Karl Roche - Die Gerechtigkeit gegenüber der organisierten Indifferenz (1906)
Der Artikel von Stephan Heise „Zur Taktik gegenüber den gewerkschaftlichen Konkurrenzorganisationen“ ( „Neue Zeit“ Nr. 31) muss unter denen, die sich mit der organisierten Indifferenz christlicher oder sonst welcher Schattierung herumzuschlagen haben, reges Interesse und volle Zustimmung hervorrufen.
In Rheinland-Westfalen, wo die „christlichen“ Gewerkschaften ihren größten Anhang haben, ist die Großindustrie vorherrschend, die Konzentration des Kapitals hat eine unheimliche Macht erreicht, und doch nimmt hier unsere Arbeiterbewegung nur langsam und im geringen Maße zu. Dem Klerus ist es sogar möglich, die Arbeiterschaft in voller Gleichgültigkeit zu erhalten. Die Bergarbeiter, obwohl sie im wirtschaftlichen Kampfe die ungünstigste Position einnehmen, sind am weitesten von der Forderung der sozialistischen Produktion entfernt und liefern den „christlichen“ Organisationen den größten Heerbann. In den Industriebezirken Westfalens steht die Lohnarbeiterschaft dem kapitalistischen Produktionsprozess noch stumpf anstaunend gegenüber. Diese Massen werden täglich durch das Zuströmen Tausender Indifferenter aus den rückständigsten Gegenden erneuert. Dabei erteilt hier das bürgerliche Genussleben dem Proletariat nicht jenen aufreizenden Anschauungsunterricht wie in den Großstädten, weil sich die Unternehmer weitab vom Dröhnen der Werke ihre Villen bauen. Und die Intelligenz der Arbeiterklasse ist hier so minimal, dass aus ihr selbst heraus die Kräfte nicht entstehen können, die zum Kampfe aufrufen. Aus all diesen Gründen haben hier Kapitalismus, Staat und Kirche leichtes Spiel.
Die bunt zusammengewürfelte und beständig durcheinanderwirbelnde Arbeiterschaft mit ihren nationalen und religiösen Vorurteilen ist eben das Feld, auf dem die „christlichen“ Organisationen ihr verräterisches Treiben am leichtesten ausführen können. Hier kann das Proletariat wohl einmal aufflammen, sich empören, wenn der Druck zu groß wird und eine rührige Agitation ihm sein Elend zeigt. Ist aber diese Agitation nicht nach sozialistischen Grundsätzen betrieben, den Arbeitern nicht gelehrt worden, die treibenden Kräfte des sozialen Entwicklungsprozesses zu erkennen, dann erzieht man zwar Beitragszahler, aber nicht Kämpfer, die in einer Lohnbewegung mehr sehen als das verzweifelte Ringen um etwas bessere Arbeitsverhältnisse. Unter besonders günstigen Umständen werden wir wohl auch einen Wahlkreis gewinnen, aber wir haben keine Sozialdemokraten gewonnen. Bei solchem „Klassenkampf“ können, ja müssen gelbe, blaue und schwarze Gewerkschaften entstehen, und in unseren Reihen spricht man dann von der „Gerechtigkeit“, die es erfordert, dass wir mit den gegnerischen Arbeiterorganisationen paktieren.
Nun, wer den „christlichen“ und sonstigen Zersplitterern der Arbeiterbewegung aus Gerechtigkeitsgründen Rechte zugesteht, muss gleichfalls aus Gerechtigkeitsgründen auch die Verbände der ärgsten Scharfmacher anerkennen. Beide sind unsere Gegner, ja die Sonderorganisationen der Arbeiter sind schlimmere Gegner, denn sie zerstören unsere Kampfesfähigkeit. Und die „Christlichen“ besonders – das beweist uns die Erfahrung eines Jahrzehnts – lauern stets nur auf den Augenblick, wo sie uns an das Unternehmertum verraten zu können. Das müssen sie ja tun, weil sie politisch den bürgerlichen Klassen angehören.
Im Gau Dortmund hat sich die Mitgliederzahl des freien Mauerverbandes vom Jahre 1903 auf 1904 um rund 100 Prozent gehoben; dagegen ist sie im Aussperrungsjahr 1905 während des Zusammengehens mit dem gelben Bauhandwerkerverband gesunken. Der Gauberichterstatter bemerkt hierzu: „Der kleine Rückgang einiger Mitgliedschaften im Jahre 1905 ist auf die Aussperrung zurückzuführen; ohne Zweifel hätten wir sonst eine bedeutende Steigerung zu verzeichnen gehabt. Der somit auf ganz natürliche Umstände zurückzuführende Rückschlag wird daher, das ist jetzt schon mit Sicherheit zu sagen, im Jahre 1906 doppelt ausgeglichen werden.“
Und „... der erfreuliche Fortschritt (!) unserer Organisation im Ruhrgebiet würde aller Wahrscheinlichkeit nach noch größer sein, wenn uns nicht hier ein ganz unnatürlicher Gegner aus dem proletarischen Lager erwachsen wäre, der Verband ‚christlicher’ Bauhandwerker und Bauhilfsarbeiter.“
Dieser Verband soll – laut Gaubericht – im Jahre 1899 in 13 Verwaltungsstellen 500 Mitglieder gehabt haben und hat sich so entwickelt, „dass sich nunmehr beide Organisationen im Ruhrrevier ziemlich die Waage halten“.
Die freien Zentralverbände haben in der Ära der Aussperrungen bedeutend gewonnen. Der Zentralverband der Maurer Deutschlands hat dazu sein gutes Teil mit beigetragen. Seine Werbekraft ist um so größer, als er sich im wirtschaftlichen Ringen in verhältnismäßig günstiger Stellung befindet. Wäre er im rheinisch-westfälischen Industriegebiet im Vorjahr nicht mit den Gelben zusammengegangen, so wäre vielleicht zwischen den freien Verbänden des Baugewerbes und dem Ausbeutertum nicht jener saubere „Friedensvertrag“ zustande gekommen, den jetzt die Unternehmer dort doch nicht einhalten, wo die freien Verbände keinen genügenden Einfluss besitzen. Und diese Verbände hätten sich ohne den Vertrag ebenso günstig weiterentwickelt als vor der Aussperrung.
Der gegenwärtige Zustand gibt den „christlichen“ Organisationszerstörern im Ruhrgebiet eine gleichberechtigte Stellung mit den freien baugewerblichen Verbänden. Der Vertrag ist auch mit ihnen abgeschlossen, auch sie sind für seine Durchführung verpflichtet. Sie sind aber nicht nur in den entscheidenden Instanzen das hemmende und dem Unternehmertum gegenüber stets nachgiebige Elemente, sondern in denjenigen Orten, in denen sie infolge ihrer Stärke die Macht besitzen, um vertragsbrüchige Unternehmer zur Vertragstreue zu zwingen, tun sie es einfach nicht. Das Unternehmertum kennt seine guten Kinder und bevorzugt sie. Gegenüber den Maurern wahren die Unternehmer noch einigermaßen die Vertragstreue, da der Zentralverband der Maurer ihnen ständig wie eine strafende Fuchtel vor Augen schwebt. Den Bauhilfsarbeitern zahlen sie dagegen den Vertragslohn nur in den paar Orten, wo der Zentralverband der baugewerblichen Hilfsarbeiter eine Macht ist. Und die „Christen“ kümmern sich um die Bauhilfsarbeiter nur insoweit, als sie Beiträge von ihnen erhalten können.
Eine solche Situation ist durchaus geeignet, den Arbeitern des Ruhrgebiets den Klassenkampf nur noch dichter zu verschleiern, den Unterschied zwischen „christlicher“ und freigewerkschaftlicher Arbeiterbewegung noch mehr zu verdecken, als es ohnehin infolge der mangelnden Aufklärung jener Arbeiterkreise schon der Fall ist.
Dadurch, dass auch die „Christen“ offiziell berufen sind, die Durchführung des Arbeitsvertrags mit zu überwachen, bekommt die indifferente Masse den Eindruck, als sei es gleichgültig, welcher Richtung der Gewerkschaftsbewegung sich der Arbeiter anschließe. Mit Absicht verheimlichen die von München-Gladbach inspirierten Agitatoren ihr „Christentum“. In den Versammlungen sprudeln sie gärendes Drachengift; aber an den entscheidenden Stellen, angesichts der Unternehmer, tröpfeln sie süß-widerliche Milch der frommen Denkungsart.
Dieses unehrliche Spiel vermag jedoch der Arbeiter des Ruhrbezirkes nicht zu durchschauen. Die Zentrums- und Generalanzeigerpresse umnebeln ihn vollends, und so wird hier das Proletariat in einem sozialen Traumzustand erhalten.
Diese Nebel haben wir aber zu zerreißen, gleichviel ob wir gewerkschaftlich oder politisch kämpfen. Zwingen uns die tatsächlichen Verhältnisse, mit den gegnerischen Arbeiterorganisationen gegen den Kapitalismus, den jene doch grundsätzlich verteidigen, gemeinschaftlich vorzugehen, so sollen wir die Arbeiter niemals darüber im Zweifel lassen, dass uns die unüberbrückbare Kluft einer Weltanschauung voneinander trennt und dass das augenblickliche Zusammengehen nur taktisch und nicht Gerechtigkeitserwägungen entspringt.
Und die grundsätzliche sozialistische Agitation ist im Ruhrgebiet das Mittel, für die freigewerkschaftlichen Verbände einen Stamm zu erziehen, die allen Hindernissen zum Trotz auch hier der modernen Abeiterbewegung die Bahnen ebnen werden.
Aus: Die neue Zeit - Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie. 24.1905-1906, 2. Bd. (1906), H. 40, S. 473 – 475
Originaltext: Anarchosyndikalistische Flugschriftenreihe Nr. 342 (PDF)