Folkert Mohrhof - Kollektivbetriebe als „konstruktiver Sozialismus“
JOAN PEIRÓ i BELIS: »Wenn wir vom Kollektivismus sprechen, könnten dies einige als Abkehr vom libertären Kommunismus verstehen. Dem ist aber nicht so. Wir sprechen vom Kollektivismus als Mittel, nicht als ökonomisches Ziel der künftigen Gesellschaft. Wir meinen Kollektivismus als Organisationsform, als Möglichkeit, Initiative und Kräfte aufzugreifen und sie zu entwickeln, sowie endlich Kollektivismus als Form der Disziplin des einzelnen gegenüber dem Allgemeinen.«
Kollektiv-Genossenschaften als Modell für einen konstruktiven Sozialismus?
Genossenschaften sind historisch gesehen Notwehr- und Selbsthilfe-Organisationen gegen die kapitalistische Ausbeutung der Arbeiterklasse. Sie waren und sind gleichzeitig eine Perspektive für eine bessere, eine sozialistische Gesellschaft. Da die traditionellen Partei-‚Schulen des Sozialismus’ als Kampforganisationen gegen den Kapitalismus längst auf dem Misthaufen der sozialistischen Geschichte gelandet sind, geht es hier um die Frage, ob Kollektiv-Genossenschaften diese Aufgabe heute übernehmen können.
Als Anarchosyndikalist bin ich davon überzeugt, daß eine grundlegende soziale Veränderung nur durch die vollständige Überwindung der kapitalistischen wirtschaftlichen Verhältnisse erfolgen kann. Für den rein politischen Kampf haben wir keine Zeit, er kostet zu viel Energien, da er die Akteure der Arbeiterklasse vornehmlich auf den parlamentarischen Kampf festlegt und außerparlamentarische direkte Aktionen allein als Hilfsmittel für eine demokratisch-legitimierte Gesellschaftsveränderung ansieht. Da wir eine Überwindung des Kapitalismus wollen, muß dieser an seiner Wurzel zerstört werden und kann nicht durch eine andere Politik im Kapitalismus niedergerungen werden.
Hier ein schönes Karl Marx-Zitat, das auf dieses Thema aufmerksam macht: „Wir anerkennen die Kooperativbewegung als eine der Triebkräfte zur Umwandlung der gegenwärtigen Gesellschaft, die auf Klassengegensätzen beruht. Ihr großes Verdienst besteht darin, praktisch zu zeigen, daß das bestehende despotische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das republikanische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten.“ Für Marx war die Produktiv-Genossenschaftsbewegung also eine ‚Schule des Sozialismus’, gleichberechtigt neben den Gewerkschaften, die er als „unumgänglich für den täglichen Guerillakrieg zwischen Kapital und Arbeit“ ansah.
(…)
Arbeit? Na klar!
Und eines ist klar, gearbeitet werden muß auch in einem Kollektivbetrieb. Max Nettlau warnte ja zu Recht vor »Zwangslosigkeit« und mahnt, daß »ein bequemes Treiben« nicht möglich ist. Kollektive haben durch diesen Irrglauben eine gewisse »Anziehungskraft« auf Leute, die sich allein nach »wesentlich verbesserten Verhältnissen«, sehnen, nach weniger Arbeit, nach einem leichten Leben; diese Menschen und Kollektivmitglieder vermindern das Gelingen des Kollektivs »wesentlich«.
Und um nochmals Rudolf Rocker zu zitieren: »Der Sozialismus muss vor allem dem Leben ganz neue Ziele setzen. Es ist unsinnig zu denken, dass der Weg der Rationalisierung der Weg zum Sozialismus sein könnte, oder dass man sich damit tröstet, dass die Eintönigkeit der Arbeit in einer sozialistischen Gesellschaft durch eine weitgehende Beschränkung der Arbeitszeit erträglicher gestaltet wird. Denn das Problem der Arbeit ist nicht nur ein wirtschaftliches, sondern in viel höherem Grade ein psychologisches Problem. Die Arbeit muss auf ganz neuen Grundlagen organisiert werden; sie muss vor allem den Charakter des Frons verlieren, der ihr heute anhaftet und als notwendiges Übel erscheinen läset. Es kommt nicht darauf an, wieviel Stunden ein Mensch arbeitet, sondern welche Freude er an seinem Werk empfindet. Niemand hat das besser begriffen und nachdrücklicher betont als Peter Kropotkin …«
Damit der Sozialismus nicht allein zu einer „Messer- und Gabelfrage“ degeneriert, bedarf es auch einer libertär-sozialistischen Auffassung von „Arbeit“. Gleichheit und Gleichberechtigung sollten sich die Waage halten, denn bei zu viel Ungleichheit in der Entlohnung und der Belastung entstehen Konflikte. Das bedeutet, daß alle Kollektivmitglieder ähnlich »viel oder wenig« arbeiten sollten, um nicht leichtfertig eine antikapitalistische Flexibilität einzuführen, nach der sich letztlich alle anderen richten müssen, wenn sie nicht „blöde“ dastehen wollen. – Also proklamiert öffentlich den 6 Stundentag oder legt eine andere feste Wochen- und Tagesarbeitszeit fest.
Wege weg vom Markt?
Möglich, das eine Lösung dieser Frage erst mit dem Zusammenbruch des kapitalistischen Systems eine Antwort findet. Aber letztlich ist es doch so, daß Kollektivbetriebe für den Bedarf produzieren, nicht für den anonymen Markt. Sie drücken keine unnützen Produkte in den ‚Markt’ und stimulieren nicht über Werbung eine Nachfrage einzig und allein zur Profitmaximierung. Eine libertär-sozialistische oder libertäre Ökonomie ist immer eine Bedarfsproduktion. Wie dieser Bedarf zukünftig errechnet und verteilt werden sollte, das ist eine weitere Krux, der wir uns bereits heute stellen müssen. Wenn wir keine Antwort auf diese existenzielle Frage finden, endet jede Rebellion im wirklichen Chaos und bestimmt nicht in einer freien Gesellschaft.
Es erscheint mir unmöglich, heutzutage in einer total arbeitsteiligen Gesellschaft Modelle wie Tauschringe gesellschaftsfähig zu machen. Was sollte ein Kaffeehandels-Kollektiv oder eine Druckerei für seine Produkte von seinen Kund~innen als Gegenleistung wünschen? Zumal die Käufer~innen von bedruckten T-Shirts oder zehn Packungen Espresso meistens nicht in derselben Stadt wohnen? Sollten sie im Tausch Arbeitsleistungen anbieten – wie käme dann das Geld für die Bezahlung der Vorprodukte in die Kasse der Kollektive und was sagt das deutsche Finanzamt dazu?
Eine ‚Überwindung der Marktwirtschaft’ ist erst durch eine sozialistische Bedarfsproduktion möglich. Da es im Kapitalismus keine ‚Nischen’ gibt, bedeutet das noch lange nicht, daß jede wirtschaftliche Betätigung von Kollektivbetrieben im Kapitalismus zwangsläufig immer scheitern muß. Diese Logik ist absurd, sie ist mechanisch und setzte voraus, daß es kein solidarisches Umfeld für eine – wie auch immer bezeichnete oder geartete – solidarische oder libertäre Ökonomie geben kann. Gerade der Wunsch vieler Menschen nach gesellschaftspolitischen Veränderungen ermöglicht es heute, daß Kollektivbetriebe diese Bedürfnisse aufgreifen, einen ‚Markt’ haben und sie diese Nachfrage (verächtlich gesprochen) nur aus einer angeblichen ‚Nische’ heraus befriedigen.
Wenn dieses Umfeld zusammenbräche, würde sicherlich auch die gelebte libertäre Ökonomie zusammenklappen – aber das wäre dann endgültig das Ende aller Träume von einer anderen Welt, die von vielen im Munde geführt wird, ohne dafür einmal selbst als Produzent oder Händlerin aktiv zu werden.
Gewerkschaftliche Kontrolle
Die Anbindung von sozialrevolutionären Kollektivbetrieben an eine AS-Gewerkschaft ist unbedingt notwendig und wichtig. Nur so können Erfahrungen ausgetauscht und weitergegeben werden. Die Kollektivbetriebe haben die gesellschaftliche Verpflichtung der Schulung und der Abgabe finanzieller Unterstützung für die gewerkschaftliche Organisierung.
Andererseits können lokale AS-Gewerkschaften Kollektiv durch die Übernahme von Genossenschaftsanteilen oder durch zinslose Darlehn unterstützen (ggf. machen sie dadurch sogar einen Teil ihrer Reserven vor dem staatlichen Zugriff sicherer).
Ausblick
In einer Zeit, wo auch und gerade die Bürokraten der Europäischen Gemeinschaft »die Genossenschaften in ihre Politik integrieren und zugleich begünstigt, daß sie als Unternehmen auf Kosten genossenschaftlicher Werte und Prinzipien aufgewertet wurden« müssen sie in deren Konzept »auch mit den Folgen für die Benachteiligten und Verlierer umgehen«, bemerkt Judith Dellheim für die PDS-nahe Rosa Luxemburg-Stiftung.
Warum? Weil Genossenschaften nach Ansicht eines EU-Positionspapiers von 2004 »von sozialer Ausgrenzung betroffene Bevölkerungsgruppen wirksam in die Arbeitswelt und die Gesellschaft integrieren, indem sie ihnen unternehmerische Erfahrung vermitteln und Managementverantwortung übertragen. Durch die Bereitstellung unternehmerischer Lösungen zur Deckung eines noch unbefriedigten Bedarfs auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet können Genossenschaften, insbesondere wenn entsprechende öffentliche oder private Initiativen fehlen, Arbeitsplätze schaffen und ein nachhaltiges und auf Solidarität basierendes Wachstum fördern, ohne dabei einen möglichst hohen Reingewinn erzielen zu müssen. Dadurch leisten sie auch einen Beitrag zur Flexibilität der Arbeitsmärkte. Sie gehören daher zusammen mit anderen auf der Solidarität ihrer Mitglieder basierenden Vereinigungen wie Gesellschaften auf Gegenseitigkeit, Vereine und Stiftungen zur so genannten „Solidarwirtschaft“).«
Gegen diese kapitalistische Integration von Genossenschaften gilt es ebenso anzukämpfen wie für eine antikapitalistische Kultur einer solidarischen Ökonomie mit dem Ziel einer libertären Wirtschaft- und Gesellschaftsordnung.
Dabei ist es enorm wichtig, daß wir in anarchistisch-anarchosyndikalistischen Kreisen wieder zu einer Zusammenarbeit finden. Hier wäre es besonders nützlich, ein Netzwerk selbstverwalteter Betriebe und Einrichtungen zu organisieren, um Erfahrungen nicht nur auszutauschen (erster Schritt), sondern auch, sich auf der Grundlage der gegenseitigen Hilfe (zweiter Schritt) solidarisch zu helfen. Dazu bedarf es verbindlicher Strukturen wie z.B. eines gemeinsamen Krisenfonds (durch Abgabe einer geringen prozentualen Revolutionssteuer bezogen auf Umsatz, Personalkosten und Gewinn) und einer kollektiven Selbstdarstellung als Netzwerk konstruktiver Sozialismus.
Rudolf Rocker formuliert in seiner 1947 erschienen Schrift ‚Zur Betrachtung der Lage in Deutschland’: »Auch der genossenschaftlichen Bewegung sollten unsere Kameraden in der Zukunft mehr Aufmerksamkeit schenken, als dies bisher geschehen ist. (…) Sie hat sich durch langjährige und vielseitige Erfahrungen eine Menge praktischer Kenntnisse und administrativer Fähigkeiten auf dem Gebiete der Verbrauchswirtschaft erworben, die uns beim Wiederaufbau unschätzbare Dienste leisten können. (…) Auch die Aufgabe der Genossenschaften erschöpft sich nicht in ihrer Gegenwartsarbeit. Was sie erstreben, ist die Beseitigung jeder Profitwirtschaft und eine Neugestaltung des gesellschaftlichen Lebens auf der Grundlage einer gerechten Verteilung der Arbeitserzeugnisse.«
Pflege- und Senioren-Genossenschaften werden allein deshalb notwendig, weil auch wir älter und gebrechlich werden und uns eine von der staatlichen Pflege- und Gesundheitsvorsorge unabhängige libertäre Betreuung und Selbstbestimmung im Alter wünschen. Wenn es hier zu keiner generationsübergreifenden Solidarität kommt, ist die gesamte Bewegung nichts wert.
Also – schaffen wir mehr arbeiterselbstverwaltete Kollektive als unseren Beitrag zum konstruktiven, libertären Sozialismus! Da es dazu einer libertären und anarchosyndikalistischen Bewegung bedarf, die sich gewerkschaftlich und sozialpolitisch zur Arbeiterselbstverwaltung programmatisch-organisatorisch sowie praktisch verhält, versteht sich – wie hier dargelegt – von selbst. Ohne sozialrevolutionäre Bewegung kann es nur Rütteln an den Gitterstäben des Systems, aber keinen Angriff auf das kapitalistische System geben.
[Folkert Mohrhof, 2011 - Mitglied im ASK │VAB Hamburg-Altona und seit 12 Jahren Kollektivmitglied in der Café Libertad Kollektiv eG]
Auszug aus Barrikade Nr.6.
Originaltext: http://syndikalismus.wordpress.com/2011/11/12/auszug-aus-barrikade-nr-6-kollektivbetriebe-als-konstruktiver-sozialismus/