„Seltsame Ausländer ...“ السلامة Má‘a Saláma, Sail Mohamed
Kabylen von de la Chapelle und den Quais de Javel (Metrostationen)
Männer aus fernen Ländern
Versuchskaninchen aus den Kolonien
Staatenlose aus Aubervillier (Vorort im Norden von Paris)
Müllverbrenner der Stadt Paris
Tunesier aus Grenelle (Sitz des Arbeitsministeriums)
eingestellt entlassen
beschäftigt untätig
Kinder aus Senegal
heimatlos vertrieben und eingebürgert
Seltsame Ausländer
Ihr seid aus der Stadt
Ihr kommt aus ihrem Leben
auch wenn ihr schlecht darin lebt
auch wenn ihr darin sterbt.
(Jacques Prevert: Étranges étrangers)
Sail Mohamed wurde am 14. Oktober 1894 als Sail Ameriane Mohamed Ben Amerzaine in der Kabylei geboren. Eine Region, in der die meisten Menschen zu den Kabylen (übersetzt:Stämme) gehören, ein Berbervolk im Nordosten von Algerien. Eine arme Region, der Boden ist steinig und trocken, wenig ertragreich. Die Schulbesuche der Kinder fanden wegen fehlender Infrastruktur kaum statt.
„Eines Morgens erwachen sie und entdecken, daß sie einen weiteren Tag der Armut vor sich liegen haben…“
Sail wurde Mechaniker und Kraftfahrer, wie viele seiner Nachbarn und Genossen. Aus seiner Jugend ist wenig bekannt, Nachbarn schildern ihn als aufsässigen Jungen mit Interesse für die Ideen des Anarchismus. Während des ersten Weltkriegs desertiert er aus der französischen Kolonialarmee, wird festgenommen und interniert.
Algerien war seit Beginn des 19.Jahrhunderts eine französische Siedlungskolonie. Es diente den Franzosen gleichzeitig als Besiedlung durch erleichterte Existenzgründungen als auch als Strafkolonie. Die ursprüngliche Bevölkerung wurde dadurch mehr und mehr verdrängt und galt nur noch als Menschen zweiter Klasse. Die Männer wurden in einen zweijährigen Kriegsdienst hineingezwungen und in der Front verheizt.
Nach Ende des Krieges und unmittelbar nach seiner Freilassung geht Sail Mohamed nach Frankreich. Er ist nun einer der Kabylen der Bahnsteige „bleich“: der Staatenlose aus Aubervilliers und schliesst sich der Anarchistischen Union an mit ihrer Zeitung „Le libertaire“ an. Mit dem Sänger Sliman Kioane gründet er das „Komitee für die Verteidigung der indigenen Algerier“ schreibt über das Elend und die Ausbeutung der Kolonisierten. Er wird zum Experten zur damaligen Situation in Nordafrika.
Zusammen mit den anarchistischen Gruppen des 17. Bezirks rund um die Avenue de Clichy organisiert er Treffen und Konferenzen mit nordafrikanischen Einwanderen. In arabisch und französisch gehaltenen Vorträgen wird vor allem die Verdummung durch die Marabuts und deren Macht hinterfragt. Die Marabuts sind hoch angesehene, als Heilige verehrte Vertreter des Islam, deren Macht oft vererbt wurde, sodaß sich ganze Clans bilden konnten, die auch auf lokaler Ebene politische Macht verkörperten. Im Islam – als Gegensatz zu den entsprechenden Positionen anderer Religionen – können auch Frauen diese Ämter ausüben.
In Aulnay-Sous-Bois – einer Stadt nordöstlich von Paris – gründet er aus diesen Treffen heraus eine anarchistische Gruppe und wird einer ihrer Aktivisten. (Aulnay-Sous-Bois, heute Standort von Peugeot, war 2005 auch Ausgangsort der Aufstände vorwiegend jugendlicher Einwanderer)
1929 wird er Sekretär des temporär gegründeten „Verteidigungskomitee gegen die hundertjährige Provokation“. Frankreich bereitete sich darauf vor eine Jahrhundertfeier zur Eroberung Algeriens vom 5.Juni 1830 zu zelebrieren.
„Was hat uns also das so edle Frankreich gegeben, dessen Feiglinge und Hohlköpfe überall nun von seiner Seelengrösse verkünden? Fragen sie einen einfachen Indigenen- fast die gesamte Bevölkerung lebt in grossem Elend. Von den Städten in Algerien, zerlumpt unter den Arkaden, in den Baustellen und Bergwerken bis zu den landwirtschaftlichen Betrieben in eine aufreibende Arbeit gezwungen, die ihnen kaum erlaubt, sich wenigstens schlecht zu ernähren. Wie Hunde behandelt, haben sie kein Streikrecht, werden bedroht mit Inhaftierung und Folter.Der Boden von Algerien war fruchtbar, doch die Industriellen und die Kaufleute beuten ihn skrupellos aus -mit Unterdrückung und Arroganz bringen sie dafür das Elend und den Tod und nennen es Zivilisation.Zivilisation?Fortschritt? Wir sagen: Mord“
Unterzeichnet war dies unter anderem auch von der anarchosyndikalistischen CGT-SR der „Conféderation générale du travail-syndicaliste révolutionnaire“. Mohamed wird anschließend deren Mitglied. Im nächsten Jahr, während der Kolonialfeierlichkeiten, belebt die anarchistische Bewegung mit Sail Mohamed die Kampagne gegen den Kolonialismus erneut.
Im Januar 1932 wurde er Geschäftsführer des „Sozialen Erwachen- die Zeitung des Volkes“, um dann einige Monate später wegen eines antimilitaristischen Artikels angeklagt zu werden. Die vorgetragene Unterstützung der Roten Hilfe, eine Unterorganisation der KommunistischenPartei lehnte er mit Hinweis auf die Opfer des Stalinismus empört ab.
Als im Februar 1934 faschistische und antisemitische Gruppen öffentliche Kundgebungen abhalten, ist die gesamte Arbeiterbewegung in Aufruhr. Alle befürchten einen faschistischen Staatsstreich. Die Libertären waren als die Speerspitze der antifaschistischen Bewegung aktiv. Sail sammelte Waffen und versteckte sie. Wenig später wird er festgenommen und wegen „Waffenbesitz“ eingekerkert. Die kommunistische Partei, immer noch wegen seiner Kritik empfindlich gestört, versuchte ihn als Spitzel und Agent provocateur in der Öffentlichkeit zu verleumden. Jedoch kann er dank einer breiten Unterstützungsbewegung das Gefängnis nach 5 Monaten wieder verlassen und ist fortan für den nordafrikanischen Teil der „Terre libre“, der Zeitung der Anarchistischen Allianz der Region Mídi verantwortlich.
Die Gruppe Sebastian Faure, benannt nach dem libertären Pädagogen, war wie die „Gruppe Sacco und Vanzetti“und die „Gruppe Erich Mühsam“, eine kämpferische Einheit der Kolonne Durutti. Ihr gehörte unter anderem auch eine Zeitlang Simone Weil an. Sail Mohamed wird im Oktober 1936 von der Anarchistischen Union in diese Einheit delegiert.Eine Verletzung zwingt ihn nach Frankreich zurück, wo er neben Kundgebungen zur Situation in Nordafrika auch weiter Propaganda für die Revolution in Spanien macht.
Sail Mohamed wird im Dezember 1938 wegen „Provokation des Militärs“ zu 18 Monaten verurteilt, zu Kriegsbeginn in ein Lager in der Nähe von Riom (in der Auvergne) interniert. Mit selbst gefälschten Papieren soll ihm die Flucht gelungen sein.Jedenfalls taucht er nach der Befreiung wieder in Aulnay-sous-Bois auf und reaktiviert dort die anarchistische Gruppe.In den nächsten Jahren widmet er sich verstärkt innerhalb der Gewerkschaften der Situation der indigenen Bevölkerung in Algerien, schreibt Artikel in “ Le libertaire“ und arrangiert Unterstützungsaktionen.
1953 stirbt Sail Mohamed. Am 30. April wird er unter grosser Anteilnahme und einer Rede von Georges Fontenis, Lehrer und Schriftsteller, Autor der Manifeste des Anarchokommunismus und Generalsekretär der Anarchistischen Föderation( – 9.08.2010) zur letzten Reise gebracht.
Má‘a Saláma
Originaltext: http://radiochiflado.blogsport.de/2011/11/13/seltsame-auslaender-maa-salama-sail-mohamed/