Christoph Spehr - Was heißt Herrschaft heute? (Auszug)

Im demokratischen Zeitalter, unserem Zeitalter, das in etwa mit den revolutionären Erschütterungen zu Anfang des 20. Jahrhunderts beginnt und bis heute andauert, verliert Herrschaft im vordemokratischen Stil ihre Akzeptanz. In früheren Zeiten untermauerten herrschende Gruppen ihren Anspruch, das Kommando zu haben, gerade mit ihrer Andersartigkeit, ihrer Ungleichheit mit den Beherrschten. Die herrschenden Gruppen behaupteten, sie seien von Natur aus zum Herrschen bestellt. Sie seien von Natur aus dazu befähigt, Gott näher, der Vernunft näher, der Zivilisation näher oder wem auch immer. Sie seien der Kopf, die andern die Organe. Mit solchen Argumenten rechtfertigte sich in vordemokratischen Zeiten die Herrschaft von Königen und Adel über das Volk, von Männern über Frauen, von Weißen über Nicht-Weiße, von Reichen über Arme, von Wirtschaftseliten über die, welche nur ihre Arbeitskraft besaßen. Im demokratischen Zeitalter ändert sich das. Rechtfertigungen dieses Stils werden auf Dauer nicht mehr hingenommen. Damit verschwindet Herrschaft nicht, aber sie verändert sich; und sie stellt sich auch anders dar. Im demokratischen Zeitalter betonen Herrschende und Privilegierte unermüdlich, wie gleich sie den andern seien: kein gottgleicher Über-Bär, sondern Bär unter Bären. Sie prahlen nicht mehr mit ihrer Herrschaft, sondern behaupten, es gebe keine mehr. Und wenn die großen, alten Bären die kleinen zurechtstutzen, dann herrschen sie nicht, sondern setzen nur die Regeln durch, die für alle gelten. (S. 6)

Der Vorteil von Herrschaft ist, dass sie bequem ist und funktioniert. (S. 28)

Was ist Herrschaft? Herrschaft besteht darin, über andere verfügen zu können: ihre Arbeit, ihren Körper, ihre Person. Es spielt dafür keine Rolle, ob das in guter Absicht geschieht, oder unwillkürlich, ob es für die Beherrschten in dieser oder jener Hinsicht vielleicht "nützlich" ist. Es spielt keine Rolle, wer uns dazu ermächtigt hat, ob uns diese Herrschaft zugefallen ist, ob wir hart dafür gearbeitet haben oder ob wir sie einfach beansprucht haben. Es spielt auch keine Rolle, ob sie uns jemand durch demokratische Verfahren zugeteilt hat, ob sie durch Verträge zustandekommt, ob wir sie erkauft haben, ob die Beherrschten sie uns freiwillig geben. All dies sind wichtige Unterschiede, es ist nicht egal für das, was abläuft. Aber all dies ändert nichts daran, dass hier Herrschaft vorliegt. (S. 15)

Wenn wir uns also auf dem dünnen Eis eines verallgemeinerten Begriffs von Herrschaft bewegen wollen, dann können wir sagen: Herrschaft ist erzwungene soziale Kooperation. Die Kooperation ist erzwungen, weil die eine Seite sich nicht aus ihr lösen kann, weil sie nicht darüber bestimmen kann, was sie einbringt und unter welchen Bedingungen, weil sie keinen oder nur geringen Einfluss auf die Regeln der Kooperation hat. (S. 16)

Es ist nicht nur die Arbeit von Sklaven, was die Artefakte unserer Zivilisation schafft. Es ist auch die Haltung von Sklaven: Was geschieht, geschehen zu lassen. Die Regeln zu befolgen, die andere gemacht haben. Zu akzeptieren, dass man Regeln vielleicht auf kompliziertem Wege ändern kann, bis dahin aber unter allen Umständen befolgt. Wir trainieren das. Wir lassen es alle lernen und scheiden die aus, die es nicht lernen. Wir schützen die nicht, die Regeln brechen. Wir schützen die Regeln.

Wir erzwingen die Sklavenhaltung genauso wie die Sklavenarbeit. Der Reiche lebt nicht nur von der Arbeit derer, die für ihn schwitzen, sondern auch von der Ohnmacht der Besitzlosen, ihn zu bestehlen. Er lebt auch von der Struktur, die ihm Land, Kapital, Wissen zuwirft und anderen nicht. Sein Kommando erstreckt sich nicht nur darauf, dass Menschen etwas für ihn tun, sondern auch darauf, dass Menschen etwas gegen ihn unterlassen.(S. 8)

Es ist die Erbsünde der demokratischen Moderne, diese Gewalt nicht prinzipiell bekämpft zu haben, sondern sich vorrangig damit zu beschäftigen, wie sie legitimiert und verregelt sein soll und wer darauf welchen Einfluss erhält. (S. 8)

"Demokratisierung"

Wenn fünf Leute einen sechsten verprügeln, wird die Sache dadurch nicht besser, dass sie vorher mit 5:1 eine demokratische Abstimmung durchgeführt haben. Demokratisierung bedeutet meistens, dass die soziale Eingriffstiefe herrschender Strategien vorangetrieben wird - Partizipation begrenzt hier nicht Macht, sondern wird ihr Transmissionsriemen nach unten, zu den einzelnen Menschen, zum Alltag, zur konkreten "Mikropolitik". Demokratie verbürgt also keineswegs Emanzipation, und Emanzipation im demokratischen Zeitalter bedeutet immer auch Schutz vor "Demokratisierung", d.h. vor dem Anspruch anderer, im eigenen Leben herumzupfuschen. (S. 25)

Freie Kooperation versus Herrschaft

 

Herrschaft

Abwicklung der Herrschaft

militärische Ebene: direkte Gewalt   

Abwicklung: bedeutet, dass diese Instrumente nicht für "etwas Besseres" eingesetzt werden können, sondern heruntergefahren; dass dies ein Prozess ist und keine einmalige Aktion; dass ein "Ausknipsen über Nacht" nicht möglich und in vielen Fällen auch nicht wünschenswert ist, das Ziel aber klar sein muss.(S. 28, genauer: S. 44f.)

ökonomische Ebene: strukturelle Unterordnung

Politik der Beziehungen: alternative Vergesellschaftung (S. 28, 51f.),

  • Abbau von Verfügbarkeit (S. 46f.): "Wirtschaft von unten" - Kriterium: ob eine andere Logik von Arbeit als Kooperation entsteht oder lediglich selbstorganisierte Verfügbarkeit (S. 48)
  • Entprivilegisierung der formalen Arbeit (S. 48),
  • Aneignung von Räumen und Zusammenhängen
  • direkte Überlebenssicherung (S. 50)

 

soziale Ebene: Diskriminierung

Entfaltung sozialer Fähigkeiten: sich die gesellschaftlichen Erfahrungen und Fähigkeiten individuell und kollektiv verfügbar zu machen. (S. 29)

institutionelle Ebene: Kontrolle der Öffentlichkeit

Politik der praktischen Demokratiekritik: Praxis sozialer Bewegungen quer zur konventionellen Demokratievorstellung: Dezentralisierung, affirmative action (mehr dazu S. 66).. (S. 29)

existentielle Ebene: Abhängigkeit

Organisierung: sich mit Gleichgesinnten (oder besser gesagt: in bestimmten Punkten Ähnlichgesinnten) gemeinsam für bestimmte Ziele einzusetzen und dabei gleichzeitig bereits eine alternative Praxis zu entfalten. (S. 29)


Aus: Christoph Spehr: Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der Freien Kooperation, zugleich preisgekrönte Beantwortung der von der Bundesstiftung Rosa Luxemburg gestellten Frage: "Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?", Bremen 2000

Originaltext: http://www.thur.de/philo/herrschaft.htm


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