Gustav Habermann - Flugblätter unterm Heiligenbild (1882-84)
Die tschechische Sektion in Wien verbreitete tschechische und deutsche öffentlich erscheinende Zeit- und Druckschriften radikaler, später sozialrevolutionärer Richtung. Von den deutschen Zeitschriften wurden die radikale «Zukunft» und die in London, später in Amerika erscheinende
«Freiheit» von Most verbreitet.
Ich war ein eifriger Kolporteur. In der Remise der k. k. Staatsbahn, wo ich als Drechsler arbeitete, hatte ich ein Lager von sozialistischer und revolutionärer Literatur, zu Hause hatte ich nicht ein Blättchen. Und zwar aus Vorsicht, damit im Falle einer Haussuchung die Polizei nichts Belastendes fände.
In der Werkstätte, unter der Drechslerbank, riß ich ein Brett aus dem Fußboden, entfernte die darunter liegende Asche und säuberte, soweit ich mit dem Arm reichen konnte, das unter dem Fußboden freigewordene Loch - und der Lagerraum war fertig. Darin unterbrachte ich nun alle Hilfs- und Druckschriften, die ich zur Agitation nötig hatte. Nachdem ich sie so deponiert hatte, was mit der größten Vorsicht geschah, legte ich das herausgerissene Brett wieder auf die Öffnung, schichtete das zum Verarbeiten bestimmte Holz darauf, und niemand vermutete, was sich unter der Drechslerbank verbarg. Nicht einmal mein Arbeitsgefährte, mein alter Kamerad Zelinka, der immer neben mir arbeitete, hatte von meinem Lager die geringste Ahnung.
Nach Belieben und Bedarf entnahm ich die Drucksachen dem Versteck und gab sie den Genossen in der Werkstätte oder ich steckte sie einigen Arbeitern unbemerkt in die Tasche.
[...] Das Verbreiten von Flugblättern war keine zu schwierige Aufgabe. In den Werkstätten legte man das Flugblatt unbemerkt dem Arbeiter auf den Arbeitsplatz, in die Schublade, oder man steckte sie in gelegenen Augenblicken in die Tasche der auf dem Rechen hängenden Röcke. Man dachte sich die verschiedensten Arten aus, die Flugschriften in Umlauf zu bringen und so lange es ging, trachtete man, daß sie nur an die helleren Köpfe gelangten. Nur den Eingeweihten, Vertrauenswürdigen wurden die geheimen Drucksachen direkt in die Hände gegeben.
Nach einer gelungenen Aktion waren wir sehr befriedigt und freuten uns über die Überraschung der Arbeiter, die mit Flugschriften bedacht worden waren, ohne daß sie die geringste Ahnung hatten, von wem. Viele drückten ihr Erstaunen aus, wie die Flugblätter in ihre Hände, in ihre Taschen oder Schubladen gelangen konnten. Die Beschenkten meinten anerkennend: «Diese Sozialisten sind doch geschickte und beherzte Leute. Es wäre nicht einmal ratsam zu wissen, wer es verbreitet. Man könnte noch in den Verdacht des Spitzeltums und des Verrats kommen und wer weiß, was dann geschähe ...»
Diese unauffällige geheime Verbreitung der Flugblätter erweckte Bewunderung und erregte die Phantasie der mit den Flugzetteln Bedachten, die von den Revolutionären geradezu mystische Vorstellungen hatten. Die Angsthasen trugen sie den Meistern und Vorgesetzten zu, und Fabriksbeamte und Aufseher waren entsetzt über die ihnen zugestellten Drucksachen, was aus ihrem Verhalten den Arbeitern gegenüber zu ersehen war.
Sie orakelten: «Wer imstande ist, ein Flublatt zu verbreiten, dessen Inhalt für ihn mehrjährige Kerkerstrafe bedeutet, ist zu allem fähig, auch zur Rache aus dem Hinterhalt.» Lasen sie doch mehr als einmal in den Flugblättern: «Schont die Tyrannen nicht, weder sie noch ihre Werkzeuge. Strafet sie, wie und wo es möglich ist!»
[...] Ein Teil der Zeitschriften wurde zu Agitationszwecken umsonst verbreitet. Flugblätter und in Österreich verbotene Zeitschriften wurden den Arbeitern in Taschen und Schubladen gesteckt und vielen unter Kuvert durch die Post zugeschickt. In die Provinz wurden die Drucksachen auch unter Kreuzband als Einlage einer bekannten unverfänglichen und unauffälligen Zeitschrift versendet.
Größere Sendungen in die Provinz wurden nie an die Genossen direkt adressiert. Immer wurde die Vermittlung unauffälliger Personen in Anspruch genommen, die keine Ahnung hatten, welchem Zwecke sie dienten. Man teilte ihnen mit, daß an ihre Adresse ein Buch oder ein Bild für den und den einlangen würde, dem damit eine Überraschung bereitet werden sollte. Mehr als einmal verschickten wir Flugblätter und Zeitungen, die hinter einem Heiligenbild zwischen dem gerahmten Bild und der Rückwand versteckt waren.
Aus: Aus meinem Leben. Erinnerungen aus den Jahren 1876-1896. Wien: F. Tempsky Vlg. 1919, S. 57-60
Originaltext: Emmerich, Wolfgang (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. Band 1. Anfänge bis 1914, rowohlt 1974. Digitalisiert von www.anarchismus.at