„Ein klares Beispiel für die Propaganda der Tat“. Ein Interview mit Anarchosyndikalisten aus Sevilla (2008)
Interessierten BeobachterInnen der syndikalistischen Bewegung dürfte nicht entgangen sein, dass sich die Confederación Nacional del Trabajo (CNT) in Sevilla in den letzten Jahren recht umtriebig zeigte. Immer wieder war von erfolgreich beendeten Konflikten zu hören. Auch die FAU bekam einige Male die Gelegenheit, die Kämpfe der andalusischen GenossInnen zu unterstützen, z.B. im Rahmen der Kampagne gegen die deutsche Supermarktkette „Plus“ vor zwei Jahren oder zuletzt anlässlich des internationalen Aktionstages gegen Starbucks. So mangelte es nicht an Gründen, sich die Entwicklung vor Ort etwas genauer anzuschauen und ein Interview zu führen. Gesprächspartner waren José Antonio, genannt "Sarry", Organisationssekretär der Lokalföderation; Antonio Moragues jun., der die Verantwortung für die Kassen trägt, und Beltrán Roca Martinez, Autor der Broschüre „Renaissance des Anarcho-Syndikalismus“ (1) und Sekretär für „Gewerkschaftliche Aktion“ der CNT Sevilla.
- Wir wollen zuerst mit euch über die Entwicklung der CNT hier in Sevilla in den letzten Jahren reden. Ihr seid eine Gewerkschaft, die sehr schnell gewachsen ist. Erklärt uns doch mal, wie es dazu kommen konnte?
Sarry: Die Voraussetzung für das Wachstum war, dass wir Selbstkritik geübt haben, dass wir nicht mehr abwarten wollten, bis ArbeiterInnen zur Gewerkschaft kommen, sondern dass wir selbst ArbeiterInnen aufsuchten. Im Fall des Konfliktes beim öffentlichen Reinigungsdienst von Tomares (2) sind wir z.B. direkt zu ihnen gegangen, haben uns als CNT vorgestellt und unsere Vorgehensweise erklärt. Die Streikenden hatten sich in der Kathedrale eingeschlossen und waren in den Hungerstreik getreten. Der Hungerstreik war das erste Mittel, das sie in diesem Arbeitskampf einsetzten. Wir sagten ihnen direkt, es wäre das Beste, wenn sie aus der Kathedrale heraus kämen und sich der Gewerkschaft anschließen. Wir erklärten unsere Vorstellungen von einem gut geführten Arbeitskampf. Ein Teil der Arbeiter trat der CNT bei. Von da an waren wir direkt in den Konflikt involviert und gewannen ihn. Auf diese Art und Weise wächst die CNT Sevilla.
Antonio: Ich denke, dass die CNT Sevilla ein klares Beispiel für die Propaganda der Tat ist. Wir haben hier einen hohen Level an Aktivismus erreicht. Wir haben keine ökonomischen Mittel, um eine landesweite Kampagne loszutreten, in der wir unsere Ideen verbreiten und unsere Funktionsweise erklären können. Die einzige Möglichkeit, unsere Gewerkschaft bekannter zu machen, ist unser täglicher Kampf. Immer mehr Leute bekommen mit, was passiert, wie z.B. bei dem Konflikt bei Casal (einem Reisebusunternehmen), wo wir zur Demo gingen. Auf dieser war die Unión General de Trabajadores (UGT), die den Streik ausgerufen hatte. Die Verantwortlichen der UGT kamen auf die Demo, ließen ein Foto von sich machen und waren nach fünf Minuten wieder verschwunden. Das war ihre ganze „Unterstützung“. Als die ArbeiterInnen sahen, dass wir bis zum Ende blieben, als wir ihnen unsere Kontaktadresse gaben, unsere Hilfe anboten und sie auf einer Versammlung unterstützten, haben sich viele der CNT angeschlossen. Das war kein Zufall. Sie haben gesehen, wie unsere Gewerkschaft funktioniert, und das hatte seine Wirkung.
Sarry: Was die Beitritte angeht, sahen die ArbeiterInnen, die früher kamen, die CNT als letzte Möglichkeit, nachdem sie von den Comisiones Obreras (CC.OO), der Confederación General del Trabajo (CGT), der UGT oder irgendeiner anderen reformistischen Gewerkschaft verarscht worden waren. Erst dann kamen sie zur CNT. So war es bis vor ca. vier Jahren. Dann erkannten immer mehr Menschen, dass die CNT in der Lage ist, mit Hilfe der direkten Aktion ihre Ziele zu erreichen. Jetzt kommen ArbeiterInnen direkt zur CNT, wenn sie entlassen, ihnen eine Strafe auferlegt oder ihre Gehälter nicht ausgezahlt werden. Das ist einer unserer größten Erfolge.
- Glaubt ihr, dass es in Sevilla Bedingungen gibt, die sich von denen in anderen Orten unterscheiden?
Antonio: Absolut nicht. Weder in Spanien, noch in Andalusien.
Sarry: Nein, wir haben lediglich gemerkt, dass sich die Leute eine ernsthafte Organisation wünschen. Sie haben die Nase voll von den Lügen und Manipulationen der anderen Organisationen. Du siehst, wenn du hier her kommst, dass wir uns den Arsch aufreißen, dass wir gemeinsam für eine Sache arbeiten. Wir denken, dass es eine Verantwortung ist, bei der CNT zu sein, sowohl individuell als auch kollektiv. Du musst zeigen, dass du AnarchosyndikalistIn bist, auch auf deiner Arbeit. Du sollst eine ernsthafte und bodenständige Person sein und nicht schweigen angesichts der Ungerechtigkeit. Auch in dieser Hinsicht befinden wir uns natürlich noch in einem Lernprozess.
Beltrán: Wenn wir so weit sind, dass wir anfangen über Kündigungen, über Betriebsgruppen, über die Arbeit der Leute zu reden – ich rede von Leuten mit Familie, mit Hypotheken, mit vielen Problemen – kann eine endlose und fruchtlose Diskussion über ein einfaches Plakat für diese oder jene Kampagne nicht mehr der richtige Weg sein. Die Organisation verlangt, dass alle ihre Verantwortung annehmen und erfüllen, denn sie muss handlungsfähig sein, wenn es darauf ankommt. Wir sind es, die ihre Praxis verändert haben. Das hat nicht mit den Bedingungen in Sevilla oder anderswo zu tun. Alle „Hippies“ sind weggegangen aus der CNT, weil sie diese Art von Organisation nicht verstanden haben. Sie sind hier und dort, in ihren besetzten Häusern, wir haben sehr gute Beziehungen zu ihnen, aber in der CNT sind sie nicht mehr.
- Warum organisieren sich Menschen heute in der CNT Sevilla? Und welche Aufgaben übernehmen neue Mitglieder in der Organisation?
Sarry: Einige Leute kommen aus ideologischen Gründen zur CNT. Aber die meisten GenossInnen sind wegen eines Arbeitskampfes gekommen. Sie haben auf praktische Art und Weise gesehen, dass sich die Gewerkschaft um sie kümmert. Viele lesen sich erst später, nach und nach, das Buch „Anarcosindcalismo básico“ (3) durch. Man muss weder Kropotkin, noch Malatesta, noch Bakunin gelesen haben, sondern es ist meist die Propaganda der Tat, die zählt. Die meisten AktivistInnen kamen dazu, weil sie einen Konflikt hatten, von der CNT unterstützt wurden und gesehen haben, was wichtig ist und dass es funktioniert und Spaß macht. Nun bringen sie sich auch in andere Kämpfe ein. Bei den eher formellen Aufgaben, dem Papierkram, ist es allerdings noch schwierig, denn hier ist viel Spezialwissen gefordert und dieses eignen sich noch zu wenige an.
- Wie bewertet ihr die Situation für den Anarchosyndikalismus in Spanien generell? Gibt es auch in anderen spanischen Städten erfolgreiche Syndikate der CNT?
Antonio: So wie wir lernen auch andere Syndikate. Und das, was Sevilla angestoßen hat, übt auch Einfluss auf andere Föderationen aus. In der Provinz Cádiz gibt es z.B. das Hafenarbeitersyndikat von Puerto Santa María, das eine unglaubliche gewerkschaftliche Arbeit geleistet hat. Oder in Lebrija, einer kleinen Stadt in der Nähe von Sevilla, wo die CNT bis vor kurzem sieben Mitglieder hatte, sind es jetzt über achtzig. In dieser Stadt ist die CNT die einzige gewerkschaftliche Kraft. Es handelt sich um eine sehr kleine Stadt, wo sich alle kennen. Sie sagen, dass jeden Tag neue Leute eintreten.
Sarry: Sie haben einen Streik gegen den größten Caciquen (A.d.Red.: Bonzen) von Lebrija gewonnen. Er besitzt eine Firma, die Gips und Mörtel herstellt.
Antonio: Das ist auf diesem Sektor die wichtigste und größte Firma in Andalusien und eine der größten in Europa. Es gab dort einen Streik, den die CNT unterstützte, und sie gewann gegen die Person, die bis dahin alles in der Stadt dominierte. Das hatte seine Auswirkungen. Kurzum: Was wir hier machen, passiert außerhalb von Sevilla auch, vielleicht in kleinerem Maßstab, aber nach und nach geht es voran.
- Es gab ja den weltweiten Aktionstag gegen Starbucks im Juli, der u.a. von euch angestoßen wurde. Welche weiteren Möglichkeiten und Perspektiven der Kooperation zwischen syndikalistischen Organisationen in einem globalen Rahmen seht ihr momentan?
Sarry: Wir denken, dass viele der Kämpfe, die wir hier führen, sich in globalen Strukturen bewegen. Bei einem Streik gegen eine mächtige international agierende Firma muss auch die Form der Solidarität international sein. Wie bei dem Konflikt in Tomares, wo der Gegner die Firma Ferrovial war, die Projekte und Zweigstellen in Deutschland und Argentinien hat. Der Konflikt wurde auch dank der internationalen Solidarität gewonnen. Es ist sehr wichtig, eine wirkliche Koordination zwischen den anarchosyndikalistischen Gewerkschaften dieser Welt zu organisieren. Momentan sind wir viel zu sehr damit beschäftigt, uns gegenseitig zu kritisieren. Wir müssen uns stattdessen koordinieren! Als wir vom Handelssyndikat der CNT Sevilla den globalen Aktionstag organisierten, taten wir dies nicht nur, um eine internationale Antwort auf den Angriff auf Mónica durch Starbucks zu geben, sondern auch, um dem Genossen Cole aus Grand Rapids unsere Solidarität zukommen zu lassen. (4) Wir haben den Eindruck, dass in der Internationalen ArbeiterInnen-Assoziation (IAA) diese internationale Koordination nicht existiert. Es passiert einfach nichts. Wir hielten es deshalb für sinnvoll, selbstständig zum Aktionstag aufzurufen, mit einer langen Vorlaufzeit, um allen rechtzeitig Bescheid zu geben. Für einen globalen Aktionstag ist es nicht notwendig, dass wir uns gegenseitig Küsschen geben. Wir brauchen ein gemeinsames Konzept, einen gemeinsamen Kampf zur Unterstützung aller ArbeiterInnen.
- Und wo habt ihr aktuell Konflikte oder gerade Konflikte beendet?
Sarry: Wo soll ich anfangen? (lacht)
- Vielleicht bei einem Konflikt, den du für besonders bedeutend hältst?
Sarry: Der wichtigste Kampf der m.E. gerade entsteht, ist der, der von der Genossin Miriam aus dem Bürgermeisteramt von San Juan de Aznalfarache getragen wird. Sie hat eine Betriebsgruppe gegründet und wird deswegen gerade vom sozialistischen Bürgermeister angegriffen. Sie wollen sie rausschmeißen, verweigern ihr ihren Lohn und haben ein Disziplinarverfahren eingeleitet, um sie feuern zu können. Das alles passiert, weil sie direkt das ganze Dorf mobilisiert hat, denn es wurde ein Bebauungsplan verabschiedet, der einen Großteil des alten Dorfes vernichten würde, um profitable Wohnblöcke zu bauen. Dies führte dazu, dass der Name der CNT dort momentan allgegenwärtig ist. Einfache Leute aus dem Dorf sehen, dass die CNT die Organisation ist, die sie unterstützt, und sie bewundern unsere Vorgehensweise. Es gab dort Demonstrationen mit mehr als 500 TeilnehmerInnen, die von der CNT organisiert wurden.
- Was habt ihr als nächstes vor, wie geht es weiter?
Beltrán: Aktuell zwingt uns unser Wachstum dazu, einige notwendige Entscheidungen zu treffen. Die erste ist, dass wir mehr finanzielle Mittel benötigen. Gut, wir sind selbstverwaltet, aber eine Organisation benötigt ab einer bestimmten Größe eine Streikkasse, einen Rechtsanwalt, ein Lokal in einer bestimmten Größe, und mit den Mitgliedsbeiträgen allein kommt man nicht hin. Deshalb suchen wir nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten. Wir werden ein Experiment durchführen und Kneipenkooperativen gründen. Warum Kneipen? Weil Kneipen sehr viel Geld abwerfen und ArbeiterInnen, die Probleme haben, Arbeit zu finden, dort welche bekommen. Außerdem sind Kneipen nicht nur in Spanien soziale Räume. Es sind Orte, wo Leute reden, soziale Beziehungen eingehen und konspirieren. Es gibt einen klassischen Autor der Politikwissenschaft, Robert Michels(5), der sagt, dass die Revolutionen in den Kneipen gemacht wurden. Die politischen Organisationen, die gesiegt haben, sind die, die es geschafft haben, die Kneipen zu erobern. Das sieht man sehr gut an der baskischen Befreiungsbewegung hier, die die Herriko Tabernas (Volkskneipen) hat. Sie sind ihre wichtigste Finanzierungsquelle und der Ort des Kontaktes mit der Gesellschaft, wo sie soziale Netzwerke aufbauen, um gegen das, was sie den „spanischen Kolonialismus“ nennen, zu widerstehen. Eine ähnliche Sache werden wir in Sevilla versuchen. Wenn es funktioniert, werden wir es an mehr Orten verwirklichen können. Wenn nicht, werden wir uns einen anderen Weg suchen. Aber weil wir keine absoluten Wahrheiten und Antworten für alles haben, werden wir es probieren und machen und schauen was dabei heraus kommt.
- Vielen Dank für das Interview.
Interview: Daniel Colm, Robert Ortmann; Übersetzung: Daniel Colm; Redaktionelle Bearbeitung: Robert Ortmann.
Fußnoten:
(1) „Renaissance des Anarchosyndikalismus. Eine Untersuchung am Beispiel der CNT Sevilla“, erschienen im Januar 2007 beim Syndikat-A Medienvertrieb.
(2) Dieser Streik bei der Straßenreinigung von Tomares, einer kleinen Stadt in der Nähe von Sevilla, wurde äußerst verbissen geführt. Er endete am 28.7.2003 mit einem Sieg der ArbeiterInnen. Für die AktivistInnen der CNT in Sevilla stellt dieser Konflikt den Wendepunkt in ihrer jüngeren Geschichte dar.
(3) Das Buch „Anarcosindcalismo básico“ wird von der CNT herausgegeben. Es beschreibt in einfachen Worten die Ideen des Anarchosyndikalismus, die Funktionsweise der CNT und ihre Geschichte.
(4) Cole und Mónica wurden von Starbucks aufgrund ihrer gewerkschaftlichen Aktivitäten entlassen. Ihre Gewerkschaften, die Industrial Workers of the World (IWW) und die CNT, riefen aus diesem Anlass für den 5.7.2008 zu einem weltweiten Aktionstag gegen die gewerkschaftsfeindliche Praxis bei Starbucks auf. Es beteiligten sich unzählige GewerkschafterInnen und soziale AktivistInnen in Lateinamerika, Nordamerika, Europa und Australien (ausführliches siehe DA Nr. 189).
(5) Michels war ein Mitbegründer der modernen Politikwissenschaft und wurde berühmt für seine Kritik der oligarchischen Tendenzen im Parteienwesen, was ihn in Konsequenz zum revolutionären Syndikalismus führte. Für viele unverständlich ist seine spätere Hinwendung zum italienischen Faschismus.
Fakten zur CNT Sevilla
Die Lokalföderation Sevilla besteht aus fünf Syndikaten:
- Allgemeines Syndikat
- Handelssyndikat
- Reinigungssyndikat
- Transportsyndikat
- Syndikat „Öffentliche Dienste“
Die Gründung eines sechsten Syndikates (Bildung) wird vorbereitet. In diesen Syndikaten organisieren sich ca. 500 Menschen in 35 Betriebsgruppen. Tendenz steigend.
Quelle: Direkte Aktion Nr. 190
Originaltext: http://www.fau.org/artikel/2008/art_081130-233002