Helmut Rüdiger - Proletarischer Klassenkampf und sozialistischer Aufbau
Die Grundlage der zentralistischen Arbeiterbewegung marxistischer Färbung ist in allen ihren Lagern die Überzeugung, daß eine objektive Entwicklung in Richtung auf den Sozialismus im Produktionsfundament der heutigen Gesellschaftsformen vorhanden sei. Wenngleich auch immer wieder die aktiveren marxistischen Elemente den vereinigten Kräften der menschlichen Individuen die Aufgabe zusprechen, handelnd die Widersprüche zwischen den "vorausentwickelten" Produktivkräften und den "zurückgebliebenen" gesellschaftlichen Verhältnissen aufzuheben, so bleibt doch im Kern die Tatsache bestehen, daß durch die marxistische Theorie die Menschen gerade auf dem eigentlichen Hauptgebiet der sozialistischen Verwirklichung, dem ökonomischen, von jeder organisatorischen und moralischen Verantwortung freigesprochen werden. Das war und ist das Verhängnis der revolutionären Bewegung. Das hat dazu geführt, daß die proletarische Klasse sich wohl psychologisch recht reichlich in das Bewußtsein hineinsteigerte, von der geschichtlichen Entwicklung vorgesehene Trägerin der gesellschaftlichen Umwälzung zu sein, ohne daß aber auf der anderen Seite auch nur die geringste Ahnung von den wirtschaftlichen und kulturellen Notwendigkeiten der sozialen Umwälzung entstanden wäre. Was blieb, war die Berauschung an der proletarischen Klassenmission und das politische Schlagwort. Die proletarische Bewegung versandete in dogmatischer Blasiertheit und völligem Negativismus. Und wo auch immer die oder jene Führergruppe ganz oder teilweise in den Besitz der politischen Macht geriet, stellte sich noch stets heraus, daß jede Voraussetzung zur sofortigen oder allmählichen Herbeiführung der sozialistischen Produktion und Güterverteilung vollkommen fehlte.
Auf der anarchistischen Seite betonte man von Anfang an die Wichtigkeit der geistigen Erfassung des Sozialismus und das Willensmoment im Kampfe um die Befreiung der Arbeit. Wertvolle ethische Erkenntnisse wurden wissenschaftlich zutage gefördert, gepflegt und verbreitet, organisatorische Gedanken ausgesprochen und teilweise verwirklicht, die den freiheitlichen Erfordernissen des herrschaftslosen Sozialismus gerecht zu werden versuchten. Hier ist viel gute Arbeit geleistet worden, die vor allen Dingen in der modernen anarchosyndikalistischen Bewegung einen wenigstens programmatisch relativ geläuterten Ausdruck fand. Ich möchte aber sagen, daß diese Arbeit immer noch nur als Vorarbeit gelten muß, während die Hauptaufgaben der antiautoritären Bewegung noch heute ihrer wirklichen Bewältigung harren. Erst wenn sie gelöst sind, kann die Bewegung reale Schlagkraft in der Agitation und im Kampfe um den Sozialismus erlangen. Bis dahin läuft die in Wirklichkeit durchaus noch nicht klassenbewußte und noch weniger sozialistische Masse dem bürgerlichen Trugbild des parteipolitischen Kampfes und der Machteroberung durch die zentralistische Organisation nach.
Der freiheitliche Sozialismus muß indessen von marxistischer Seite manchen Spott dafür einstecken, daß er sich im allgemeinen noch heute damit begnügt, den bestehenden Zuständen rein theoretisch sein ideales Wunschbild der Organisation und des freien Sozialismus entgegenzusetzen, ohne an die einmal gegebenen, wenn auch unerwünschten und abgelehnten Zustände praktisch anzuknüpfen. Es scheint mir in der Tat notwendig zu sagen, daß die Aufgabe der freiheitlichen Bewegung allein mit der schroffen propagandistischen Gegenüberstellung der staatlich-ausbeuterischen Wirklichkeit und der freiheitlich-sozialistischen Zukunft nicht erschöpft sein kann. Die Marxisten beschränken sich auf die Analyse der bestehenden Verhältnisse und werden selig dabei in der vermeintlich sicheren Erwartung des Sozialismus. Wir aber versäumen eine wirklich gründliche Erfassung der vorhandenen Zustände in ihrer Gewordenheit und ihrem Sein, die uns allein als Grundlage für praktische Arbeit im Sinne der Vorbereitung des sozialistischen Aufbaus dienen könnte. Von solchen Erkenntnissen ausgehend, ist in unserer Bewegung in jüngster Zeit erneut immer wieder die Forderung nach "konstruktiver" sozialistischer Gegenwarts- und Zukunftsarbeit erhoben worden.
Es ist der Einwand gemacht worden, daß uns zu solcher Arbeit die Menschen fehlten, oder aber, daß sie völlig überflüssig sei gerade aus ökonomischen Gründen, die mit einem gewissen Recht angeführt wurden und später noch Beachtung finden sollen. Ganz abwegig aber erscheint mir der Gedanke, daß wir uns vorerst nur auf Heranbildung sozialistisch denkender Menschen beschränken sollen und daß der Sozialismus dann "da" sei, wenn wir auf rein geistigem Wege ein antikapitalistisch denkendes Proletariat durch dauernde Kritik am Kapitalismus und Aussprechen unserer Grundsätze erzeugt hätten. Hier scheint mir eine verhängnisvolle Einseitigkeit vorzuliegen. So gewiß wir sozialistische Menschen brauchen, so sicher ist es, daß solche nur an praktischer Arbeit wachsen können. Jene rein geistige Auffassung unserer Aufgabe bleibt praktisch genau so im Negativen stecken wie der lediglich auf die politische Umwälzung gerichtete Marxismus. Daß wir im Rahmen der gegebenen Zustände das "Menschenmögliche" prinzipiell bereits leisteten, das anzunehmen wäre vermessen. Wir haben noch unabsehbare Möglichkeiten und die dringende Pflicht, an sozialistischer Vorbereitung schon jetzt intensiv zu arbeiten, ganz anders als es heute der Fall ist. Das Verständnis dieser Notwendigkeit konstruktiver Arbeit im weitesten Sinne des Wortes will ich von verschiedenen Seiten weiter zu fördern versuchen.
Im folgenden mag einmal ausgegangen werden von einer interessanten Äußerung, die vor einiger Zeit auf bürgerlicher Seite fiel. Unsere Forderung nach Übernahme der Wirtschaft durch die wirklichen Produzenten und die Konsumenten unter Ausschaltung aller unproduktiven Schmarotzer und der vernunftlosen Weltmarktkonkurrenz einer von privaten Unternehmern und ihrem Gewinnstreben geleiteten Wirtschaft nimmt das Proletariat als wirtschaftlichen Faktor und bedingt direkte Aktion unter Verzicht auf alle sich dazwischendrängenden "politischen" Vermittler. Die Unfruchtbarkeit des staatspolitischen Marxismus drängt sich auch schon radikalen bürgerlichen Kreisen auf, die mit der kämpfenden Arbeiterschaft gewisse ethische und auch praktische Ziele - z.B. das der Abschaffung des Krieges gemeinsam haben. Einer der beim deutschen Bürgertum bestgehaßten politisch tätigen Männer, Friedrich Wilhelm Förster, schrieb in einer der letzten Nummern der "Menschheit" von diesem Jahre folgende Worte:
"... Es war bisher ein Grundfehler der ganzen Selbsthilfe der organisierten Arbeiterschaft, trotz allem großen Reden von Klassenkampf und Machtergreifung, der Kraftmessung gerade dort aus dem Wege zu gehen, wo sie allein erfolgreich geleistet werden kann, nämlich innerhalb des Arbeitsverhältnisses selber. Immer wieder verließ man sich auf den Staat oder die Partei, um von außen her in die Arbeitsordnung einzugreifen, ohne zu bedenken, daß die Arbeiterschaft im Staate nur genau so viel reale Macht hat, als sie in der Fabrik erobert, und daß die Abwehr der Wirtschaftsträger gegen die Eingriffe vom grünen Tisch her durchaus ihre Berechtigung haben. Der Arbeiter gehört zuerst zur Wirtschaft und dann erst zum Staat, und er schädigt nur sich selbst, wenn er nicht dazu hilft, daß die Wirtschaft aus sich selbst heraus die gesunde Lösung aller Schwierigkeiten des Arbeitsverhältnisses findet. ... Ist nicht das Schicksal des russischen Bolschewismus die denkbar eindrucksvollste Lehre, die der ganzen Arbeiterwelt gleichsam "al fresco", bezahlt durch ungeheure Leiden eines großen Volkes, jenen Grundirrtum der Arbeitertaktik vorführt, der darin lag, daß man den Staat erobern wollte, statt die Wirtschaft zu erobern?
Die kommunistischen Arbeiter in Italien, die die Fabriken besetzten, hatten doch wenigstens den richtigen Instinkt, daß eben dort und nicht im Parlament das Schicksal der Massen entschieden wird. Ihr Irrtum bestand nur darin, auch das gewaltige Motorsystem der modernen Industrie mit deren Verflechtung in den Weltmarkt und seinen unbarmherzigen Gesetzen nach dem Gleichnis politisch-militärischer Machtergreifung erobern zu wollen, während in Wirklichkeit die Wirtschaft gar nicht vom Machtgedanken aus zu beeinflussen ist. Ihre geheimsten Gesetze erschließen sich nur dem, der das Gesetz universaler menschlicher Gegenseitigkeit und der föderativen Zusammenordnung aller Funktionen in allen seinen praktischen Konsequenzen zu erfassen weiß, und der weiß, daß das Element "Arbeit" seine Rechte im ganzen jenes Riesensystems, jener Hierarchie der Werte und Funktionen, nur in dem Maße erobert, als seine Wortführer und Machtkandidaten ("Machtkandidat" in diesem Zusammenhang kann doch wohl nur die neue Arbeitsorganisation selbst sein, die keine zentralistische Staatsautorität mehr über sich braucht! H. R.) ihr reifes Verständnis für alle die besonderen Lebensgesetze der Wirtschaft beweisen. Oder was nützt es ihnen, unablässig einen Kapitalismus zu schmähen, dem doch nur infolge ihres eigenen Versagens die richtige Einordnung des Elementes "Arbeit" in das Ganze der Preisregelung, der Güterverteilung, der Fabrikordnung noch nicht gelungen ist. Die Arbeiterschaft muß noch lernen, nach Jahrzehnten von abstrakten und von außen her redenden Deklamationen gegen den Kapitalismus, diesen Kapitalismus (besser: Die Wirtschaft, das Arbeitsleben. H. R.) als ihre Welt, ihr Berufsfeld, ihren Baugrund zu betrachten, aus dem sie selber organisch ihre Entwicklungen emportreiben muß, die eine Ausbeutung der Mitarbeiter ebenso verhindern, wie die Ausbeutung der Kundschaft und die Schädigung der ganzen menschlichen Gesellschaft.
Dazu braucht es Macht statt Schimpfworte, Macht in der Fabrik, statt Berauschung durch riesige Versammlungen voll "flammender Proteste"; solche Macht innerhalb der Wirtschaft aber ist das Gegenteil von Diktatur, von allem was bisher als Machtpolitik praktiziert wurde, sie ist nichts als eine hochorganisierte Zusammenfassung der Träger einer bestimmten Funktion, die ihre Ansicht und Erfahrung von den Bedingungen ihrer Leistung nicht mehr ausschalten lassen..."
Förster ist nicht Sozialist und nicht Anarchist. Aber er umreißt einen wichtigen Ausgangspunkt, der mit dem unseren mindestens verwandt ist. Förster und seine Freunde mißtrauen allerdings wie wir jedem Zentralismus, kommen aber, von den oben zitierten Gedankengängen ausgehend, zu der Meinung, daß ein "wirtschaftliches Locarno" zwischen Kapital und Arbeit in der Wirtschaft selber gefunden werden müsse und könne. Wir können diese Formulierung nicht annehmen und diesen Glauben nicht teilen. Wir wissen, daß eine Gemeinwirtschaft nur dann möglich ist, wenn das Monopol des Privatbesitzes an Produktionsmitteln der gesellschaftlichen Verfügung über sie Platz gemacht und die direkt verbundene, organisierte Produzenten- und Verbraucherschaft die volle Verantwortung für die Wirtschaft allein übernommen hat. Hier aber muß und kann konstruktive Propaganda und ebensolches Tun auch gerade im Anschluß an die Försterschen Gedankengänge anknüpfen: Die Verantwortung für die Wirtschaft muß von den produktiv Tätigen fortschreitend erobert werden.
So fasse ich es auch auf, wenn der diesjährige Maiaufruf der IAA neben der Forderung der Arbeitszeitverkürzung und des Einheitslohnes noch die der Produktionskontrolle erhebt. Es ist doch schließlich menschenunmöglich, daß das Proletariat Jahre oder Jahrzehnte lang nur als abhängige Lohnarbeiterschaft kapitalistische Forderungen an die heutigen Unternehmer stellt, um dann auf einmal im Moment der Revolution das psychologische Wunder zu vollbringen, den ganzen Wirtschaftsprozeß verantwortlich nach höheren Prinzipien zu reorganisieren.
Diese Verantwortung kann nur Schritt für Schritt innerlich und äußerlich praktisch erobert werden durch immer tieferes Eindringen der revolutionären Arbeiter in den Wirtschaftsorganismus, was eine Beeinflussung der Ökonomie nach den Erfordernissen der Umgestaltung zum Sozialismus zur Folge haben muß. Tatsächlich hat Förster recht, wenn er sagt, daß die Eroberung der wirtschaftlichen Macht nicht ein so mechanischer, äußerer Vorgang ist wie die Eroberung der politischen Macht. Die soziale Revolution muß freilich auch politische Macht ausüben, nämlich gegen die bisher herrschende und besitzende Klasse, eine Machtausübung, die nur eine Funktion des Rätesystems sein kann, wenn nicht eine neue, stets sozialreaktionäre Staatsmacht entstehen soll.
Hier aber handelt es sich nur um die organisatorisch taktischen Mittel der Revolution, ihr Zweck ist die Schaffung der neuen wirtschaftlichen Wirklichkeit des Sozialismus. Zu dieser Neuschöpfung müssen die Voraussetzungen geschaffen werden. Ich muß hier noch einmal die vortrefflichen Worte hersetzen, die Max Nettlau in Nr. 5 der "Internationale" dieses Jahrganges auf Seite 22 geschrieben hat und die hoffentlich recht tief in das geistige Bewußtsein und Gewissen der Bewegung eindringen werden:
"Der Sozialismus, wie ihn die freiheitlichen Richtungen auffassen, sollte eben kein Eruptionsprodukt einer Katastrophe sein, sondern ein allen Katastrophen zum Trotz sich in richtiger Proportion und lebensfähig aufbauendes organisches Produkt, so wie sich alle Lebewesen, die stärksten und die schwächsten, auf solche Weise - den äußeren Schwierigkeiten innere widerstandskräftige Solidarität entgegensetzend - ihre Existenz und Fortdauer verschafft haben. Ob unsere intellektuelle Tätigkeit die Entstehung dieser unseren Wünschen nahekommenden sozialistischen Organismen entscheidend fördern kann, mag unbekannt sein; jedenfalls aber besitzen wir geistige Fähigkeiten, und es ist wohl unsere Sache, sie in diesem Sinne zu gebrauchen und Entwicklungen, deren Wichtigkeit wir erkennen, soviel an uns liegt, möglichst wenig dem Zufall zu überlassen. Die Zeit solcher geistigen Arbeit zur Erneuerung des Sozialismus scheint mir also gekommen zu sein."
Solche Arbeit, wie sie hier gefordert wird, muß in vielerlei Sinn geleistet werden. Zunächst einmal schon durch Hineintragung des Gedankens der Verantwortlichkeit des Arbeiters für sein Produkt in die Massen. Wir können und dürfen den Arbeiter nicht nur als Lohnsklaven nehmen, sondern müssen in ihm die Überzeugung wecken, daß er der Vorbereiter des Sozialismus zu sein hat, wenn das hohe Ziel überhaupt jemals erreicht werden soll.
Von Ernst Rieger wurde in dieser Zeitschrift der sehr begrüßenswerte Ruf nach mehr Wirklichkeitssinn erhoben. Wenn aber von diesem Standpunkt aus z.B. die syndikalistische Parole der gewerkschaftlich organisierten Verweigerung der Kriegsarbeit als wertlos für den Moment erklärt und in den Hintergrund geschoben werden sollte, so hielte ich das für grundfalsch. Wir erheben ja diese Forderung nicht allein, wir propagieren auch die radikale Arbeitszeitverkürzung als einziges Mittel gegen die verheerende Arbeitslosigkeit; meine feste Überzeugung ist es aber, daß ein künftiger Krieg nur und nur in dem Falle verhindert werden kann, daß dem Kapitalismus die Produktion für ihn unmöglich gemacht wird. Das aber bedingt bei dem heutigen Stande der Kriegstechnik und Kriegschemie ein so gründliches Studium und ein so tiefes Erfassen der Produktion, eine so klare, energische und systematische agitatorische Aufrüttelung der antimilitaristischen Massengefühle, daß für diese Propaganda sowohl an klärend-ökonomischer wie auch an agitationspsychologisch (!) taktischer Vorarbeit gar nicht genug geleistet werden kann. Aktionen in diesem Sinne, die wir in den Massen auszulösen verstehen, würden konstruktiv sein, d.h. in die Produktionsabsichten der herrschenden Klasse im sozialrevolutionären Sinne verändernd eingreifen.
Ich habe dieses ganze Gebiet in einem früheren Aufsatz im Anschluß an bekannte Gedankengänge Max Nettlaus umrissen und muß hier noch einmal unterstreichen, daß diese Vorarbeit und Agitation spezialisiert auf allen Gebieten der Produktion erfolgen muß. Mit ewigen allgemein theoretischen Anregungen kommen wir ebensowenig weiter wie mit blassen Zukunftsträumen. Will die Bewegung mit ihren ureigensten Zielen der sozialistischen Verwirklichung an die Massen herantreten, so muß sie jedenfalls alles Sektenmäßige, Hinterwäldlerische und Inzuchtmäßige ablegen und sich ganz ihrer Aufgabe und den im Irrtum befangenen Massen zuwenden. Die ganze Propaganda muß, von der Zeitung bis zur Versammlungstätigkeit und der Agitation von Mund zu Mund, modernisiert, massenwirksam gemacht, und das innere Organisationsleben muß regsamer gestaltet und gehoben werden. Nur so wird die Organisation zu einem tauglichen Instrument der Propaganda für ihre Ideen.
Dann aber wird eine mächtige antiautoritäre Bewegung imstande sein, die Massen zu einem immer weiter vorschreitenden direkten Eingreifen in die gesamte Produktion selber zu führen. Es versteht sich, daß an diese Aufgaben nur herangegangen werden kann bei gleichzeitiger Beeinflussung der gewerkschaftlichen Tageskämpfe im syndikalistischen Sinne. Aber nur so, meine ich, kann der Beginn der Eroberung der Wirtschaft aussehen. Nimmt man hierzu noch die Forderung konstruktiver Planung für die soziale Revolution selbst, so wird wohl klar, welche ungeheure Aufgabe noch vor allem unseren Industrieföderationen obliegt. Kritik wird genug geübt, schlagwortartige, ewig wiederholte Wendungen schwirren in Mengen herum; um so notwendiger ist es, die Probleme des sozialistischen Aufbaues von allen Seiten organisch zu erfassen und zu diskutieren. Wird diese Arbeit von den programmatisch dazu bestimmten Organen der Bewegung nicht geleistet, so sollten sich überall, wo das geistige Bedürfnis dazu wach geworden ist, freie Arbeitsgemeinschaften bilden, die für Anregung und Hilfe sorgen. Nach den Ausführungen dieses Artikels bleiben selbstverständlich noch eine Menge Fragen offen, vieles ist ungenügend umschrieben, fordert in dieser Form zum Widerspruch heraus und bedarf dringend der Ergänzung. Diese soll in einem zweiten Aufsatz bei Behandlung einiger Spezialfragen des Themas versucht werden.
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Die vollständige und sofortige Abschaffung der Gerichtshöfe und Tribunale, ohne Übergangsform und ohne Ersatz ist eine der ersten Notwendigkeiten der Revolution. Welche Zeit auch immer man sich für die anderen Reformen nehmen möge, wenn auch die soziale Umwälzung sich beispielsweise nur in fünfundzwanzig Jahren und die Organisierung der wirtschaftlichen Kräfte in einem halben Jahrhundert durchsetzt: die Beseitigung der Gerichtsbehörden darf keinen Aufschub erdulden.
J. P. Proudhon
Originaltext: Helmut Rüdiger - Proletarischer Klassenkampf und sozialistischer Aufbau. Aus: Helmut Rüdiger, Aufsätze 1. Texte zur Theorie und Praxis des Anarchismus und Syndikalismus, Band 12. Quelle: Die Internationale, 11. Jg., Nr.7, Mai 1929. Digitalisiert von www.anarchismus.at (bearbeitet - UE zu Ü usw.)