Ludwig Unruh - Prophylaxe Syndikalismus?

Robert Michels' "ehernes Gesetz der Oligarchie" und die syndikalistische Organisation

Robert Michels (1876-1936), ein deutsch-italienischer Soziologe, hat 1911 sein wohl bekanntestes Werk, "Die Soziologie des Parteiwesens", veröffentlicht. In diesem Buch entwickelt er sein "ehernes Gesetz der Oligarchie", nachdem jede Form von Organisation zu oligarchischen Tendenzen führe und somit Bürokratie und Führertum eine notwendige Begleiterscheinung moderner Massenorganisationen sei. Michels Theorie basiert hauptsächlich auf der Untersuchung der Situation in der Arbeiterbewegung im Allgemeinen und der SPD im Besonderen " sie ist jedoch auf alle politische Strömungen anwendbar. Seine Konzentration gilt nur deswegen den antikapitalistischen/sozialistischen Richtungen, da diese zumindest vorgeben, Führer zumindest tendenziell abschaffen zu wollen. Michels war selbst mehrere Jahre Mitglied der deutschen Sozialdemokratie und der italienischen PSI, wandte sich um 1907 dem Syndikalismus zu, bis er später in Mussolinis Italien zum Elitentheoretiker und Faschisten wurde.

Michels' Untersuchung kann man heute noch mit Gewinn lesen - seine Beschreibung der innerparteilichen Mechanismen und der Entwicklungstendenzen ursprünglich revolutionärer Parteien zu Stützen der kapitalistischen Gesellschaft kann man heute anhand der Grünen oder der PDS exemplarisch nachverfolgen. Seine Theorie gilt jedoch nicht nur Parteien, sondern generell allen politischen und ökonomischen Organisationen in einer demokratischen Gesellschaft bzw. der Demokratie insgesamt. Der vollständigen Verwirklichung der Demokratie stehen seiner Meinung nach das Wesen der menschlichen Natur, des politischen Kampfes und der Organisation an sich entgegen, die deren Durchsetzung zur "ewigen" und im Grunde "nicht erfüllbaren" Aufgabe machen. Für diese geradezu zwangsläufige Oligarchisierung der Organisation führt Michels sowohl technisch-administrative, als auch sozialpsychologische Ursachen an.

Organisationen sind für Michels notwendige "Waffen der Schwachen im Kampf mit den Starken". Sie verfolgen das "Prinzip des geringsten Kraftaufwandes" und erlauben es den Schwachen, ihre Interessen gemeinsam durchzusetzen, wozu sie allein nicht in der Lage wären. Gleichzeitig jedoch "liegt im Wesen der Organisation ein tief aristokratischer Zug". Dieser verstärkt sich zudem mit zunehmender Organisationsgröße, die ab einer bestimmten Schwelle Selbstverwaltung und Selbstbestimmung unmöglich macht. Außerdem werde mit anwachsender Mitgliedschaft das Gefühl der Eigenverantwortlichkeit der Einzelnen geschwächt, die sich auf ihre Genossen bzw. Führer verlassen. Hinzu kommt, dass insbesondere Arbeiterparteien faktisch "kriegführende Parteien" sind, die als solche im Kampfe nur als zentralistisch und streng hierarchisch aufgebaute Apparate die notwendige "Schnelligkeit der Entschlüsse" ermöglichen: "Demokratie ist mit Schlagfertigkeit schlechterdings unvereinbar."

Das Prinzip der direkten Demokratie, welches sich vor allem aus der Erkenntnis dieser Mängel von großen Organisationen speist, ist allerdings weder effektiv genug, um im Kampfe Erfolg zu haben, noch ein generelles Mittel zur Verhinderung oligarchischer Tendenzen. Volksversammlungen, die das "Ideal der Demokratie" bilden, ermöglichen keine vernünftige Aussprache und sind zudem durch charismatische Redner leicht zu manipulieren. Gleiches gilt für Referenden, die nicht nur sehr zeitaufwändig sind, sondern deren Ausgang z.B. durch geschickte Fragestellung beeinflusst werden kann.

Die mit imperativem Mandat gewählten, jederzeit abrufbaren Delegierten, die zunächst nur bestimmte, zeitlich begrenzte Aufgaben erfüllen sollten, würden tendenziell zu Spezialisten und dadurch oftmals zu dauerhaften Führern. Aufgrund der Komplexität von vielen Mandaten und auch der Unzufriedenheit der Delegierten mit ihrem Status als befristete "Sendboten" ist die Auswahl an Kandidaten prinzipiell begrenzt. Deswegen können sich immer wieder besonders Begabte oder Gebildete durchsetzen, die durch ihr Spezialwissen unentbehrlich werden. Sie entwickeln sich dann mittelfristig zu einer neuen "Arbeiterelite" und erhalten dauerhafte Führungspositionen, wodurch sie sich ihrer Klasse zunehmend entfremden.

Versuche, solcherart Führungsansprüche Einhalt zu gebieten, werden durch die Führer oft mit Rücktrittsdrohungen o.ä. abgeblockt. Generell haben die meisten Mitglieder der Organisation kaum Zeit und oft auch nicht das Interesse, sich mit Fragen der Organisation zu beschäftigen. Sie sind froh, wenn sich für bestimmte Aufgaben Freiwillige finden. Diese können dann aufgrund der von ihnen geleisteten Arbeit für die Organisation wiederum zumindest moralische Ansprüche auf Führung beanspruchen. Mitunter ist es auch einfache die "natürliche Trägheit" oder eben die "Pietät" der Massen, die Führung auf Lebenszeit möglich macht. Auch sei es eine historische Erfahrung, dass die Massen von der Möglichkeit, ihre Führer abzuberufen, keinen Gebrauch machen. Direkte Demokratie ist vor allem durch den Mangel an Stabilität und Schlagfertigkeit - infolge des Einspruchsrechtes der Massen - den meisten Aufgaben in modernen Massengesellschaften nicht gewachsen - und schon gar nicht denen des Kampfes um die Macht. Zudem brauche es für eine breite Beteiligung der Massen eines hohen Potentials an Enthusiasmus, der wiederum "keine Ware (ist), die dauernd auf Lager gehalten werden kann." Ebenso stellen Idealisten, die versuchen, mittels persönlicher Entsagung den Verlockungen der Macht zu widerstehen, nur seltene Ausnahmen dar.

Im weiteren beschreibt Michels die verschiedenen informellen Methoden der Herrschaftssicherung der Führer, die die selbstgewählten Ansprüche bzw. Statuten kontinuierlich aushebeln. So verfügt die Parteibürokratie i.d.R. über die Parteimedien, die sie zur systematischen Sicherung und zum Ausbau der eigenen Positionen verwenden. Die Bezahlung von Funktionären, die diese gegenüber Korruptionsversuchen widerstandsfähig machen soll, verstärkt aber die bürokratischen Tendenzen im Parteiapparat und trägt zur Entfremdung von den einfachen Mitgliedern bei. Dadurch entsteht eine Schicht von Funktionären, deren persönliche Existenz von der Organisation selbst abhängig ist. Die immer wieder aufkommenden Versuche, diesen Zentralisierungs- und Bürokratisierungstendenzen Einhalt zu gebieten, werden i.d.R. aber von unterlegenen Führern als Mittel benutzt, ihre eigenen Positionen auf lokalem Terrain auszubauen.

Michels beschreibt auch pointiert die Funktion einer Stellvertreterdemokratie: "Eine Masse, die ihre Souveränität delegiert, d.h. einzelnen wenigen Männern aus ihr überträgt, dankt als Souverän ab; (...) Der Akt der Wahl ist gleichzeitig Ausdruck der Vernichtung der Massensouveränität." Die Schilderung der Konflikte zwischen Parteiführung und Parlamentsfraktion kommt einem merkwürdig bekannt vor. Er fasst die "Geschichte der parlamentarischen Fraktionen" als eine "Kette gebrochener Parteitagsbeschlüsse". Wie gut 80 Jahre nach Erscheinen des Buches wieder aktuell diskutiert, beschreibt er den Prozess der Abschaffung der ursprünglich in nahezu allen sozialistischen Parteien existierenden Trennung von Amt und Mandat. Revoltierende junge Parteimitglieder werden, nachdem sie die Alten aus ihrem Amt gedrängt haben, mit konstanter Regelmäßigkeit ihren Vorgängern immer ähnlicher.

Allerdings gelten solcherart Gesetzmäßigkeiten auch für außerparlamentarische Organisationen. Bei Gewerkschaften etwa spielt die Verfügungsgewalt über die Streikkassen eine wichtige Rolle im organisationsinternen Machtkampf. Hinzu kommt, dass die Herrschenden solcherart Tendenzen unterstützen, indem sie sich strikt weigern, mit den Massen zu verhandeln. Regierungen und Unternehmer unterstützen oft Arbeiter-Führer und der Staat öffnet von Zeit zu Zeit die "Schleusen seiner bürokratischen Kanäle" für renitente Führer und macht diese sich so zu seinen Verbündeten. Das erweist sich auch immer wieder als unschlagbar effektiv, da die Massen gegenüber ihren "eigenen Führern viel gefügiger" sind, als gegenüber den Regierungen. Die Führer hingegen machen in ihrer Laufbahn eine Umwandlung durch, die "an eine völlige Transformation grenzt". Sie haben natürlich ein Interesse, diese Wandlungen gegenüber der Masse zu rechtfertigen, woraus "ein nicht geringer Teil der revisionistischen und reformistischen geistigen Strömungen" in der Arbeiterbewegung entspringe. In einem bestimmten Stadium beginnen die Führer auch das Eigentum der Organisation mit dem eigenen zu identifizieren, so z.B., wenn Gewerkschaftsführer für ihre Verdienste bei erfolgreichen Tarifverhandlungen sich entsprechende Prämien zusprechen oder aufgrund ihrer Erfahrung bzw. auch der Bereitstellung von finanziellen Mitteln aus "ihren" Kassen ein höheres Gewicht ihrer Stimme bei Abstimmungen beanspruchen.

Ehernes Gesetz?

Die von Michels geschilderten Entwicklungen waren damals schon Kritikern der Entwicklungstendenzen in Gewerkschaften und Sozialdemokratie bekannt. Verschiedene Strömungen versuchten auf unterschiedliche Weise solcherart Tendenzen zu widerstehen. Michels geht dabei insbesondere auf den Syndikalismus und auch den Anarchismus ein. Zunächst einmal stellt er fest: "Die Bedeutung des Syndikalismus liegt ganz überwiegend in der klaren und scharfsinnigen Art, mit der er die Gefahren der bürgerlichen Demokratie erkannt hat." Zudem haben die Syndikalisten richtigerweise darauf hingewiesen, dass man die "Gefahren der Organisation durch die Abschaffung derselben nicht beseitigen" dürfe. Stattdessen verlagerten die Syndikalisten den Schwerpunkt ihres Handelns vom politischen in den ökonomischen Sektor, in der Meinung, dass solche Tendenzen allein für parlamentarische Parteien gelten. Das sei jedoch falsch, denn gerade die Hinwendung zu rein gewerkschaftlicher Aktion verstärke geradezu die oligarchischen Tendenzen. Direkte Aktionen, wie z.B. Streiks, seien noch viel mehr "kriegerische Aktionen" als der parlamentarische Kampf. Sie erfordern mindestens ebenso schnelle Entscheidungen, die mittels direkter Demokratie nicht gefällt werden können.

Auch die syndikalistische Ablehnung von Führungsämtern führe nur dazu, dass die in Kämpfen quasi "selbständig aus dem Dunkel der Masse" auftauchenden Führer eine Art informelles Führertum befördern. Zudem seien auch syndikalistische Organisationen gezwungen, mit staatlichen oder Unternehmerinstanzen Verhandlungen zu führen, die i.d.R. auch nicht in der Öffentlichkeit stattfinden. Die Praxis syndikalistischer Organisationen zeige zudem, dass auch dort der Anteil der aktiv am Vereinsleben Teilnehmenden kaum größer als in herkömmlichen Gewerkschaften sei. Anstelle der Führer, die die Masse der Mitglieder der traditionellen Organisationen beherrschen, trete in syndikalistischen Organisationen die Herrschaft einer Minderheit der Masse über deren Mehrheit. Der Syndikalismus sei somit eine "Bewegung aufgeklärter proletarischer Minderheiten". Während in der Sozialdemokratie sich die Führer oft aus übergelaufenen Vertretern der bürgerlichen Klassen rekrutierten, seien die syndikalistischen Führer ihrer Herkunft nach zumeist proletarischen Ursprungs. Daraus resultiere jedoch auch kein qualitativer Unterschied in ihrer Entwicklung.

Die Anarchisten, die kompromisslosen Kämpfer gegen jegliche Form von Herrschaft, sind wiederum auch nicht gegen die Entstehung von Führern in ihren Reihen gefeit. Deren Herrschaftsmittel jedoch gehören einer "vergangenen Epoche an". Anstelle der Herrschaft durch Spezialisierung tritt bei den Anarchisten die Herrschaft der "Apostel", der charismatischen Redner und der sich selbst Aufopfernden. Zwar verheiße die anarchistische Theorie am eindeutigsten eine herrschaftsfreie Zukunft. Aber nur solange die Anarchisten nicht die "Gefilde des freien Gedankens" verließen, könnten sie ihrem Ideal gerecht werden. Sobald sie versuchen, durch praktische Tätigkeit aktiv zu werden, müssen sie zum Mittel der Organisation greifen, die den gleichen Tendenzen unterliege, wie alle anderen auch.

Michels hat mit seinem Werk zweifellos eine profunde Kritik demokratischer Organisationen vorgelegt, die auch heute ihre Gültigkeit hat. Zudem hat er auf zahlreiche Gefahren verwiesen, die sich aus einer praktischen Tätigkeit für die Verfasstheit einer Organisation mit basisdemokratischem Anspruch stellen. Aus seiner enttäuschenden Erfahrung in sozialdemokratischen wie auch syndikalistischen Organisationen in einer bestimmten historischen Phase heraus, schließt er jedoch auf eine generelle Unmöglichkeit von direkt-demokratischer Entwicklung. Aufgrund dieser Erfahrung wendet er sich dann auch später faschistischen Elite-Theorien zu, die auf einer tiefen Verachtung der Massen fußen. Die Frage für uns ist nun, wie eine Organisation, die sich (hoffentlich) anschickt, aus einer linksradikalen Sekte zu einer Gewerkschaft zu werden, solchen "oligarchischen" Mechanismen entgehen kann. Ein Beharren auf der "reinen Lehre", eine Ignoranz jeglicher gesellschaftlicher Institutionen wird auf die Dauer wohl zu einem Verbleib in der radikalen Schmollecke führen. Eine populistische Politik andererseits führt mit Sicherheit zu einer reformistischen Praxis. In dieser Situation bedarf es einer beständigen (Selbst-)Analyse organisatorischer Tendenzen.

Andererseits dürften die Reserven des heutigen, krisenhaften Kapitalismus für die massenhafte Integration oppositioneller Bewegungen immer kleiner werden. Zudem gibt es eine Dezentralisierungstendenz in der Wirtschaft, die für kleinere, direkt-demokratischen Strukturen am ehesten entsprechenden Gruppen, möglicherweise mehr Möglichkeiten eröffnet.

Originaltext: http://www.geschichtevonunten.de/01_sek-lit/theorie/unruh_proph_synd.htm


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