sich wie ein Gewitter über den Häuptern der stalinistischen Organisationen, denn gegen sie richtete sich der Aufstand. In ganz Katalonien nahmen die Komitees im Namen der FAI, der CNT und der POUM die Macht wieder in ihre Hände, unterstützt von den Kontrollpatrouillen. Auf den Straßen Barcelonas wurden noch ahnungslos herumschlendernde Offiziere der Volksarmee entwaffnet und mit Fußtritten weggejagt. Wir beteiligten uns an diesem Zeitvertreib und begegneten dabei unseren anarchistischen Kameraden aus Pina. Sie wirkten eifrig an der Entwaffnungsaktion mit, bauten Barrikaden, besetzten die den stalinistischen Kasernen gegenüberliegenden Häuser und schossen sich mit deren Verteidigern herum. Wer auf wen feuerte, welche Barrikade von Freund oder Feind besetzt war, konnte vor allem nachts kaum ausgemacht werden. In das Kampfgetöse lärmten die Lautsprecher Nachrichten und anarchistische Kampflieder hinein. Den Nachrichten und Gerüchten zufolge hatte der Aufstand ganz Katalonien erfaßt und die Initiative an sich gerissen. Die Parteihäuser und Kasernen der Kommunisten und Guardias de Asalto waren umzingelt und belagert. Von der Kampffront in Aragonien setzten sich Milizabteilungen in Marsch nach Barcelona, von der Regierung in Valencia war nichts zuhören.
Wir blieben in der ersten Nacht hinter der großen Barrikade auf der Rambla de las Flores und wechselten Schüsse mit einer Gruppe Guardia de Asalto, die sich im Cafe Mokka versammelt hatte. In den Feuerpausen diskutierten wir mit den Arbeitern über Sinn und Ziel des Kampfes. Sie waren stolz auf ihre spontane Schlagkraft, überzeugt davon, daß nun die Stalinisten in Katalonien ausgespielt hätten. Auf unsere Einwände und Fragen - «Was weiter? Wer wird die Macht übernehmen? Wie soll sich das Verhältnis zur Zentralregierung in Valencia gestalten?» — antworteten sie beruhigend mit einem Schlag auf ihren Gewehrkolben: «Solange wir unsere Waffen besitzen, die Betriebe haben, werden weder die Stalinisten noch Franco durchkommen.»
In dieser ersten Nacht wußte kein Mensch genau, wer auf wen schoß. Von Zeit zu Zeit ertönten laute Rufe, die Barrikadenwachen hielten verspätete Fußgänger an, die verzweifelt ihren Heimweg suchten. Näherten sich diese Nachtwandler den Barrikaden, so mußten sie die Hände hoch über den Kopf halten; die meisten schrien in ihrer berechtigten Angst aus Leibeskräften: «FAI - CNT», um sich als Freunde oder Anhänger kenntlich zu machen. Wer die entsprechenden Ausweise vorzeigte, durfte die Sperre passieren, wer zu seinem Pech eine Karte der PSUC oder der kommunistischen Jugend besaß, wurde abgeführt.
Ein brennendes Problem wurde das Essen. Frauen und Kinder schleppten in Körben und Büchsen Vorräte für die Barrikadenkämpfer herbei. Holzfeuer flammten auf, im Schutz der Barrikaden wurde gekocht, in den großen, mit Olivenöl gefüllten Töpfen brodelte Hammelfleisch, in Bratpfannen brutzelten Eier. Schichtweise lösten sich die Barrikadenkämpfer ab, gingen nach Hause, um zu schlafen, tauchten nach ein paar Stunden wieder auf. Wie es sich gerade traf, aßen wir jeweils hinter der Barrikade mit. Im Wirbel der Ereignisse hatten wir Moulin nicht gefunden. Am zweiten Tag der Straßenkämpfe begegneten wir ihm bei den «Amigos de Durutti». Hier herrschte ein geschäftiges Treiben, Kuriere kamen und gingen, Anhänger begehrten Waffen, vor dieser oder jener Kaserne der Stalinisten verlangte man Unterstützung. Die Gruppe besaß nur wenige Gewehre, dafür eine Menge kleiner Handgranaten. Ununterbrochen tagten im Nebenzimmer Balius, seine Freunde und Moulin. An der stürmischen Debatte nahmen wir teil. Die Duruttileute glaubten, bereits gesiegt zu haben, waren sich aber über weitere Maßnahmen und Wege unklar; die Vertreter der anarchistischen Jugend drängten sie zu aktiverem Handeln. Wir stritten uns mit ihnen den ganzen Tag, wollten ihnen klarmachen, daß noch nichts gewonnen sei. Gegen Abend einigten wir uns auf die Herausgabe eines Flugblatts, in dem Sinn und Ziel der wirren Kämpfe erklärt werden sollten. Es enthielt im wesentlichen folgende Forderungen: «Sofortige Bildung einer ‹Junta de Defensa›, eines Verteidigungsrates aus allen revolutionären Elementen der CNT, FAI, der POUM, der Juventud libertaria, den noch bestehenden Milizkomitees und den Kontrollpatrouillen.
Alle Macht den Komitees der Arbeiter und Bauern und den Gewerkschaften; Rückzug der anarchistischen Vertreter aus der Valenciaregierung, Entwaffnung der kommunistischen Parteiorganisationen im Hinterland; schärferer Druck auf die Zentralregierung mit dem Ziel der Anerkennung einer neuen autonomen revolutionären Regierung in Katalonien.»
Unterzeichnet war der Aufruf von den «Amigos de Durutti». Sofort erhob sich das praktische Problem, das Flugblatt in genügender Menge drucken zu lassen. Die Duruttileute wußten Rat: im Barrio Chino kannten sie eine kleine Druckerei. Mit Moulin und zwei bewaffneten Milizionären machten wir uns auf den Weg, ich hatte vorsichtshalber einige Eierhandgranaten in die Taschen gesteckt. Da es schon dunkel war und der Aufstand sowieso keine geregelte Arbeit zuließ, war die Druckerei geschlossen. Wir klopften den Besitzer heraus, der sich zuerst weigerte, sein Haus zu öffnen, dann aber rasch der «bewaffneten Gewalt» nachgab. Mit seinem jungen Sohn und unter unserer Aufsicht setzte er den knappen Text, und kurz vor Mitternacht konnten wir vier- bis fünftausend noch nasse Blätter in Empfang nehmen. Wir einigten uns auf eine sofortige Verteilung hinter den Barrikaden, in den Parteihäusern und Kasernen. Überall wurden wir mit Mißtrauen empfangen, die anarchistischen Arbeiter wollten nichts von Politik wissen. An vielen Orten stießen wir auf schroffe Ablehnung, wurden zurückgewiesen. Bei der Verteilung hinter der Riesenbarrikade, die vom Hotel Falcon bis zum Hauptquartier der POUM die Rambla versperrte, verhafteten POUM-Milizionäre Clara, Moulin und mich. Mit einigen der Leute gerieten wir in heftigen Streit und wurden ziemlich unsanft herumgeschubst. Erst nach dem Eingreifen von Andrade, der uns kannte, wurden wir freigelassen.
Im Verein mit Anhängern der Gruppe Durutti, ja selbst mit Hilfe einiger Mitglieder der POUM, verteilten wir trotzdem den Aufruf weiter. Ohne ersichtlichen Erfolg.
Am dritten Abend des Aufruhrs sprachen Federica Montseny und Carcia Oliver, die anarchistischen Mitglieder der Valenciaregierung, über den Rundfunk zu ihren Anhängern. Mit weinerlichen, bewegten Beschwörungen baten sie die Arbeiter, den verheerenden Bruderkrieg einzustellen, die Arbeit wieder aufzunehmen, es gelte, zuvörderst den Krieg gegen Franco zu gewinnen. Erst wollte ein Teil der anarchistischen Arbeiter nicht glauben, daß da ihre Führer sprachen, dann aber war ihre Erbitterung und Enttäuschung grenzenlos. Aus Wut, Scham und Empörung zerrissen zahlreiche Angehörige der FAI und der CNT ihre Mitgliedsbücher, warfen sie in die Feuer hinter den Barrikaden, über denen noch die Töpfe mit ihrer Suppe brodelte. Haufenweise verließen sie ihre Stellungen und nahmen ihre Waffen mit, um sie in Sicherheit zu bringen. Die gewaltige spontane Bewegung, führerlos, mehr auf instinktive Abwehr als auf Angriff eingestellt, hatte sich totgelaufen. Das Ende war nahe. Nach einer letzten Zusammenkunft mit den «Amigos de Durutti», die sich auf unser Drängen hin auf die Illegalität vorbereiteten, zogen Clara und ich ebenfalls nach Hause. Zwei Nächte ohne Schlaf und richtiges Essen hatten uns ausruhebedürftig gemacht. Moulin fand bei anarchistischen Freunden Unterschlupf. Noch immer knatterte vereinzelt Gewehrfeuer auf. Auf dem Nachhauseweg überquerten wir den Cataluna-Platz und gerieten stracks in einen Ausfall der kommunistischen Besatzung des Hotels Colon mit Stoßrichtung Telegrafenamt. Es entspann sich ein hartes Feuergefecht. Nach allen Seiten rannten die Menschen in Deckung. Wir warfen uns hinter die vor einem Restaurant aufgestuhlten Tische und Stühle, die nur schlechten Schutz boten.
«Rasch rüber in den Torbogen da», schrie ich Clara ins Ohr, «dort springen schon Leute hinein, ich hab noch die Handgranaten bei mir, wenn sie zu nahe kommen ...»
Sie rettete sich mit ein paar Sprüngen in den Torbogen, hinter die schwere Türe. Nach einigen Minuten setzte ich nach, doch blieb die Türe verschlossen. Wild hämmerte ich gegen das Holz, drinnen hörte ich Clara mit den Menschen schreien, die vor Angst nicht öffnen wollten; die Kugeln prasselten gefährlich um mich herum, bis Clara endlich die Türe aufkriegte und ich hineinschlüpfen konnte. Ein Dutzend Männer und Frauen drängten sich verstört hinter der Pforte, das Ende der Schießerei abwartend. Der Kampflärm verebbte schnell, und wir traten endgültig den Heimweg an. Rüdigers Villa war geschlossen, wir mußten Fritzchen herausklopfen, dabei wurden Rüdiger und seine Frau wach. Sie empfingen uns unfreundlich, unsere Anwesenheit in ihrem Haus ließ sie um die eigene Sicherheit bangen. Das brave Zureden von Fritzdien beruhigte sie schließlich.
Nach ausgiebiger Ruhe begaben wir uns nachmittags ins Stadtzentrum. Die Kämpfe waren vorbei, Barrikaden wurden weggeräumt, und o Wunder, die Straßenbahn fuhr wieder. Auf der breiten Rambla standen erregt diskutierende Gruppen von Menschen. Vor dem Hotel Falcon zankten sich Kurt Landau, Max Diamant und Willy Brandt heftig um den Sinn des Geschehens; die einen versicherten, jetzt gewinne die Entwicklung neue revolutionäre Aspekte, andere, viel skeptischer, glaubten das Gegenteil. Wir vertraten die letztere Meinung, überzeugt, es werde eine Unterdrückungswelle einsetzen. Noch während dieser Debatten erklang plötzlich der Marschtritt von Truppen; die Hauptstraße hinunter, in strammer Ordnung, in neuen Uniformen und glänzender Bewaffnung, rückten die Ordnungstruppen der Regierung Caballero in Barcelona ein. Die diskutierenden Gruppen zerstreuten sich eiligst.
Zufällig begegneten wir einem uns bekannten englischen Journalisten, der verloren umherirrte. Er war auf Informationen erpicht und wollte unbedingt mit einem leitenden Mann der POUM sprechen. Wir gingen mit ihm zusammen auf die Redaktion der «Batalla», der Tageszeitung der POUM. Während der Unruhen war es einem Überfallkommando der Stalinisten gelungen, in die Redaktionsräume einzudringen und alles kurz und klein zu schlagen. Inmitten von Haufen zerrissener Zeitungen, zerschmetterter Stühle und Tische saß unbekümmert Chefredakteur Julian Gorkin an einem Tischchen und hackte emsig auf eine Schreibmaschine ein. Er kannte uns und war gerne bereit, eine Lageeinschätzung zu geben.
Mit einer Handbewegung auf die Trümmer meinte er: «Sie sehen ja, was hier geschehen ist, aber das hat nichts zu sagen. Die Situation ist jetzt durchaus klar. Seit zwei Tagen rekrutieren wir zahlreiche neue Mitglieder. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, von einigen Tagen, und die POUM wird in die Volksfrontregierung eintreten, die Kommunisten können das nicht mehr verhindern, sie müssen uns akzeptieren.»
Konsterniert verabschiedeten wir uns. Beim Hinausgehen fragte uns der englische Journalist: «Woher nimmt dieser Mann seinen Optimismus?»
Am Tage darauf war Julian Gorkin zusammen mit den meisten Mitgliedern des Zentralkomitees der POUM verhaftet und im Gefängnis. Andre Nin, von Stalinisten entführt, blieb verschwunden. Moulin, der uns seit Stunden suchte, wollte uns zu einer Sitzung der trotzkistischen Gruppe schleppen, was wir zunächst ablehnten. Doch behauptete er, es sei eine spezielle Angelegenheit, Erwin Wolf, zur Zeit Trotzkis Sekretär, sei in Barcelona eingetroffen und müsse uns dringend sprechen. Wir gingen mit. Die Zusammenkunft fand in einer dunklen Kneipe des Barrio Chino statt. Drei Leute erwarteten uns: Erwin Wolf, seine Frau und der Spanier Munez. Wolf war gebürtiger Tscheche, etwa fünfunddreißig Jahre alt, sprachenkundig und von lebhafter Intelligenz, seine Frau eine Norwegerin von außerordentlicher Schönheit und Frische, der typisch weiße skandinavische Teint umrahmt von einer Fülle dunkelroter Haare. Während der spanischen Ereignisse wohnte Trotzki, wie wir wußten, in Norwegen. Bei einer sozialistischen Lehrerfamilie untergebracht, arbeitete er dort mit Wolf zusammen. Wolf verliebte sich in die Tochter der Familie, und sie heirateten. Der kleine Vorort der norwegischen Hauptstadt hieß Hönefoss.
Von Munez hatten wir gehört, er sei der wirkliche geistige Führer der Trotzkisten in Spanien. Bei Ausbruch des Bürgerkrieges befand er sich in Mexiko und gelangte erst nach einigen Irrfahrten nach Spanien. Ein harter, kühner und kühler Mann, dem man anmerkte und anhörte, daß er weder Mittel noch Wege scheute, um seinen Standpunkt durchzusetzen.
Beide wollten sie unsere Meinung über die Maikampfe und die weiteren Perspektiven erfahren. Ungeschminkt stellten wir sie dar, wie wir sie sahen: Vorherrschaft der Stalinisten, Versagen der Anarchisten, zögerndes Verhalten der POUM, die Maiereignisse nur ein letztes revolutionäres Aufflackern; die beginnende Entwaffnung der Arbeiter, die Auflösung der Kontrollpatrouillen bereits Vorboten des kommenden Terrors. Gesamtbild: Rückschlag der Revolution, im Vordergrund Errichtung einer bürgerlichen Republik unter Stalins Obhut.
Wolf lauschte unseren Ausführungen ruhig, Munez unterbrach sie einige Male. Die beiden waren gegenteiliger Meinung. Nach ihrer Auffassung ständen wir vor einem Auftrieb der revolutionären Kräfte. Die Maikämpfe hätten doch den ungebrochenen Elan und die Schlagkraft der Arbeiter ins beste Licht gerückt. Es gehe nun darum, die Positionen auszubauen; die Regierung Caballero sei geschwächt und stehe vor dem Sturz.
«Die Regierung Caballero kann sich nicht halten, einverstanden; wird sie aber gestürzt, dann von rechts, nicht von links», lautete meine Erwiderung. Doch die zwei hatten sich offensichtlich vor der Begegnung mit der trotzkistischen Gruppe ausgesprochen; Wolf reflektierte getreulich die Ideen seines Meisters, wiewohl er das in viel konzilianterer Form vorbrachte als Munez.
Dieser attackierte sofort: «Ihr gehört nicht mehr zur Vierten Internationale. Wo steht ihr eigentlich?»
«Wo wir stehen? Das weiß ich nicht. Ich weiß aber, was geschehen ist. Der Maiaufstand an dem wir teilnahmen, war das spanische Kronstadt, damit hat der Niedergang begonnen.»
Munez Gesichtsmuskeln verzerrten sich, hörbar knirschte er mit den Zähnen: «Also naive Anarchisten, gut, daß ihr den Trennungsstrich zieht, mit derartigen Witzbolden arbeiten Bolschewisten nicht zusammen.»
Moulin hatte bisher geschwiegen, nun schaltete er sich ein. «Was wir jetzt erleben, ist natürlich nicht Kronstadt, diese geschichtliche Parallele stimmt nicht. Dagegen trifft zu, daß es sich um eine Niederlage für die revolutionären Kräfte handelt, wir haben eine Unterdrückungswelle zu erwarten. Ich bin aber überzeugt, sie ist vorübergehend, und nach der Ebbe wird die Flut wieder steigen.»
Konkrete Beschlüsse ließen sich aus der Konferenz nicht ziehen. Bezeichnend, daß jeder sich zuerst um eine geeignete, sichere Unterkunft kümmern mußte - wir Revolutionsspieler waren illegal. Dank Moulins Hilfe fanden Wolf und seine Frau im Hafenviertel ein kleines Zimmer, wo keine Gefahr drohte. Wolf war unter seinem wahren Namen nach Spanien gekommen, zu seiner Tarnung schrieb er für englische Zeitungen Berichte. Munez brauchte keine Hilfe, verlangte auch keine. Beim Auseinandergehen nahm uns Moulin zur Seite und teilte uns mit: «Ihr müßt sehr vorsichtig sein; anarchistische Freunde, die in der Polizei sitzen, haben mich gewarnt, daß sie nach dem Verfasser der Broschüre ‹Für die Arbeiterrevolution in Spaniern› fahnden. Es ist besser, wir sehen uns für einige Zeit nicht zu oft und ihr wechselt die Wohnung; bei Rüdiger könnt ihr nicht bleiben, der wird bald selbst in Gefahr sein.»
Wir verabredeten eine wöchentliche Zusammenkunft in einer Hafenkneipe.
Wie recht Moulin hatte, erfuhren wir noch am selben Abend. Fritzchen Arndt suchte uns im Cafe Mokka auf und teilte uns betrübt mit, wir könnten unmöglich zurückkehren, die Polizei sei bei Rüdiger erschienen, um uns abzuholen. Wir verabredeten mit ihm, sobald wir eine neue Wohnung hätten, sollte er unsere Sachen, vor allem meine Reiseschreibmaschine, dorthin bringen.
Wohin? Wir hatten keinen Zufluchtsort. Auf der Straße zu bleiben, war zu riskant, schwer bewaffnete Patrouillen der Regierungstruppen durchkämmten die Stadtviertel, alle Lokale der POUM wurden geschlossen, anarchistische Arbeiter entwaffnet. Wir berieten hin und her. Plötzlich rief Fritzchen aufgeregt: «Natürlich, wir holen Margot, ich glaube, sie hat eine Wohnung, wo ihr vorläufig unterkriechen könnt!»
Illegal
Margot, eine deutsche Jüdin, war immer bereit, Kameraden zu helfen. Wir fanden sie in ihrem Stammlokal. Sie kannte uns gut genug, um zu wissen, um was es ging. «Das trifft sich ganz günstig», sagte Margot. «Seit einigen Tagen arbeite ich im Spital, da kann ich auch schlafen. Meine Wohnung ist frei, ihr könnt sie sofort beziehen.»
Die Wohnung lag weit oben an der Via Muntaner, einer großen Verkehrsader der Stadt, ein eher behäbiges, bürgerliches Quartier. Sie bestand aus zwei großen Zimmern, Küche und Badezimmer, für uns ein wahres Luxusetablissement. Fritzchen brachte am Abend gemeinsam mit einem Bekannten unsere Sachen aus Rüdigers Villa. «Oh, wie die froh sind, daß ihr weg seid, das glaubt ihr gar nicht», meinte er freundlich lachend.
Erwin Wolf hatte sich trotz der Verschiedenheit unserer Ansichten sofort nach der Unterredung nach unserer materiellen Lage erkundigt. Wir verheimlichten sie nicht. Wir besaßen gar nichts. Seitdem der Milizsold aufgebraucht war, lebten wir von Tag zu Tag. Er half uns sofort mit einer Summe für die nächsten Tage aus. Auch Margot erklärte, sie werde bei ihrem Freund etwas pumpen, wir müßten ja leben. So war für die nächsten zwei bis drei Wochen gesorgt. Mit den «Amigos de Durutti» konnten wir keine Verbindung mehr herstellen; ihr Lokal war zerstört und gesperrt, die Leute waren verhaftet oder untergetaucht. Tagsüber vermieden wir möglichst, auf die Straße zu gehen, beschränkten uns auf die nötigen Einkäufe. Erst gegen Abend wagten wir uns hinaus. Noch einmal trafen wir mit Moulin in der Hafenkneipe zusammen, auch er mußte vorsichtig sein, da er gesucht wurde. Nach seinem Dafürhalten und seinen Informationen klang die reaktionäre Welle noch nicht ab. Polizeikräfte waren mit Razzien beschäftigt, es gab immer neue Verhaftungsbefehle, darunter Andrade, Gorkin, Landau. Unter den Festgenommenen sollte auch Friedel sein. Andre Nin blieb verschwunden, über sein Schicksal wußte man nichts. Eines Abends, mitten auf der Rambla, stürzte plötzlich ein Uniformierter auf uns zu: Joseph Burckhardt. Er war im Volksheer Offizier geworden. In Madrid hatte er von Friedels Verhaftung gehört und sich unter irgendeinem Vorwand Urlaub erbeten, um sich in Barcelona für ihre Freilassung einzusetzen. Da sich Friedel mit den meisten Funktionären der POUM im offiziellen spanischen Gefängnis Modello befand, hatte er sie sehen und sprechen können, doch von Freilassung war keine Rede. Als Sekretärin der POUM sollte sie im angekündigten Monsterprozeß gegen die POUM auftreten! Joseph war sehr niedergeschlagen, weil er nun unverrichteter Dinge wieder nach Madrid zurück mußte.
Auf dem Heimweg in unsere Wohnung überraschte uns ein heftiges Gewitter. Es dauerte die ganze Nacht und wir legten uns spät zu Bett. Morgens um drei Uhr weckte uns lautes Pochen an der Tür. Ich öffnete. Zwei Männer in Zivil, riesige Pistolen in der Hand, drängten mich ins Zimmer zurück und verlangten unsere Papiere. Dokumente hatten wir genug; sie prüften sie sorgfältig, dann fragte der eine: «Kennen Sie Moulin?» Wir verneinten. «Kennen Sie Franz Heller?» Wiederum verneinten wir. Sie waren beeindruckt von unseren Ausweisen, blieben höflich und filzten die Wohnung nicht. Diese nächtliche Visite in der ersten Nacht verhieß nichts Gutes. Wieso hatte uns die Polizei in dieser gutbürgerlichen Wohnung aufgestöbert? Wußte sie, daß Margot in der POUM arbeitete? Das war für uns die naheliegende Erklärung. Wir hielten es für ratsam, die zwei Zimmer genauer zu durchsuchen. Im kleineren Zimmer lagen auf einem größeren Schrank dicke Bündel Zeitungen, die wir bisher nicht beachtet hatten. Wir holten sie herunter. Es war eine komplette Sammlung «Völkischer Beobachter», Goebbels' Leiborgan. Entsetzt schauten wir uns an, bekamen hörbares Herzklopfen. Wie war das möglich? Auf jeden Fall mußten die Nazizeitungen weg. Faschistische Blätter bei polizeilich gesuchten Trotzkisten, das war ein gefundenes Fressen für die Stalinisten, so was brauchten sie für ihre Lügengespinste; ihre Propaganda hechelte schon lange über die Zusammenarbeit der Trotzkisten und der POUM mit Franco, Hitler und Mussolini. Bis in den Morgen hinein verbrannten wir die ganze Kollektion im Kamin. Von Margot erhielten wir dann die Erklärung. Die Wohnung gehörte vor Ausbruch des Bürgerkrieges einem deutschen Lehrer, einem Nazi, und wurde dann von Mitgliedern der POUM beschlagnahmt. Nie wäre es jemand eingefallen, dort einmal nachzuschauen, die Räume zu säubern, obwohl das in der ehemaligen Behausung eines Nazis nahelag. Offenbar wußte die Polizei auch, daß die Wohnung nun von POUM-Mitgliedern besetzt war, auf die sie Jagd machte. Die Bleibe war unsicher, doch vorläufig wußten wir nicht, wohin. Wir berichteten Wolf von unserem Pech. Er war entsetzt und der Meinung, wir sollten rasch umziehen, er versprach, sich sofort darum zu kümmern.
Als wir am Abend nach dem Polizeibesuch nach Hause kamen, brannte in der Wohnung Licht. Wir zögerten, traten dann aber doch ein. Im kleinen Vorraum auf dem Stuhl, den Revolver auf dem Tisch, saß zeitunglesend ein Mann. Er erhob sich, wies sich als Polizeimann aus und ersuchte uns, ihm auf das Polizeikommissariat zu folgen. Wir weigerten uns, mitten in der Nacht, nein.
«Es besteht keinerlei Gefahr für Sie, der Chef will Sie bloß sprechen», versicherte er uns.
«Dann können wir auch morgen auf dem Polizeikommissariat vorbeikommen, wir sind ausländische Journalisten, Sie haben kein Recht, uns mitten in der Nacht vorzuladen.»
Er wurde unsicher. «Nun gut», sagte er. «Bleiben Sie hier, ich werde unten mit dem Chef telefonieren.»
Nach wenigen Minuten kam er zurück und erklärte: «Gut, Sie können bleiben. Aber morgen schön auf dem Polizeikommissariat vorbeikommen!»
Damit verschwand er. Nach diesem zweiten Polizeibesuch war unseres Bleibens dort nicht länger. Wir suchten Wolf in seinem Zimmer im Hafenviertel auf. Er hatte noch nichts für uns gefunden und offerierte, wenigstens für einige Tage, sein kleines Zimmer, in dem er mit seiner Frau untergebracht war. Wir akzeptierten.
Am Nachmittag kehrten wir in die Via Muntaner zurück, um unsere Koffer und die Schreibmaschine zu holen. Beinahe gleichzeitig mit uns kam ein Polizeiauto vor Margots Wohnung an. Die drei Agenten, die uns besucht hatten, gingen ins Haus. Ohne zu zögern, setzten wir unseren Weg fort, traten einige Häuser nebenan in den Hausflur. Wir überlegten. Hier stehenbleiben konnten wir nicht. Wir verließen den Hausflur und marschierten ruhig am Polizeiauto vorbei. Nach wenigen Schritten hörten wir Rufe und Geschrei hinter uns, die Hausschließerin redete heftig auf die Polizisten ein, die vor ihrem Wagen standen, und zeigte auf uns. Wir begannen zu laufen, das Auto mußte erst wenden, setzte sich aber rasch in Fahrt. Ganz in der Nähe lag, wie wir wußten, das Gebäude des Schweizer Konsulats. Ehe uns die Agenten erreichten, verschwanden wir im Gebäude. Dem ersten verdutzten Beamten erklärten wir hastig unsere Situation, er holte den Sekretär herbei. Aufgeregt mit den Armen fuchtelnd, kam er auf uns zu und brüllte: «Wir sind kein Zufluchtsort für Rote. Sie haben das Konsulat sofort zu verlassen, ob Sie verhaftet werden, interessiert mich nicht.»
Clara protestierte energisch gegen diesen Willkomm, schrie wütend auf den Sekretär ein. Ich zog sie weg, sagte: «Laß ihn doch schreien, der Mann hat ja mehr Angst als wir.»
Wir mußten das gastliche Haus verlassen, die Polizisten draußen nahmen uns in Empfang und verluden uns in ihren Wagen. Auf dem Kommissariat durften wir gut zwei Stunden in einem bewachten Zimmer warten. Dann brachte ein Beamter unsere Papiere zurück, die man uns abgenommen hatte, entschuldigte sich, murmelte etwas von Irrtum und ließ uns abziehen. Es war spanische Polizei. Diese Nacht schliefen wir zum erstenmal bei den Wolfs, auf einer Matratze am Boden.
In den Fängen der GPU
Von Moulin wußten wir nichts, zu den Besprechungen war er nicht mehr erschienen. Wahrscheinlich hielt er sich irgendwo verborgen. Nur am Abend steckten wir die Nase hinaus, verließen aber nie das Hafenviertel. Da hinein wagte sich die Polizei nämlich selten, und wenn, dann nur in größeren Abteilungen.
Überzeugt, daß der revolutionäre Schwung der spanischen Arbeiter und Bauern gebrochen war und der Bürgerkrieg mehr und mehr zu einem seichten Abklatsch imperialistischer Gegensätze geriet, überlegten wir uns, ob es nicht besser sei, Spanien zu verlassen. Wir wollten nicht unbedingt von der russischen Geheimpolizei entführt und dann als unbekannte Opfer aufgefunden werden. Auch Wolf, der jetzt unserer Einschätzung beipflichtete, hielt es für ratsamer, dem Land Valet zu sagen, bevor es zu spät war. Die Tatsache, daß wir dreimal von der Polizei aufgesucht und verhört und freigelassen worden waren, bewies uns, daß wir von den spanischen Behörden nichts zu befürchten hatten. Aller Existenzmöglichkeiten bar, konnten wir in dem kleinen Zimmer der Wolfs nicht bleiben, ohne auch sie in Gefahr zu bringen. Auch ihnen gingen die Mittel aus. Von verschiedenen Seiten hatte man uns gewarnt, die stalinistischen Agenten suchten eifrig nach dem Verfasser der Broschüre «Für die Arbeiterrevolution in Spanien»; früher oder später mußten sie das Pseudonym durchschauen. Die Angabe des Erscheinungsorts «Dynamo-Verlag» Zürich im Impressum erleichterte ihnen ihre Nachforschungen erheblich.
Wenn bei den spanischen Behörden nichts gegen uns vorlag, mußte eine legale Ausreise möglich sein. Dank ihres Pumpgenies beschaffte uns Margot das Geld für die Schiffsreise. Da sich überall im spanischen Polizei- und Staatsapparat die GPU-Agenten eingenistet hatten, ergriffen wir einige Vorsichtsmaßregeln. Schön aufgeputzt, von Wolfs Frau kunstgerecht geschminkt, das Haar prächtig frisiert, ging Clara die Ausreisepapiere besorgen. Es klappte.
Auf einem französischen Dampfer, der in vier Tagen nach Marseille abgehen sollte, belegten wir zwei Plätze. Bewegter Abschied von Wolf und seiner Frau; dann schleppten wir unser Gepäck in den Hafen. Die Hafenbehörden visitierten anstandslos unsere Pässe, die Zollbeamten fanden nichts, weil wir nichts zu verbergen hatten. Vor uns lag das Schiff. Neben der Passerelle, auf der sich schon die Passagiere drängten, prüften zwei Zivilisten an einem Tischchen nochmals die Papiere. Sie verglichen jeden Namen mit ihren auf dem Tisch festgeklemmten Listen. Als die Reihe an uns kam, tuschelten die zwei miteinander. Der eine der Männer entfernte sich. Wir mußten warten. Wenig später kehrte der Mann mit bewaffneten Guardias de Asalto zurück, die uns umringten. Laut und heftig protestierten wir. «Regen Sie sich nicht auf, es handelt sich nur um eine Formalität.
Sie müssen schnell mit uns auf das Kommissariat kommen. Ihr Gepäck dürfen Sie ruhig hierlassen, Sie können das Schiff noch nehmen», versuchte einer der Agenten uns zu beruhigen. Wir glaubten ihm kein Wort und verlangten, sofort an Bord gelassen zu werden. Vier Bewaffnete hinderten uns am Betreten der Schiffstreppe, wir wehrten uns, im Strom der Passagiere entstand ein Gedränge. Clara erwischte zufällig den ihr bekannten französischen Vizekonsul am Ärmel, der Landsleute auf das Schiff begleitete, und schrie ihm ins Ohr: «Melden Sie den ausländischen Behörden, daß man uns verhaftet, wir sind die Schweizer Journalisten Thalmann ...» Trotz unseres Widerstandes zogen und zerrten uns die Agenten in einen heranrollenden Wagen und fuhren mit uns davon.
Puerta del Angel
Vor einem großen Gebäude unweit des Hafens wurden wir ausgeladen und durch einen Korridor auf eine Terrasse im Hinterhof geführt. Dort marschierte rauchend und leise flüsternd ein Dutzend Leute umher. Mit Erstaunen und gemischter Freude erkannten wir Michel Michaelis und eine Anzahl seiner Kameraden aus Pina. «Ah, seid ihr auch angekommen», begrüßte uns Michaelis lakonisch. «Wer hat denn euch und uns verhaftet?» fragten wir zurück. «Die Russen, die GPU, wir sitzen hier schon seit acht Tagen ohne Verhör. Es sind mindestens dreihundert Gefangene im Haus, wir haben noch kaum die Hälfte gesehen. Jeden Tag lassen sie uns eine Stunde auf die Terrasse. Wenn uns die FAI nicht herausholt, kommen wir nie frei.» «Was ist das hier für ein Haus?» «Es heißt ‹Puerta del Angel› (Tor der Engel) und gehörte einem spanischen Grafen.»
Clara und ich schauten uns an; sie hatten uns also erwischt. Uns blieb keine Zeit, die Situation zu überdenken; denn schon kam ein breiter, gedrungener Mann mit einer zerquetschten Boxernase im Gesicht und forderte Clara auf, ihm zu folgen. Obwohl er sich bemühte, korrekt Spanisch zu sprechen, war der russische Akzent unverkennbar. Michel, den ich fragte, bestätigte mir, daß nach Aussagen aller Gefangenen der «Boxer» der leitende Agent sei. Knapp eine Viertelstunde später kehrte Clara in Begleitung des «Boxers» zurück. Höflich öffnete er Clara die Tür und ließ sie zuerst auf die Terrasse hinaustreten. So konnte sie mir mit unbewegter Miene rasch zuflüstern: «Broschüre - nein!» Die Reihe war an mir. Hinter einem langen Tisch saßen fünf Männer, die mich schweigend fixierten. Ein noch junger, hochgewadisener Mann, ragende Stirn, beginnender Kahlkopf, gut geschnittenes Gesicht, führte den Vorsitz. Er leitete das Verhör in deutscher Sprache und war zweifellos deutscher Abstammung. «Kennen Sie einen Franz Heller?»
«Bevor ich Ihnen antworte, möchte ich wissen, vor welcher Behörde ich stehe», antwortete ich ihm. Er wurde nervös; der «Boxer», der neben ihm saß, tuschelte ihm etwas ins Ohr.
«Sie stehen vor einem spanischen Gericht, wir haben das Recht, verdächtige Elemente zu verhören.» «Spanisches Gericht», höhnte ich, «Sie sind doch Deutscher, neben Ihnen sitzt ein Russe, und die anderen sehen genauso spanisch aus wie Sie!»
Da liefen die Köpfe blutrot an, der Vorsitzende schlug auf den Tisch, brüllte wütend: «Ihre Frechheit wird Ihnen wenig helfen, Herr Thalmann, wir werden herausfinden, was Sie in Spanien treiben.»
«Vor einem ordentlichen spanischen Gericht bin ich bereit, auszusagen, vor einem kommunistischen Parteigericht habe ich keine Erklärungen abzugeben.»
«Wir können die Verhandlungen auch auf Spanisch führen, ich wiederhole Ihnen, daß wir hier das spanische Volk vertreten.» «Das ändert gar nichts, wir sind Schweizer Journalisten und verlangen unsere sofortige Freilassung.» «Was denken Sie über die Volksfront?» erkundigte sich der «Boxer» plötzlich.
«Darüber habe ich meine eigene Meinung, die ich vor jedem spanischen Gericht vertrete.” «Sie sind Trotzkist?» fragte der Vorsitzende.
«Ich bin Journalist und protestiere gegen unsere unrechtmäßige Verhaftung.» Nach kurzer, im Flüsterton geführter Unterhaltung geleitete mich der «Boxer» auf die Terrasse zurück. Clara befand sich dort allein. Sie war in ähnlicher Weise verhört worden, hatte protestiert und nach dem Konsul unseres Landes verlangt. Es blieb uns wenig Zeit zur Unterhaltung, zwei Wächter kamen, uns zu holen. Sie führten uns durch einen Saal, welcher der Wachmannschaft als Schlafraum diente. Im Hintergrund des Saales öffneten sie eine Tür. Wir traten in ein geräumiges Zimmer, unsere «Zelle». Die Tür zum Schlafsaal der Wachen blieb unverschlossen.
Als «Zelle» war das Zimmer groß und komfortabel. Ein breites Bett, zwei Stühle und ein Tisch sowie eine alte, schön geschnittene Kommode bildeten das Mobiliar. Die hohen Fenster an beiden Seitenwänden waren bis in Kopfhöhe mit einem Gitter verziert. Rechts konnte man ein kleines Stück der Terrasse und der Treppe in die unteren Räume sehen; links führte das Fenster auf einen Lichtschacht, aus dem zuweilen Stimmengewirr heraufdrang. Lehnten wir uns weit genug hinaus, so erblickten wir links unter unserem Fenster einen Teil einer Gemeinschaftszelle, in der sich schätzungsweise zwanzig Personen aufhielten. Die Spanier nennen diese Art Haft «Comunicado»: Man lebt gemeinsam in einer großen Zelle, darf lesen und schreiben, Post erhalten, wer über Geld verfügt, kann sich Eß- und Tabakwaren kommen lassen. Auch Besuche der Angehörigen sind erlaubt. «Incomunicado» ist Einzelhaft, der Gefangene lebt von der Außenwelt abgeschnitten. Neben dem Fenster an der linken Wand ragte ein Erker in das Zimmer hinein. In zwei Meter Höhe befand sich ein kleines Fenster mit bleigefaßtem Buntglas. Neugierig kletterten wir auf die Fensterbrüstung, um durch das Erkerfenster zu gucken. Es ließ sich leicht öffnen und gab den Blick frei in eine kleine Hauskapelle mit Altar und einem Dutzend Betstühlen.
Wo zum Teufel waren wir nur? Was war das für ein merkwürdiges Haus? Clara, neugierig, öffnete die Schubladen der alten Kommode und kramte darin herum. Außer einem alten, zerschlissenen Exemplar des Don Quijote in spanischer Sprache fand sie ein Stück feinsten Seidentuches, das wahrscheinlich in der Hauskapelle als Altartuch gedient hatte. Daraus zogen wir den Schluß, im Zimmer des ehemaligen Hauskaplans zu logieren. Abends um sieben Uhr brachte man uns das Essen, eine dicke Reissuppe mit einem großen Stück Brot. Zahllose Fragen bedrängten uns. Warum lassen sie uns zusammen in einem fast feudalen Gemach mit Bett? Wie sollen wir uns verhalten? Was wissen sie über unsere Einstellung und Tätigkeit? Wer sitzt noch in Haft außer den Bekannten, die wir auf der Terrasse getroffen hatten?
Wahrscheinlich wußte die kommunistische Polizei über unsere politische Aktivität nichts Genaues; unsere Papiere waren in jeder Hinsicht einwandfrei, man hatte in unseren Effekten nichts Verdächtiges entdeckt. Also tappte diese Polizei wohl noch im dunkeln und wollte keinen Fehler begehen, bis sie Gewißheit hatte.
Lange besprachen wir das Problem einer voraussichtlichen Trennung. Wir einigten uns, sie gegebenenfalls mit einem Hungerstreik zu beantworten. Bei weiteren Verhören wollten wir jede Auskunft über uns und unsere Bekannten verweigern und unentwegt protestieren. In den nächsten zwei Tagen ließen sie uns in Ruhe. Wir hatten Muße, uns mit den Gewohnheiten des «Hauses» bekannt zu machen. Am Morgen durfte man nach unten gehen und eine Toilette benützen, die dauernd verstopft war und einen fürchterlichen Gestank verbreitete. Im unteren Raum gab es auch Milchkaffee und Brötchen für die Zahlungskräftigen. Dabei konnte man mit anderen Gefangenen sprechen, obwohl das im Prinzip verboten war, doch drückten die spanischen Wachen gern ein Auge zu. Unter den Gefangenen waren alle Nationen und politischen Richtungen vertreten - Spanier, Deutsche, Franzosen, Engländer, Belgier, Jugoslawen, Italiener, Polen. Sie gehörten entweder zur POUM, zu anarchistischen Organisationen, zur spanischen Sozialistischen Partei oder zu den italienischen Maximalisten, deren Führer Pietro Nennt war. Es befanden sich auch waschechte Stalinisten darunter, die dauernd ihre Treue zum großen Führer beteuerten. Mit einem Exemplar dieser Gattung sollten wir auf merkwürdige Weise Bekanntschaft machen. Aus dem Lichtschacht tönten eines Tages deutsche revolutionäre Lieder herauf. Sehen konnte man den wackeren Sänger nicht. Als er eine Pause einlegte, rief ich hinab: «Hallo, Sänger, bist du Deutscher?»
«Ich bin deutscher Kommunist, hoch lebe Stalin.» «Nanu, wieso bist du denn hier, was hast du ausgefressen?»
«Gar nichts, eine pure Gemeinheit fraktioneller Elemente. Ich komme bald raus. Diese Schweine haben mich hier in die Zelle neben der verfluchten Scheiße gesteckt, ich ersticke beinahe. Und trotzdem werden wir siegen, mit Stalin an der Spitze.»
Seine Hochrufe auf Stalin entbehrten an diesem Ort nicht der Komik, waren aber nicht nach dem Geschmack mancher anderer Gefangenen. Von verschiedenen Seiten tönte es in den Schacht hinunter: «Halt die Schnauze, du Idiot!»
Jeden Nachmittag durften wir eine halbe Stunde auf die Terrasse und trafen dort mit anderen Gefangenen zusammen. Vor der Tür räkelte sich jeweils eine schläfrige Wache. Auf einem dieser Spaziergänge unterrichtete uns Michel, er sei mit vierzig Kameraden in der Garage eingeschlossen. Ohne Strohsäcke oder Decken schliefen sie auf dem nackten Zementboden. Ein belgischer Sozialist mit einer schweren Beinwunde, der bisher trotz aller Proteste ohne ärztlichen Beistand geblieben war, erschwerte ihnen ihr Los durch seine Fieberfantasien. Ein Teil seiner Gefährten sei entschlossen, in den Hungerstreik zu treten, sofern ihre Lage nicht geändert werde. Weder in der überfüllten Garage noch in den anderen Zellen gab es einen einzigen Faschisten oder Monarchisten, sämtliche Gefangenen waren Antifaschisten aller Richtungen.
In der dritten Nacht holten sie Clara zum Verhör. Ziemlich erschöpft kam sie nach zwei Stunden zurück; bevor sie mir etwas erzählen konnte, wurde ich weggeführt. Dieselben «Beamten» empfingen mich, wollten wissen, was wir während der Maitage getrieben hätten, fragten nach Moulin, nach anderen Bekannten, versuchten, mir politische Bekenntnisse abzulisten. Die Komödie dauerte über eine Stunde, dann führte mich die Wache zurück.
So vorteilhaft unser Zimmer mit dem zweischläfrigen Bett war, es hatte den Nachteil, Hinterzimmer zu sein. Wenn wir auf die Toilette, zum Waschen oder zum Morgenkaffee gehen wollten, mußten wir jedesmal an die Tür klopfen und den Schlafraum der Wachmannschaft durchqueren, was bei den dösenden Wachsoldaten stets einen Entrüstungssturm auslöste. Für diese Störungen hatte ich schon einige Fußtritte und Kolbenschläge erhalten, aber an eine Frau wagten sie sich nicht heran.
Drei Nächte hintereinander gab es Fliegeralarm; das Licht ging aus, Schüsse krachten, Gefangene sangen, Frauen kreischten. Das Wachkommando brachte sich in Sicherheit. Bis Sirenen das Ende anzeigten, herrschte ein heilloses Durcheinander. Ein komischer Zwischenfall bewirkte eine seltsame Veränderung unserer Haftbedingungen. Auch wenn wir die dicke Reissuppe, die wir täglich löffelten, herzlich verachteten, so war sie doch die einzige feste Nahrung. Was wir an wenigem Geld noch besaßen, verwendeten wir für Kaffee und Zigaretten. Eines Abends kam unsere Suppe nicht wie gewöhnlich um sieben Uhr. Wir warteten. Vergeblich. Schließlich verlor Clara die Geduld, stieß die Tür zum Wachraum auf und legte den Wachsoldaten eine Skandalszene hin. Sie warf ihnen spanische Flüche an den Kopf, stieß sie zur Seite, sprang auf die Terrasse hinaus und schrie laut nach dem Chef. Von allen Seiten liefen die Wachen herbei, fragten, wollten sie beruhigen. Schließlich erschien irgendein spanischer Beamter, den wir noch nie gesehen hatten, erkundigte und entschuldigte sich mit dem Versprechen, sofort für Essen zu sorgen. Gespannt harrten wir der Dinge. Um elf Uhr nachts tauchte ein befrackter Kellner auf und tischte uns ein feudales Abendessen auf: Fleisch, Gemüse, Obst und Wein. Derselbe spanische Beamte begleitete den Kellner und entschuldigte sich nochmals für das Versehen. Wir fielen aus allen Wolken.
«Wir haben kein Geld, um dieses Essen zu bezahlen», erklärten wir sofort.
«Sorgen Sie sich nicht darum, das geht auf unsere Kosten.» Wir schmausten wie die Könige, unterbrachen aber unsere Mahlzeit öfters und lachten laut hinaus. Es kam noch besser. Tags darauf, punkt zwölf Uhr, trat der Kellner in Begleitung eines Agenten abermals auf und servierte schweigend ein herrliches Mittagessen. Wir vertilgten es mit Appetit, fragten uns jedoch verwundert nach dem Wieso, und ob es wohl auch wieder ein solches Souper geben werde? Und siehe, das Tischleindeckdich kam nun jeden Tag zweimal zu uns, solange wir im Zimmer des Hauskaplans lebten. Zum Überfluß brachte man uns auch noch die dicke Reissuppe, die wir souverän ignorierten.
Mit dieser unerwarteten Verpflegung aus dem Hotel nahm es noch eine andere kuriose Wendung. Als wir aus dem Erkerfenster der Hauskapelle eines Nachmittags Stimmen hörten, kletterte ich auf das Fenstergitter und sah in der Kapelle sechs Leute auf Strohsäcken herumliegen. Ich erkannte unter ihnen Fred Hünen, Egon Korsch und einige andere Milizionäre, mit denen wir in der Hundertschaft von Michaelis zusammengewesen waren. Auf meinen Anruf hin stieg Fred auf die Lehne eines Betstuhls, um mit mir zu reden.
«Warum seid ihr hier untergebracht?» fragte ich ihn. «Wir sind seit gestern im Hungerstreik, darum hat man uns von den anderen in der Garage getrennt und uns hierher verlegt.» Rasch erklärte ich ihm, Clara und ich hätten massenhaft zu futtern, wir könnten sie glatt heimlich verpflegen. Lachend akzeptierten sie. Jeden Mittag und Abend steckten wir den «Hungerstreiklern» die besten Bissen unserer Mahlzeiten zu. Die groteske Situation amüsierte uns köstlich: Stoisch verweigerten die sechs die Reissuppe und labten sich dann am guten, von der GPU finanzierten Essen. Die Komödie dauerte allerdings nur vier Tage, dann wurden die Insassen der Hauskapelle disloziert. Gerüchtweise verlautete, sie seien nach Valencia gekommen. Eines Nachts holte man mich zum Verhör. Der deutsche Vorsitzende begrüßte mich grinsend mit den Worten: «Trotz Alledem, Herr Thalmann.»
Er gab mir damit zu verstehen, daß er genau über mich Bescheid wußte - «Trotz Alledem» war ja der Titel der monatlichen Zeitschrift der Schweizer Trotzkisten, an deren Schaffung ich mitgeholfen hatte.
«Sie waren drei Jahre in Rußland, nicht wahr?» bohrte er. Ich gab keine Antwort.
«Sie kennen doch den Herrn Nelz in Zürich. Sie sind auch der Verfasser der trotzkistischen Broschüre ‹Für eine Arbeiterrevolution in Spaniern›, die hier verteilt wurde. Sie sehen, wir sind gut orientiert. Ihr Leugnen und auch Ihr Schweigen nützt Ihnen nichts mehr.» «Ich habe nichts zu erklären, vor diesem Forum verweigere ich jede Aussage.» Sie führten mich ab. Ich war kaum drei Minuten bei Clara, da drangen drei Agenten ins Zimmer und schleppten sie trotz unseres Widerstandes hinaus. Daraufhin trat ich gemäß unserer Verabredung in den Hungerstreik.
Von anderen Gefangenen erfuhr ich, Clara sei im vierten Stock in einem Einzelzimmer eingesperrt. Auch sie war sofort in den Hungerstreik getreten. Außer Wasser nahm ich nichts zu mir, rauchte weniger. Die ersten zwei Tage waren verhältnismäßig leicht; erst am dritten Tag begann der Hunger, quälend zu werden. Die GPU, von unserem Hungerstreik unterrichtet, versorgte mich noch immer mit dem herrlichen Essen aus dem Restaurant. Mittags und abends zur gewohnten Stunde kam der schweigende Kellner und deckte unter den wachsamen Augen des Wächters den Tisch. Wie die Katze den heißen Brei, umwanderte ich den Tisch, schnupperte die dampfende Suppe und den Fleischgeruch. Mit Mühe bezwang ich mich, nicht von den köstlichen Birnen und Weintrauben zu naschen. Auch die Reissuppe erhielt ich täglich zweimal. Dem Kalfaktor, der sie brachte, versuchte ich einen Zettel für Clara mitzugeben, aber er verweigerte sich. Dafür steckte er mir am anderen Tag einen Zettel von Clara zu; sie schrieb: «Im Hungerstreik, es geht gut, ich machte die Bekanntschaft von Sundelewitsch.» Der Name sagte mir nichts. Die folgenden Tage vergingen wie im Rausch, Schwindelanfälle stellten sich ein, die meiste Zeit verdöste ich auf dem Bett. Der Reissuppenträger, den Clara offenbar gut bearbeitet hatte, überreichte mir von ihr gedrehte Zigaretten, die ich aufwickelte, um ihre Botschaften zu lesen. Sie war schwach, jedoch guten Mutes.
Eines Tages, während ich auf dem Bette döste, drangen deutsche Laute aus der Gemeinschaftszelle herauf. Ich fragte am Fenster nach unten: «Sind Deutsche da?»
«Ja, hier ist Stautz, ich bin Journalist», tönte es als Antwort. Ich nannte meinen Namen, da wir uns flüchtig kannten. «Bist du der einzige Deutsche und warum bist du verhaftet?» «Die Verhaftung muß ein Irrtum sein, mit mir ist noch der Journalist Wolf verhaftet.»
Ich erschrak. Wolf, Trotzkis Sekretär aus Norwegen! Hatte die GPU seine Identität bereits aufgedeckt?
Um mir Gewißheit zu verschaffen, stieg ich etwas später zur Toilette hinunter. Durch ein kleines Fenster konnte ich im Vorbeigehen einen Teil der Gemeinschaftszelle überblicken. Ich sah Wolf unruhig hin und her wandern, machte ihm ein Zeichen. Er kam ans Fenster, und ich flüsterte ihm zu: «Achtung, wir sind in einem GPU-Gefängnis, in einer Stunde komme ich wieder runter.»
Er nickte mir zu. In meinem Zimmer kritzelte ich mit Bleistift auf einen Fetzen Papier die Worte: «Achtgeben, casus belli deine Frau mit Paß ausgestellt in H.»
Trotzki befand sich zu dieser Zeit in dem kleinen norwegischen Ort Hönefoss, und das wußte die GPU. Der Paß von Wolfs Frau war in Hönefoss ausgestellt, wie ich gesehen hatte. Wies sie ihren Paß vor, um nach ihrem Mann zu fragen, mußte es für die GPU ein Kinderspiel sein, die Idendität Wolfs zu enthüllen. Trotzdem die Wachen im Vorzimmer maulten und mir einige Fußtritte versetzten, ging ich nach einer Stunde wieder hinunter und konnte Wolf meinen Zettel zustecken.
Fünf Minuten später stürzte ein Wachsoldat zu mir ins Zimmer und schrie mir in größter Aufregung auf Spanisch zu: «Sie haben einem Gefangenen einen Zettel zugesteckt, das wird böse Folgen für Sie haben!»
Ich spielte den Sprachunkundigen, zuckte die Achseln. Was werden sie nun unternehmen? Was wird mit Wolf geschehen? Ich fand keinen Schlaf.
Wir standen nun schon zehn Tage im Hungerstreik. Den spärlichen Mitteilungen des Kalfaktors zufolge war Clara sehr schwach und verschiedentlich zu nächtlichen Verhören geholt worden. Der Mann verspürte einen stillen Respekt für sie, in den sich viel Mitleid mischte. Jedenfalls hatte Clara ihn herumgekriegt, daß er mir unter dem Teller der Reissuppe täglich eine Botschaft von ihr brachte. Auf diesem Wege unterrichtete ich Clara über den Zwischenfall mit Wolf, damit man sie in einem Verhör nicht überrumpeln konnte. Um ein Uhr nachts holten sie mich. Der «Boxer» war diesmal nicht zugegen. Höhnisch lachte der Vorsitzende: «Nun, Herr Thalmann, wollen Sie noch immer nicht reden?»
Ich gab keine Antwort.
«Sie können Ihren Hungerstreik noch lange fortsetzen, uns kümmert das wenig, wir haben Geduld.»
Aus der Tischschublade zog er ein längliches Glasstück heraus, auf dem mein Zettel an Wolf aufgeklebt war. Der Agent hatte versucht, das stark zerknüllte und nasse Stück Papier glattzustreichen. «Sie haben einem Gefangenen einen Kassiber zugesteckt. Sie geben zu, daß das Ihre Handschrift ist? Wer ist die Frau mit dem Pandurengestell?»
Ich wäre beinahe vom Stuhl gefallen. Frau mit Pandurengestell? Was meinte er wohl damit?
Da ich beharrlich schwieg, ließ er mich abtreten. Auf dem Zimmer grübelte ich über die «Frau mit dem Pandurengestell» nach. Mein Papier war naß und zerknittert gewesen; also hatte Wolf es wohl rasch in die Klosettschüssel geworfen, wo es einer der Agenten herausfischte. Meine schlechte Schrift und das Wasser mußten den Zetteltext unleserlich gemacht haben. Plötzlich kam mir die Erleuchtung: Er hatte «Frau mit Paß ausgestellt in H.» als «Frau mit Pandurengestell» entschlüsselt und witterte dahinter nun irgendein Pseudonym. Da könnt ihr noch lange suchen, freute ich mich.
Als ich am Morgen zur Toilette hinunterstieg, fragte ich nach den zwei deutschen Journalisten. Sie seien alle beide heute früh entlassen worden, versicherten mir die Insassen der Gemeinschaftszelle. Was steckte dahinter? Hatten sie Wolf nicht erkannt oder ihn nur freigelassen, um ihn zu beobachten? Fragen ohne Antworten ... Trotz des Hungerstreiks ließ man uns - aber mich nie mit Clara zusammen - eine halbe Stunde auf die Terrasse. Während meines Spaziergangs am Tage von Wolfs Entlassung entstand Lärm im Flur. Die Tür zur Terrasse wurde aufgerissen, und ich sah Michel Michaelis, der sich mit einem Wachsoldaten herumzankte. Er wurde auf die Terrasse geschickt. Unter der Wachmannschaft war große Aufregung zu spüren, sie liefen wie aufgeschreckte Hühner umher, einige kamen an die Tür, um Michel wie ein Wundertier zu bestaunen. «Was ist los?», fragte ich ihn.
«Ich bin ausgerückt und freiwillig wieder zurückgekommen, der wachhabende Trottel will das nicht wahrhaben.» «Freiwillig zurückgekommen?» meinte ich ungläubig.
«Gewiß, letzte Nacht vergaß die Wache, das Tor zur Garage abzuschließen, wir hätten alle abhauen können. Wir stritten uns die halbe Nacht, was wir tun sollen. Falls wir alle ausflögen, befürchteten wir, daß die GPU gegen die zurückbleibenden Kameraden mit Repressalien vorgehen würde. Schließlich einigten wir uns, ich sollte allein verduften, das Nationalkomitee der FAI über das hier bestehende Privatgefängnis ins Bild setzen und dann wieder zurückkommen. Ich war bei der FAI, sie sind dort jetzt orientiert über die Puerta del Angel und werden uns herausholen. Nach meiner Rückkehr bin ich einfach zum Haupteingang hineinspaziert, und nun wollen mir die Burschen das nicht abnehmen.»
Das war ganz Michel - unbedingte Solidarität und grenzenloses Vertrauen in seine Anarchisten, verbunden mit unglaublicher Naivität und totaler Verkennung der Lage. Wenige Minuten später holten sie ihn.
Ich war entschlossen, den Hungerstreik abzubrechen. Je länger er dauerte, desto fester wurde meine Überzeugung, daß er zu keinem Resultat führen werde. Hungerstreik, weil man im Gefängnis nicht mit seiner Frau Zusammensein kann, war kein geeignetes Kampfobjekt. Außerdem wußte kein Mensch außerhalb des Gefängnisses um unsere Aktion, sie konnte kein Echo finden. Das waren die politischen Erwägungen, doch dürften die große körperliche Schwäche und die Sorge um Clara mitgespielt haben. Dem Reissuppenträger, der täglich erschien, gab ich einen Zettel an Clara mit, des Inhalts, sie möge gleichzeitig mit mir den Hungerstreik abbrechen. Ihre Antwort kam am nächsten Tag: «Kann weitermachen, bin aber einverstanden.» Langsam begann ich, Nahrung zu mir zu nehmen, die dauernden Schwindelanfälle wurden weniger, und drei Tage später konnte ich normal essen. Gleich nach der Beendigung des Streiks war auch die Speisung aus dem Restaurant ausgeblieben, die Reissuppe wurde wieder die Regel.
Die fünfte Woche unserer Haft brach an. Der stalinistische Sänger hatte sich noch ein paarmal bemerkbar gemacht und dann einen Hungerstreik angekündigt. Täglich erkundigte ich mich bei ihm, wie er ihn durchstehe. Nach drei Tagen kapitulierte er. Übrigens verschwand er einige Tage darauf; gesehen habe ich diesen Mitgefangenen nie.
Mehrere Tage lang führten sämtliche Gefangenen einen gemeinsamen Kampf gegen die Wachmannschaften. Die Wachsoldaten amüsierten sich in ihrer Freizeit auf verschiedenen Musikinstrumenten. Sie hatten in dem ehemaligen gräflichen Haus ein altes Klavier entdeckt und hämmerten nun scheußlich darauf herum, brachten es aber nicht bis zur einfachsten Tonleiter. Das dauerte stundenlang, das ewige Geklimper ging schrecklich auf die Nerven, rief überall Protest hervor. Noch schlimmer wurde es, als ein krächzender Phonograph alle möglichen Schlager quäkte. Wohl aus Unkenntnis spielten die spanischen Wachen eine Platte ab mit dem - Horst-Wessel-Lied! Das führte zur allgemeinen Rebellion. Mit Fäusten und Stühlen und allen harten Gegenständen hämmerten wir Gefangene an die Türen, die Wände, gegen den Fußboden, viele stimmten die Internationale an, bis die Wachen herbeieilten. Es kam zu Verhandlungen, man mußte ihnen erklären, wenn man uns schon ins Gefängnis sperre, könnten wir es nicht dulden, auch noch mit faschistischen Liedern gefüttert zu werden. Sie gaben kleinlaut zu, Melodie und Texte dieser Lieder nicht zu kennen. Fort an blieben die Musikanten stumm. Seit dem Verhör nach der Affäre Wolf war ich nicht mehr vernommen worden. Mitte Juli holten sie mich um Mitternacht. Diesmal hieß es, ich solle meinen Koffer packen. Ich weigerte mich entschieden, ohne meine Frau wegzugehen. «Ihre Frau erwartet Sie im Flur, Sie werden beide nach Valencia gebracht», teilte mir einer der Agenten mit. Das war immerhin möglich. Wie Gerüchte im Gefängnis wissen wollten, hatte man nach Michels Abenteuer alle Gefangenen der Garage nach Valencia transportiert. Ich packte meine Habseligkeiten zusammen und trat auf den Korridor. Wirklich, da stand Clara, bleich und mager. Wir umarmten uns. Zwei Soldaten, das Gewehr in der Hand, begleiteten uns. Wir durften nicht miteinander reden, befahlen sie - worum wir uns einen Pfifferling scherten. So marschierten wir zu Fuß zum Bahnhof. Dort warteten wir einige Stunden auf den Zug. Zu unserem Erstaunen wurden wir in ein gewöhnliches Abteil geführt, in welchem schon einige Reisende Platz genommen hatten. Clara und ich saßen einander gegenüber, jedes an seiner Seite einen Soldaten. Die Mitreisenden warfen uns neugierige und mißtrauische Blicke zu. Um ihre Neugierde zu befriedigen, knüpften einige der Fahrgäste ein Gespräch mit den zwei Soldaten an, und bald beteiligte sich das ganze Coupe an der Unterhaltung.
«Die zwei sind Faschisten», behaupteten unsere Zerberusse. Erbost schrie Clara: «Das ist eine Lüge, wir sind Sozialisten, und die GPU hat uns verhaftet, wir haben an der Front mitgekämpft!» Immer mehr Leute mischten sich in die Debatte, unsere naiven Bewacher wußten nicht mehr ein noch aus. Deshalb trennten sie uns schließlich und setzten mich in ein anderes Abteil. Dafür gingen wir jetzt alle zehn Minuten auf die Toilette, wo wir uns gegenseitig Nachrichten hinterließen. Jedesmal begleiteten uns die Soldaten bis vor die Tür und warteten geduldig. Sie waren im Grunde gutmütig, behandelten uns anständig und hatten Mitleid.
Gegen Mittag kamen wir in Valencia an. Unsere Begleiter waren froh, uns an ihre Vorgesetzten abliefern zu können. Im Polizeigebäude ließen sie uns eine Stunde allein in einem Zimmer; dann separierten sie uns, diesmal gab es keinen Ausweg. Nach einer langen Umarmung wurden wir einzeln abgeführt.
Santa Ursula
Das Auto hupte vor einer großen Toreinfahrt, wir rollten in einen weiten Hof. Ich wurde ausgeladen, durchsucht, in ein großes Buch eingetragen. Zwei Wachen führten mich in meine Behausung. Sie war schon belegt. Ein schöner, junger Mann, Ende Zwanzig, unverkennbar südlicher Typ, stand mir gegenüber und sprach mich zuerst spanisch an; doch als ich mich vorstellte, stammelte er einige deutsche Brocken. Mein Zellengenosse behauptete, Advokat zu sein, die Gründe seiner Verhaftung ahnte er nur. Angeblich hätte er sich abfällig über die «Frente Popular» geäußert, was er energisch bestritt. Nach unseren Erfahrungen klang seine Geschichte durchaus glaubhaft.
Unsere Zelle war die ehemalige Klosterküche. Mein aus Valencia stammender Advokat belehrte mich, daß das Geheimgefängnis der Kommunisten das frühere Nonnenkloster «Santa Ursula» sei. Nach seiner Schätzung - er saß seit zwei Wochen - beherbergte das Kloster etwa zweihundertfünfzig bis dreihundert Gefangene. Die Küche zu ebener Erde war sehr geräumig, in Mannshöhe befand sich ein vergittertes Fenster, durch das der Lärm der Stadt hereindrang. Das Kloster mußte in einem belebten Stadtteil liegen, deutlich hörte man die Fahrgeräusche und das Klingeln von Straßenbahnen, das Rufen der Straßenverkäufer, selbst Gespräche der Passanten. Außer einem Spülbecken enthielt die Küche nichts - keine Decke, kein Stroh, keinen Stuhl, keine Pritsche. Die Wasserleitung war verlötet, der Fußboden bestand aus schwarz-weißen Fliesen. Weder Glas noch Eßgeschirr war vorhanden; beim Liegen benutzten wir unsere Koffer als Kopfkissen. Das Essen war besser als in Barcelona. Mittags und abends gab es Reis oder Bohnen mit Tomatensoße, alle drei Tage einen Bissen Fleisch, manchmal Früchte und ein Viertel Wein. Zum Frühstück gab es nichts; auch hier konnte nur, wer Geld besaß, sich eine Tasse Kaffee mit Brötchen verschaffen. Der Spanier hatte sein Geld schon längst aufgebraucht, genau wie ich meins.
Zum Zeitvertreib gaben wir uns gegenseitig Sprachstunden oder spielten Schach. Der schwarz-weiße Steinboden war unser Schachbrett, aus dem weichen Brot kneteten wir primitive Figuren. Ins Spiel vertieft, wanderten wir stundenlang kreuz und quer durch die Küche. Eine quälende Plage waren die zahllosen Ameisen, die uns nachts überfielen und den Schlaf raubten. Unserem Küchenfenster gegenüber befand sich ein hoher Stadtturm, von dem wir nur die Mauer erblicken konnten. Vom Turm her hörten wir ununterbrochen Gesänge und wilde Rufe. Wenn man sich auf den Boden legte, vermochte man die Turmbrüstung und dort oben eine Menge sich hin und her bewegender Gestalten zu sehen. Mein Gefährte klärte mich auf, in dem Turm seien über hundert anarchistische Milizionäre eingesperrt, Teil einer Kolonne, die an der Front rebelliert hätte.
Mein ausgesprochenes Pech war, auch in Santa Ursula in einer Zelle zu sitzen, vor der der Wachraum lag. Gelegentlich bestraften uns die Wachen für Störungen mit Fußtritten. Morgens um sieben Uhr wurden wir zum Waschen in einen großen Raum geführt. Von Clara wußte ich nichts. War sie hier oder in einem anderen Gefängnis? Ich hatte bereits vernommen, daß in Santa Ursula eine Frauenabteilung bestehe.
Am vierten Morgen öffnete sich die Tür, ein Gefangener unter Aufsicht eines Wachsoldaten brachte mir eine große Tasse Milchkaffee mit Brot. Auf meine erstaunte Frage flüsterte er: «Von Ihrer Frau.» So wußte ich wenigstens, daß Clara auch hier war. Wir teilten das Frühstück, nachdem ich den Widerstand meines Kameraden gebrochen hatte. Als der Kaffeeträger am anderen Morgen wiederkam, fragte ich ihn sofort: «Wo ist meine Frau? Woher hat sie das Geld?» «Sie befindet sich im zweiten Stock in der Frauenabteilung. Das Geld für den Kaffee hat sie mir gepumpt, ich bin Tessiner. Bald werden Sie in die Nähe Ihrer Frau kommen.» Das waren tröstliche Nachrichten, sie erhellten das öde Dasein.
Während der ersten Tage, die ich mit dem Spanier zusammen in der Klosterküche verlebte, wurde keiner von uns zum Verhör geholt, ebensowenig ließ man uns an die frische Luft wie in Barcelona. Wir stellten tausend Vermutungen über unser Schicksal an, unterhielten uns über den Verlauf des Krieges. Mein Zellengenosse vermied es geschickt, seine politische Haltung erkennen zu lassen, doch spürte ich heraus, daß er gläubiger Katholik war. Rasch hatten wir uns aufeinander eingespielt, vertrugen uns gut, keiner störte den anderen. In der zehnten oder elften Nacht drangen vier bewaffnete Agenten in die Zelle und versuchten, den Spanier abzuholen. Er zitterte am ganzen Körper, begann zu schreien, wehrte sich verzweifelt. Mit Händen und Füßen klammerte er sich an mich, wir wurden bis an die Türe geschleppt, fielen zu Boden.
«Sie wollen mich erschießen, madre, madre...», schluchzte und jammerte der junge Mensch. Es gelang den Bewaffneten, ihn von mir zu trennen, ihn wegzuzerren, ich war allein.
Pedro Hirten
Zwei Tage später teilte mir der Kaffeeträger leise mit: «Heute wirst du in eine andere Zelle geführt.» Aufgeregt wartete ich bis zum Abend. Endlich holten sie mich, wir schritten durch lange Klostergänge an vielen Zellentüren vorbei und stiegen in den ersten Stock. Meine neue Zelle beherbergte bereits einen Insassen. Ein Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren, graumeliertes Haar, mit breitem, gutmütigem Gesicht.
Wir starrten uns an.
«Du bist kein Spanier, was bist du für ein Landsmann?» fragte er auf spanisch. Ich machte mich bekannt.
«Oh, dann können wir uns ja auf deutsch unterhalten, ich bin Deutscher, aus Stuttgart, ich heiße Pedro Hirten. Noch zwei Tage, dann stecke ich genau hundert Tage in diesem elenden Loch; gut, daß du kommst, sonst wäre ich verrückt geworden.»
Rasch befreundeten wir uns und erzählten uns gegenseitig unsere Geschichte. Peter Hirten lebte seit fünfzehn Jahren in Spanien und wohnte in Madrid. Als qualifizierter Metallarbeiter hatte er ein gutes Auskommen gefunden. Seit zwölf Jahren war er mit der Schwester des spanischen Sozialisten Lopez - Sekretär des Ministerpräsidenten Largo Caballero - verheiratet, behielt aber seine deutsche Nationalität. Kurz vor Ausbruch des Bürgerkrieges avancierte Pedro zum Betriebsleiter einer Aluminiumfabrik. Er war mit seiner Situation zufrieden, um Politik hatte er sich nie gekümmert. In Deutschland war er in der ganzen Zeit nie mehr gewesen. Die Geschichte seiner Verhaftung ist schnell erzählt.
Schon in den ersten Wochen der Belagerung von Madrid wurde das Brot rationiert. Vor den Bäckereien bildeten sich lange Schlangen, da nicht immer genug Brot für alle da war. Pedros Frau war fußkrank und konnte das lange Anstehen nicht ertragen. Die deutsche Kirche in Madrid teilte jeden Sonntagmorgen an deutsche Staatsbürger eine Ration Brot aus. Pedro stellte sich an, aber schon am zweiten Sonntag wurde er mit anderen Schicksalsgenossen verhaftet.
«Diese Leute hier sind vollkommen meschugge», schnaubte er wütend. «Sie wollen von mir ein Geständnis, daß ich für Franco und Hitler arbeite, dabei habe ich Spanien seit fünfzehn Jahren nie verlassen und mich nicht mit Politik befaßt. Die machen mich rasend.»
Trotz all der guten Beziehungen seiner Frau hielt ihn die GPU fest. Die neue Zelle war nicht so groß wie die Klosterküche, dafür aber mit Holzpritschen ausgestattet. Ein feines Drahtgitter überspannte ein Fenster, das auf einen Hinterhof führte. Von unten stieg ein schrecklicher Gestank herauf, irgendwo mußte ein Müllhaufen liegen. Trotz des vergitterten Fensters litten wir unter zahllosen Mücken. Der Gestank und die Hitze, das alles zusammen machte das Atmen schwer. Am Fenster stehend, konnten wir ein kleines Stück Himmel erblicken, zur linken Hand war das Ende eines Balkons der oberen Etage sichtbar.
«Da oben liegt die Frauenabteilung, wenn die Stadt bombardiert wird, kannst du was erleben an Geheul und Panik. Wenn du besser schlafen willst, mußt du dir einen Strohsack organisieren. Bei manchen Wachen dürfen wir bisweilen auf den Gang hinaus, andere lassen uns nur die Türe öffnen, um auszulüften. Mit etwas Glück erwischen wir vielleicht einen Strohsack für dich», erläuterte mir Pedro väterlich. Wir hatten Glück, am Morgen war eine «gute» Wache da, und so konnten wir vor der Zellentür einige Schritte hin und her gehen und andere Gefangene der Nachbarzellen sehen. Pedro sprach mit dem Wächter, und nach fünf Minuten war ich glücklicher Besitzer eines Strohsackes.
In einer der ersten Nächte holten sie Pedro zum Verhör. Ganz unerwartet umarmte er mich, klopfte mir auf die Schulter und murmelte: «Leb wohl, viel Glück, falls wir uns nicht mehr wiedersehen.» Er kam am frühen Morgen zurück, müde, zerschlagen, berstend vor Wut.
«Weißt du, was diese blöden Schweine für einen Trick mit mir versuchten? Sitz ich da beim Verhör, kommt plötzlich ein Kerl ins Zimmer gestürmt, gafft mich an, ergreift meine Hand und schüttelt sie, schreit: «Na, alter Junge, kennst du mich nicht wieder? Wir sahen uns doch 1935 beim Bierfest in Stuttgart!»
Der blöde Hund. Ich starrte die Kerle an, tippte mir mit dem Finger an die Stirn und sagte: «Dem fehlt's da oben.» Mit Fußtritten und Ohrfeigen jagten sie mich weg. Die müssen früher aufstehen, wenn sie den alten Pedro reinlegen wollen.»
Einige Nächte hintereinander wurde der Hafen von Valencia bombardiert. Die Panik war unbeschreiblich, die Wachen stoben davon, wir hörten sie rennen, im Hof ließen sie ihre Büchsen knallen, die Frauen kreischten, alles übertönt vom Krachen der Bomben. Auf Anraten Pedros drückten wir uns in eine Ecke, schichteten unsere Strohsäcke über uns. In der Dunkelheit erzählte Pedro Witze und Episoden aus seinem Leben. Als deutscher Feldwebel hatte er den Ersten Weltkrieg an der russischen Front mitgemacht.
«Das war noch ein Leben. Ich habe bestimmt keinen Mord auf dem Gewissen. Wenn es hieß: «Vorwärts», stürmte Pedro voran, schlug sich hinter den nächsten dicken Baum und nahm einen Schluck aus seiner Pulle auf das Wohl des Kaisers.»
Beide genossen wir den Morgenkaffee. Pedro bekam von seiner Frau Geld geschickt; da er Nichtraucher war, verwendete er es ausschließlich für Kaffee.
Eines Morgens, wir durften vor der Zellentür auf und ab gehen, rauschte Clara wie ein Sturmwind heran. Sie umarmte mich, ihr Gesicht war von Mückenstichen angeschwollen.
«Du, wir Frauen gehen jeden Morgen in die Dusche, richte es so ein, daß du einige Minuten vor zehn im Gang bist, dann können wir uns sehen.»
Das klappte nicht jeden Morgen. Wir Männer waren neidisch, verlangten ebenfalls, in die Dusche geführt zu werden. «Manana», morgen ... doch nie kam es dazu. Clara löste uns das Rätsel. «Da könnt ihr noch lange warten. Für die Wachen ist das Duschen der Frauen der schönste Zeitvertreib. In die Holzwand haben sie sich Löcher gebohrt und begaffen uns abwechselnd. An den Männern haben sie kein Interesse.»
Die gelegentlichen schnellen Morgenbesuche von Clara auf dem Zellenkorridor hörten auf, wir konnten uns nicht mehr sehen. Seit vierzehn Tagen in Santa Ursula, war ich noch nie zum Verhör geholt worden. Dafür wurde mir plötzlich erlaubt, eine halbe Stunde im Hinterhof spazierenzugehen. Ich war nur wenig erstaunt, als ich dabei auf Michel Michaelis und einige seiner Freunde stieß. Trotz des Sprechverbots konnten wir uns verständigen. Ja, sie waren alle hier, die Gefangenen der Puerta del Angel und, wie er versicherte, eine ganze Anzahl anderer Gefangener, darunter viele Deutsche, die er nicht kannte.
Clara singt
Hitze und Gestank waren unausstehlich. Oft standen Pedro und ich am Fenstergitter, um wenigstens etwas Luft zu schnappen. Aus der über uns liegenden Frauenabteilung ertönte Gesang. Die Frauen durften täglich auf dem Korridor herumgehen, wir konnten sie reden und singen hören, ohne sie zu sehen. Wie wir uns so am Fenster aufhielten, hörte ich Clara trällern - Volkslieder in Schweizer Mundart. Gespannt lauschten wir beide; obwohl Pedro kaum die Hälfte verstand, sagte er sofort: «Mensch, deine Frau wurde verhört, sie singt doch ihre Verhöre runter!»
Tatsächlich, aus Claras «Volksliedern» ging hervor, daß sie seit drei Nächten vernommen wurde; getreulich sang sie Art und Weise der Verhöre, die Fragen und Fallen der Agenten vor, um mich zu orientieren.
Gleichzeitig sang sie auch über das Leben in ihrer Zelle, in der sie mit mehreren Frauen zusammenleben mußte. Mit einer älteren deutschen Frau, deren Mann von den Kommunisten erschossen worden war, hatten sie große Schwierigkeiten. Die Frau legte einen rasenden Haß gegen alle «Roten» an den Tag, betete stundenlang in der Zelle für ihre Vernichtung, gab ihrer Verehrung für Hitler offen Ausdruck.
Drei Morgen lang sang uns Clara, was sich im Kloster ereignete. Sie war überzeugt, in ihrer Zelle einen Spitzel zu haben, eine Kommunistin, die sie aushorchen sollte. Bedenklicher war ihre Mitteilung, daß sie an Skorbut litt und ihre Zähne anfingen zu wackeln. Sie habe bei den Wachen Knoblauch erbettelt, um dem entgegenzuwirken.
Mit einem der Wachsoldaten - sie wechselten alle vierundzwanzig Stunden - hatte sie ein unerwartetes Erlebnis. Beim öffnen der Zellentür schreckte der diensttuende Wachsoldat zurück und rief aus: «Sie hier, das ist unmöglich!» Auf ihre Frage, woher er sie kenne, erwiderte der Mann: «Ich habe Sie doch an der Front gesehen, damals bei Talavera de la Reina, da haben Sie uns aufgehalten. Und uns sagt man, hier im Kloster seien alle Gefangenen Faschisten, das kann doch nicht sein.» Jedesmal, wenn der Wachsoldat Dienst hatte, war Clara bevorzugt, er gab ihr Zigaretten, ließ sie häufiger aus der Zelle.
Aus Claras Liedern wußte ich, die nächtlichen Verhöre fanden nicht wie in Barcelona im Gefängnis selbst statt, sondern irgendwo in der Stadt.
Nachts um ein Uhr holten sie mich. Pedro umarmte mich, wünschte mir baldiges Wiedersehen.
Zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Agenten fuhren mich im Auto durch die verdunkelten Straßen Valencias. Im Verhörraum empfingen mich zwei «alte Bekannte» aus Barcelona. Beide waren deutsche Kommunisten und hatten bisher nur als Beisitzer gewirkt. Der eine von ihnen, jung, mit strohblondem Haar, sprach den unverkennbaren Akzent der Wasserkante. Sein Kollege beteiligte sich nur zeitweise am Verhör, stand neben seinem Kollegen am Tisch. Eine starke Lampe blendete mich. Vor ihm auf dem Tisch lag das längliche Glasstück, mein Zettel an Wolf.
«Wer ist Casus Belli?» warf er mir drohend an den Kopf. «Wer ist die Frau mit dem Pandurengestell?»
Hartnäckig wiederholte er die zwei Fragen. Ich schaute ihn ungläubig an, ohne zu antworten. Sein neben ihm stehender Kollege bekam einen roten Kopf, wurde ungeduldig, zischte wütend: «Hör doch auf, Casus belli ist kein Name, man sagt so.»
Der Blonde war keineswegs überzeugt und behauptete, die Worte seien ein Pseudonym.
«Nun, Herr Thalmann, Sie sind jetzt entlarvt, wir kennen Ihre Vergangenheit. Sie sind Trotzkist und haben die Verräterbroschüre gegen die spanische Republik geschrieben. Sie hatten Verbindung zur Gestapo, bevor Sie nach Spanien kamen. Wir wissen, daß Ihre Frau und Sie oft Hitlerdeutschland besucht haben. Ihre Mitwirkung am verbrecherischen Maiaufstand ist uns bekannt. Wir wollen jetzt Ihre Querverbindungen in Spanien wissen und die Namen Ihrer Helfershelfer.»
«Wo ist die Post der Internationalen Brigaden, die Sie gestohlen haben? Wann waren Sie zum letztenmal in Deutschland? Wann waren Sie bei Trotzki in Norwegen? Wo versteckt sich der Trotzkist Moulin?» Immer wieder dasselbe, stundenlang. Erst leugnete und bestritt ich all die dummen Fragen, nachher antwortete ich nicht mehr. Beide bedrohten mich mehrmals mit ihren Revolvern und behaupteten, meine Frau hätte alles gestanden. Sie fuchtelten mir mit ihren Fäusten vor der Nase herum, ohne mich zu schlagen. Schließlich, gegen vier Uhr morgens, entließen sie mich unter Drohungen, mich schon noch zum Reden zu bringen. Bei Pedro angelangt, mußte ich ihm alles genau erzählen.
Die nächste Nacht war wieder Verhör. Diesmal führte man mich nicht ins Zimmer; auf einem Stuhl sitzend, mußte ich im Gange warten. Plötzlich kam ein Agent auf mich zugestürzt, befahl mir: «Aufstehen, mit dem Gesicht zur Wand.» Schritte ertönten, jemand wurde vorbeigeführt. Ich durfte mich wieder setzen. Am Ende des langen Ganges, vor der Tür des Verhörzimmers, ging ein Offizier der Volksarmee nervös auf und ab. Irgendwie kam mir die Gestalt bekannt vor. Als der Mann seine Mütze lüftete, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, erkannte ich Joseph Burckhardt, Friedels Freund. Seine Anwesenheit hier in der Nacht konnte nur bedeuten, daß er über uns ausgefragt wurde. Würden sie mich ihm konfrontieren? Nach einer Viertelstunde wurde Joseph hineingeführt. Ob er mich erkannt hatte?
Es dauerte noch eine ganze Weile, dann brachten sie mich zurück, ohne mich verhört zu haben.
Clara sang mir einen Tag später vor, Joseph sei ihr gegenübergestellt worden, hätte nichts Belastendes gegen uns ausgesagt, im Gegenteil sich günstig geäußert.
Die Tage vergingen. Auf unseren Strohsäcken zu dösen, gab Pedro meist schnell auf; dann marschierte er unablässig in der Zelle auf und ab oder stand lufthungrig am Fenster.
Unverhofft erhielten wir «hohen Besuch». Einer der deutschen Agenten kam in Begleitung des «Boxers» aus Barcelona, um seine Opfer zu inspizieren. Pedro und ich blieben ruhig auf der Pritsche liegen, als die beiden in die Zelle traten.
«Aufstehen, wenn Kontrolle kommt!» brüllte uns der Deutsche wütend an. Widerwillig erhoben wir uns, der «Boxer» fixierte uns schweigend, drehte sich um und verschwand mit seinem Begleiter. «Den Kerl hab' ich noch nie gesehen», kommentierte Pedro. Ich sagte ihm, nach meiner Meinung sei er einer der leitenden russischen Polizeiagenten in Spanien.
Fritz Raab
Nach über drei Wochen Aufenthalt im Klostergefängnis von Santa Ursula war ich mit den Gepflogenheiten vertraut. Größere Gemeinschaftszellen gab es nicht, denn die Klosterzellen boten nur für drei oder vier Personen Raum. Die Frauen wurden humaner behandelt, durften auf ihrem Korridor frei herumspazieren. Zur Promenade wurden wir nur zwei- oder dreimal pro Woche geführt, wahrscheinlich lag das ganz im Belieben des wachhabenden Offiziers. Unter den Gefangenen kursierten unkontrollierbare Gerüchte über schwere Mißhandlungen einzelner Gefangener. Zweifellos bestand die überwiegende Mehrzahl der Häftlinge aus Antifaschisten; es war kaum zu beurteilen, ob sich hier überhaupt echte Franco-Anhänger befanden. Verbindung und Unterhaltung mit anderen Gefangenen des gleichen Stockwerks gab es nur, wenn uns erlaubt wurde, ein oder zwei Stunden vor der Zellentür zu verbringen; auch diese Erleichterung hing ganz von der Wachmannschaft ab. Nach dem Morgenkaffee wurden wir zur Morgentoilette in die Waschküche des ersten Stockwerks geführt. Es war der einzige Ort, wo man mit Gefangenen aus anderen Etagen zusammentraf. Natürlich bestand Redeverbot, doch war die Bewachung meist sehr nachlässig. Eines Morgens wuschen sich vor mir am Waschtrog zwei Männer, die sich auf deutsch unterhielten und sich kräftig den nackten Oberkörper rieben. Als sie sich aufrichteten, erkannte ich sie: Kuno Brandet und Waldemar Bolze, beide seit Jahren Mitglieder der KPO, Richtung Heinrich Brandler. Mit Kuno Brandel hatte ich in den Jahren 1930/31 einige Male in Versammlungen in Stuttgart und Villingen gegen die Nazis gesprochen. Waldemar Bolze kannte ich aus Moskau, wo er im deutschen Klub Funktionen ausgeübt hatte. Die Überraschung war beidseitig groß.
«Mensch, wie kommt ihr denn hierher?» fragte ich nicht wenig verwundert.
«Das ist eine lange Geschichte, versuch' jeden Morgen etwa um dieselbe Zeit hierherzukommen, dann können wir einiges erzählen», meinte Kuno. Leider gelang das nur zwei- bis dreimal, doch allmählich schälte sich ihre Geschichte heraus, die genauen Einzelheiten erfuhren wir erst viel später durch den Hauptbeteiligten, einen gewissen Fritz Raab. Von ihm wußte ich, daß er drei Zellen neben der unsrigen in strenger Einzelhaft saß. Nur selten bekamen wir den großen, schlanken Mann mit der sportlichen Gestalt und den dichten schwarzen Haaren zu Gesicht. Es war ihm strikt verboten, sich mit anderen Gefangenen zu unterhalten. Pedro hatte mir bereits erzählt, es sei da auf unserem Korridor ein Gefangener, der gefoltert werde; jedenfalls hatte er ihn schon schreien gehört.
Im Ersten Weltkrieg hatte Raab als Fliegeroffizier in der von Hermann Göring kommandierten Staffel gedient. Die zwei Männer freundeten sich an. Nach dem Krieg trennten sich ihre Wege; Raab arbeitete als Konstrukteur in der Flugzeugindustrie. Göring wurde nach der Machtübernahme Hitlers der allmächtige Reichsmarschall. Raabs Pech war, mit einer Jüdin verheiratet zu sein. Nun bedrohten die Judengesetze sie und ihre Familie. Seine Frau drängte ihn, er solle sich beim ehemaligen Kriegskameraden für sie und ihre Familie verwenden. Raab bekam tatsächlich einen Termin bei Göring. Die Unterredung verlief stürmisch; der Naziminister behandelte seinen Kriegskameraden hochnäsig und lehnte jede Intervention ab. «Schick' deine Jüdin zum Teufel, es gibt genug hübsche deutsche Frauen», schnödete er. Raab war empört, beleidigt, machtlos. Er konnte die Verhaftung der Verwandten seiner Frau nicht verhindern. Um seine Frau vor demselben Schicksal zu retten, emigrierte er nach Griechenland. In Athen arbeitete er in der griechischen Flugzeugindustrie; von Haus aus begütert, besaß er an einigen Unternehmen Kapital beteiligung.
Da brach der Spanische Bürgerkrieg aus. Sein Haß gegen die Nazipolitik, die ihn aus seiner Heimat vertrieben hatte, wies ihm da ein Mittel, sich zu rächen. Er reiste nach Spanien und offerierte seine Dienste als Fachmann. Die anarchistischen Gewerkschaften in Katalonien griffen sofort zu. Für sie war es von vitaler Bedeutung, unabhängig von den Russen eine kleine, aber selbständige Luftwaffe zu schaffen. Raab erhielt die notwendigen Mittel, konnte unter der Kontrolle der CNT in Gerona mit der Konstruktion von Flugzeugen beginnen. Die dazu qualifizierten Arbeiter holte er sich teilweise aus Paris. Als guter Deutscher wollte er gute deutsche Facharbeiter engagieren. In der Pariser Emigration fand er ein starkes Dutzend Metallarbeiter mit genügenden Fachkenntnissen, darunter Kuno Brandel, Waldemar Bolze und einige andere, die er sofort anwarb. Die Arbeit lief an, die Kooperation mit den Gewerkschaften und dem spanischen Personal klappte. Doch die Herrlichkeit dauerte nicht lange. Kurz nach den Maitagen gelang es den Kommunisten, den Betrieb der CNT zu entreißen. Betriebsleiter Raab und die Mehrzahl seiner Arbeiter wurden verhaftet und politisch genauer durchleuchtet. Was sich herausstellte, war für die Stalinisten, auf der Suche nach faschistischen und trotzkistischen Elementen, ein gefundenes Fressen — ein ehemaliger Freund Görings, deutsche oppositionelle Kommunisten mit den Anarchisten im Bunde - ihre schönsten Träume erfüllten sich. Raab und seine deutschen Facharbeiter wurden nach Valencia verbracht. In den Klosterzellen von Santa Ursula warteten sie auf ihren Prozeß. Konnten wir Raab nur einige Male sehen, wenn er am Morgen vom Verhör zurückkam, so konnten wir ihn dafür öfters hören. In Santa Ursula war es offenes Geheimnis, daß er mißhandelt wurde. Aus unserem unruhigen Schlaf wurden wir eines Nachts durch Geschrei, Flüche auf deutsch und spanisch geweckt. Im Korridor Geräusche von einem wüsten Handgemenge. Pedro und ich rannten zur Tür. Deutlich vernahmen wir Raabs Stimme: «Ihr Schweinehunde, Folterknechte, schlagt mich gleich tot, nichts werdet ihr von mir erfahren!” Wir hörten Männer raufen, keuchen, fluchen, dann fiel eine Zellentür ins Schloß.
Auf unserem Korridor (dank einer guten Wache) erzählte mir ein holländischer Sozialist, den ich ein paarmal gesehen, aber nicht gesprochen hatte: «Schau mich an, die Hunde haben mir bei den Verhören alle Zähne eingeschlagen, auch andere Kameraden werden geschunden.» Er wies mir seinen zahnlosen Mund. «Niemand weiß, nach welchen Gesichtspunkten sie den einen foltern und den andern nicht. Bei mir in der Zelle sitzt ein Jugoslawe, den sperrten sie vierundzwanzig Stunden in einen engen Kasten, bis seine Beine dick anschwollen und er ohnmächtig wurde. Seine Notdurft verrichtete er in seine Kleider. Sie sollen diese Methode auch an anderen Kameraden ausprobiert haben.»
Schon von Pedro hatte ich erfahren, es würde an Gefangenen Grausamkeiten verübt, nur konnte ich das nicht nachprüfen. Aber nachdem ich Raab gesehen und gehört sowie mit dem Holländer gesprochen hatte, war kein Zweifel mehr statthaft.
«Gäste» der Regierung
Nach einer Woche Ruhe wurde ich wieder geholt. Auf dem Gang vor der Zellentür mußte ich warten, oben in der Frauenabteilung entstand Lärm, ich hörte Claras Stimme. Sie protestierte, weigerte sich, zum Verhör zu gehen. Erst als man ihr versicherte, auch ich sei zum Verhör beordert, kam sie die Treppe hinunter, wie immer unter Bewachung. Wir wurden beide in ein Auto gesetzt und durch die stockdunklen Straßen Valencias gefahren. Unsere Hände verschlangen sich fest, wir sprachen nichts. War es das Ende? Im Scheinwerferlicht des Wagens lasen wir an einer Hauswand in großen Lettern die Frage: «Donde esta NIN?» (Wo ist Nin?) Sollte das auch unser Schicksal sein? Der Wagen fuhr viel länger als gewöhnlich, und als wir ausgeladen wurden, führten uns die Begleiter in ein unbekanntes Gebäude. Diesmal mußte ich zuerst zum Verhör. Vor mir saß ein enorm dicker Mann mit rabenschwarzem Haar; er sprach mich mit hoher Fistelstimme auf spanisch an. Zum erstenmal wurde ich von einem spanischen Beamten vernommen. «Sie sind seit acht Tagen verhaftet?» fragte er.
«Seit acht Tagen? Für uns beginnt jetzt die zehnte Woche», erwiderte ich.
«Warum sind Sie verhaftet?»
«Das wissen wir auch nicht.»
«Diese verflixten Ausländer!» begann er loszuschimpfen. «Sie verpfuschen uns alles, treten das Ansehen unserer Justiz in den Schmutz. Wo befindet sich Ihre Frau?»
«Sie sitzt draußen.»
Er klingelte der Wache, befahl, Clara hereinzuführen, bot uns Kaffee und Zigaretten an. Er behandelte Clara mit echt spanischer Grandezza, ließ uns ruhig unsere Abenteuer erzählen. Um vier Uhr morgens verabschiedete er uns mit der feierlichen Versicherung: «Morgen sind Sie frei, ich sorge dafür.»
Es ging zurück. Wir wußten nur zu gut, was «manana» bei den Spaniern hieß - es konnte ebensogut morgen wie in sechs Monaten bedeuten. Trotzdem klopften unsere Herzen rascher. In der Zelle sprach mir Pedro Mut zu, beauftragte mich, sofort für ihn Schritte zu unternehmen, falls ich freikäme. Ich hatte ihn im Verdacht, selbst nicht recht an unsere Befreiung zu glauben, wollte es aber nicht merken lassen; er war froh und traurig zugleich.
Den ganzen Tag über geschah nichts. Das Warten und Hoffen war zermürbend. Gegen Abend glaubte ich nicht mehr an das Versprechen. Flüsternd unterhielt ich mich mit Pedro bis tief in die Nacht. Dann kamen sie.
Drei mit Maschinenpistolen bewaffnete Zivilisten drangen in die Zelle und nahmen mich sofort mit. Beim Abschied hatte Pedro nasse Augen. «Viel Glück und denk an mich», waren seine letzten Worte. Im Klosterhof unten stand schon Clara mit ihren wenigen Habseligkeiten. Wir wurden ins Auto verfrachtet, zwei der Männer setzten sich zu uns, ein zweiter Wagen mit vier Männern folgte uns nach.
Einer der Männer erläuterte uns: «Sie sind frei, doch ist es viel zu spät, um in ein Hotel zu gehen. Sie müssen diese Nacht schon bei uns im Polizeihauptquartier bleiben.»
Wir hatten keine Wahl. Die Zweifel wichen nicht ganz: war das alles eine Falle der GPU?
Im Polizeihauptquartier wiesen sie uns ein kleines Zimmer zu, legten eine Matratze auf den Boden, wünschten uns eine geruhsame Nacht. Waren wir wirklich frei? Wir fanden keinen Schlaf.
Zeitig am Morgen wurden wir geweckt und zum Frühstück geführt. Um uns bildete sich eine Eskorte von Bewaffneten, vor und hinter uns marschierten je zwei uniformierte Männer, ihre Maschinenpistolen im Arm, neben uns zwei Agenten in Zivil, Revolver umgeschnallt. Die Menschen auf der Straße beobachteten neugierig den seltsamen Aufzug, wichen uns scheu aus. In einem vornehmen Hotel setzten sich die zwei Agenten mit uns an den Tisch, die Uniformierten rauchten vor dem Hoteleingang ihre Zigaretten. Wir erkundigten uns, was diese Vorstellung zu bedeuten hätte. «Sie stehen unter dem direkten Schutz des Innenministeriums. Wir haben Befehl, für Ihre Sicherheit zu sorgen und Sie zu bewachen. Sie werden selbst wissen, warum und vor wem.»
«Wir wissen es sehr gut, doch glauben wir, zwei Bewacher in Zivil genügen auch, dieser Aufmarsch an Polizeikräften erregt doch nur Aufsehen.»
«Da müssen wir erst bei unserer Behörde anfragen. Übrigens werden Sie noch heute im Innenministerium erwartet.»
Die gleiche Polizeieskorte führte uns wieder zurück, es ähnelte sehr einem amerikanischen Gangsterfilm. Plötzlich stieß mich Clara an — auf der anderen Straßenseite standen zwei unserer deutschen GPU-Agenten, die uns noch vor wenigen Nächten verhört hatten. Sie glotzten uns an, erstarrt, ungläubig. Clara konnte nicht an sich halten und streckte ihnen die Zunge raus. Hastig, aufgeregt diskutierend entfernten sie sich. Sie mußten von unserem Anblick nicht wenig verblüfft gewesen sein.
Vom Polizeihauptquartier holte uns ein Wagen ab und brachte uns ins Innenministerium, wo uns ein höherer Beamter empfing. Lächelnd erklärte er: «Ich bin der persönliche Sekretär des Herrn Innenministers. Verzeihen Sie das Ihnen zugefügte Ungemach, wir sind traurig über diesen Irrtum unserer Behörden, heute wissen wir, daß Sie nicht das gesuchte Ehepaar sind. Ab sofort befinden Sie sich in Freiheit und genießen den Schutz unseres Ministeriums. Sie können sich als Gäste der Regierung betrachten, wir stellen Ihnen einen Wagen zur Verfügung. Im Hotel Ingles haben wir Ihnen ein Zimmer reserviert, alles geht auf unsere Kosten.»
Er überreichte uns ein Schriftstück, unterzeichnet von Innenminister Zugazagoita, das besagte, wir seien als Gäste der Regierung zu behandeln, besäßen volle Bewegungsfreiheit, könnten nach Belieben in Spanien bleiben oder das Land verlassen.
Wir baten den Beamten, unsere «Schutzengel»-Eskorte auf das unentbehrliche Mindestmaß zu beschränken, was er versprach. Der Wagen, mit dem man uns ins Innenministerium kutschiert hatte, war jetzt «unser» Wagen, so wenigstens erklärten unsere zwei Begleiter. Sie betonten nochmals, sie hätten den Auftrag, alle unsere Wünsche zu erfüllen, und stünden ausschließlich zu unserer Verfügung. Wie betäubt von der unerwarteten Wendung, wußten wir nichts Gescheiteres, als zuerst einmal Zigaretten zu kaufen. Die Agenten beglichen die Rechnung.
Das Hotel Ingles war eines der besten Häuser am Platze. Ein feudales Zimmer, mit dicken Teppichen belegt, und ein modernes Badezimmer erwarteten uns. Im Eßsaal nahmen wir ein wahres Bankett ein: Hors d'oeuvres, Gemüse, Fleisch, Obst, Eis, Rot- und Weißwein. Wir ließen es uns munden im Verein mit den beiden Beamten, denen ihr Auftrag offenbar gut gefiel. Es dauerte nicht lange, und wir stellten fest, daß die meisten Hotelgäste höhere Staatsbeamte, Parteifunktionäre oder Offiziere der Volksarmee waren. Auch ein paar ausländische Korrespondenten befanden sich darunter. Die Aristokratie der Republik lebte nicht schlecht. Unangenehmerweise erschienen auch einige unserer GPU-Verhörer öfters beim Essen und warfen uns scheele Blicke zu. Unser Erscheinen im Hotel erregte natürlich viel Getuschel und Neugier!
Am zweiten Tag unserer Freiheit dachten wir an unsere Freunde im Gefängnis. Wir wollten wenigstens einigen von ihnen etwas Abwechslung in die langweilige Gefängniskost bringen. Vorsichtig fragten wir erst unsere Begleiter, ob dieser Besuch gestattet sei. Sie stimmten sofort zu. Bei verschiedenen Läden fuhren wir mit unserem Wagen vor, kauften Würste, Käse, Schinken, Früchte, Brot und Wein ein. In den Geschäftsauslagen sah man diese Waren nicht, doch unsere Agenten waren ein «Sesam öffne dich»: Wo wir auch erschienen, hieß es zuerst: «Wir haben nichts.» Flugs zückten die zwei Beschützer ihre Papiere, und im Nu bekamen wir alles, was wir verlangten. Schwer beladen, rückten wir vor Santa Ursula an. Erstaunt sperrten die Wachsoldaten Mund und Nase auf. Nach einigen Verhandlungen wurde irgendein Vorgesetzter geholt. Erneutes Parlamentieren; schließlich erhielten wir die Erlaubnis, unseren Proviant zu verteilen (ihn den Gefängnisbehörden abzuliefern, weigerten wir uns). Clara durfte mit einem der Agenten ins Gefängnis und die zwei Körbe Eßwaren selbst ausgeben, Gespräche mit den Gefangenen waren ihr verboten worden.
Als sie zurückkam, erzählte sie: «Was ist dieser Bonze nur für ein sturer Kerl. Sagt er mir doch: Seit wann arbeitet ihr mit den Gegnern der Partei zusammen? Ich gab ihm keine Antwort, Lebensmittel nahm er nicht an.»
Auf dem Innenministerium war uns empfohlen worden, den sozialistischen Parteisekretär von Valencia, Cordero, aufzusuchen. Cordero, ein älterer, robuster Bauerntyp mit herabhängendem eisgrauem Schnurrbart, war kurz angebunden. Als der eine unserer Agenten mit uns zusammen das Parteibüro betreten wollte, schnauzte er ihn an: «Wer sind Sie?»
«Ich bin Polizeifunktionär und hab die zwei Ausländer zu bewachen.» «Hinaus, sofort, ich dulde keine Polizeibeamten in meinem Büro», schnaubte er wütend und schlug dem verdutzten Mann die Tür vor der Nase zu.
Dann erklärte er uns kurz: «Ich habe vom Kameraden de Brouckere, dem Sekretär der Sozialistischen Internationale, den Auftrag erhalten, Sie zu befreien. Es sind meine Leute, die ins Gefängnis eingedrungen sind und Sie herausgeholt haben. Was gedenken Sie zu tun?» Er war uns offensichtlich nicht wohlgesinnt. Wir begriffen auch, warum. In der spanischen Sozialistischen Partei gehörte er zur Richtung Caballero, die in der ersten Zeit mit den Stalinisten zusammengearbeitet hatte. Mit dem Sturz der Regierung Caballero kurz nach den Maitagen war das lose Bündnis in die Brüche gegangen. Für Trotzki sten, wofür er uns hielt, noch dazu ausländische, hatte er nichts übrig. Wir gestanden, noch keinen Entschluß gefaßt zu haben.
«Nun, Sie stehen jetzt unter dem Schutz der Regierung, weiter kann ich nichts für Sie tun.»
Trotz der unfreundlichen Behandlung unterrichteten wir ihn über die Lage Pedro Hirtens. Cordero versprach nichts, machte sich Notizen und entließ uns.
Die Unterredung mit Cordero hatte unsere leise Ahnung bestätigt, daß unsere Befreiung über den Kopf der GPU hinweg von der Sozialistischen Partei organisiert worden war. Zum erstenmal hörten wir von einer ausländischen Einflußnahme auf unser Schicksal. Als wir noch am selben Nachmittag zum Lokalkomitee der Anarchisten fuhren, wurde unseren Schutzengeln erstmalig unangenehm zumute. Sie waren ja auch als Polizeibeamte Mitglied der Sozialistischen Partei und wollten wissen, welche Gründe uns dorthin führten. Wir erklärten ihnen ganz offen unsere Absicht, das Lokalkomitee der FAI über die Zahl und die Lage der in Santa Ursula inhaftierten anarchistischen Kameraden zu orientieren. Sie setzten eine sauersüße Miene auf, hinderten uns indessen nicht an unserem Vorhaben. Die Anarchisten waren teilweise schon informiert, nahmen aber unsere Angaben zur Kenntnis. Jedoch verhehlten sie keineswegs, daß wenig Hoffnung bestehe, eine Freilassung zu erzwingen.
So süß für uns die Freiheit war, die ungewohnte Situation benagte uns nicht. Wir hatten nichts zu tun. Unsere Beschützer bewachten uns wie ihre Augäpfel; nachts schliefen sie auf einem Kanapee vor unserem Hotelzimmer, tagsüber fuhren sie uns im Wagen durch die Stadt spazieren. Obwohl wir keinen Pfennig Geld besaßen, lebten wir wie hohe Regierungsbeamte in einem der besten Hotels der Stadt, hatten ein Auto, konnten nach Herzenslust einkaufen. All das war neu, interessant und bequem. Doch paßte uns weder die dauernde Bewachung noch unser Privilegiertenstatus inmitten einer hungernden Bevölkerung.
Unserer Einschätzung nach hatten die revolutionären Kräfte in Spanien die Partie verspielt. Die fatale Nichteinmischungspolitik der Westmächte (die «rote Gefahr» war der Hauptfeind, nicht der Faschismus), das Ausbleiben einer tatkräftigen Unterstützung durch das französische Volk reduzierte die Aussichten eines siegreichen Kampfes gewaltig. Stalin war es gelungen, in Spanien alle revolutionären Kräfte zu zerschmettern; die russische Hilfe sollte nur eine bürgerliche Republik restaurieren helfen, die unter russischer Kontrolle stehen würde, ohne daß das zu sehr in Erscheinung trat. Stalins Politik war darauf aus, es mit den Westmächten nicht zu verderben. Die Ausrottung der alten bolschewistischen Garde, von Stalin in Rußland mit blutiger Konsequenz durchgesetzt, erlebte in Spanien eine Neuauflage, die nur darum weniger blutig ausfiel, weil die russischen Agenten auf fremdem Boden arbeiten mußten und im spanischen Staatsapparat teilweise auf Widerstand stießen. Für irgendeine Republik von Stalins Gnaden wollten wir uns politisch nicht mehr engagieren oder an der Front weiterkämpfen. Wie so vielen anderen, wäre uns das früher oder später durch einen stalinistischen Schuß in den Rücken zum Verhängnis geworden. Es war angezeigt, Spanien zu verlassen. Doch wie? In Barcelona hatte die GPU unsere Pässe zurückbehalten, ohne sie konnten wir nicht ausreisen. Wir ent schieden uns deshalb, beim Innenministerium vorzusprechen und unseren Wunsch darzulegen. Derselbe Beamte wie beim ersten Besuch empfing uns; er telefonierte sofort nach Barcelona. Da er offenbar eine ausweichende Antwort erhielt, setzte er sich mit dem Innenminister in Verbindung. Fünf Minuten später wurden wir beide in dessen Büro geführt. Zugazagoita bat uns, Platz zu nehmen, ließ sich von dem Beamten nochmals die Sachlage schildern und griff zum Telefon. Kurz und energisch gab er seine Befehle, legte den Hörer auf und erklärte seinem Beamten: «In fünf Minuten fahren zwei Beamte des Ministeriums nach Barcelona, heute um Mitternacht will ich die zwei Pässe auf dem Tisch sehen.»
Mit höflich-beruhigenden Worten entließ er uns. Schlag Mitternacht erhielten wir von unseren Schutzengeln im Hotelzimmer unsere Pässe. Am Morgen besorgten wir unsere Ausreisevisa, worauf wir nochmals auf dem Innenmisterium vorsprechen mußten. Der uns bekannte Beamte erkundigte sich nach unseren Wünschen und erklärte, er sei ermächtigt, uns für die «erlittene Unbill» eine Entschädigung auszuzahlen. Wir lehnten ab. Für die Reise an die französische Grenze stellte er uns einen Wagen mit zwei Funktionären des Innenminsteriums zur Verfügung. Mitte September verließen wir Valencia, die Fahrt nach Barcelona verlief ohne Probleme.
In Barcelona wollten wir uns unbedingt nach dem Schicksal von Wolf und Moulin erkundigen. In den zehn Tagen der Freiheit in Valencia hatten wir vom mysteriösen Verschwinden Wolfs gehört. Seit seiner Freilassung aus der Puerta del Angel war er unauffindbar. An die Adresse der Wohnung, wo wir mit ihm und seiner Frau gehaust hatten, konnten wir uns nicht mehr erinnern, zudem hätten wir dort womöglich nur Menschen in Gefahr gebracht. Wie wir wußten, hatte Wolf mit einem italienischen Journalisten, der aber wie er für englische Zeitungen schrieb, in enger Verbindung gestanden. Wir kannten das Hotel, in dem der Italiener damals logierte, und suchten es auf. Während die beiden Beamten vor dem Hotel warteten, erkundigten wir uns im Empfangsraum nach Tioli. Der Hotelangestellte gab uns eine unklare Auskunft. Kaum hatten wir das Hotel verlassen, stürzten zwei Männer auf uns zu, tasteten uns nach Waffen ab und erklärten uns für verhaftet. Wenige Meter von der Szene entfernt stand mit der Pistole im Anschlag ein dritter Mann. Da griffen unsere Beamten ein; zusammen mit dem Chauffeur eilten sie herbei, die Waffen schußbereit in den Händen. Es kam zu keiner Schießerei, die Spanier diskutierten, unsere Agenten wiesen ihre Schriftstücke vor, der Zwischenfall wurde zur Zufriedenheit aller beigelegt.
Die Erklärung der Angelegenheit: Tioli, der italienische Journalist, war wenige Tage zuvor entführt worden. Seitdem bewachten Agenten der Sicherheitspolizei das Hotel, um jedermann zu verhören, der nach dem Entführten fragte.
Von Moulin wußten wir nichts, besaßen keine Adresse, keine Nachricht. War er noch am Leben? Und Wolf? Es fehlten uns alle Anhaltspunkte für längere Nachforschungen (die uns in unserer Lage auch schwerlich geglückt wären). Ob Erwin Wolf, Moulin, Mark Rein Opfer des GPU-Terrors geworden sind wie Kurt Landau, der italienische Anarchist Berneri und so viele andere, ist bis heute nie restlos aufgehellt worden. Am Abend erlebten wir eine mehr komische Episode. Unser Wagenlenker behauptete, er kenne ein gutes Lokal in der Stadt, und bestand darauf, daß wir dort gemeinsam zu Abend aßen. Kaum hatten wir in dem Restaurant Platz genommen, sahen wir, in welche Löwengrube wir gefallen waren: Sie entpuppte sich als das Stammlokal der Stalinisten. Wenige Tische von uns entfernt saßen einige Agenten, die uns verhört hatten. Sie erblickten und erkannten uns, tuschelten, drehten die Köpfe, dann brach der Tumult los. Der deutsche Agent, der jeweils den Vorsitz geführt hatte, erhob sich und schrie: «Das ist eine Gemeinheit, eine Provokation, Konterrevolutionäre in unserem Lokal, ich verlange, daß diese Leute sofort gehen!»
Wir blieben ruhig sitzen. Die Stalinisten näherten sich unserem Tisch, das Publikum wogte wie ein aufgescheuchter Bienenschwarm durchein ander. Das energische Auftreten unserer drei Beschützer stellte einigermaßen die Ruhe her. Wir schmausten weiter, die Stalinisten verließen das Lokal. Als wir dann später gingen, sahen wir sie draußen an einer Ecke stehen und uns wütende Blicke zuwerfen. Die letzte Strecke bewältigten wir am nächsten Tag. Im Laufe des Nachmittags kamen wir in Port Bou an, wo wir uns von den drei Beamten verabschiedeten. Wir waren frei. Gleichzeitig mit uns überschritt der spanische Außenminister Alvarez del Vayo die Grenze. Wir hätten ihn nicht bemerkt; doch als wir uns im Dialekt unter hielten, näherte sich uns eine Dame und sprach uns in echtem Bern deutsch an. Del Vayos Frau. «Sind Sie Schweizer?» erkundigte sie sich bei Clara. «Wo kommen Sie denn her?»
«Wir kommen gerade aus dem Gefängnis der GPU.» Die Dame gab sich einen Ruck, machte kehrt und verschwand an der Seite ihres Mannes.
Innenministerium
Amtliche staatliche Nachrichten-Abteilung
Auf Beschluß der vorgesetzten Behörde ist mit heutigem Datum das Ehepaar Thalmann unter Überwachung in Freiheit gesetzt worden. Seine Überwachung wird ausschließlich durch Personal dieses Departementes ausgeübt, und es wird hiermit bekanntgegeben, daß obgenannte Personen unter dem unmittelbaren Schutz der spanischen Regierung stehen und kraft dieses Befehls durch keinerlei Behörden außer dem genannten Departement verhaftet werden können. Ebenso wird bekanntgegeben, daß das Ehepaar Thalmann ermächtigt ist, zu jedem ihm genehmen Zeitpunkt Spanien zu verlassen. Dieses Schreiben hat den Zweck, den Betroffenen den Umständen entsprechend als Geleitbrief zu dienen und wird ausgefertigt im ausdrücklichen Auftrag seiner Exzellenz, des Herrn Ministers des Innern in Valencia, am 30. August 1937.
Der Vorsteher der staatlichen speziellen Nachrichten-Abteilung: sig. Francisco Ordonez
Aus: Clara und Paul Thalmann - Revolution für die Freiheit. Stationen eines politischen Kampfes. Moskau / Madrid / Paris, Trotzdem-Verlag 1987. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Trotzdem-Verlags (alle Rechte liegen beim Verlag). Das Buch ist weiterhin lieferbar und handelt im ersten Teil vom Engagement von Clara und Paul Thalmann in der kommunistischen ArbeiterInnenbewegung in der Schweiz, von den Streikbewegungen 1918/19 und von ihrem Aufenthalt in Russland in den 1920er-Jahren. Der dritte Teil handelt vom 2. Weltkrieg und dem französischen Widerstand gegen die deutsche Besatzung.