Die anarchistische Bewegung in Wien
(Bericht an den Amsterdamer Kongress [1907])
Aus der heute leider fast gänzlich vergriffenen Broschüre des verstorbenen Genossen August Krcal "Zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Österreich" kann man die Entwicklung unserer Bewegung von dem Jahre 1867 bis 1894 entnehmen. Es obläge uns somit, in dem nachfolgenden Bericht eine ähnlich umfassende Darlegung über die Entwicklungstendenzen von 1894 bis heute zu geben, wie Krcal dies getan hat. Daran kann leider nicht gedacht werden. Wir müssen uns darauf beschränken, eine kurze Informationsskizze zu bieten, die sich ganz besonders auf Wien beschränken will, nur hier und da auf andere Städte übergreifend, wenn es der Gegenstand der Betrachtung erfordert.
Seit dem Eingehen der "Zukunft" haben die Genossen anderer Länder wenig von der Wiener Bewegung vernommen. In der Tat liess dieselbe sehr nach, und es waren vornehmlich zwei Faktoren, welche gemeinsam gegen die anarchistische Bewegung vorgingen und dieselbe bis zu einem gewissen Grade zurückschlugen: die Polizei und die Sozialdemokratie. Die Polizei durch ein raffiniertes System der unberechtigtsten Ausweisungen, wodurch sie die Bewegung ihrer geistig fähigsten Triebkräfte beraubte; die Sozialdemokratie durch gemeine Denunziation und die verwerflichsten Methoden der Aufpeitschung sämtlicher fanatischer Unwissenheitsinstinkte der breiten Masse gegenüber dem Anarchismus.
Im Jahre 1894 bestanden in Wien 9 anarchistische Vereinigungen. Es waren dies 5 deutsche Bildungsvereine, ein politischer Verein (genannt "Zukunft"), 3 tschechische Bildungsvereine. Als Organe erschienen die "Zukunft" und das tschechische Blatt "Volne Listy", redigiert vom Genossen Jan Opletal. Da setzten die polizeilichen Verfolgungen ein, und eine ganze Reihe von Existenzen fielen ihnen zum Opfer. Die Vereine wurden saisiert, aufgelöst. Das deutsche Organ, die "Zukunft" ging unter der Wucht dieser polizeilichen Schläge zugrunde. Von den Ausgewiesenen, die zu den besten und tätigsten Kräften gehörten, wären u. a. zu nennen: Friedländer, Valencia, Huber, Hawel, Malaschitz, Bojer.
Als der Verein "Freie Meinung" polizeilich aufgelöst wurde, ging Stefan Grossmann, bisher Anarchist, zur Sozialdemokratie über, die ganz offen mit ihrem Krippenwesen und ihrer offiziellen Unantastbarkeit durch die Polizei prunkte. Grossmann ist vorläufig feuilletonistischer Redakteur der "Wiener Arbeiterzeitung" und hat mit der Bewegung des sozialistischen Anarchismus in keiner Weise mehr etwas gemein.
Auch das böhmische Organ "Volne Listy" wurde unterdrückt, jedoch dank der Unermüdlichkeit des tschechischen Elementes unserer Bewegung sofort ein neues gegründet. Es war dies "Matice Delnick", heute "Matice Svobody" benannt und nochgegenwärtig in Brünn erscheinend. Redakteur dieses Blattes war und ist Jan Opletal.
Am 3. September 1894 fand in Wien eine Konferenz statt, welche eine internationale Streitfrage behandelte und die Bewegung intern noch mehr zermürbte, als es bisher die Polizei getan. Es handelte sich um eine Unterstützungsfrage in Bezug auf Valencia, welcher gerade aus dem Gefängnis kam und sich, infolge der Streitigkeit, nach Graz zurückzog und sich weiterhin nicht mehr an der Bewegung beteiligte.
Um diese Zeit kam auch der stürmische Individualismus nach Wien, und durch die falsche Auffassung seiner Ideenwelt richtete er grossen Schaden an in der Bewegung. Die "individualistische Propaganda", die damals aufkam und der sich eine ganze Anzahl von Jüngern Kräften ergaben, boten nur der Polizei eine willkommene Handhabe dar, mit Ausweisungen und Gewaltsmassregeln gegen Unliebsame vorzugehen. Fast die gesamte "individuelle Propaganda" kam nicht über das Stadium der Vorarbeiten hinaus. Wo sie glückte, gereichte sie der Idee des Anarchismus auch nur in den seltensten Fällen zum Vorteil.
Im Jahre 1896 wurde von der tschechischen Bewegung eine Konferenz der Anarchisten Österreichs nach Kladwo in Böhmen einberufen. Die Wiener Genossen entsandten zwei Delegierte. Doch die Konferenz kam nicht über ihre Vorarbeiten hinaus, als die Polizei eindrang, die Delegierten auseinandersprengte.
In Eile wurde beschlossen, sich im Walde wieder zu finden, wo die Konferenz auch ihre Fortsetzung fand. Auf ihr wurde beschlossen, dass vom 1. Oktober 1896 an die Kohlengräber Österreichs in einen Generalausstand treten sollten; auch die Militärpflichtigen wurden aufgefordert, den Waffendienst zu verweigern. Der Streik brach, da es besonders unter den Bergarbeitern Nordböhmens stark gärte, etwas verfrüht aus. Die direkte Aktion wirkte: die Schächte wurden demoliert, Revolverschüsse auf die provokatorisch auftretende Gendarmerie abgegeben.
Die Regierung sandte militärische Verstärkungen nach dem Streikgebiet, und die Sozialdemokraten sprangen ihr dadurch hilfreich zu, dass sie ganz ostentativ Front gegen die "Gewaltaktionen" der Unterdrückten machten, die "Gesetzlosigkeit" derselben verurteilten; und so wurde die erste mit anarchistischen Mitteln geführte wirtschaftliche Aktion der Arbeiter Österreichs durch diese beiden Bundesgenossen — Militär und Sozialdemokratie — unterdrückt und niedergeschlagen und verraten.
Die beiden Delegierten zu obiger Konferenz, Karnet und Bauer, wurden gleich nach ihrer Ankunft in Wien behördlich ausgewiesen. —
Alle diese Verfolgungen, fürchterlichen Unterdrückungsmethoden, die sich noch verschärften unter der denunziatorischen Hetzerei der Sozialdemokratie, hatten den einen Zweck: die Bewegung der sog. Radikalen und Unabhängigen auszurotten oder hinüber auf die Bahn der geduldeten Sozialdemokratie zu leiten.
Dass die ersteren selbst auch manche Fehler begingen, soll nicht bestritten werden. Doch die Fehler waren nicht die Ursache des unaufhaltsamen Niederganges der Bewegung; Fehler von ihrem Standpunkt aus machen auch die Sozialdemokraten, macht jede Partei. Es handelt sich hier jedoch darum, dass man, sowohl durch die Regierung von rechts wie durch die Sozialdemokratie von links, den Anarchisten jede Existenzmöglichkeit des materiellen Erwerbes, jede propagandistische Betätigung durch die kleinlichsten Ausweisungen entzog.
Dann kam Lucchenis Tat, welche dieses System russischer Methode bis zu seinem Gipfelpunkt erwachsen liess. Schlag folgte auf Schlag und stets mit vermehrter Wucht, unfüllbare Lücken reissend, und so können wir konstatieren, dass die Bewegung mit dem Jahre 1898 praktisch aufhörte, eine Bewegung zu sein, die in Berührung zu den Wiener Arbeitern stand. Die Sozialdemokratie fand sich durch Hilfe des Staates von ihrem erbittertsten Gegner befreit, der Gedanke des staatenlosen Sozialismus hatte nichts als Niederschläge zu verzeichnen. Und diese "Ruhe" dauerte ungefähr bis 1904, wo, wie wir sofort zeigen werden, ein etwas regeres Leben wieder einsetzte, aber auch unvergleichlich schwächer als das vor 1898 gewesene.
Unterdessen entwickelte sich die Sozialdemokratie ungestört weiter. Ihr Kampf besass nur ein Ziel: Erringung des allgemeinen Wahlrechtes. Sie wurde die wahrhaft konservative, staatserhaltende politische Partei des öffentlichen Lebens Österreichs, die es auch ganz unverschämt erklärte, dass sie durch das Wahlrecht den Bestand des Verfassungswesens zu sichern wünsche. Wohl gab es in diesen Perioden, und gibt es auch heute noch kleinere Bewegungen, die sich gegen die Sozialdemokratie im Namen des Sozialismus kehren.
Aber darin hatte sie grosses Glück, dass diese Revolten gegen ihren erstickenden Geist der Bürokratie und Verflachung jedes echten Empfindens fast stets ehrlos waren und ihr selbst an innerer Unwahrhaftigkeit nichts nachgaben. Es war der Kampf nicht zwischen prinzipiellen Gegnern, in dem der eine eine höhere, der andere eine niedrigere Auffassung verficht, sondern ausgesprochenemassen der Kampf zwischen Krippenjägern und Strebern, von denen die einen schon über ein gewisses Mass von Macht verfügten, die anderen darnach gierten und strebten, es ihnen zu entwinden. Dadurch wurden auch sonst hochidealistische Namen und Prinzipien in Österreich heillos diskreditiert und kompromittiert vor den Massen. Das Wort vom "freiheitlichen Sozialismus" wird gerade gegenwärtig von solch einer Clique ehrloser Streberseelen im Munde geführt, auf ihr Banner geschrieben, welche von dem bekannten Webersozialist Simon Starck geführt wird. Diese Bewegung ist der getreue Abklatsch der Sozialdemokratie; ihre Opposition beschränkt sich auf ein schlecht verfehltes Missvergnügen darüber, nicht auch mit an die Krippe gelassen worden zu sein. Starck, früher Schuster, dann Kohlengräber und nun Reichstagsabgeordneter, war ehedem gegen den Parlamentarismus, weil er nicht geglaubt hatte, je selbst ins Parlament zu kommen. Als er nur einen Schimmer von Hoffnung dazu erblickte, sattelte er plötzlich um und wurde auch wirklich von einem Teil missleiteter und verführter Kohlengräber erwählt.
Eine solche Art von "Opposition" schadete natürlich jenem Geiste echter Opposition, die immer darin bestehen muss, dass sie einen Schritt über den Gegner hinaus bedeutet; eine solche Art von Scheinopposition nützte natürlich nur der Sozialdemokratie. Und je gemeiner die Scheinopposition vorging, sich Geld von bürgerlich-reaktionären Parteien geben liess zum Kampfe wider die Sozialdemokratie — wir nennen nur die Namen Mallek, Schönberger, Kayser usw. —, desto mehr bezog und dehnte die Sozialdemokratie ihre Angriffe auch aus auf die Anarchisten, die selbstredend mit den Gemeinheiten der Vorgenannten nichts zu tun hatten. Doch die schlaue Adlerclique begriff wohl, dass es sich nicht darum handeln durfte, die gemeine Scheinopposition zu bekämpfen, dass dies wohl gelegentlich geschehen, der Kampf aber mit einem tieferen Blick geführt werden müsse, wenn sie sich retten wollte. Die Sozialdemokratie begriff es stets, dass die ehrliche Opposition des Anarchismus ihr tausendfach gefährlicher sei, als jede, wie immer geartete Scheinopposition aus ihren eigenen Reihen, und so richtete sie ihre versteckten und offenen Angriffe viel lieber gegen jenen, als wider diese, identifizierte stets in gemeinster Weise den Anarchismus, den sie fürchtete, mit den Gemeinheiten ihrer eigenen Streberseelen, welche sie nur verachtete. Dass dies ein Vorgehen und eine Bewegung des österreichischen Anarchismus, der, arm an Kräften und gegenwärtig noch ohne eigenes Organ, einer Verteidigung oftmals unfähig, sehr behindert und erschwert, ist klar.
Im Zeichen obiger Ausführungen steht auch die Begründung der "Wahrheit", die folgende Vorgeschichte hatte. Die Gebrüder Tiroler in Floridsdorf, einem vorstädtischen Bezirk Wiens, wurden aus der sozialdemokratischen Partei ausgeschlossen, weil sie Opposition gegen die Korruption des sozialdemokratischen Gemeinderates Schlinger machten. Ob diese Anschuldigung der Korruption berechtigt oder unberechtigt, ist hier ganz nebensächlich. Hauptsache sind die Motive der Tirolerschen Anklagen, und da müssen wir gestehen, dass dieselben höchst eigennütziger, selbstsüchtiger Natur, also selbst Korruption waren! Nach ihrem Ausschluss gründeten sie 1902 die "Wahrheit". Das Blatt brachte nichts als lokale Eigenbrödelei, seine Geldquellen waren christlich-soziale Kassen, und dauernd war es dem edlen Bruderpaar unmöglich die "Wahrheit" zu erhalten. Sie wollten es schon fallen lassen, als sie auf den Gedanken verfielen, sich an die Anarchisten zu wenden mit dem Anliegen, ob dieselben das Blatt ganz unabhängig von ihnen übernehmen wollten, damit dasselbe wenigstens als Oppositionsorgan wider die Sozialdemokratie weiterbestünde. Die Anarchisten gingen darauf ein, trotzdem der Name des Blattes nicht geändert werden durfte, wie es der Genosse Lickier vorgeschlagen hatte.
Es entspann sich nun, von 1904 an, wieder ein gewisses Mass von Tätigkeit unter den Wiener Genossen. Dieselben liessen den Genossen Franz Heindl, tot seit dem Frühjahr 1906, nach Wien kommen, der die Redaktion des neuen Blattes übernahm — nur in dem Sinne, dass es finanziell mit der Gebarung des alten Blattes nichts mehr zu tun hatte. Mit Heindl wurde das Blatt anarchistisch. Dank dem Opfermute verschiedener Genossen hätte sich das Blatt vielleicht auch halten können, aber ein Missgeschick verursachte seinen Untergang. Heindl, ein durchaus ehrlicher, idealistischer Genosse und Boheme, ein fähiger und begabter sozial-revolutionärer Dichter, war kein Propagandist in des Wortes agitatorischem Sinne. Von geschäftlichem oder auch schriftstellerischem Unternehmungsgeist hatte er keine Spur. Er kam 1896 in die Bewegung und wirkte tätig mit, an dem von Franz Prisching herausgegebenen "Groden Michel" in Graz, hier und da am "Neuen Leben" (Berlin) und am Weidnerschen "Armen Teufel" (Berlin) wie auch für den Malaschitzschen "Weckruf" (Zürich). Ein naives Dichtergemüt, wollte er sich an dem durch irreführende Anzeigen im Berliner "Anarchist" zu Pfingsten 1905 nach Wien einberufenen Kongress der "Freisozialisten" Mallek und Starckscher Qualität beteiligen, zog sich aber sofort mit den übrigen Anarchisten zurück, als die Wiener Genossen die Nichtbeteiligung an dem Kongressmanöver proklamierten. Die Redaktion der "Wahrheit" führte er für einen nominellen Lohn. In bitterster Bedrängnis richtete ihm sein Freund, der Instrumentenmacher Briller, ein kleines Instrumentengeschäft ein, um ihm eine unabhängige Existenz zu verschaffen. Doch Heindl taugte nicht zum Verkäufer, noch auch zum Zeilenreisser journalistischer Spekulationsunternehmungen, und so legte er im Frühjahr 1906 durch einen Revolverschuss Hand an sich selbst. Er war ein edler Charakter, und die Wiener Genossen halten sein Andenken in Ehren.
So ging auch die "Wahrheit" ein. Aber ihre 15 Nummern, die sie als anarchistisches Blatt erlebte, hatten eine gewisse Sammlung unter den Genossen herbeigeführt. Unglücklicherweise besass die Bewegung gar keine rhetorischen und schriftstellerischen Talente, und eine öffentliche Propaganda unterblieb deshalb fast vollständig. Manches Mal traten Anarchisten bei Gelegenheit von Streiks auf, aber in der Mehrzahl der Fälle waren sie den gewandten Rednern der Sozialdemokratie, besonders theoretisch, nicht gewachsen.
Im Herbst 1904 kam der Genosse Karl Neumann, ein tüchtiger Schriftsteller unserer böhmischen Bruderbewegung, nach Wien und wollte hier die Revue "Novy Kult" herausgeben. Allein im Ganzen erschienen drei Nummern und wegen mangelhafter Verbreitung musste sie eingestellt werden. Neumann verliess Wien und gründete in Reckowitz die "Anarchistische Revue".
Einen gewissen Aufschwung nahm die Bewegung durch eine grosse Aussperrung der Bauarbeiter, die im Sommer des Jahres 1904 stattfand. Über 60.000 Arbeiter waren aufs Pflaster geworfen. Unsere Genossen beriefen Versammlungen ein, in denen zur Situation referiert wurde. Referent war damals gewöhnlich der Genosse Moritz Lickier. Einen Begriff von der Schwierigkeit der Propaganda in Österreich, in dem politisch fanatisierten Geiste, mit dem die Sozialdemokratie die Arbeiter erfüllte, macht man sich, wenn man weiss, dass der Genosse Lickier in einer Versammlung, der der heutige Reichstagsabgeordnete Skaret beiwohnte, fast gelyncht worden wäre, hätten nicht Genossen es verhindert, weil er erklärte, dass die Sozialdemokratie einen Generalstreik zugunsten der Erkämpfung des Wahlrechtes — "für den Fetzen Wahlrecht" nannte er es sehr richtig — herausrufen sollten, sondern lieber jetzt, zugunsten der Streikenden, durch deren Kampf die Existenz von über 150.000 Menschenleben gefährdet sei. — Aber diese Aussperrung hatte das eine Gute, dass ein Teil der Bauarbeiter sich von der übrigen gedankenlosen Masse losriss und eine revolutionäre Bauarbeitergewerkschaft gründete, die bald über 100 Mitglieder gewann und taktisch anarchistischen Tendenzen huldigte. Im Jahre 1906 kam dann die zweite Aussperrung, die 8 Wochen dauerte, und in welcher die Bauarbeiter sich einen Taglohn von 5 Kronen erkämpften. Nach der Aussperrung wurde dank der Initiative der Bauarbeiter das tschechische Blatt "Delnicke Plameny" in Wien gegründet.
Die Redaktion des Blattes lag in den Händen der Genossen Krampera und Pletka. Von dem Blatt erschienen 11 Nummern, es ging ein im Mai 1907.
Die Schuhmacher Österreichs waren von jeher die Radikalsten der Radikalen der hiesigen Arbeiterbewegung. So bilden sie auch jetzt ein Stück Rückgrat für die revolutionäre Taktik des österreichischen Proletariats. Seit dem Jahre 1895 besteht die Wiener Ortsgruppe unabhängig und auf dem Standpunkt des ausschliesslich wirtschaftlichen Kampfes und des Genossenschaftswesens.
Während der Stille der anarchistischen Bewegung Wiens hat sie mehr als einmal ganz alleine die Würde des revolutionären Gedankens gerettet. Sie führte energische Streikaktionen durch, und mit ihrer Hilfe konnten die paar Genossen die Kommunefeier, 11. Novemberfeier und die Idee des 1. Mai durch all die manchmal sehr trüben Jahre hindurch angemessen begehen.
Von bestehenden und tätigen Gruppen haben wir heute:
In Wien :
1. Gewerkschaft der Schuhmacher
2. Gewerkschaft der Bauarbeiter
3. Diskutierklub "Vorwärts" (tschechisch)
4. Gesangverein "Morgenröte"
5. Bildungsverein "Gleichheit" (tschechisch)
6. Eine freie Föderation sämtlicher Berufsangehörigen
7. Eine tschechische Tischgesellschaft
8. Arbeiterbildungsverein im 10. Bezirk
In der Provinz: Klagenfurt, Graz, Voitschberg (Kärnten), Innsbruck und mehreren anderen kleineren Orten.
Sonst bestehen in ganz Österreich fast überall böhmische und anderssprachige anarchistische Gruppen. Wir wünschen es besonders hervorzuheben: das Brachliegen der Wiener Bewegung darf nicht so sehr auf das Konto der Tatenlosigkeit der Genossen geschrieben werden; der Hauptgrund dafür ist zu finden in dem fast totalen Mangel an geistigen Kräften, die geschult genug gewesen wären, der Sozialdemokratie in Wort und Schrift entgegenzutreten. Tatsache aber ist, dass gerade in den letzten zwei Jahren in Wien fast gar keine Aktivität entfaltet wurde. Eigene Broschüren und Schriften hat die Bewegung unter den deutschsprechenden Anarchisten jedenfalls nicht hervorgebracht.
Desto grösser ist unsere Befriedigung, es konstatieren zu dürfen, dass diesem Übelstande nun vollständig abgeholfen werden soll. Das Signal hierzu gab die Rückkehr verschiedener Genossen nach Wien, die sich im Auslande alles das aneigneten, was notwendig ist für den Aufbau einer gesunden anarchistischen Bewegung: Wissen, Ausdauer und Opfermut! Schon in den letzten Monaten hat sich der Einfluss der frischen Kräfte in der Weise geltend gemacht, dass eine Reorganisation der Bewegungselemente vor sich ging, überall neue Begeisterung aufflammt, wo bislang nur glimmende Asche und Aschenfünkchen gelegen. Im Zusammenhang damit können wir es mit Freuden registrieren, dass schon in der nächsten Zeit ein neues anarchistisches Organ, der "Wohlstand für Alle", erscheinen wird. Es sind frische Muskelkräfte, die nun in die Speichen des Bewegungsrades der deutsch-österreichischen Bewegung eingreifen, und wir glauben, es den Genossen aller Länder mit froher, bestimmter Zuversicht verkündigen zu können, dass, wenn wir das nächste Mal uns in einem internationalen Kongress wieder vereinigt zusammenfinden, Wien und mit ihm andere deutsch-österreichische Städte mit zu geistigen Hochburgen des internationalen Anarchismus gehören werden.
Johann Poddany, Vertrauensmann der böhmisch-anarchistischen Föderation.
Ferdinand Herzog, Sekretär der kommunistischanarchistischen Gruppe.
Moritz Lickier, Wenzel Welan, Josef Lehart, Havel Linz, Heraasgeber der periodischen Zeitschrift "Delnicke Plameny"
Franz Zelinger, Hajek, Johann Tesar für Verein "Rovnod"
Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 2. Jahrgang, Nr. 4, Oktober 1907. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat, Oesterreich zu Österreich usw.) von www.anarchismus.at.