Anarchismus und Feminismus. Johanna Demory und Bernd Drücke im Gespräch mit Antje Schrupp
Am 18. April 2013 haben GWR-Praktikantin Johanna Demory und GWR-Redakteur Bernd Drücke im Medienforum Münster ein Interview mit der aus Frankfurt am Main telefonisch zugeschalteten Autorin Antje Schrupp (* 1964) zum Thema „Feminismus und Anarchismus“ gemacht. Die Radio Graswurzelrevolution-Sendung wird am 10. Mai 2013 von 21.05 Uhr bis 22 Uhr im Bürgerfunk auf Antenne Münster (95,4 Mhz.) ausgestrahlt und kann dann auch online gehört werden als Livestream unter www.antennemuenster.de
Eine überarbeitete und erweiterte Druckversion des Interviews erscheint voraussichtlich zur Frankfurter Buchmesse im Oktober 2013 in dem von Bernd Drücke im Karin Kramer Verlag in Berlin herausgegebenen Interviewband „Anarchismus Hoch Zwei“ (1) . Wir veröffentlichen hier einen gekürzten Vorabdruck. (GWR-Red.)
Bernd: Antje, Du bist Journalistin, Politikwissenschaftlerin und Philosophin. 1999 hast Du über Frauen in der Internationalen Arbeiterassoziation, der „Ersten Internationale“, promoviert. Kannst Du kurz erklären, was die Erste Internationale war? Was ist das Ergebnis Deiner Studie?
Antje: Die Erste Internationale war der erste europäische Dachverband der ArbeiterInnenbewegung, gegründet 1864 vor allem von englischen und französischen Arbeitergruppen. Sie bestand nur bis 1872, also eine relativ kurze Zeit, nur acht Jahre.
Die Erste Internationale ist insofern bekannt und berühmt-berüchtigt geworden, weil sich dort ideologische oder konzeptionelle Konflikte zwischen Marx und Bakunin abgespielt haben. Es ging also um die Frage: Welche Richtung nimmt der Sozialismus, eher eine marxistische oder eher eine bakunistisch-anarchistische?
Ich habe in diesem Zusammenhang untersucht, wie sich Frauen an diesen Diskussionen beteiligt haben. Die haben sich nämlich daran beteiligt.
Meine Hauptthese ist, dass sie nicht unbedingt interessiert hat, was besser gewesen ist, Marxismus oder Anarchismus, sondern dass diese Aufteilung in diese beiden Linien eher aus einer männlichen Sicht getroffen wurde. Wenn man die Fragen angeht, die die Frauen interessiert haben, kommt man zu ganz anderen Konfliktlinien.
Bernd: Wie bist Du auf dieses Thema gekommen? Wie war der Einfluss von Frauen auf den frühen Anarchismus?
Antje: Ich bin zufällig auf dieses Thema gekommen, sozusagen wie die Jungfrau zum Kinde. Ich habe Politikwissenschaft studiert, und im ersten Semester war „Geschichte der Internationalen Arbeiterbewegung“ ein Pflichtseminar, an dem ich also teilnahm. Mir wurde ein Referat über die „Inauguraladresse“ von Karl Marx zur Gründung der Ersten Internationalen Arbeiterassoziation zugeteilt. (2)
Ich wusste von all dem gar nichts und habe mich dann da hineingelesen und – wieder zufällig – ein tolles Buch gefunden: Rudolf Meyer, „Der Emancipationskampf des Vierten Standes“. (3) Ein dicker Wälzer, in dem detailliert die Geschichte der Arbeiterbewegung nachgezeichnet ist. Und dort stand, dass bei der Gründung der Ersten Internationale ein Grußwort verlesen worden sei von der bekannten französischen Sozialistin Jeanne Deroin. (4)
Das hat er nur so erwähnt, aber damit war mein Interesse geweckt. Ich wollte wissen, wer das war. So fing das dann an. Aus dieser Frage – „Wer war eigentlich Jeanne Deroin?“ – wurde dann letztlich eine ganze Doktorarbeit.
Bernd: Was bedeutet Feminismus für Dich?
Antje: Die Liebe der Frauen zur Freiheit bedeutet für mich Feminismus. Eine Sicht auf die Welt, die als Angelpunkt die Freiheit der Frauen hat. Damit verbunden sind natürlich einige Konflikte mit der Welt, so wie sie bisher bestanden hat, aber eben auch die Erfahrung, dass Frauen, wenn sie sich miteinander auseinandersetzen, auch etwas verändern können.
Johanna: Wie kam es dazu, dass Du Dich zur Feministin entwickelt hast?
Antje: Ich habe in den 80er Jahren studiert und in dieser Zeit auch ein Volontariat als Journalistin gemacht. Das war die Zeit, in der sich die Frauenbewegung in Deutschland konsolidiert hat. Damals sind die ganzen Gleichstellungsstellen eingerichtet worden, oder die „Frauenbeauftragten“, wie das damals noch hieß. Es ist viel geforscht worden auch in Bezug auf Frauen in der Geschichte, auch von mir selbst.
So kam ich da ganz automatisch rein, wobei ich anfangs eine etwas distanziertere Haltung hatte. Ich habe mich damals nicht besonders benachteiligt gefühlt. Ich fühlte mich nicht diskriminiert und habe eher als Journalistin über diese ganzen feministischen Sachen berichtet. Weil es damals in den Redaktionen ja noch kaum Frauen gab, wurde die einzige Frau eben überall hingeschickt, wo es etwas gab, das mit Feminismus zu tun hatte. Das heißt, ich war eigentlich gut informiert, aber ich habe eine Weile gebraucht, um mich selbst als Aktivistin zu sehen und nicht nur als wohlwollende Beobachterin.
Johanna: Aber hast Du denn auch Erlebnisse gehabt oder Erfahrungen gemacht, die Dich dazu inspiriert haben, so zu denken wie Du denkst?
Antje: Ja, es gab ein ziemlich einschneidendes Erlebnis für mich, das war bei einer dieser Gelegenheiten, bei einem Kongress zum Thema Frauenbewegung, über den ich berichten sollte. Und auf diesem Kongress war eine Feministin aus Italien als Referentin, Chiara Zamboni aus Verona. Ich kam zufällig mit ihr ins Gespräch, weil ich Italienisch konnte und mich die Veranstalterinnen deshalb zu ihr gesetzt haben. Wir haben uns unterhalten.
Ich war bei solchen Veranstaltungen immer gewöhnt, dass alle mir erzählen wollen, was sie Tolles machen, damit ich dann darüber schreibe. Bei Chiara Zamboni war das anders. Sie hat mich dauernd gefragt: Was meinst Du denn? Sie war ehrlich interessiert daran, meine persönliche Meinung zu hören. Da habe ich verstanden, dass es beim Feminismus nicht nur darum geht, dass man bestimmte Forderungen vertritt, die es schon gibt, sondern dass es bedeutet, sich wirklich dafür zu interessieren, was andere Frauen zu sagen haben, gerade, wenn sie vielleicht etwas anderes sagen, als man selbst. Das habe ich bei dem Interesse von Chiara Zamboni gespürt. So hat sie mich quasi reingezogen in ihre Art, also die italienische Art des Feminismus. Ich habe dann auch angefangen mit den Italienerinnen zusammenzuarbeiten und deren Texte zu übersetzen und in dieser Art auch im deutschsprachigen Raum Feminismus voran zu treiben.
Johanna: Interessant. Und wie ist das mit dem Anarchismus? Wann hast Du angefangen Dir darüber Gedanken zu machen?
Antje: Der Anarchismus ist sozusagen durch das Studium bei mir angekommen. Ich wusste darüber vorher eigentlich nichts Großartiges. Durch die Beschäftigung mit der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung bin ich auf den Anarchismus gekommen und habe gemerkt, dass das, wie ich finde, eine freiheitlichere Art ist, an gesellschaftliche Missstände heranzugehen und über eine Neuordnung der Gesellschaft nachzudenken. Ich finde, dass es da eben auch viele Parallelen zu diesem italienischen Differenzfeminismus gibt, weil es beiden nicht darum geht, ein festes Programm voranzutreiben, sondern darum, Räume zu schaffen, wo man sich freiheitlich auseinandersetzen kann über das, was man eigentlich möchte.
Bernd: Verstehst Du Dich auch als Anarchistin bzw. Anarchafeministin? Was bedeuten Anarchismus und Anarchie für Dich?
Antje: Ja, ich nenne mich schon so, wenn ich in entsprechenden Zusammenhängen bin. Das Wort löst aber leicht Missverständnisse aus. Ich würde mich als Anarchistin bezeichnen im Sinne dessen, dass ich nicht glaube, dass wirkliche Gesellschaftsveränderungen möglich sind über die Ausnutzung staatlicher Strukturen.
Da sehe ich auch viele Parallelen zum Feminismus. Es geht mir nicht um eine Gleichstellung von Frauen in Bezug auf das, was die Männer bisher schon gemacht haben, sondern, was mich interessiert sind Ideen von Frauen darauf hin, was man anders machen kann. Da sehe ich viele Parallelen zum Anarchismus, der ja eben auch nicht den Ansatz hatte, dass sich die Arbeiter in das bestehende parlamentarische System integrieren, durch die Gründung von Arbeiterparteien oder so, sondern, dass es darum geht, zu verhandeln, wie man das Politische überhaupt anders denken kann und wie man Regeln auf eine andere Weise finden kann, als durch die bestehenden staatlichen Strukturen.
Bernd: Normalerweise wird Anarchie ja immer noch oft mit Chaos und Terror gleichgesetzt. Im Moment haben wir eine Entwicklung, dass es zum Beispiel Fernsehtalkshows gibt, wo dann häufig auch David Graeber sitzt, also ein bekannter anarchistischer Autor und Aktivist. Vielleicht trägt das dazu bei, dass sich die verzerrte Sichtweise auf den Begriff „Anarchist“ zum Positiven hin wandelt. Das kann man zumindest hoffen. Wie schätzt Du denn die aktuellen libertären Bewegungen ein?
Antje: Ich bin da ein bisschen zwiespältig. Ich hatte eigentlich gehofft, dass mit dem Ende des „real existierenden Sozialismus“, der mal als linke Richtung sehr prägend war und dominiert hat, dass mit dem Zusammenbruch sich vielleicht eine Möglichkeit hätte ergeben können, das Thema Sozialismus nochmal breiter aufzumachen. Aber das hat, soweit ich es beobachtet habe, nicht so wirklich funktioniert. Ich sehe nicht, dass der Anarchismus als politische Bewegung da in diese Lücke hineingesprungen wäre. Aber ich glaube, dass doch bestimmte Aspekte davon wirksam sind. Also zum Beispiel in der Commons-Bewegung oder auch in der Grundeinkommens-Bewegung, da sind mehr anarchistische Impulse drin, als das im starren Marxismus-Leninismus früher der Fall war.
Dass der Anarchismus immer wieder mit Bombenwerfen, Chaos und Gewalt in Verbindung gebracht wurde, ist auch schon die Folge einer eingeschränkten Sichtweise auf den historischen Anarchismus. Es gab nämlich darüber, das ist z.B. ein Ergebnis meiner Forschungen gewesen, durchaus auch schon inneranarchistische Auseinandersetzungen zur Zeit der Ersten Internationale, wo auch von Frauen wie zum Beispiel Virginie Barbet (5) in Frankreich, in Lyon, durchaus Kritik an diesen Gewalt anwendenden Strategien geübt haben.
Johanna: Wie lange beschäftigst Du Dich schon mit den beiden Bereichen Feminismus und Anarchismus?
Antje: Seit den 80er Jahren, seitdem ich da diese beiden Stränge zusammengebracht habe.
Und ich versuche, das in andere Bewegungen hineinzubringen. Gerade auch im Zusammenhang mit der Frauenbewegung. Da gibt es ja auch viele Feministinnen, die sich erhoffen, durch Einfluss auf staatliche Mechanismen die Situation der Frauen zu verbessern. Gleichberechtigungs- oder Quotenforderungen, oder die Installation von Gender-Mainstreaming, das sind ja alles Versuche, durch staatliche Interventionen die Situation der Frauen zu verbessern. Ich sehe das kritisch und interveniere dann auch immer, wenn sich zu viele Hoffnungen gemacht werden, dass man durch die Einrichtung von ein paar Gleichstellungsbeauftragten substanziell etwas verändern könnte.
Johanna: Aber Du siehst schon eine große Verbindung zwischen Anarchismus und Feminismus?
Antje: Genau. Unter „richtig verstandenem Anarchismus“ und „richtig verstandenem Feminismus“, „richtig verstanden“ natürlich mit ironischen Anführungszeichen.
Es gibt natürlich auch unter Anarchisten viele, für die die weibliche Freiheit nicht gerade an erster Stelle steht. Es gibt in allen gemischten Bewegungen, auch im Anarchismus, welche, die frauenfeindlich sind.
Viele halten ja zum Beispiel Proudhon für einen Vordenker des Anarchismus. Und der war einer der krassesten Frauenfeinde, die die Welt je gesehen hat. Also, wenn Proudhon Anarchist ist, bin ich keine Anarchistin. Und genauso gibt es eben auch im Feminismus Richtungen, die diese Freiheitlichkeit der politischen Auseinandersetzung nicht unbedingt sehen, die glauben, Feministin zu sein, bedeutet, bestimmte Positionen zu vertreten, und die nicht akzeptieren oder es für eine Schwächung der Bewegung halten, wenn andere Frauen die Dinge anders sehen.
Bernd: Proudhon war historisch betrachtet 1840 der erste Mensch, der sich selbst als Anarchist bezeichnet hat. Er war allerdings auch ein übler Antisemit und Frauenhasser. In Deutschland ist das heute auch ziemlich bekannt und es ist Konsens bei den meisten Anarchistinnen und Anarchisten, dass Proudhon keine positive Bezugsperson sein kann. In Frankreich ist das vielleicht noch anders. Aber hierzulande spielt Proudhon keine Rolle mehr für die anarchistische Bewegung, würde ich sagen.
Antje: Ja, würdest Du das so sagen? Ich sehe nur, dass in jedem Buch über die Geschichte des Anarchismus Proudhon nach wie vor vorkommt. Dann wird zwar so gesagt „Das war ein Frauenfeind und das war nicht so toll an ihm“, aber ich glaube nicht, dass jemand eine gute politische Theorie haben kann und gleichzeitig – quasi wie zufällig – nebenbei auch noch Frauenfeind ist. Was mir nicht genug passiert, ist, dass diese Differenzen im Anarchismus analysiert werden.
Das bin ja jetzt nicht nur ich, die sagt, Proudhon war kein Anarchist. Es war vielmehr so, dass auch damals im 19. Jahrhundert viele Anarchisten aus der bakunistischen Richtung gesagt haben: „Proudhon war kein Anarchist“. Es gab viele Anarchisten, die anfangs nicht in die Internationale eintreten wollten, weil die in Frankreich so stark vom Proudhonismus dominiert war. Und da sind wir, glaube ich, noch durch diesen starken Fokus auf den Gegensatz Marxismus-Anarchismus so ein bisschen darauf gepolt, zu denken: Alle, die nicht für Marx waren oder die von Marx bekämpft wurden, waren Anarchisten. Das halte ich für falsch.
Bernd: Du findest auch bei Bakunin üble [sogar auch antisemitische] Zitate. Proudhon und Bakunin, das waren Machos des 19. Jahrhunderts und sozusagen „Kinder ihrer Zeit“. Da hat sich meiner Meinung nach heute auch ein deutlicher Wandel vollzogen und auch bei vielen Libertären viel im positiven, antisexistischen Sinne verändert.
Antje: Ja, das schon. Aber man kann ihn und Proudhon da nicht gleichsetzen. Natürlich kann man sagen „auch Bakunin war ein Macho“, aber er hat auch egalitäre Positionen vertreten und er hat mit Frauen zusammengearbeitet, die das anders gesehen haben als er. Bakunin, war zeitgeschichtlich gesehen, im „Durchschnitt“, das Thema Feminismus hat ihn nicht interessiert, aber er war auch nicht dezidiert dagegen. Proudhon hingegen war auch für seine Zeit extrem antifeministisch, er hat Feministinnen aktiv bekämpft.
Das sind zwei ganz unterschiedliche Haltungen, die man nicht in einen Topf werfen kann. Nur eine Distanzierung von Proudhon reicht mir da nicht, sondern man muss schon sehen, dass diese Differenzen und die Fehlschlüsse bei ihm tiefer gehen, auch in Bezug auf das Familienbild und so weiter. Das war bei ihm nicht zeitbedingt, denn es gab damals schon Alternativen, die auch groß diskutiert worden sind und die im historischen Rückblick auch zu kurz kommen. Also, wie wichtig es auch im Anarchismus war, neue Familienmodelle zu diskutieren, das wird noch gar nicht genug berücksichtigt. Da gäbe es auch noch viel, worauf sich der Anarchismus heute positiv beziehen könnte, auch an Vordenkerinnen und Vordenkern.
Johanna: Wie sieht Dein Alltag aus?
Antje: Der sieht an jedem Tag ein bisschen anders aus. Ich sitze viel am Schreibtisch, aber ich bin auch viel in der Redaktion, im Büro oder reise herum, besuche Konferenzen oder halte Vorträge oder vernetzwerke mich in feministischer Weise. Ich habe keinen einheitlichen Tagesablauf, sondern entscheide das von Tag zu Tag neu.
Johanna: Bei den Recherchen über Dich ist mir aufgefallen, dass Du als Redakteurin der Zeitschrift „Evangelisches Frankfurt“ arbeitest. Kirche und Feminismus, das hat ja auch Komplikationen. Wie kommt es, dass Du für eine Kirchenzeitung schreibst?
Antje: Also, ich habe ja mal Theologie studiert und wollte Pfarrerin werden. Ich habe dann aber schnell gemerkt, dass ich nicht für die Kirche sprechen will. Aber ich habe kein Problem, für die Kirche zu arbeiten, weil: Ich würde schon sagen, dass ich fromm bin.
Aber das löst normalerweise genauso viele Missverständnisse aus, wie wenn ich sage, dass ich Anarchistin bin. Für mich geht es zusammen, aber ich sehe, dass es für viele Leute nicht zusammen geht. Ich bin in der kirchlichen Frauenbewegung groß geworden und ich fand die eigentlich auch immer sehr gut. Ich finde, das, was in kirchlichen Frauengruppen passiert, ist oft sehr interessant und für mich auch meist interessanter, als das, was in „klassischen“, eher staatlich orientierten Gleichstellungsbewegungen passiert.
Johanna: Verspürst Du den Wunsch, etwas in der Kirche zu verändern?
Antje: Ja, wenn die Kirche will, helfe ich ihr gerne, sich zu verändern. Wenn sie nicht will, muss sie dann halt ohne mich auskommen. Ich habe grundsätzlich eine Skepsis bis ablehnende Haltung in Bezug auf Institutionen. Das gilt für den Staat genauso wie für die Kirche, insofern es eine Institution ist. Und ich bin nicht sehr zuversichtlich, was das Veränderungspotential von Institutionen betrifft. Ich habe auch keinen großen Ehrgeiz, die Institutionen zu retten. Das ist ja etwas, was sich viele versprechen, also: „Mehr Frauen in die Parteien, dann überleben die wieder“. Da sehe ich meine Aufgabe eher nicht.
Johanna: Wie wurdest Du zur Bloggerin?
Antje: Ich habe das Internet von Anfang an geliebt. Ich finde es phantastisch, die Möglichkeit zu haben, Sachen, die man publizieren möchte, einfach publizieren zu können.
Es ist ja auch etwas, das die Arbeiterbewegung und die Frauenbewegung interessiert hat, die Frage „Wie kommen wir in die Mainstream-Medien?“. Gar nicht nämlich. Deswegen waren in der Arbeiterbewegung auch immer die Drucker so wichtig, weil die den Zugang zu den Druckmaschinen hatten, und damit die Möglichkeit, überhaupt etwas zu veröffentlichen.
Das Internet macht das frei für alle. Deswegen habe ich schon früh angefangen, meine Texte und überhaupt alles was ich produziert habe, ins Internet zu stellen. Und ich habe dann, sobald das Bloggen erfunden wurde, auch damit angefangen, weil dort auch die Möglichkeit besteht zu diskutieren, Kommentare zu haben und sich zu vernetzen. Ich finde das klasse, auch gerade im Zusammenhang mit der Perspektive, dass sich Soziale Bewegungen unabhängiger von den Institutionen und Mainstream-Medien machen können.
Johanna: Du schreibst ja auch für die gewaltfrei-anarchistische Monatszeitung Graswurzelrevolution. Möchtest Du mit Deiner Internetseite (6) und Deinen Artikeln eine bestimmte Zielgruppe ansprechen?
Antje: Ja, aber nicht so sehr zielgerichtet. Im Internet ist es ja so, dass die, die sich für etwas interessieren, dadurch auch zusammenkommen können. Also, ich freue mich, wenn das, was ich schreibe, auf Resonanz stößt, und wenn Leute das lesen, gut finden und weiter verteilen. Aber ich schreibe nicht für eine bestimmte Zielgruppe, sondern ich veröffentliche das in der Hoffnung, dass Leute, die an ähnlichen Sachen interessiert sind, wie ich, sich dann da zusammenfinden können.
Johanna: Und Du freust Dich auch, wenn Leute ihre Meinung ändern und Deine Denkweisen annehmen?
Antje: Ja, aber ich freue mich auch, wenn ich durch Beiträge anderer dazu angeregt werde, meine Meinung zu ändern. Das ist ja immer ein gegenseitiger Prozess.
Johanna: Erlebst Du öfters Anfeindungen aufgrund Deiner Denkweisen und Tätigkeiten?
Antje: Weniger, als man vermuten könnte. Wenn man im Internet feministisch unterwegs ist, hat man immer auch mit blöden Kommentaren zu tun. Aber unterm Strich überwiegt die positive Resonanz. Auch, wenn ich sage „ich bin Anarchistin“, gibt es eigentlich eher positive Nachfragen. Im Internet mache ich allerdings auch eine rigide Kommentarpolitik. Also, Leute, die sich unhöflich ausdrücken, oder die unsachlich sind und wo mir der Ton nicht gefällt, die lösche ich. Mit denen setze ich mich nicht auseinander. Dann bleiben automatisch die interessanteren Leute übrig.
Bernd: In der Graswurzelrevolution Nr. 377 vom März 2013 ist ein Leitartikel von Dir über den feministischen „Aufschrei“ erschienen. Du siehst diese antisexistische Kampagne als „Vorboten einer neuen Art gesellschaftlicher Debatte“?
Antje: Ja, ich fand diese Aktion sehr interessant, weil sie gezeigt hat, wie ein Thema unter den Bedingungen des Internet diskutiert werden kann, nämlich so, dass gerade unterschiedliche Perspektiven daraus sichtbar werden. Es gab ja nicht die eine #aufschrei-Position, sondern es war die Möglichkeit, dass viele Frauen von ihren Erlebnissen erzählt haben, dass viele Leute dazu gebloggt haben, die einen radikaler, die anderen ein bisschen mainstreamiger, die einen kritisch dagegen, was dann wiederum andere dazu gebracht hat, diese Sachen zu widerlegen und ihre Sichtweise darzustellen.
So ergab sich ein Gesamtbild, bei dem deutlich herauskam, dass Alltagssexismus ein wichtiges Thema ist und auch nach wie vor ein bestehendes Problem. Aber es gab eben nicht die eine Initiative, die dazu ein Positionspapier erarbeitet hat, oder die eine Forderung, hinter der sich alle versammeln mussten. Das finde ich toll, weil so meiner Meinung nach politische Diskurse sein müssen. Am Ende steht dann nicht ein festes Ergebnis, sondern eine Gesellschaft, die ein Thema bearbeitet hat, und alle sind hinterher ein bisschen woanders, als sie vorher waren, aber nicht an einem einheitlichen Punkt.
Bernd: Würdest Du sagen, dass das auch daran liegt, dass die neue Medien, in diesem Fall auch Twitter, neue Möglichkeiten schaffen, um solche Kampagnen überhaupt zu starten und zu verbreiten?
Antje: Ja, genau, und eben Möglichkeiten, die an den etablierten Institutionen vorbei gehen. Bisher wurden politische Kampagnen ja immer von irgendjemandem gestartet, von irgendeiner NGO oder von einer Partei. Jetzt war es so, dass zwei Frauen nachts im Gespräch die Idee hatten, wir könnten doch dieses Hashtag (7) machen. Ob das dann groß wird entscheidet sich daran, ob die vielen anderen darauf eingehen oder ob sie es links liegen lassen. In dem Fall hat es bei vielen den Wunsch ausgelöst, sich daran zu beteiligen, und deshalb ist es so groß geworden. Obwohl niemand sich das ausgedacht hat als Kampagne.
Bernd: Du hast 2007 zusammen mit anderen das Internetforum für Philosophie und Politik „Beziehungsweise weiterdenken“ (8) gegründet. Zusammen mit Dorothee Markert hast Du Bücher der italienischen Feministinnen der Gruppe Libreria delle donne di Milano und der Philosophinnengruppe Diotima übersetzt. Kannst Du dazu etwas sagen?
Antje: Ja, das sind die, von denen ich anfangs schon berichtet habe. Also, Chiara Zamboni ist eine davon, und Luisa Muraro, die diesen Differenzfeminismus italienischer Art vertreten und damit eben nicht meinen, dass man nun über irgendwelche angeblichen biologischen Unterschiede zwischen Frauen und Männern nachdenkt, sondern dass die weibliche Differenz eingebracht werden soll in eine bestehende politische Debatte. Dass es sozusagen positiv zum Hebel gemacht wird, dass Frauen bisher ausgeschlossen waren, zum Beispiel aus den meisten Institutionen. Das spricht mich sehr an, weil es von dieser weiblichen Perspektive des Ausgeschlossen-gewesen-Seins noch einmal einen anderen Blick gibt auf das, was alle so für selbstverständlich halten, wie zum Beispiel die parlamentarische Demokratie. Das neuste Buch von Diotima, das wir übersetzt haben, hat den Titel „Macht und Politik sind nicht dasselbe“.
Da beobachten sie, dass das, was wir so normalerweise unter Politik verstehen, eigentlich nur noch diese Machtinstitutionen-Parteienpolitik ist.
Sie vertreten die Auffassung, dass Politik eigentlich etwas anderes ist, nämlich dort stattfindet, wo Menschen sich darüber austauschen, wie sie die Welt haben wollen und welche Regeln da gelten sollen. Das ist Politik, und Machtstrategien behindern das eigentlich oft eher, als dass sie das fördern.
Von daher geht es auch nicht darum, zu sagen „Frauen übernehmt jetzt auch diese Machtpositionen“, sondern wir überlegen: Wenn wir jetzt diese Machtpositionen bekommen, und das ist ja zunehmend der Fall, wie handeln wir dann da? Nicht, indem wir uns einfach anpassen an die Spielregeln, so wie sie da schon immer gegolten haben, sondern indem wir eine Praxis finden, wie wir auch innerhalb dieser Strukturen dem treu bleiben können, was wir eigentlich wollen.
Bernd: Gehen wir mal thematisch in eine andere Region der Welt, nach Russland. In Moskau gab es ja im Februar 2012 eine spektakuläre Protestaktion der libertär-feministischen Punkband Pussy Riot. Sie haben in der größten russischen Kirche, der Christ-Erlöser-Kathedrale, ein zweiminütiges Punklied gesungen und damit den Klerus, das Putin-Regime und die Verflechtung von beiden angegriffen. Für diese Direkte Aktion sind zwei Aktivistinnen im August 2012 wegen „Rowdytums aus religiösem Hass“ zu zwei Jahren Straflagerhaft verurteilt worden. UnterstützerInnen und Bandmitglieder werden kriminalisiert. Wie schätzt Du das ein und was sagst Du dazu?
Antje: Ich denke, das ist eine skandalöse Geschichte, die da passiert ist. Aber ich frage mich auch, wie singulär die ist. Ich denke, dass in vielen diktatorischen Regimes der Welt ständig Menschen für relativ harmlose Interventionen gefangen genommen oder anderen Repressalien ausgesetzt werden.
Das Symptomatische ist, dass dieser Fall so eine Welle ausgelöst hat. Das finde ich einerseits gut. Andererseits weiß ich nicht, wie tiefgründig das ist. Ich kenne jetzt die Situation in Russland nicht so genau und kenne Pussy Riot eigentlich nur aus den Medien. Ich frage mich, ob nicht Leute, die sich hier vor ihrer eigenen Haustür vielleicht nur über wenig aufregen oder wenig selbst machen, dann so ein bisschen die eigenen Wünsche auf Pussy Riot projizieren. Ob die Aktionen von Pussy Riot wirklich so bedeutend sind, weiß ich nicht, jedenfalls denke ich, dass es vergleichbare Repressionen leider ganz viele gibt.
Bernd: Vergleichbar mit Pussy Riot sind vielleicht auch die provokanten Direkten Aktionen von „Femen“? Viele neue feministische Bewegungen und Aktionen kommen ja aus Osteuropa. Femen wurde 2008 in der Ukraine gegründet. Es haben sich aber auch in Tunesien, Frankreich, Brasilien und anderen Ländern Femen-Gruppen gebildet. Im April 2013 gab es eine viel beachtete Protestaktion der seit Anfang 2013 auch in Deutschland aktiven Femen gegen den Putin-Besuch auf der Hannover-Messe. Wie schätzt Du solche Aktionsformen und feministische Bewegungen wie Femen ein?
Antje: Der Feminismus ist eben sehr differenziert und zum Teil auch kontrovers untereinander. Das wird auch an Femen deutlich, und das finde ich gut. Mir persönlich liegen Nackte-Busen-Proteste nicht so sehr, weil ich denke, dass man auf diese Weise immer auch auf diese sexistischen Klischees anspielt und dann natürlich auch eine Aufmerksamkeit in der Presse erregt, weil diese Nacktheit mit dabei ist. Das ist nicht mein Stil, sag ich mal, aber ich kann akzeptieren, dass andere das machen. Ich finde gut, wenn viele unterschiedliche feministische Aktionen passieren. Problematisch aber fand ich den Femen-Protest vor der Moschee (9).
Problematisch und eigentlich sogar inakzeptabel wird Femen für mich da, wo sie sich nicht gegen das Patriarchat richten, sondern den Anspruch erheben, für andere Frauen zu sprechen, in dem Fall für die angeblich so unterdrückten Musliminnen. Das ist schräg.
Bernd: Kannst Du dazu genaueres sagen?
Antje: Die haben ja im April vor der Berliner Ahmadiyya-Moschee diese Aktion gemacht. Die Ahmadiyya ist eine Richtung im Islam, die relativ frauenfreundlich ist und wo es auch viele Feministinnen gibt.
Da haben sich Femen-Aktivistinnen dann sozusagen islamisch verkleidet und „dem Islam“ pauschal Frauenfeindlichkeit vorgeworfen. Das geht nicht, auch angesichts der Tatsache, dass wir gleichzeitig momentan eine starke muslimische feministische Welle erleben.
Musliminnen haben sich dann ja auch direkt dazu geäußert und sich von der Aktion distanziert. Also, auch im Islam gibt es gerade ein ansteigendes feministisches Bewusstsein.
Und ich finde immer, dass sich das nicht gegeneinander ausspielen lässt. Ich bin immer dafür, wenn Frauen mit verschiedenen Positionen kontrovers diskutieren und sich streiten, aber ich bin dagegen, wenn dann die einen Frauen beanspruchen, für alle Frauen auf der Welt zu sprechen. Also, Femen finde ich gut, solange sie über ihre Situation, meinetwegen in Osteuropa, sprechen und da die angemessenen Aktionsformen finden. Aber ich finde nicht, dass eine Feministin für alle Frauen sprechen kann. Und schon gar nicht, wenn diese anderen Frauen selbst etwas anderes sagen.
Bernd: Welche Perspektiven von Feminismus und Anarchismus siehst Du allgemein?
Antje: Ich würde sagen, eine gemeinsame Perspektive ist die Frage: Wie organisieren wir Gesellschaft, angesichts der Tatsache, dass die klassischen Institutionen an Bedeutung und Einfluss verlieren? Wie machen wir selbstorganisierte Politik, wenn die Parteien immer bedeutungsloser werden? Und da sehe ich auch eine große Überschneidungsmenge. Also, wie moderieren wir gesellschaftliche Prozesse? Wie diskutieren wir? Was stärken wir, wenn wir sehen, dass das bisherige System schlichtweg nicht funktioniert? Das kann man auch auf die Ökonomie übertragen.
Auch da ist ja die Krise völlig offensichtlich. Wie finden wir andere Formen des Wirtschaftens?
Da geht ja auch ganz viel zusammen, wenn man zum Beispiel an Fürsorgearbeit denkt, und da weiter zu denken, als nur in die bloße „Wir wollen auch mitmachen“-Richtung. Das finde ich spannend und deshalb finde ich anarchistische Impulse für den Feminismus ganz wichtig. Und andersherum natürlich auch.
Interview: Johanna Demory und Bernd Drücke
Anmerkungen:
1.) Weitere Infos: www.karin-kramer-verlag.de
2.) Die Erste Internationale wurde als Internationale Arbeiter Association (IAA) am 28.09.1864 in London gegründet. Sie umfasste verschiedene Gruppen sozialistischer und anarchistischer Richtungen aus 13 Ländern Europas und den USA. In einer „Inauguraladresse“ entwarf Karl Marx das Programm, in einem provisorischen Statut die organisatorische Struktur der IAA. Nur in der internationalen solidarischen Aktion könne die Arbeiterklasse ihre „ökonomische Emanzipation“ und die „Vernichtung der Klassenherrschaft“ erreichen.
3.) Meyer, Rudolf.: Der Emancipationskampf [Emanzipationskampf] des Vierten Standes, 2 Bände, Scientia, Aalen 1966 (Nachdruck der Ausgaben Berlin 1875/1882)
4.) Jeanne Deroin (31.12.1805 – 02.04.1894) war eine französische Feministin und Sozialistin.
5.) Virginie Barbet war in den 1860er und 1870er Jahren eine bekannte Sozialistin und Feministin in Lyon und ein führendes Mitglied der dortigen Sektion der Ersten Internationale.
6.) www.antjeschrupp.de
7.) „Hashtag bezeichnet ein Wort oder eine Zeichenkette mit vorangestelltem Doppelkreuz (‚#‘). Die so ausgezeichnete Zeichenkette fungiert als Meta-Tag und Meta-Kommentierung. Diese Form der Verschlagwortung erfolgt innerhalb des Fließtextes. Soziale Netzwerke und Mikroblogging-Dienste wie Twitter nutzen diese Angaben, um die Suche nach relevanten Themen zu erleichtern.“ (wikipedia)
8.) www.bzw-weiterdenken.de
9.) Am 4. April 2013 demonstrierten Femen beim europaweiten „Topless Jihad Day“ für die Freiheit der Frau in islamischen Ländern. Vor der Berliner Ahmadiyya-Moschee protestierten sechs Aktivistinnen der Gruppe Femen mit erhobenen Fäusten und nacktem Oberkörper aus Solidarität zu Amina Tyler. Die Tunesierin hatte Bilder von sich online gestellt, auf denen sie barbusig mit der Aufschrift „Fuck your Morals“ und „Mein Körper gehört mir“ zu sehen war. Weil sie auf diese Art gegen religiöse Unterdrückung in ihrem Land protestierte, forderten Ultrakonservative muslimische Geistliche die 19-Jährige zu steinigen. Danach ist sie verschwunden. Siehe: Charlotte Langenkamp, Nach Moscheeprotest - Femen spaltet Feminismus, www.taz.de/!114125/ ; Cigdem Akyol: Muslimische Frauen gegen Femen. „Du brauchst mich nicht zu befreien“, taz, 28.04.2013
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 379, Mai 2013, www.graswurzel.net
Originaltext: http://www.linksnet.de/de/artikel/28963