Peter Bierl - Anthroposophie
Welche Konsequenzen prekäre Arbeitsverhältnisse für Akademiker haben können, zeigt die Anthroposophie. Deren Gründer Rudolf Steiner (1861-1924), von seinen Anhängern als „Menschheitsführer“ gefeiert, wurde als Sohn eines Bahnangestellten geboren. Ein Studium an der Technischen Hochschule in Wien brach er ab und betätigte sich als Hauslehrer, Journalist und Mitarbeiter an der Weimarer Goethe-Ausgabe. Ein Versuch, sich zu habilitieren, wurde von der Universität Jena zurückgewiesen.
Bis zum 40. Lebensjahr schlug er sich als intellektueller Gelegenheitsarbeiter durch, bis ihm die Theosophen den Job als Generalsekretär ihrer deutschen Sektion anboten.
Die Theosophische Gesellschaft, 1875 gegründet, war die erste organisierte moderne Esoterik-Strömung, die die weitere Entwicklung der Szene prägte. Die heutige Horoskopgläubigkeit etwa geht auf geschäftstüchtige Theosophen des Fin de siècle zurück. Steiner hatte die Theosophie als Student in Wien kennen gelernt, in den bürgerlichen Salons waren Tische rücken und Séancen schick. Der junge Mann hielt von dem Hokuspokus noch gar nichts und warnte seine Freunde vor Gehirnerweichung.
Umso aktiver war Steiner in deutschtümelnden Kreisen der Hauptstadt der Donaumonarchie. „Die Slawen müssen noch lange leben, bis sie die Aufgaben, die dem deutschen Volk obliegen, verstehen, und es ist eine ungeheuere Kulturfeindlichkeit, dem Volksstamm [gemeint sind die Deutschen, P.B.] bei jeder Gelegenheit Prügel vor die Füße zu werfen, von dem man das geistige Licht empfängt, ohne welches einem die europäische Bildung ein Buch mit sieben Siegeln bleiben muß“, kommentierte Steiner 1888 als Redakteur der Deutschen Wochenschrift, deren Untertitel Organ für die nationalen Interessen des deutschen Volkes lautete.
Während die Alldeutschen den Anschluss Österreichs an Deutschland propagierten, glaubte Steiner, die kulturell höher stehenden Deutschen müssten die ungebildeten Slawen der Donaumonarchie erziehen. Slawen, die sich der deutschen Hegemonie widersetzten, bezichtigte er eines üblen Chauvinismus. Liberalen, die eine gemeinsame kakanische Nationalität jenseits ethnischer Herkunft propagierten, warf er vor, sie hätten die „Kulturmission“ der Deutschen nicht begriffen. Einen politischen, nicht völkischen Begriff der Nation, lehnte der junge Steiner ab. Das widerspreche dem deutschen „Volksgeist“ und sei ein „abstraktes Staatsideal“.
Der Job als Funktionär der deutschen Theosophen bescherte Steiner die große Wende seines Lebens. Er und seine spätere Frau Marie von Sivers bauten die Organisation neu auf und spalteten den deutschen Zweig vor dem Ersten Weltkrieg als Anthroposophische Gesellschaft ab. Anfangs musste Steiner sich durch die theosophische Literatur ackern. Die Erkenntnisse, die er daraus zog, verkaufte er als Produkte eigener hellseherischer Fähigkeiten.
Anthroposophie ist eine gnostische Religion, keine Wissenschaft, wie ihre Anhänger behaupten. Am Anfang der Welt existiert demnach nur das Göttliche. Es vermischt sich in einer Art Sündenfall mit der Materie, dem negativen Prinzip, womit die Geschichte beginnt. Die göttlichen Funken durchlaufen einen Entwicklungsprozeß, der Jahrmillionen dauert und nacheinander auf sieben Planeten stattfindet, von denen jeder die Reinkarnation seines Vorgängers darstellt. Auf dem vierten Planeten, der Erde, nehmen die göttlichen Funken menschliche Gestalt an, lehrte Steiner.
Die Entwicklung verkörpert sich in sieben Wurzelrassen mit je sieben Unterrassen. Den Begriff der Wurzelrasse ließ Steiner bald fallen und sprach meist von Rassen. Heute meiden seine Anhänger den negativ besetzten Begriff im Regelfall und sprechen lieber von Kulturepochen.
Der Sinn ist der Gleiche. Jede Wurzelrasse und jede Unterrasse hat bestimmte Aufgaben in einer bestimmten Zeit zu erfüllen. So entwickelte die dritte Wurzelrasse der Lemurier den Willen, bei ihnen trennen sich Männlein und Weiblein und sie pflegen die zweigeschlechtliche Fortpflanzung. Die Atlantier, die vierte Wurzelrasse, trieben Ackerbau und Viehzucht. Aufgabe der fünften arischen Wurzelrasse ist es laut Steiner, den menschlichen Geist zu entwickeln. Sie müssen dabei den Anfechtungen des Materialismus und Intellektualismus widerstehen. Die Ur-Inder als erste arische Unterrasse verfügten über hellseherische Fähigkeiten, die dritte Unterrasse der Ägypter und Babylonier erfand Astronomie und Geometrie. Die Römer und Griechen als vierte Unterrasse lernten, den Verstand zu gebrauchen, entfernen sich dabei allerdings von der Religion.
Bevor die Menschheit dem Atheismus verfiel reinkarnierte der Sonnengeist als Jesus Christus und gab mit seinem Opfertod den Impuls für eine Respiritualisierung. Im Jahre 1413 beginnt nach Steiners Weltenplan die Mission der Germanen, der fünften arischen Unterrasse. Sie sollen das wahre göttliche Ich wiederentdecken. Die Slawen übernehmen im Jahre 3573 die Stafette und vertiefen die Errungenschaften der tiefsinnigen Deutschen.
Mit der Wurzelrassen-Lehre hatte Steiner für die chauvinistische Vorstellung seiner Studentenzeit, von den Deutschen als Kulturbringern der Slawen, einen neuen esoterischen Kontext aufgetan.
Zwei Grundregeln bestimmen die Steinersche Rassentheorie, die als Geschichts- und Entwicklungslehre den Kern der Anthroposophie darstellt. Die eine lautet ‚Mission erfüllt, Abstieg beginnt’. Angehörige und Nachfahren von Rassen und Völkern, die ihre jeweiligen historischen Aufgaben erfüllt haben, gelten als dekadent und unfähig für eine weitere Entwicklung. Das gilt für australische Aboriginies und afrikanische Buschmänner als Nachfahren der Lemurier, für Chinesen, Japaner und Indianer als Abkömmlinge von Atlantis, wie für Italiener und Franzosen als Romanen. Slawen, die ihre Mission noch vor sich haben, wurden dagegen von Steiner und seinen Anhängern als kindlich, brutal, schlampig und unzuverlässig geschildert.
Die zweite Regel ist das „Gesetz der Differenzierung“, wie der Anthroposoph Karl Heyer schrieb, oder, wie Steiner formulierte, „dass sich etwas Höheres auf Kosten eines anderen entwickelt, das es aus sich ausscheidet.“ Spirituell erleuchtete Menschen würden über dem nächsten Planeten, dem Jupiter, als Engel schweben, prophezeite Steiner. Wer sich verweigere, werde zum Tiermenschen oder Teufel.
Auf dem Planeten Erde gelten Tiere als Seitenzweige menschlicher Entwicklung. Die Anthroposophie stellt die Darwinsche Evolutionslehre auf den Kopf und behauptet, der Affe stamme vom Menschen ab, er sei ein dekadenter Abzweig. Dieser Unfug fließt auch in die Waldorfpädagogik ein. Auch das indische Kastensystem ist in dieser Perspektive gerecht. Die Menschen seien aufgrund des Karma, also der Bilanz ihrer Verdienste und Verfehlungen aus früheren Leben, so eingeteilt worden. Der Angehörige niederer Kasten würde angespornt „sich so zu verhalten, dass er in späteren Verkörperungen sich hinaufzuheben vermöchte“, schrieb Heyer.
Höhere und niedere Rassen geben den spirituell erleuchteten wie den zurückgebliebenen Menschen eine körperliche Gestalt. Besonders schlecht kommen Schwarze in Steiners Rassenlehre weg. Der Guru beschrieb sie als kindlich und triebgesteuert, weil sie die Sonnenstrahlen mit dem Hinterhirn verarbeiten und dabei innen gekocht würden.
Die übelsten Tiraden hielt Steiner 1923, zur Zeit der Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen. Die schwarzen Kolonialsoldaten in deren Reihen waren allen deutschen Rechten verhasst. Die Nazis verfolgten später die so genannten Rheinland-Bastarde, die Kinder aus Beziehungen zwischen Schwarzen und Deutschen, und sterilisierten sie zwangsweise. Steiner fabulierte, schwangere weiße Frauen bekämen Mulattenkinder, wenn sie bloß „Negerromane“ gelesen hätten. Der Begründer der anthroposophischen Christengemeinschaft, Friedrich Rittelmeyer, hetzte gegen „Negermusik“ wie den Jazz, der das Blut vergifte.
Bis heute findet man in anthroposophischen Zeitschriften Darstellungen, in denen schwarze Afrikaner als kindlich dargestellt werden.
Das jüdische Volk hat nach Steiners Doktrin seine Mission, den Monotheismus und eine körperliche Hülle für die Reinkarnation des Sonnengottes hervorzubringen, ebenfalls hinter sich. Weil die Juden den Messias nicht anerkannten, seien sie spirituell erstarrt, egoistisch, ausgedörrt, materialistisch und intellektualistisch verdorben, ihr „semitisches Zersetzungsferment“ verbreite sich in Politik und Psychologie, ja sogar in de n Kindergärten, geiferte Steiner, der den traditionellen christlichen Vorwurf der jüdischen Gottesleugner und Gottesmörder mit der Wurzelrassenlehre verknüpfte.
Der Anthroposoph Karl König behauptete 1965, durch den Verrat des Judas habe ein „Drama“ begonnen, das zur Kreuzigung Christi führte. „... so etwas Ähnliches mußte wieder geschehen, es war sozusagen eingeschrieben in das Menschheitskarma. Und so wenig wir auch heute begreifen können, was das gewesen ist, dieser Verrat des Judas, so wenig begreifen wir dasjenige, was sich in unserem Jahrhundert vollzogen hat.“ In diesem Sinne forderte er Verfolger und Verfolgte, also Nazis und ihre Opfer auf, zu verstehen, „was gespielt hat und noch immer spielt“. Die Taten der Nazis, so schreibt König, könnten nicht durch Gerichte gesühnt werden: „Denn es sind Taten, gleich der des Judas; Taten die geschehen mußten. Und der, der sie tat, ist ja viel schlimmer dran als diejenigen, die sie erleiden mußten.“
Dieser Versuch, die Shoa mithilfe der abstrusen Karmalehre und dem Stereotyp des jüdischen Gottesmörders zu relativieren, ist das Widerlichste, was ich bisher in anthroposophischem Schriften entdeckt habe. Der Arzt Karl König musste aufgrund seiner jüdischen Herkunft 1938 vor den Nazis von Wien nach England flüchten.
Die Steinersche Rassenlehre ist leider nicht Geschichte. 1997 veröffentlichte der Anthroposoph Pietro Archiati im Verlag am Goetheanum, dem Schweizer Hauptquartier der Bewegung, ein Pamphlet gegen den Vorwurf des Rassismus. Freiheit setze die Möglichkeit voraus, sich unterschiedlich zu entwickeln, schreibt er darin und weiter: „Die Differenzierung der Leibesarten – die Entstehung der Rassen und ihr Fortbestehen nebeneinander – war also das Werk göttlicher Wesen, die dadurch die Freiheit der Menschen ermöglichen wollten.“
Lorenzo Ravagli, ehemaliger Waldorflehrer und Mitarbeiter der Zeitschrift „Erziehungskunst“, die der Bund der Waldorfschulen herausgibt, verteidigt Steiners Auslassungen mit dem Argument, dieser habe einen „Ethnopluralismus“ vertreten. Diesen Begriff hat der faschistische Ideologe Henning Eichberg in den 70er-Jahren entwickelt, um nicht von Rassen sprechen zu müssen. Worte wie Ethnopluralismus oder Kulturepochen sollen den Rassismus kaschieren: Die falsche Ansicht, man könne Menschen qua zugeschriebener Merkmale in bestimmte Schubladen sortieren. Dabei gibt es keine menschlichen Rassen, außer als Hirngespinste von Rassisten.
Ravagli schrieb im August 2006 (!) in der Zeitschrift „Die Drei“, herausgegeben von der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft: „Mit den unterschiedlichsten Kollektividentitäten – Volkscharakteren und Rasseneigentümlichkeiten – muss sich das geistige Wesen des Menschen auseinandersetzen.“ Dabei würden diese Völker und Rassen durch die Geister geprägt, die an ihren jeweiligen Wohnorten umgehen, weshalb er von „Geistkontinenten“ schreibt. Amerika, so fabuliert Ravagli weiter, sei durch den Dämon Ahriman geprägt. Das wiederum wirkt nicht bloß auf die laut Anthroposophie dekadenten, vergreisten Indianer. Auch die europäischen Siedler und ihre Nachkommen wurden laut Ravagli „indianisiert“. Darum sei Amerika der Ort der Begegnung mit Ahriman, „mit der Lüge, dem Streben nach Macht, der Baconschen Technomagie, der Sehnsucht nach physischer Unsterblichkeit und Glückseligkeit.“ So wird Amerika zu einer Prüfung, an den Offenbarungen Ahrimans gelte es Gegenkräfte zu entwickeln.
Antiamerikanismus, Antisemitismus, die Lehre von der Mission der Arier, die Rede von der weißen Rasse, die allein am Geistigen schafft, die Lehre, dass die tiefsinnigen Deutschen die wahre Spiritualität zu entwickeln haben, der Rassismus, der sich in gehässigen bis dummen Darstellungen von Menschen ausdrückt, das sind Anknüpfungspunkte und Schnittstellen mit Nazis. Das Bild vom triebgesteuerten Schwarzen, das Stefan Leber, ebenfalls ehemaliger Waldorflehrer, Waldorffunktionär und in der Ausbildung von Lehrern tätig, noch 1997 zeichnete, ist primitivster Stammtisch.
Solche Ansichten fließen in die Waldorfpädagogik ein, die vollständig auf den Lehren Steiners basiert. Das zeigt sich, wenn in Schulheften von Atlantis die Rede ist, das als historische Tatsache nicht als Mythos behandelt wird, den „Menschenrassen“, die dort angeblich entstanden sind, oder den Wanderungen der Arier.
1998 gab die Pädagogische Forschungsstelle des Waldorfbundes eine Broschüre mit dem Titel Literaturangaben für die Arbeit des Klassenlehrers an einer Freien Waldorfschule heraus. Das Heft enthält eine Übersicht über die Literatur, „die bei der Vorbereitung der Hauptunterrichtsepochen der Klassen 1-8 herangezogen werden kann“.
Zwei Jahre später berichtete die Presse ausführlich über ein Buch aus dieser Literaturliste. Der Imageschaden war beträchtlich. Der Waldorflehrer Ernst Uehli (1875-1959) hatte in dem Buch Atlantis und die Rätsel der Eiszeitkunst (1936) Steiners Rassenlehre systematisch zusammengefasst. Der Mellinger-Verlag in Stuttgart legte das Buch 1980 unverändert wieder auf. Das Bundesfamilienministerium beantragte bei der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, das Werk zu verbieten. Uehli hatte geschrieben: „Der Keim zum Genie ist der arischen Rasse bereits in ihre Wiege gelegt.“ Dagegen wäre „der heutige Neger“ kindlich und ein „nachahmendes Wesen geblieben“ und der „heutige aussterbende Indianer ist in seiner äußeren Erscheinung verknöchert, im Denken greisenhaft“.
Der Geschäftsführer des Waldorfschulbundes, Walter Hiller, distanzierte sich von Uehlis Buch und versicherte: „Wir nehmen das Buch von der Liste.“ Der Mellinger-Verlag erklärte, man habe den Restbestand eingezogen und vernichtet. Anthroposophen behaupteten, das Buch sei in keiner Schule verwendet worden. Das nachzuweisen, würde eine totalitäre Kontrolle über alle Lehrer voraussetzen. Die Bundesprüfstelle verzichtete jedenfalls auf eine Indizierung, weil das Buch angeblich nicht mehr erhältlich sei. Die Broschüre mit den Literaturangaben wurde bis mindestes Juli 2001 auf der Internetseite des Verbandes angeboten und vertrieben, mit einem beigelegten Zettel, auf dem zu lesen stand, das Uehli-Werk werde nicht mehr empfohlen, weil es „problematische Aussagen“ enthalte.
Uehli ist kein Einzelfall. Die Literaturangaben enthalten kein einziges seriöses Sachbuch etwa über die NS-Zeit für den Geschichtsunterricht, sondern überwiegend anthroposophische Schmöker aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, voller rassistischer und antisemitischer Stereotypen, über ominöse Wurzelrassen und die Wanderungen der Arier. In den Büchern lesen wir, dass der Italiener heiter und impulsiv ist und aus Höflichkeit lügt, der Brite dagegen kühl und materialistisch. Der Araber ist hart, leidenschaftlich, kalt und berechnend. Der Asiate gilt als dekadent, er ist ein cholerischer Mongole oder ein phlegmatischer Malaie. Der Japaner lebt in leichten Holzhäusern mit Strohdächern, er lächelt immer und unergründlich, dahinter verbirgt sich mitleidlose Härte. Afrikaner sind kindlich, gläubig und fromm, sie werden von ihrem Blut und ihren Trieben gelenkt. Und weil sie wie Kinder seien, müssten sie von Weißen geführt werden. Der Russe wird als jähzornig, brutal, rücksichtslos, gewalttätig, herrisch, ungeduldig, launisch, schicksalsergeben, leidensfähig, unzuverlässig und unpünktlich dargestellt.
Außerdem werden den Lehrern etwa 30 Steiner-Werke empfohlen, in denen sich der Meister als Hellseher und die Anthroposophie als okkulte Geisteswissenschaft präsentiert, über Volksgeister fabuliert, die Menschen in Rassen einteilt und wie Uehli zu dem Schluss gelangt, die arischen Völker seien prädestiniert, das Geistige zu entwickeln.
Die Gespräche, die Steiner von 1919 bis 1924 mit Lehrern führte, füllen drei Bände, die zur Ausbildung von Waldorflehrern benutzt werden. Steiner bezeichnet darin Französisch als dekadente, lügenhafte „Leichnamssprache“ eines untergehenden Volkes.
Wie sehr die Waldorfschule im völkischen Sumpf steckt, wird jedes Jahr zur Weihnachtszeit deutlich. Dann werden in den Schulen die so genannten „Oberuferer Weihnachtsspiele“ aufgeführt. Steiners Wiener Mentor, Karl Julius Schröer, soll diese Spiele, die von der Vertreibung aus dem Paradies, Jesu Geburt und der Ankunft der heiligen drei Könige handeln, bei deutschstämmigen Siedlern nahe dem ungarischen Preßburg gefunden haben. Schröer und Steiner galten diese Spiele als Ausdruck kultureller Selbstbehauptung der Deutschen gegen eine „Überfremdung“. Sie glaubten, die Stücke seien vom deutschen Volksgeist inspiriert und würden darum das „Deutschtum“ der Zuhörer beleben.
Steiner bearbeitete die Stücke. Im Dreikönigsspiel lässt er drei Juden auftreten, Kaifas, Pilatus und Jonas, hohe Priester, die König Herodes die Geburt des Jesuskindes in Bethlehem deuten, woraufhin dieser den biblischen Knabenmord anordnet. Den Regieanweisungen Steiners zufolge werden die Juden stereotyp, servil und schmeichlerisch dargestellt. „Ihre Aussprache ist jüdisch, ihre Gebärden ungemein lebhaft; alle drei sind in steter Bewegung, küssen sich, nach rechts und links springend, in gebeugter Stellung auf die Schultern, küssen einander gegenseitig, schlagen die Hände zusammen und sprechen dem König mit karikierter, dem Gesagten immer entsprechender Gebärde das letzte Wort im Chore nach.“ Sogar in der anthroposophischen Zeitschrift „Info 3“ wurden die Aufführungen kritisch dargestellt, wie Juden mit spitzen gelben Hüten auftreten, Grimassen schneiden und kreischen.
Diese Darstellung in den Waldorfschulen würde heute „eher mit den bildlichen und sprachlichen Darstellungen des Stürmers assoziiert“, schrieb Sebastian Gronbach. Die Waldorfschule böte „eine Darstellung von Juden, wie sie außerhalb des anthroposophischen Zusammenhangs höchstens noch Applaus im Land von Ahmadinedschad bekommen hätte“.
Aus: Peter Bierl - Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister. Die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik, Konkret Literatur Verlag, Hamburg, 2005, aktualisierte Neuausgabe, 17 Euro. Anfragen zu Lesungen, Vorträgen und Diskussionen an die E-Mail-Adresse peterbierl[ät]gmx.de richten
Originaltext: http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/IMG/pdf/Bierl_Anthroposophie.pdf