Über die Organisierung. Zu Konsens, Mehrheiten und Verantwortlichkeiten
Der „Konsensentscheid” genießt als Entscheidungsfindungsmethode seit den 1960er Jahren innerhalb sozialer Bewegungen eine gewisse Popularität. Besonders die Anti-Atombewegung, aber auch anarchistische und radikale feministische Gruppen adoptierten bald dieses Modell.
Die Beweggründe dahinter lassen sich leicht verstehen eingedenk der heute vorherrschenden Organisationsmodelle. Massenorganisationen, in denen Entscheidungen direkt durch die Mitglieder gefällt werden, sind schwer zu finden. (...) Auch die meisten linken Gruppen sind – ihrem Anspruch auf „Führung” entsprechend – hierarchisch aufgebaut.
Das Konzept der Kleingruppe bietet scheinbar Schutz vor Entfremdung und Hierarchien. Beim Modell der kleinen, informellen Gruppe – ohne geschriebene Grundsätze, ohne Moderation bei Treffen, ohne Wahlen von Personen für Aufgaben, ohne genaue Definition von Ämtern und ohne schriftliche Protokolle der Treffen – werden Entscheidungen getroffen, indem unstrukturiert diskutiert wird, bis ein Konsens erreicht ist.
Aber derartige Informalität beseitigt Hierarchien in Organisationen nicht, sondern verdeckt sie lediglich. Für Insider einer solchen Gruppe erscheint dabei alles freundlich und egalitär. Neu Hinzukommende hingegen haben keine familienähnlichen Bindungen zu der Gruppe. Ohne klare Festlegungen von Verantwortlichkeiten, ohne Wahlen von Personen für wichtige Aufgaben wird es für die Mitglieder dann schwer zu kontrollieren, was in der Gruppe passiert.
Glücklicherweise sind kleine, informelle Gruppen nicht die einzige Alternative zu den vorherrschenden, hierarchischen Organisationsmodellen. Es ist möglich, formale Organisationen aufzubauen, die unter direkter Kontrolle ihrer Mitglieder stehen. „Formalität” bedeutet ja lediglich, dass der Organisation eine Reihe von niedergeschriebenen Regeln zugrunde liegen. Das betrifft die Art und Weise, wie Entscheidungen getroffen werden, die Pflichten von AmtsinhaberInnen und die Konditionen der Mitgliedschaft. Eine Organisation muss nicht hierarchisch aufgebaut sein, um in diesem Sinne formal zu sein. Eine libertäre Organisation würde ganz im Gegenteil sogar einen nicht-hierarchischen Weg der Entscheidungsfindung in ihrer Satzung vorgeben.
Verantwortlichkeiten delegieren
Manchmal denken Leute, dass das Einrichten von gewählten Ämtern mit festgelegten Verantwortlichkeiten eine „Hierarchie“ sei, so als ob jedes Delegieren von Verantwortlichkeit einen Chef hervorbringen würde. Aber Informalität verhindert das Delegieren nicht, weil einige Menschen zwangsweise Aufgaben für die Gruppe übernehmen werden, z.B. Anfragen beantworten oder ein Bankkonto verwalten.
Es ist möglich, Menschen für die Ausführung von Aufgaben zu delegieren, ohne dass dadurch eine hierarchische Organisation entsteht. Hier sind einige Richtlinien:
- Der Umfang von Autorität eines gewählten Amtes, wie z.B. Korrespondenz-SekretärIn oder Kassenwart, sollte explizit definiert und begrenzt sein, so dass jede/r weiß, was diese Person tun soll - zusätzlich sollten regelmäßige Rechenschaftsberichte verlangt werden, um die Mitglieder informiert zu halten.
- Die Person sollte für einen begrenzten Zeitraum gewählt werden, z.B. ein Jahr, und es sollte per Mehrheitsbeschluss jederzeit möglich sein, sie wieder abzusetzen (allerdings mit einer guten Begründung, um sicherzustellen, dass diese Möglichkeit nicht aus rein persönlichen Gründen forciert wird).
- Wenn irgend möglich, sollte es eine verbindliche Rotation des Amtes geben. Dies ist besonders wichtig bei AmtsträgerInnen, die eine Organisation nach außen repräsentieren. Wenn eine Gruppe sehr klein ist, kann es unter Umständen schwierig sein, die Verantwortlichkeiten rotieren zu lassen. Trotzdem sollte die verantwortliche Person dann regelmäßig auf den Mitgliedertreffen Rechenschaft ablegen. Auf diese Weise können die Mitglieder durch ihre Entscheidungen den Kurs bestimmen.
- Niemand wird gewählt, um einen politischen Kurs für die Organisation zu bestimmen, sondern nur um die Aufgaben auszuführen, die der Person von den Mitgliedern auferlegt wurden. Die Vollversammlung der Organisation muss die höchste Entscheidungsfindungsinstanz bleiben und muss jede Entscheidung von gewählten AmtsinhaberInnen außer Kraft setzen bzw. rückgängig machen können.
Die zentrale Idee ist, dass die Hauptverantwortung der Entscheidungsfindung in der Organisation nicht an irgendein leitendes Komitee oder eine Exekutive delegiert wird, sondern direkt von den Mitgliedern durch ihre Diskussionen und Abstimmungen ausgeübt wird. Das ist der Grundstein des libertären Organisationskonzeptes. (…)
Die eigentliche Frage ist: Wie stehen diejenigen, die Aufgaben ausführen zu dem Rest der Mitglieder? Liegt das Zentrum der Entscheidungsfindung in Vollversammlungen und müssen die AmtsträgerInnen diesen Versammlungen Bericht erstatten, bekommen sie von diesen Versammlungen ihre Aufgaben übertragen und rotieren (womöglich) Aufgaben? Dann ist das keine hierarchische Struktur, sondern eine Organisation mit Entscheidungsfindung von unten.
Eine Redeleitung ist kein Chef
Menschen, die das Modell kleiner, informeller Gruppen bevorzugen, wenden sich häufig auch dagegen, jemanden zur Redeleitung eines Treffens zu wählen, selbst wenn es eine größere Versammlung ist. Es ist einfach zu verstehen, wovor sie Angst haben. Man stelle sich Gewerkschaftsversammlungen vor, in denen die Redeleitung ein bezahlter Funktionär ist. Dieser hat bestimmte, feste Interessen zu verteidigen. Um seine Ziele zu erreichen, wird er womöglich unerwünschte Wortmeldungen von unten abwürgen oder das Treffen auf andere Art und Weise manipulieren.
Aber hier liegt das Problem darin, dass es eine Bürokratie gibt; Sitzungen zu leiten ist dann nur eine der Maßnahmen, mit der eine Bürokratie die Organisation kontrolliert. Es ist eine andere Situation, wenn die Redeleitung zu Beginn der Sitzung von den Anwesenden gewählt wird und wenn sie jederzeit per Mehrheitsbeschluss zurückgerufen werden kann. Der Vorsitz eines Treffens zu sein, macht einen noch nicht zum Bürokraten.
Ich habe Treffen ohne Redeleitung mitgemacht, in denen die Leute sich gegenseitig unterbrochen haben, in denen die Stimmen lauter wurden, weil Leute sich Aufmerksamkeit verschaffen wollten. Treffen, in denen daraufhin in vielerlei Art vom Diskussionsthema abgewichen wurde, und in denen wichtige Entscheidungen verschoben oder eilig in letzter Minute gemacht wurden. (…)
Wenn ein Treffen nur aus einigen wenigen Leuten besteht, dann braucht es offensichtlich keine Redeleitung. Aber sobald eine Versammlung eine gewisse Größe erreicht, wird eine Redeleitung notwendig, um sicherzustellen, dass nicht vom Thema abgewichen wird und alle Punkte innerhalb einer erträglichen Zeitspanne geschafft werden und um gleichzeitig sicherzustellen, dass alle Leute die Gelegenheit bekommen, zu sprechen. (…)
Das Grundprinzip hinter einer Redeleitung ist, dass wir eine Person dafür delegieren, sich auf solche Dinge wie „Diskussionsthema” und „Wer ist mit Sprechen dran?” zu konzentrieren, während sich der Rest von uns darauf konzentrieren kann, was gesagt wird. Natürlich kann es passieren, dass eine Redeleitung manipuliert und eine bestimmte Seite in einer Streitfrage unterstützt. In einer solchen Situation wäre es angebracht, die Redeleitung auszutauschen.
Das Recht, sich voneinander zu trennen
Beim Entwurf eines libertären Organisationskonzeptes müssen wir im Kopf behalten, dass einzelne Mitglieder nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten haben gegenüber den Mitgliedern der Organisation. Da die Mehrheit das Recht hat, die Kontrolle über ihre Organisation auszuüben, müssen sich Individuen so verhalten, dass sie dieses Recht der Mehrheit akzeptieren. (...)
Ein libertäres Organisationskonzept muss die Vielfalt von Meinungen erlauben. Das heißt, die Mitglieder müssen sich bemühen, ein Klima des Respekts für andere Meinungen innerhalb der Organisation zu erhalten. Doch was passiert, wenn Mitglieder die Rechte von anderen Mitgliedern missachten, sich gegenseitig bedrohen oder in einer Weise verhalten, die schädlich für die Organisation ist? In solchen Fällen muss die Mehrheit in Betracht ziehen können, sich von diesen Personen zu trennen. Mit anderen Worten: Zu den Rechten der Mehrheit gehört auch das Recht, einzelne Mitglieder auszuschließen.
Für einige AnarchistInnen sind Ausschlüsse immer eine „Säuberung“. Die autoritäre Konnotierung dieses Begriffes soll die Vorstellung erwecken, dass jeder Ausschluss eine Missachtung der individuellen Freiheit darstellt und ein illegitimer Akt ist. Aber die Position dieser AnarchistInnen widerspricht sich selbst. Denn es ist ein sehr grundlegendes libertäres Prinzip, dass die Mitglieder das Recht haben, direkte Kontrolle über ihre Organisation auszuüben. Und das bedeutet, dass kein Individuum das „Recht“ hat, sich in einer Weise zu verhalten, die die Mehrheit daran hindert, die Ziele zu erreichen, für die sie sich zusammengefunden hat. Wenn die Mehrheit in einer Organisation nicht das Recht hätte, störende Einzelpersonen auszuschließen, hätte sie keinen Einfluss mehr auf die Bedingungen der Mitgliedschaft und die Ausrichtung der Organisation. Die Freiheit, sich zu vereinigen, beinhaltet die Freiheit, sich zu trennen.
Demgegenüber sollte die Macht, Mitglieder auszuschließen, niemals an FunktionsträgerInnen delegiert werden. Denn ließe man gewählte AmtsinhaberInnen in dieser Sache auf eigene Faust handeln, könnten sie ihre eigenen Kritiker ausschließen. Hierarchische Organisationen benutzen solche Methoden, um die Kontrolle über ihre Mitglieder zu behalten. Was aber in diesen Fällen illegitim ist, ist nicht der Akt des Ausschlusses an sich, sondern die hierarchische Methode, nach der er erfolgt.
Entscheidend ist, dass Individuen Verpflichtungen gegenüber den anderen Mitgliedern einer Organisation haben. Und die Mehrheit hat das Recht sicherzustellen, dass die Pflichten der Mitgliedschaft beachtet werden. Aber ein Ausschluss ist die Ultima Ratio und sollte sehr vorsichtig benutzt werden. Ein Ausschluss ist etwas, über das alle Mitglieder direkt auf einem Treffen oder auf einem Kongress entscheiden sollten. Es sollte zudem immer Bedingung sein, dass beschuldigte Personen vorher informiert werden und das Recht haben, sich vor der Mitgliederversammlung zu verteidigen, bevor eine Abstimmung zum Ausschluss stattfindet.
Reden, bis sich alle einig sind
Die VerfechterInnen der Informalität tendieren dazu, Abstimmungen als Entscheidungsfindungsprozess abzulehnen. Sie bevorzugen es, so lange zu reden, bis eine Übereinkunft erreicht ist (oder nicht erreicht ist). Meiner Erfahrung nach werden dadurch informelle Hierarchien gefördert. Denn diese Vorgehensweise neigt dazu, den Einfluss der wortgewandteren und selbstbewussteren Individuen zu vergrößern und die Schüchternen und weniger Wortgewandten zu entrechten. Abstimmungen haben den Vorteil, dass sie ein Gleichmacher sind. Die Schüchternen und Energischen, die Wortgewandten und die nicht so Wortgewandten, alle können ihre Hand heben und alle haben nur eine Stimme.
BefürworterInnen des Konsens sagen manchmal, dass die einzige Alternative zum Konsens eine hierarchische Organisation ist. Aber es gibt auch die Möglichkeit einer direkten Demokratie, in der Entscheidungen per Mehrheitsentscheid getroffen werden. Direktes Abstimmen der Mitglieder gibt der Mehrheit der Mitglieder die Kontrolle - und Kontrolle durch die Mehrheit der Mitglieder ist das Gegenteil von Hierarchie. In einer hierarchischen Organisation hat nicht die Mehrheit der Mitglieder das Sagen, sondern einige FührerInnen an der Spitze – das ist die Bedeutung von „Hierarchie“.
Die libertäre Idee der direktdemokratischen Abstimmung ist allerdings etwas völlig anderes als das offizielle Konzept von „Demokratie“, wie wir es aus der bestehenden Gesellschaft kennen. „Demokratisches Abstimmen“ bedeutet hier in der Regel, Funktionäre zu wählen, die dann alle Entscheidungsgewalt in ihren Händen halten. Tatsächlich ist das eine gewählte Autokratie, nicht aber wirkliche Demokratie – denn diese würde sich auf direkte Entscheidungsfindung der Massen stützen.
Formaler Konsens
Obwohl „Reden bis zur Übereinkunft” die gängige Entscheidungsfindungsmethode für kleine, informelle Gruppen ist, sind nicht alle BefürworterInnen der Konsensentscheidungsfindung einer formalen Organisation abgeneigt. Die Organisation formal zu machen (niedergeschriebene Satzung, Festlegung der Mitgliedschaft und so weiter), löst allerdings die grundlegenden Probleme des Konsensprozesses nicht.
Denn die Forderung nach Einstimmigkeit bedeutet, dass Meinungsverschiedenheiten so lange ausdiskutiert werden müssen, bis sich ein verbaler Konsens herausbildet. Und selbst ein formales Konsenssystem tendiert dazu, den Einfluss der beredsameren, selbstsichereren TeilnehmerInnen zu stärken. Auch führt die Forderung nach Konsens oft zu ausgedehnten Marathonsitzungen, oder zu Treffen, auf denen nichts entschieden wird.
Durch diesen Aspekt des Konsens wird die Bewegung für ArbeiterInnen weniger attraktiv und die Teilnahme reduziert sich auf die Hardcore-AktivistInnen. Wenn Menschen andere Verpflichtungen haben, denen sie nachkommen müssen (Arbeit, Kinder, LebenspartnerIn), werden sie dazu tendieren, von langen, unentschlossenen und chaotischen Treffen frustriert zu sein. Die meisten Menschen wollen das Gefühl haben, dass etwas erreicht wird, eine klare Entscheidung gefällt wird und das alles in einem zumutbaren Zeitraum.
In seinem Pamphlet Blocking Progress beschreibt Howard Ryan ein albtraumhaftes Beispiel dafür, was mit Konsens passieren kann. (1) Viele Menschen in der „Livermore Action Group“ (LAG) - einer Anti-Atomkraft-Aktionsgruppe hier in der Bay Area – waren unzufrieden mit dem ersten Punkt der LAG-Aktionsrichtlinien, der besagte: „Unsere Einstellung soll geprägt sein durch Offenheit, Freundlichkeit und Respekt gegenüber allen Menschen, die uns begegnen.“ „Ein häufiges Gefühl war es“, so Ryan, „dass unterdrückte Menschen diese Dinge meist nicht für die Polizei oder die Obrigkeit empfanden und es sollte nicht verpflichtend sein, diese Dinge zu fühlen um bei der [Lawrence-Livermore Laboratory] Blockade mitzumachen.“ 1982 gab es eine einmonatige Diskussion zu diesem Thema, gefolgt von zwei ganzen Tagen informeller, offener Debatte. Am zweiten Tag wurde vorgeschlagen, „freundlich und respektvoll“ durch „gewaltfrei“ zu ersetzen.
Als sich dieser lange Diskussionsprozess seinem Ende zuneigte, brachte ein Teilnehmer den Vorschlag, eine Probeabstimmung zu machen, um die allgemeine Meinung im Raum festzustellen. Dies wurde als so kontrovers angesehen, dass zwei Stunden darüber debattiert wurde, ob es überhaupt okay sei, eine Probeabstimmung zu machen. Am Ende wurde die Abstimmung durchführt und das Ergebnis war 74 zu 2 dafür, im Absatz über Gewaltfreiheit das „respektvoll und freundlich“ zu entfernen. Ein Teilnehmer hat beschrieben, was dann passierte:
Einer der zwei Leute [ein doktrinärer Pazifist] blockierte die Entscheidung. Er wurde wiederholt aufgefordert, sich zurückzunehmen, die Versammlung zu verlassen, sterben zu gehen. Die Leute waren einfach so aufgebracht. Er gab nicht nach und die Entscheidung kam nicht zustande.
Ein gutes Beispiel für den elitären Zwang, den das Konsensprinzip ermöglicht.
Konsens ist antidemokratisch
Die Forderung nach Einstimmigkeit ist antidemokratisch. Eine kleine Minderheit hat nicht das Recht, die Mehrheit der Mitglieder davon abzuhalten, was sie tun wollen. Organisationen haben nur als Werkzeug der Kooperation und der kollektiven Aktivität einen eigenen Wert. Im gleichen Maße wie der Konsens die Mehrheit in dem, was sie tun will, ausbremst, wird die Organisation zu einem ineffektiven Werkzeug für die Mehrheit. Dies kann zu Spaltungen und Zersplitterung führen – exakt das Ergebnis, das die BefürworterInnen des Konsens nach eigenem Bekunden eigentlich verhindern wollen.
Die Regeln einer Organisation können und müssen die Rechte von Einzelpersonen und Minderheiten schützen. Wenn man sich die Situation in den großen Gewerkschaften und politischen Organisationen anschaut, befinden sich die Rechte von Einzelpersonen und Minderheiten dort zweifelsohne häufig in einem erbärmlichen Zustand. Aber das sind hierarchische Organisationen. Die Hierarchie ist das Problem, nicht der Mehrheitsentscheid.
AnarchistInnen individualistischer Richtung argumentieren, der Konsens sei nötig, um die „Tyrannei der Mehrheit“ zu verhindern. Aber wo in der realen Welt hat die Mehrheit wirkliche Macht? Die wirklichen Tyranneien, die von Menschen auf der ganzen Welt bekämpft werden, sind die Tyranneien von bürokratischen Eliten, von Regierungen und Bossen. Ich möchte nicht behaupten, dass „Mehrheiten immer Recht haben“, aber ich glaube, Menschen haben das Recht, ihre eigenen Fehler zu machen. Die Frage ist hierbei, ob Menschen das Recht haben, ihre eigenen Bewegungen und Organisationen zu kontrollieren. Einer einzigen Person oder einer kleinen Minderheit ein Vetorecht über Entscheidungen zuzusprechen, entspricht einem System der Minderheitenherrschaft.
Sogar wenn Einzelpersonen oder Minderheiten das Veto nicht tatsächlich androhen oder benutzen, um das Vorhaben der Mehrheit zu blockieren – jede/r ist sich darüber im Klaren, dass sie es in einer Organisation mit Konsensprinzip tun könnten. Die strukturelle Forderung nach Einstimmigkeit hat einen Beschwichtigungsdruck der entscheidungswilligen Mehrheit gegenüber der Minderheit zur Folge. Das führt oft zur Überspielung von Meinungsverschiedenheiten und zu Entscheidungen, die alle unzufrieden zurücklassen.
Rudi Perkins hat dieses Problem basierend auf seiner Erfahrung in der „Clamshell Alliance“ in New England in den späten 70er Jahren beschrieben:
„Man lehnt das Mehrheitsprinzip ab, weil von den zwei, drei oder mehr vorgeschlagenen Handlungsoptionen nur eine gewählt wird; die restlichen sind „erledigt“. Konsens berücksichtigt theoretisch die Ideen von allen. In der Praxis führte dies aber oft zu
- einer verwässerten Lösung auf kleinstem gemeinsamen Nenner oder
- der Durchsetzung eines Vorschlags durch Einschüchterung oder billigende Inkaufnahme oder
- der Erarbeitung eines vagen Vorschlags, der alle versöhnlich stimmte, während der Plan der einen oder anderen Seite in Wirklichkeit von Komitees oder Funktionärsriegen durchgesetzt wurde.
Mit anderen Worten: innerhalb der Anti-Atom-Bewegung sind verschiedene Ideen im Wettbewerb und einige gewinnen, aber durch den Konsens ist die Tatsache, dass zwischen Alternativen gewählt wird, üblicherweise verschleiert. Weil der Prozess oft von Verwirrung und List geprägt ist, entfernt er die Macht der bewussten Entscheidung von den Mitgliedern der Organisation.“ (2)
Konsens setzt Minderheiten unter Druck, ihre Zweifel oder ihren Widerspruch nicht zu äußern, weil ihr Widerspruch die Organisation daran hindern würde, eine Entscheidung zu treffen. Auf diese Weise wird es für Minderheiten schwerer, abweichende Meinungen zu äußern, weil Dissens eine störende Handlung ist. Wenn Entscheidungen dagegen per Mehrheitsentscheid gefällt werden, ist der „Preis“ des Dissens nicht derart hoch und Minderheiten können ihren Widerspruch frei äußern, ohne dadurch zu stören oder die Organisation daran zu hindern, eine Entscheidung zu fällen.
Konsens bedeutet auch, dass es sehr schwierig, wenn nicht unmöglich wird, die Ausrichtung einer Organisation zu ändern – selbst wenn den meisten Mitgliedern klar ist, dass die aktuelle Ausrichtung falsch ist. Denn eine Minderheit, die gegen die Veränderungen ist, wird es fast immer geben. (...)
Einfache Mehrheit
„Einfache Mehrheit“ bedeutet, dass eine Entscheidung möglich ist, sobald eine Seite eine Stimme mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen für sich beanspruchen kann. Eine einfache Mehrheit ist die kleinste nötige Menge an Stimmen, um zu gewährleisten, dass eine Entscheidung gefällt wird. (3)
Befürworter der einfachen Mehrheit hören manchmal die Erwiderung: „Aber wollen wir einen Mehrheitsentscheid mit 51 % dafür und 49 % dagegen?“ Entscheidungen, die von Organisationen gefällt werden, variieren sehr stark in ihrer relativen Wichtigkeit für die TeilnehmerInnen. Bei einigen Entscheidungen macht es nicht viel aus, wenn die Mehrheit sehr knapp ist, weil die, die mit „Nein“ gestimmt haben, möglicherweise nicht sehr stark von der Entscheidung betroffen sind. Bei wichtigen Fragen ist es aber eindeutig ein Problem, wenn eine Organisation in ihrer Haltung knapp gespalten ist.
In partizipatorischen Organisationen, die auf demokratischen Abstimmungen basieren, wird die Gruppe nach einer knappen Abstimmung innehalten, die Frage neu betrachten und einen Vorschlag finden, in dem Einwände Eingang gefunden haben.
Oft setzt dieser Prozess schon ein, bevor es zu einer Abstimmung kommt. Wenn im Laufe der Diskussion klar wird, dass die Mitglieder knapp gespalten sind und ihnen die Sache ernst ist, wird es wahrscheinlich Bemühungen geben, einen Vorschlag zu finden, durch den die Einwände entschärft werden. Auf alle Fälle ist es für die Befürworter des Vorschlags von Vorteil, möglichst viel Unterstützung innerhalb der Organisation zu erringen. Denn die Arbeit der Organisation wird unter einer solchen Spaltung schwer leiden – unzufriedene Mitglieder werden die Mitarbeit verweigern oder austreten.
Wenn eine Gewerkschaft über einen Streik abstimmt, werden die BefürworterInnen die größtmögliche Mehrheit für den Streik erhalten wollen. Wenn die Zustimmung für den Streik nicht überwältigend ist und nur eine knappe Mehrheit dafür stimmt, wird die Gewerkschaft sehr wahrscheinlich nicht loslegen, weil die Spaltung der Belegschaft die Chancen auf einen siegreichen Streik unterminiert.
Aufgrund solcher Überlegungen kam einigen Leuten die Idee, Entscheidungsfindungen mit größeren Mehrheiten zu favorisieren, zum Beispiel Zweidrittel- oder Dreiviertelmehrheiten. Das Problem dabei ist aber, dass die meisten Entscheidungen einer Organisation nicht so kritisch sind, dass große Mehrheiten nötig wären.
Eine Mehrheit über 50 oder 51 Prozent festzulegen bedeutet, dass Entscheidungen von Minderheiten blockiert werden können. Obwohl die zum Blockieren einer Mehrheit nötigen Minderheiten größer als beim Konsens sind, bleibt so immer noch die Kontrolle durch eine Minderheit möglich. Eine geschlossene Minderheit könnte auf diese Weise übermäßigen Einfluss auf die Gruppe gewinnen. Daher sind die Argumente gegen den Konsens in einem gewissen Maße auch gegen die formale Anforderung einer Zweidrittel- oder Dreiviertelmehrheit gültig. Der Vorteil der „einfachen Mehrheit“ als Entscheidungsfindungsmethode ist, dass es der einzige Weg ist, Herrschaft durch eine Minderheit formal zu verunmöglichen. (…)
Die Voraussetzungen, die für ein gesundes und demokratisches Funktionieren einer Organisation nötig sind, gehen über formale Regeln hinaus. Ob die Rechte von Mitgliedern respektiert werden, hängt auch am Klima in der Organisation. Wie Menschen miteinander umgehen, ist dabei ein informeller Faktor, der genauso wichtig ist wie Klauseln in Satzungen.
Für gewöhnlich gibt es eine Art grundlegenden, informellen Konsens in so gut wie jeder Organisation (…) – bei gewissen Grundannahmen, die der Einigkeit der Organisation zugrunde liegen, muss Konsens bestehen. Die BefürworterInnen der Konsensentscheidungsfindung haben Recht, wenn sie dies deutlich machen. Fehlgeleitet ist aber ihr Versuch, den Konsensentscheid zu einem allgemeinen Prinzip der Entscheidungsfindung zu machen, so dass am Ende alles einen Konsens erfordert. Das Konsenssystem setzt Tagesentscheidungen einerseits und die allerwichtigsten Grundsatzentscheidungen, Vorsätze und Wege des gegenseitigen Umgangs andererseits auf eine Ebene.
Kleine Gruppen, keine Macht
Konsens funktioniert oft recht gut in kleinen Gruppen, besonders dort, wo die TeilnehmerInnen einen gemeinsamen Hintergrund und gemeinsame Grundannahmen teilen. (…) Tatsächlich haben einige VerfechterInnen der Kleingruppe argumentiert, dass Bewegungen durch „Größe“ unvermeidlich bürokratisiert werden und nur kleine, unabhängige Gruppen wirklich von ihren Mitgliedern kontrolliert werden können. Diese Argumentation lässt die von Libertären entwickelten Methoden zur Vermeidung von Hierarchien in Massenorganisationen völlig außer Acht. (...)
Wenn das Dogma „Größe bedeutet Bürokratie“ stimmen würde, wäre eine libertäre Gesellschaft unmöglich. Um eine ganze Gesellschaft nach anarchistischen Prinzipien zu organisieren, muss es Methoden geben, mittels denen die gesamte Bevölkerung an kritischen Entscheidungen, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen, partizipieren kann. Um dieses Ziel zu realisieren, muss es die Möglichkeit großer Organisationen geben. Organisationen, die riesige Gebiete wie den Nordamerikanischen Kontinent umfassen und dabei auf eine nicht-hierarchische Weise funktionieren, direkt kontrolliert durch die Basis.
Wenn – wie AnarchistInnen behaupten – eine ganze Gesellschaft durch direkte Demokratie und Partizipation der Massen organisiert werden kann, dann muss es doch mit Sicherheit möglich sein, heutzutage Massenorganisationen aufzubauen, die nach eben diesen Prinzipien funktionieren. Wenn nicht, wie soll eine libertäre Gesellschaft sonst realisiert werden? Nur eine nicht-hierarchisch organisierte Massenbewegung könnte eine Gesellschaft frei von Hierarchie, Bürokratie und Ausbeutung hervorbringen.
Das bringt uns zu dem offensichtlichsten Problem der Kleingruppen-Doktrin: Kleine Gruppen haben keine Macht. Die Macht, um die Gesellschaft zu verändern, braucht eine Massenbewegung und die Entwicklung von Solidarität zwischen ArbeiterInnen in großem Maßstab. Um Menschen einer Vielzahl von Hintergründen und Kulturen zu vereinen, um die verschiedenen Gruppen zu einer wirklichen Bewegung zu verbinden und um die Ressourcen zusammenzulegen, sind Massenorganisationen nötig.
Ohne eine größere Bewegung können das Gefühl der Isolation und der Mangel an eigenen Möglichkeiten bei Kleingruppen zu Entmutigung führen.
Solange die ArbeiterInnen ihre Solidarität nicht in Massenorganisationen organisieren können, werden sie nicht in der Lage sein, unsere mächtigen Gegner – die Unternehmen und die Regierungen – in Frage zu stellen. Ohne eine Massenbewegung werden die meisten Menschen kein Bewusstsein entwickeln, dass sie die Macht haben, die Gesellschaft zu verändern. Unser Ideal eines sozialen Umbruchs in Richtung demokratischer Partizipation und Arbeiterkontrolle wird den meisten Menschen als lediglich eine „nette Idee, aber unmöglich“ erscheinen. Nur die Stärke einer Massenbewegung kann die Mehrheit davon überzeugen, dass unsere Vision einer von ArbeiterInnen kontrollierten Gesellschaft realisierbar ist.
Anmerkungen:
[1] Howard Ryan, Blocking Progress: Consensus Decision Making in the Anti-Nuclear Movement, 1983, published by the Overthrow Cluster of the Livermore Action Group. Ryans Pamphlet verwendet viele der Argumente, die auch ich gegen den Konsens anbringe.
[2] Rudy Perkins, Breaking with Libertarian Dogma: Lessons from the Anti-Nuclear Struggle, Black Rose, Fall 1979, p. 15.
[3] Die Anforderung nach einer Stimme mehr als der Hälfte der abgegebenen Stimmen stellt sicher, dass man sich im Falle konkurrierender Vorschläge auf eine eindeutige Lösung einigt.
Aus: „On Organization” von Tom Wetzel (Industrial Workers of the World – IWW), erschienen in ideas & action #9, 1988. Übersetzung: Felix Zimmermann
Originaltext: http://www.direkteaktion.org/215/uber-die-organisierung