Bart de Ligt - Der Anarchismus und die Soziale Revolution. Betrachtungen zum internationalen Anarchistenkongress (Berlin 1921)

"Genosse B. de Ligt, der zu den klarsten und aktivsten Köpfen der anarchistischen Bewegung gezählt zu werden verdient, hat als Delegierter von Holland auf dem Internationalen Kongreß der Anarchisten mitgearbeitet. Trotz der fatalen Raumnot (...) gebe ich seinen Bericht ungekürzt wider, denn es ist unbedingt nötig, daß wir Rätekoimunisten (...) ein eindeutiges Bild erhalten von den Ideenkämpfen, Meinungen und Prinzipien der heutigen Anarchisten. Genosse de Ligt (...) ist nicht unkritisch wie viele seiner Kameraden. Und wir, die ein Kartell der revolutionären Klasse anstreben, können daraus Schwächen und Vorzüge der Gruppen erkennen, mit denen wir, unter Wahrung unserer Prinzipien, solidarisch zusammenstehen wollen gegen die vereinten Feinde." Franz Pfemfert

I. Marxismus und Anarchismus

Nicht nur die Sozialdemokratie und der Bolschewismus, sondern auch der Anarchismus durchlebt eine Krise. Er hat immer schon schwer zu kämpfen gehabt; gegenüber dem schnell heranwachsenden Strom des offiziellen Sozialismus und Kommunismus erschien er schließlich fast bedeutungslos. Am Ende frohlockten nicht wenige im Glauben, daß der Anarchismus bald ganz von der Erde verschwunden sein würde. Dennoch ist er immer und überall da und hat sich der Sozialdemokratie und dem Bolschewismus gegenüber immerhin behauptet.

Der Anarchismus hat während der letzten Jahrzehnte namentlich in dieser Behauptung recht bekommen, daß die äußere, die soziale Revolution nicht notwendig durch technisch-mechanische Entwicklung und politische Veränderung verursacht, sondern auf Veranlassung von politischen und ökonomischen Umständen von innen heraus geboren und geschaffen werde.

Am Ende sind Umstände tatsächlich Umstände: sie stehen um einen herum, aber der Mensch als menschliche Persönlichkeit steht in deren Mitte und ringt fortwährend mit ihnen; er sucht sie zu beherrschen und sie sich dienstbar zu machen, und behauptet sich in diesem Kampfe der Natur gegenüber als Geist.

Man sollte wissen, daß auch Marx ein Feind von industriellem Fatalismus und politisch mechanischer Auffassung der Geschichte war. Leider aber hat die übergrosse Zahl der "Marxisten" dies alles bald vergessen: die offizielle Sozialdemokratie hat in ihrer Geschichtsauffassung den technisch-ökonomisch-politischen Prozeß allzusehr als alleinige Ursache der Entfaltung des menschlichen Geistes betrachtet. In ihrer Kampfesweise hat sie ihre Aufmerksamkeit fast nur dem Politischen zugewandt und schließlich über Demokratie den Sozialismus und über die parlamentarischen Streitigkeiten den ökonomischen Kampf vergessen.

Sie hat den Staat - ein bürgerliches Machtmittel - durch das Parlament - ein bürgerliches Kampfmittel - für sozialistische Zwecke erobern wollen. Sie hat ein Parteiwesen geschaffen, dem alle Fehler des heutigen Zusammenlebens anhaften: Führer, Bürokratie usw., kurzum ein Parteiwesen, das nichts anderes als eine Art von Hierarchie über gläubige Massen ist.

Sie hat durch ihr Vertrauen auf die technisch-ökonomische Entwicklung als die wesentlichste Ursache der gesellschaftlichen Umwälzung ihre revolutionäre Tatkraft völlig verloren; ist opportunistisch, reformistisch geworden.

Die moderne Sozialdemokratie hat sich dem Kapitalismus so angepaßt, daß sie schon seit Jahren selbst ein wesentlicher Bestandteil des kapitalistischen Systems geworden ist, gerade wie Staat, Kirche, Schule und Parlament. Der Kapitalismus benötigt jetzt international diese Führer und Verführten und deren naive Mentalität und kleinbürgerlichen Ehrgeiz für seine eigenen großimperialistischen Zwecke.

Dennoch ist und bleibt es für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit von eminenter Bedeutung, daß die Sozialdemokraten Jahrzehnte hindurch die Aufmerksamkeit auf die objektiven und mechanischen Faktoren der Gesellschaft gelenkt haben. Ohne die technisch-ökonomischen Voraussetzungen des Industrialismus ist kein Weltsozialismus oder -Kommunismus denkbar.

Demgegenüber hat der Anarchismus namentlich die Bedeutung der subjektiven Faktoren hervorgehoben. Er läßt uns das klassische Wort verstehen: "Die Geschichte des Geistes ist seine Tat." Auch der technisch-ökonomische Prozeß selbst ist eine Schöpfung des menschlichen Geistes, wenn auch nur eine notwendige Schöpfung, aus der Wechselwirkung zwischen Natur und Geist geboren. Aber noch fast gänzlich eine unbewußte, blinde, unbeherrschte, chaotische Schöpfung. Darum hat Marx recht, wenn er sagt, daß die Geschichte im Grunde noch nicht angefangen habe: wir sind unserer Umstände noch nicht Herr. Wir werden hauptsächlich noch von den gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen wir leben, beherrscht.

Auch Tolstoi und Bakunin haben auf ihre Weise von dieser Tatsache geredet.

Schelling hat zutreffend den Sinn der Geschichte darin zusammengefaßt, daß die Welt sich vom Objekt zum Subjekt - von Sache zur Persönlichkeit - entwickelt. Im Laufe der Geschichte wird deshalb das Subjekt zu einer immer größeren Bedeutung für die allgemeine Lebensentwicklung werden. Indem sich der Geschichtsprozeß auf eine Welt von vernünftig zusammenlebenden Persönlichkeiten richtet, welche den Stoffwechsel zwischen sich und der Natur fortwährend auf vernünftigere Weise ordnen und auf der Grundlage des von ihnen beherrschten technisch-ökonomischen Prozesses wohl bewußt einen Kulturkosmos bauen, kommt es auf den Träger dieses Prozesses, die menschliche Persönlichkeit mehr und mehr an. Hierzu ist nicht nur eine sich immer erneuernde Einsicht, sondern auch eine sich stets vertiefende Gesinnung, ein sich fortwährend stählendes Wollen; hierzu ist eine immer unerschöpfliche Tatkraft notwendig.

Darum beruft sich der Anarchismus stets auf die tiefste Spontaneität des Menschen und fördert ohne Rast sein Vermögen zur Selbstentwicklung. Auch hält der Anarchismus immer das Endziel aller revolutionären Kämpfe im Auge, und sein Hauptzweck ist immer kulturell.

Aber auch der Anarchismus, besonders hier im Westen, hat sehr bedenkliche Seiten; man hat z.B. Individuum und Persönlichkeit, Instinkt und Intuition, Vernunft und Unvernunft, Übermensch und Untertier miteinander verquickt. Man hat Willkür und Freiheit oft chaotisch durcheinandergebracht und vergessen, daß jedes Individuum noch nicht schon ein Subjekt, jeder Mensch noch nicht eine Persönlichkeit ist. Es gibt einen großen Prozentsatz von Bourgeoisindividualismus, der sich Anarchismus oder selbst kommunistischer Anarchismus nennt.

(Nietzsches individualistisches Ideal des Übermenschen ist formal und leer, aber er selbst war eine reiche Persönlichkeit. Leider gibt es Menschen, die sich Anarchisten nennen und deren Zukunftsideal vielleicht inhaltsreich und sinnvoll sein würde, wenn sie selbst nicht inhaltlos von Charakter wären.)

Während Marx, der Positivist, mit dem Menschen, wie er ist, rechnet und hinsichtlich des revolutionären Kampfes vor allem die niedrigen Eigenschaften des Menschen in Betracht zieht, ist die psychologische Auffassung vieler Anarchisten, z.B. Kropotkins, Elisée Reclus, einseitig optimistisch und oberflächlich idealistisch. Dennoch haben ihre Ideale und Visionen in mancher Hinsicht inspirierend auf die Masse eingewirkt und sind daraufhin Tausende und Abertausende im Kampf für die Freiheit zur Tat geschritten.

Aber da sie fortgesetzt ihr Augenmerk auf die direkte Aktion richteten und sich speziell auf kulturelle Fragen einstellten, und da sie vorwiegend die Sozialdemokratie und die Bourgeoisie negativ bekämpften, sind sie in bezug auf die genaue Kenntnis der politischen und ökonomischen Verhältnisse zurückgeblieben. Auch waren sie oft außerstande, ihre revolutionären Gedanken in Übereinstimmung zu bringen mit den naturwissenschaftlichen, biologischen, pädagogischen, psychologischen und philosophischen Auffassungen der Neuzeit, wie es beispielsweise Bakunin zu seiner Zeit versucht hat.

Vieles, was jetzt als anarchistische Weisheit Geltung hat, ist nichts anderes als ein aussterbendes Echo der Bourgeoisiewissenschaft der Mitte des vorigen Jahrhunderts, von der man zufälligerweise weiß, weil Bakunin und andere sie früher als wissenschaftliche Kampfmittel angewendet haben und welche erst dadurch in die anarchistische Tradition aufgenommen wurden.

In dieser Hinsicht haben die Neo-Marxisten ein besseres Beispiel gegeben. Rosa Luxemburg, Lenin, Trotzki, Henriette Roland Holst, Hermann Gorter, Anton Pannekoek haben, wenigstens auf einigen Gebieten, die neuen wissenschaftlichen und kulturellen Ergebnisse der Bourgeoisie sich dienstbar zu machen versucht und waren lange schon vor dem Weltkrieg zu einer genauen Analyse des sich entwickelnden Imperialismus gekommen. Auch hatten sie sich fortwährend von der aktuellen Geschichte belehren lassen. Sie durchschauten die Demokratie und propagierten nicht nur neue Kenntnisse, sondern weckten auch eine neue Gesinnung. Leider konnten sie nicht sich vom Jakobinismus, vom bürgerlichen Glauben an den Staat und an die politische Diktatur befreien.

Dennoch haben auch sie die Notwendigkeit der direkten Aktion anerkannt, und während des Weltkrieges hielten sie international tapfer dem Imperialismus stand. Inzwischen kämpften der naive Kropotkin und viele bekannte französische Anarchisten, moralisch oder mit der Waffe, zur Verteidigung der Demokratie und der bürgerlichen Freiheit gegen die "militaristischen Deutschen", aber zugleich für den englischen, französischen und russischen (...) Imperialismus.

Wer jetzt den Imperialismus bekämpfen und seinen Feind durchschauen will, muß sich vertiefen in bürgerliche, sozialdemokratische und kommunistische Schriften. Eine anarchistische politische Ökonomie, die auf der Höhe der Zeit steht, gibt es nicht. Erst in der jüngsten Zeit werden einige Versuche, die politisch-ökonomischen Verhältnisse zu durchschauen und wissenschaftlich zu beherrschen, gemacht. Aber niemand kann ableugnen, daß wir in dieser Hinsicht ins Hintertreffen geraten sind.

Meines Erachtens hat sich der Marxismus durch den Anarchismus und der Anarchismus durch den Marxismus zu revidieren. Nicht so, wie es z.B. ein Teil der holländischen Anarchisten gemacht hat, der jetzt etwa den Standpunkt der KAP (Kommunistische Arbeiterpartei) teilt und unter der Losung "Proletarische Diktatur" fast für bürgerliche Jakobinermethoden kämpft, sondern so wie es schon Bakunin tat, daß wir die wesentliche Bedeutung der historisch materialistischen Methode zur Analysierung und Synthetisierung der Geschichte anerkennen, und daß wir nicht von einem abstrakt-idealistischen oder phantastisch-individualistischen Standpunkt ausgehen, sondern die äußeren und inneren Tatsachen immer in Betracht ziehen und auswerten.

II. Der Anarchismus seit 1914

Sowohl die Kraft wie die Schwäche der anarchistischen Bewegung haben sich seit 1914 sehr deutlich gezeigt. Namentlich dort, wo sich der Anarchismus mit dem Syndikalismus vereinigt hatte und mehr oder weniger tief in der Arbeiterbewegung verwurzelt war, in Frankreich, Italien und Spanien, auch in Holland entstand eine starke, spontane Opposition gegen den Weltkrieg.

Nicht alle großen Vertreter des Anarchismus fielen ab. In Italien hielt Malatesta stand, in Frankreich Sebastian Faure, in Holland Domela Nieuwenhuis. Am klarsten offenbarten sich der Geist des Widerstandes gegen den Kapitalismus und Militarismus, der Mut zum Angriff gegen den Feind, und der Wille, die Klassenherrschaft zu brechen, seit 1917 bei den Anarchisten in Rußland, Sibirien, Italien und Spanien.

Tapfer kämpften auch unsere Genossen in den Vereinigten Staaten, in Mexiko, Brasilien und Ungarn gegen den weißen Terror, überall standen und stehen beim Einsetzen der revolutionären Kämpfe Anarchisten zielbewußt an der Spitze. Schon fängt es an, in das allgemeine Bewußtsein einzudringen, wieviel die russische Umwälzung den Anarchisten Petersburgs und Moskaus, in der Ukraine und in Sibirien verdankt. In dem Maße, wie die Zukunft die geschichtlichen Tatsachen enthüllt, wird sich zeigen, daß nicht zum wenigsten durch die tapfere, standhafte Haltung der Anarchisten das zaristische Regime gebrochen und Angriff auf Angriff des internationalen Kapitalismus abgeschlagen wurde. Groß - so versichern uns die Augenzeugen - waren die Spontaneität und Opferwilligkeit vieler Zehntausender von Genossen.
 
Wie heroisch sich auch die Anarchisten in der destruktiven Arbeit der Revolution zeigten, bei der konstruktiven Arbeit, beim revolutionären Aufbau haben sie versagt. Keine von den vielen Strömungen des Anarchismus war imstande, sich als schöpferische revolutionäre Macht Bahn zu brechen. Die Führung der Revolution kam in die Hände der Bolschewisten, die durch bürgerliche Diktaturmethoden schließlich auch nur eine bürgerliche Umwälzung zuwege brachten, wenn auch nicht ohne neue proletarisch-revolutionäre Tendenzen.

Weil die Bolschewisten durch ihre Fehler genötigt wurden, eine neue autoritäre Gesellschaftsordnung zu stiften, haben sie die Gespaltenheit und die politisch-ökonomische Unvorbereitetheit der Anarchisten ausgenutzt, um die antiautoritäre revolutionäre Bewegung soviel wie möglich mit Gewalt zu unterdrücken.

Das Gute ist, daß die Anarchisten überall anfangen, eigene Schwächen und Fehler zu erkennen und öffentlich zu erörtern. Dies beweist die unzerstörbare Lebenskraft des Anarchismus. In Italien versuchte man während der revolutionären Aktionen neue Kampfmethoden; in Österreich schrieb soeben Großmann ein Buch: "Die Neuschöpfung der Gesellschaft durch den kommunistischen Anarchismus". In Frankreich haben die Anarchisten in Lyon einen Landeskongreß abgehalten, auf dem sie ihre Auffassungen in mancher Hinsicht revidierten. Dieser Kongreß offenbarte ein Wollen nach Zusammenfassung und Vereinheitlichung aller Strömungen. Er gehört zu den schönsten Anarchistenkongressen, die jemals abgehalten worden sind. Man kam zu einer freien Organisation, in der es den verschiedenen Gruppen überlassen wurde, sich nach eigener Auffassung loser oder straffer zusammenzuschließen. Alle organisatorischen Maßnahmen wurden so gefaßt, daß die Gefahren des Bürokratismus, des Zentralismus, des Beamten- und Führertums auf ein äußerstes Minimum reduziert wurden. Mauricius forderte die französischen Anarchisten zur Ausarbeitung eines agrarischen und industriellen Programms auf, damit künftige revolutionäre Krisen die Anarchisten nicht ebenso unvorbereitet anträfen, wie die russische Revolution sie fand. In einer wichtigen Resolution betonte man unter anderem die Notwendigkeit, politische agrarische, industrielle Fragen zu studieren sowie die Propaganda unter Frauen und Jugendlichen und die Errichtung von Kämpferschulen.

III. Die Anarchisten auf dem Berliner Kongress

Auch der internationale Anarchistenkongreß, der vom 25. bis 31. Dezember 1921 in Berlin stattgefunden hat, war ein Symptom der anarchistischen Selbsterneuerung. Das internationale Interesse war groß: Berichte waren eingesandt von Bulgarien, Canada, China, Deutschland, England, Frankreich, Holland, Italien, Rußland, Sibirien, Skandinavien, Spanien, Ukraine, den Vereinigten Staaten und von der Schweiz; Vertreter waren anwesend aus Bulgarien, Canada, China, Deutschland, England, Frankreich, Holland, Italien, Norwegen, Rußland, Sibirien, Spanien, Ukraine, Vereinigten Staaten und Schweden.

Leider konnten bedeutende Vertreter des Anarchismus, wie Malatesta und Bertoni (Italien), Faure (Frankreich), Emma Goldman (Rußland) durch verschiedene Umstände nicht anwesend sein. Ungefähr vierzig ausländische Vertreter waren zusammen. Und namentlich die internen Sitzungen waren von großer theoretischer und praktischer Bedeutung durch die Debatten über revolutionäre Taktik zwischen Geizmann, dem früheren Kommissar des Auswärtigen der sibirischen Sowjetrepublik, und Wollin (Volin, Anm.), dem ehemaligen Redakteur des Petrograder "Golos Truda", der später in der Ukraine kämpfte und ungefähr zwei Jahre in Moskau im Gefängnis saß.

Eine der alten Schwächen des Anarchismus zeigte sich in der schlechten Vorbereitung und dem fast chaotischen Verlauf des Kongresses. Namentlich in den ersten Tagen bildeten die Streitigkeiten zwischen den verschiedenen deutschen Strömungen und Richtungen ein Hindernis des regelmäßigen Fortschreitens der Verhandlungen. Der Kongreß war von der Föderation der kommunistischen Anarchisten Deutschlands einberufen worden, aber die Hauptführung hatte bei den Deutschen Rudolf Rocker.

Im Gegensatz zu den französischen Kameraden des Kongresses von Lyon zeigten die deutschen Kameraden sich nicht imstande, die loser und straffer organisierten Gruppen im Lande in einer nationalen Organisation zu einen. Die Hamburger und Berliner Kameraden waren absolut intolerant gegeneinander. Es schien, als wären die Berliner bestrebt, ihre Auffassung von Anarcho-Syndikalismus und anarchistischer Organisation als die einzig berechtigte durchsetzen zu wollen. (Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die Tatsache, daß Rocker nicht nur physisch, sondern auch moralisch und intellektuell eine enorme Persönlichkeit ist, und daß von der deutschen Gegenpartei niemand anwesend war, der ihm in jeder Hinsicht standhalten konnte.)

Dieser Tendenz traten die französischen, italienischen und holländischen Anarchisten sofort entgegen. Im ganzen wurde der Kongreß mehr und mehr von demselben freiheitsliebenden Geist, der den Kongreß von Lyon auszeichnete, beherrscht.

IV. Anarchismus und Organisation

In einer Rede über Anarchismus und die Organisation wandte Rocker sich mit Recht gegen den überempfindlichen Individualismus, gegen die Neigung, jede Organisation zu verneinen, gegen den geistigen Atomismus und derartige Abarten des bürgerlichen Individualismus, die sich allzu häufigmit dem Namen Anarchismus schmücken. Alle diese Erscheinungen sind in der Tat nichts als eine reductio ad absurdum des Kapitalismus.

Rocker betonte die historische Tatsache, daß die größten Vertreter des Anarchismus, wie Proudhon, Bakunin und Krapotkin immer Verfechter des Organisationsprinzips gewesen sind und daß auch der Rätegedanke anarchistischen Ursprungs sei. Er erinnerte an die Wesensverwandtschaft von Anarchismus und Syndikalismus, redete insbesondere von der großen Periode des französischen Syndikalismus und wies darauf hin, daß Malatesta, Domela Nieuwenhuis und die anderen, die 1907 auf dem Anarchistenkongreß in Amsterdam zusammengekommen waren, den Anarchisten auch eine besondere Aufgabe auf dem Gebiet der Gewerkschaftsbewegung gezeigt haben. Ferner lenkte er die Aufmerksamkeit auf die Einheit der anarchistischen und der syndikalistischen Bewegung in Italien und Spanien und berichtete, daß z.B. in Deutschland "Der Syndikalist" eine Propagandastelle des reinen Anarchismus sei. Er hob die Bedeutung des Syndikalismus für den Anarchismus hervor und neigte zu der Auffassung, daß der Syndikalismus sich selbst genügen könne. (...)

Auch untersuche man, wie es zu erklären ist, daß viele, die in ihrem Wesen revolutionäre Sozialisten sind und zu den tapfersten Mitkämpfern gehören, aller Organisation Feind sind und fast eine individualistische Haltung einzunehmen scheinen. Unseres Erachtens haben sie in ihrem Verneinen der historisch gewordenen Arbeiterorganisationen in der Hauptsache recht: die heutigen Organisationen sind fast alle Mechanisationen. Das jetzige Partei- und Gewerkschaftswesen ist seiner ganzen Einstellung nach fast immer eine parlamentarisch-bürokratisch-demokratische Institution. Die größten, am besten funktionierenden Arbeiterorganisationen sind in kritischen Augenblicken fast immer Machtmittel der Bourgeoisie über die Arbeiter geworden. Deshalb soll man die Arbeiter nicht nur lehren, Organisation zu machen, sondern auch, sie nötigenfalls zu brechen, eben aus dem Willen zu neuer Selbstorganisation. (...)

In seiner Entschließung über die Organisation und die Anarchisten hat der Kongreß darauf hingewiesen, daß die Größe und Klarheit des anarchistischen Ideals und die Tätigkeit seiner Bekenner der anarchistischen Bewegung einen starken Einfluß auf die Gestaltung der Revolution und des gesellschaftlichen Lebens zusichern müßte. Gegenüber den stark organisierten politischen Parteien, welche einen großen und bedenklichen Einfluß auf das werktätige Volk ausüben, erscheint dem Kongreß die Zusammenfassung aller anarchistischen Kräfte notwendig. Schon der Kampf für das Ideal des Anarchismus selbst erfordert eine freie Organisation.

"Die Hauptorganisation wird föderalistisch aus Landesorganisationen und Provinzialföderationen aufgebaut. Die Autonomie jeder Gruppe und jedes einzelnen wird prinzipiell anerkannt. In Stockholm wird ein international-anarchistisches Büro eingerichtet werden."

V. Anarchie und Diktatur

Über die Stellung der Anarchie zur Diktatur des Proletariats kam man in Berlin zu der folgenden Entschliessung: "Der internationale anarchistische Kongreß zu Berlin 1921 konstatiert mit Genugtuung, daß die Anarchisten aller Länder Gegner jeder Diktatur sind. Die Ereignisse in Rußland haben die Richtigkeit unserer Auffassung über die Diktatur noch bestätigt. Indem wir uns auf diese Erfahrung stützen, erklären die Anarchisten, daß sie mehr als jemals Feinde jeder Diktatur sind, sei es eine Diktatur von rechts oder links, die der Bourgeoisie oder des Proletariats. (...)"

Allgemein verstand man unter Diktatur eine gewisse Form der Staatsgewalt, wie Rocker es sagt: "Diktatur ist der Staat unter Herrschaft des Belagerungszustandes... Wie alle ändern Anhänger der Staatsidee gehen auch die Befürworter der Diktatur von der Voraussetzung aus, daß man das angeblich Gute und zeitlich Notwendige dem Volke von oben her diktieren und aufzwingen könne."

Durch den Gedankenaustausch bekam man den Eindruck, daß mehrere Anwesende leicht über die Frage der Übergangszeit zwischen Kapitalismus und Anarchismus hinweggehen. Es ist bequem, theoretisch alle Diktatur und revolutionären Militarismus abzulehnen; es ist aber grundfalsch zu meinen, daß dadurch allein die revolutionäre Entwicklung ohne allzu viele Schwierigkeiten sich durch die freie und spontane Selbstorganisation des Proletariats verwirklichen wird. Was man bei dergleichen Besprechungen vergißt, ist die Tatsache, daß revolutionäre Unruhen und gesellschaftliche Umwälzungen immerfort wieder ausbrechen, nicht nur lange bevor jeder Proletarier Anarchist geworden ist, sondern selbst bevor die anarchistische Propaganda die proletarische Masse durchdrungen hat. (Man findet bürgerliche und vorbürgerliche Symptome selbst noch im Geiste von Mitkämpfern, die in politisch-ökonomischer Hinsicht zu den tapfersten Revolutionären gehören. In Frankreich haben Kameraden den Vorschlag gemacht, zur Befreiung der in Rußland gefangenen Anarchisten an Vertretern der Bolschewisten Repressalien zu nehmen ['Libertaire', 2. Dez. 1921]).

Es gibt zur Befreiung der russischen Anarchisten bessere Mittel, z.B.: Aufforderung für die russische Regierung (nicht für das russische Volk!) alle Arbeit zu verweigern, überall in jeder Versammlung der Dritten Internationale diese Sache zur Debatte zu bringen, und namentlich ohne Unterlaß das russische Proletariat aufrufen, selbst die Befreiung der gefangenen Revolutionäre nicht nur in platonischen Protesten von der Regierung zu fordern, sondern sie selbst zu bewerkstelligen.

Es ist immerhin möglich, daß im äußersten Falle der Notwehr, zur Verteidigung der Revolution Mittel angewandt werden, die nicht mit ihrem Prinzip übereinstimmen.

Man soll aber niemals "Der Zweck heiligt die Mittel!" propagieren, und solange wie möglich auf das äußerste versuchen zu erreichen, daß die Mittel mit dem Zweck harmonieren. Die Anwendung von ungeeigneten, fremden und dem Wesen nach feindlichen Mitteln entfernen den Kämpfer vom Ziel. Es gibt auch eine Diktatur der Mittel!

Man hat z.B. auf dem Kongreß gesagt, es wäre möglich, daß in Schweden ein revolutionäres Proletariat in kriegerischen Zeiten das ganze Munitionswesen unterdrücken und die Tätigkeit des ganzen Heeres unmöglich machen könne. Aber so einfach liegen die Verhältnisse z.B. in Deutschland oder den Vereinigten Staaten von Amerika nun einmal nicht. In den meisten Ländern wird es große revolutionäre Krisen geben, in denen eine starke revolutionäre Minorität oder höchstens eine kleine revolutionäre Mehrheit die Führung hat. Die zahlreiche Opposition wird nicht nur von Menschen aus der bürgerlichen Klasse gebildet - dann wäre der Kampf zur gesellschaftlichen Erneuerung leicht genug. Die Reaktionäre verfügen nicht allein über finanzielle Reichtümer, über Presse, Schule, Kirche, Gefängnisse, Heeresorganisation usw., sondern durch all diese Mittel üben sie auch eine geistige Diktatur aus und beherrschen vollkommen einen großen Teil des Proletariats, das nicht nur bürgerlich denkt - das wäre das Schlimmste nicht -, aber auch bürgerlich fühlt und sich für bürgerliche Zwecke und Ziele, als wären es Menschheitsideale, fast freudig opfert

Es gab auf diesem Kongreß einen Deutschen, der fast jedesmal, wenn ein allzu leicht idealisierender Anarchist das Wort führte, den Zwischenruf ausstieß: "Aber die Übergangszeit!" Er hatte recht. Er berührte hiermit eine der schwierigsten historischen und ethischen Fragen, welche es für den Anarchisten geben kann.

(Hier sei mir ein Zwischenruf erlaubt: Jeder revolutionäre Akt ist schon an sich eine diktatorische Handlung; die zum Siege gelangte soziale Revolution wird außerdem, soll der Sieg gesichert werden, Vorkehrungen zu treffen haben, die den Unterdrückern und Ausbeutern gegenrevolutionäre Taten unmöglich machen. Die Arbeiterräte (die ja auch von den Anarchisten gefordert werden) sind, in der Übergangszeit, Verteidiger der im Keime befindlichen kommunistischen Gemeinschaft. Nicht Diktatur als Prinzip, aber auch Diktatur als Notwehr verwerfen, bedeutet, auf jede Revolution verzichten und "dem Übel nicht widerstreben". Wer dies will, der sollte dann konsequent sein und auch das Wort "revolutionär" beiseite lassen. Wir verabscheuen die Gewalt, die zum Prinzip erhoben wird; wir bekämpfen die Parteidiktatur und die Diktatur von Personen; wir haben das Ziel: herrschaftslose, kommunistische Gemeinschaft - wie die Anarchisten auch. Um aber jede Herrscher zu beseitigen, um aber die Staaten zu zertrümmern, um aber die Klassendiktatur der Ausbeuter zu brechen, müssen wir - wohl oder übel - die Diktatur der arbeitenden Menschheit unbedingt bejahen! F. Pfemfert)

Die Anarchisten haben sich hiervon zu durchdringen: daß die Menschheit in ihrer Silbstentwicklurg nach durch viele politisch-ökonomische Revolutionen hindurchgehen muß, ehe nicht nur die technischen, sondern auch die psychischen, moralischen und geistigen Bedingungen erfüllt sind, wodurch ein anarchistisches Zusammenleben aller Menschen auf der Erde möglich sein wird. Wir haben wenigstens anzuerkennen, daß während dieser von bürgerlicher Erziehung und militaristischen Gewohnheiten verpesteten Generation der große Augenblick des Anarchismus unmöglich anheben kann, wenn dies auch für uns kein Grund ist, für den Anbruch dieses Augenblicks nicht zu kämpfen. Solange es passive militaristische Gesinnung in der Welt gibt, wird es auch aktive militaristische Gesinnung geben; solange es Herden gibt, wird es auch Hirten, und solange es Sklaven gibt, wird es auch Diktatoren geben. Aber eben dieser aktive und passive Militarismus, eben diese Herden mit ihren Hirten, eben diese Sklaven und Diktatoren sind die größte Gefahr für das Fortschreiten der Revolution. Darum soll jeder, der sich von diesem Ungeist befreit hat, als Anarchist für die Entwicklung eines freien Geistes in einer freien Gesellschaft ruhelos kämpfen.

Deshalb bedeutet dieses nicht, daß der Anarchist bei den heutigen revolutionären Kämpfen tatenlos abseits steht und sich den verschiedenen heutigen kulturellen, ökonomischen, politischen Kräften und Strömungen gegenüber blind und urteilslos verhält. Auf allen Gebieten des menschlichen Lebens gibt es schon anarchistische Keime und freiheitliche Möglichkeiten, denen er sich anschliessen, welche er fördern kann. Namentlich auf dem Gebiete des ökonomischen Lebens gibt es schon viele antimilitärische, staatsfeindliche und antidiktatorische Tendenzen zur Selbstorganisation der Massen. Und in allen revolutionären Kämpfen kann man immer inspirierend mitarbeiten und die Selbsttätigkeit des Volkes wecken.

Wir kämpfen mit jedem und mit jeder Gruppe, die, in welcher Hinsicht es auch sei, die innere und äußere Macht von Herrschern und Ausbeutern unterminieren und zu brechen versuchen. Wir gebrauchen jede Organisation und Institution, welche unserer Freiheitsbestrebung in irgendeiner Hinsicht dienstbar gemacht werden kann, so viel wie möglich. Wir versuchen jede Einrichtung, die es unmöglich macht, die Freiheit zu erkämpfen, zu zerstören, und greifen immerfort jede Macht bis aufs äußerste an, die dem dynamischen Prinzip des Anarchismus gegenüber versucht, vorläufige Resultate und zeitweilige Errungenschaften dieser oder jener Revolution statisch, starr und stetig zu erhalten.

VI. Die Arbeit der Anarchisten in den ökonomischen Arbeiterorganisationen

Über die Stellung der Anarchisten zu den Gewerkschaftsorganisationen hat der Kongreß folgende Resolution gefaßt, die nach dem Oben gesagten nicht näher erörtert oder kritisiert zu werden braucht:

"Der internationale anarchistische Kongreß stellt fest, daß der Grund und Boden mit allem, was sich darauf befindet, sowie die Produktionsmittel nur der werktätigen Bevölkerung gehören dürfen; daß ferner die Produktionsorganisationen vollständig unabhängig von allen politischen Organisationen sein müssen.

Jede gesellschaftliche Organisation muß ausgehen vom einzelnen, vom Produzenten, der sich frei vereinigt und in den mannigfaltigen, ineinander eingreifenden Bünden, die vom Geiste des Föderalismus getragen sind, völlig selbständig bleibt.

Auf wirtschaftlichem Gebiete findet die soziale Organisation ihren Ausdruck in den Arbeiterverbänden. Der Kongreß stellt fest, daß die der Amsterdamer Internationale angeschlossenen Gewerkschaften sowie die American Federation of Labor von dem Geist des Reformismus und der Arbeitsgemeinschaft mit den herrschenden Klassen durchtränkt sind.

Die Rote Gewerkschafts-Internationale in Moskau steht unter dem unmittelbaren Einfluß der kommunistischen Internationale. Diese sucht in der R.G.I. eine Stütze zur Errichtung neuer Staaten, die ihrer Natur entsprechend der völligen Befreiung der Völker im Wege stehen.

Der Kongreß erklärt, daß die syndikalistischen Gewerkschaften weder von Amsterdam noch von Moskau Parolen entgegenzunehmen, geschweige denn auszuführen haben. Völlig selbständig und unabhängig haben sie einzig und allein die Wünsche der Arbeiterschaft auszudrücken.

Es ist notwendig, daß die revolutionären Arbeiterorganisationen sich über die Landesgrenzen hinaus vereinigen. Der Kongreß fordert die in den syndikalistischen Gewerkschaften wirkenden Anarchisten auf, die Gründung und Pflege einer revolutionär-syndikalistischen Internationale zu unterstützen, die von jedem äußeren Einfluß unabhängig ist.

Ferner bringt der Kongreß zum Ausdruck, daß der Bürokratismus ein Übel sei, das nach den Worten Friedrich Engels zur Folge hat, daß die Beamten aus Organen und Dienern der Gesellschaft zu deren Herren umgewandelt werden. Es soll daher erstrebt werden, daß in allen Arbeiterorganisationen die notwendigen Verwaltungsarbeiten von berufsmäßigen Angestellten und Buchhaltern ausgeführt werden, die keine Führer, sondern nur einfache Gewerkschaftsangestellte sein dürfen.

Die syndikalistische Bewegung auf föderalistischer Grundlage ist für die Verwirklichung des Anarchismus von großer Bedeutung, da sie die wirtschaftliche Grundlage der neuen, freien Gesellschaft darstellen. Die Tätigkeit der Anarchisten kann sich jedoch keineswegs nur auf die Gewerkschaften beschränken, sondern muß sich vielmehr auf alle Tätigkeitsfelder des revolutionären Kampfes ausdehnen, die sich im gesellschaftlichen und geistigen Leben des Menschen vorfinden.

Die Anarchisten nehmen regen Anteil an allen wirtschaftlichen Organisationen, die zur Verwirklichung ihres Ideals beitragen; sie kämpfen innerhalb derselben für die Verbreitung ihrer Ideen. Zu diesen Bewegungen rechnen wir: Guilden-Sozialismus, die shop-steward-Bewegung, die freien Räte usw.

Bei all ditsem dürfen wir doch nie außer acht lassen, daß all diese Bewegungen und Organisationen nicht rein anarchistisch sind, daß vielmehr der freie Kommunismus das wirtschaftliche Ziel des Anarchismus ist. Überall, in allen Organisationen müssen die Anarchisten für den föderalistischen Geist und für die antibürokratischen Ideen wirken.

Wir sird überzeugt, daß in einer revolutionären Periode nicht eine einzige wirtschaftliche Strömung alle gesellschaftlichen Übel heilen kann, sondern daß je nach den geographischen und wirtschaftlichen sowie sozialen Verhältnissen verschiedene wirtschaftliche Formen auftreten und verschiedene Aktionsmittel zur Anwendung gelangen werden.

Der Kongreß fordert die Arbeiter auf, alle Kampfmittel anzuwenden, die geeignet sind, zur Entwicklung der Revolution im Sinne der Freiheit und Autonomie beizutragen."

VII. Anarchismus und Antimilitarismus

Der ursprüngliche moderne Sozialismus hat im Anfänge seines Kampfes unmittelbar anerkannt, daß der Militarismus als eines der bedeutendsten Symptome des Kapitalismus kräftigst bekämpft werden soll. Schon 1868 haben sich die Sozialisten auf dem Kongreß in Brüssel entschlossen, um bürgerlichen Kriegen vorzubeugen, das Mittel des Generalstreiks international zu propagieren. Je mehr sich die Sozialdemokratie dem kapitalistischen Wirtschaftsleben anpaßte und ihre Hauptaufmerksamkeit vom ökonomischen auf das politische Gebiet richtete, je mehr sie international von der nationalistischen Demokratie eingefangen wurde, um so mehr schwächte sich ihr Widerstand dem militärischen Geist gegenüber ab und wurde sie von Patriotismus infiziert.

Als Domela Nieuwenhuis auf den internationalen Kongressen 1891 in Brüssel und 1893 in Zürich alle Sozialisten auffordern wollte, die immer stärker drohende Weltkriegsgefahr durch Generalstreiks- und Massenverweigerungspropaganda zu bekämpfen, fand er namentlich die deutschen Sozialdemokraten sich feindlich gegenüber, und die von ihm vorgeschlagene Resolution wurde von der Mehrheit verworfen.

Doch die Anarchisten haben die alte antimilitaristische Tradition des modernen Sozialismus fortwährend lebendig erhalten. Besonders haben sie in ihrer Propaganda immer wieder und stets stärker betont, daß der Militarismus nicht nur eine Sache des Krieges, sondern auch eine des sogenannten Friedens ist; die moderne Industrie bedeutet: militarisierte Produktion, und der moderne Krieg bedeutet: die maschinelle Destruktion.

Es herrscht genau derselbe Geist in der Werkstätte wie in der Kaserne: der Geist der mechanisierten Unterordnung. Und so wie hinter dem Mordzwang an der Front die tödliche Kugel droht, droht hinter dem Arbeitszwang in Stadt und Land der mordende Hunger. Es ist überall dieselbe mechanisierende Zentralisation, die der Mensch nicht beherrscht, sondern von der er beherrscht wird.

Darum wurden auf Initiative verschiedener internationaler Anarchisten 1904 und 1907 internationale antimilitaristische Kongresse abgehalten. Darum wurde auf Initiative von Domela Nieuwenhuis 1904 die internationale antimilitaristische Vereinigung gegründet. Darum kämpften überall standhafte Anarchisten und Syndikalisten, die ihrem historischen Ursprung treu geblieben waren, gegen Patriotismus, Nationalismus und Militarismus und für Generalstreik, Massenverweigerung, Einstellung der Produktion von Mordmitteln und für persönliche Dienstverweigerung. Dadurch war es möglich, daß bei dem Ausbruch des Weltkrieges 1914, trotz der Zurückgebliebenheit in bezug auf politische und ökonomische Kenntnisse usw. in Frankreich, England, Italien, Rußland, Amerika und auch in neutralen Ländern Hunderte von Anarchisten (...) den imperialistischen Militarismus bekämpften und für ihre Grundsätze ihr Leben einsetzten. (...)

Der Militarismus ist schließlich eine Geistesverfassung der typische psychische Zustand von Herrscher und Volk unter dem Imperialismus. Nicht nur durch Bürokratismus, Parlamentarismus, Demokratie, Parteiwesen, sondern namentlich durch den passiven Militarismus ist die proletarische Masse international verseucht worden.

Schon 1917 entschlossen sich deshalb Anarchisten verschiedener Länder, so bald wie möglich zu einem internationalen revolutionär-antimilitaristischen Kongreß zusammenzukommen, der 1921 im Haag abgehalten wurde und der aufs neue das internationale Proletariat zu den alten revolutionären, antimilitaristischen Kampfmitteln aufgerufen hat. Es wurde dort von verschiedenen Seiten betont, daß solch ein Kampf nicht nur neuen drohenden Weltkriegen gegenüber, sondern auch gegen weißen Terror, gegen Intervention in Ländern, wo das Volk sich gegen die herrschenden Mächte erhoben hat, gegen Unterdrückung und Exploitation der sogenannten farbigen Rassen notwendig ist.

Der Verlauf der europäischen Revolution seit 1917 hat gezeigt, daß sowohl der aktive Militarismus wie der passive eine der größten Gefahren für das Gelingen gesellschaftlicher Umwälzungen ist. Der sogenannte "proletarische" Militarismus, von dem Bucharin mit solch einer Begeisterung redete und der tatsächlich die notwendige Gegenseite der bolschewistischen Parteiführer-Diktatur bildet, ist der klarste Beweis dafür, daß sich die proletarische Revolution noch nicht durchzusetzen vermocht hat.

All dieses hat der Berliner Kongreß in folgender Resolution zum Ausdruck gebracht:

"Der internationale anarchistische Kongreß (...) lenkt die Aufmerksamkeit der Arbeiter auf die zweifelhaften Versuche der bürgerlichen Regierung, die darauf hinzielen, den Schein der Abrüstung und einer vernünftigen Ordnung in den internationalen Beziehungen der Wirtschaft und der Politik zu erwecken.

Während die Vertreter der kapitalistischen Staaten in Washington über die Weltabrüstung beraten, arbeiten die Männer der Wissenschaft, die Chemiker und andere in ihren Laboratorien neue furchtbare Vernichtungsmittel aus.

Es bringt jedoch nicht nur das Verhältnis zwischen den politischen Großmächten Grund zur Beunruhigung hervor, auch der Gegensatz zwischen den farbigen Rassen und ihren weißen Ausbeutern nimmt täglich zu.

Die Bourgeoisie jedes Landes ist eifrig bemüht, die nötigen Maßregeln zu treffen, um die revolutionäre Bewegung im eigenen Lande zu unterdrücken, sowie um sich von Land zu Land zu unterstützen, falls sie sich irgendwo bedrängt fühlt. All dies zeigt uns, daß wir gegenwärtig eine der reaktionärsten Perioden durchmachen. Die Gefahren, die der Welt drohen, sind nicht nur das Ergebnis der militaristischen Tätigkeit der Häupter der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, sondern auch aufgrund der Untätigkeit der großen Massen des Volkes entstanden.

Der Kongreß appelliert an alle Kameraden, eine internationale antimilitaristische Propaganda ins Werk zu setzen und energisch im Geiste der Revolution, die auf dem (...) angenommen wurde, zu wirken. Es sind alle antimilitaristischen Mittel zur Anwedung zu bringen: die Militärdienstverweigerung, die Einstellung der Erzeugung von Kriegsmaterial, der Generalstreik usw. bei Ausbruch des Krieges.

Der Kongreß spricht ferner den Kameraden aller Länder, die den Militärdienst verweigert haben, sowie alle, die auf irgendeine Weise die Disziplin im Heere unzuverlässig gemacht haben, seine größten Sympathien aus.

Als Folge des Weltkrieges und der wesentlich bürgerlichen Diktaturmethoden, die seit 1917 in der Revolution angewandt wurden, sind die proletarischen Massen vom militaristischein Geist durchtränkt. In Übereinstimmung mit den Worten von Karl Marx, daß der äußeren Revolution eine innere Umwälzung der Geister vorausgehen muß, fordert der Kongreß die Arbeiter auf, nicht nur für eine Revolutionierung der äußeren Verhältnisse, sondern auch der Köpfe zu wirken."

VIII. Anarchismus und Revolution

Es gibt viele Anarchisten, die durch die Entwicklungsgeschichte der europäischen Revolution seit 1917 bis zum Krankwerden desillusioniert worden sind. Sie haben sich in früheren Zeiten inmitten von Elend und Not ein großartiges und wundervolles Bild der neuen Welt geschaffen, für welches sie kämpften, - sie haben es, wenn die Umstände es gestatteten, unmittelbar mit all ihrer Kraft und Vermögen in den Kampf geworfen und furchtbare Sorgen Ängste, Nöte durchgemacht, - jetzt gibt es eine Atempause, und sie sehen um sich: was ist aus ihrem Ideal geworden?

Es waren angreifende Stunden, als der sibirische Genosse dem Kongresse erzählte, wie er früher unter Pogromen geboren und aufgewachsen war, wie er es als Knabe angesehen hatte, daß fanatische Metzler jüdischen Frauen Brüste, Arme, Hände abschnitten, weil die zaristische Behörde versuchte, die aufkeimende Revolution im Judenblut zu ertränken. Er hatte in allem diesen furchtbaren Elend das anarchistische Ideal gefunden; er hatte von seiner Jugend an dafür gelitten und gekämpft; er hatte seit 1917 mit Millionen von sibirischen Bauern für die Revolution gekämpft mit Mitteln, die er haßte, und mit Mitteln, die er liebte; das Volk hatte sich in gewalttätiger Selbstverteidigung überall heroisch geopfert; aber am Ende war es nicht imstande, ein anarchistisches Zusammenleben konstruktiv aufzubauen.

Er selbst hatte es als Kommissar des Auswärtigen einer sibirischen Sowjetrepublik von 20 Millionen Menschen ganz nahe erfahren, wie durch Unvermögen eine freie gesellschaftliche Ordnung aus eigener Kraft aufzubauen, wie infolge von Willkür und Unvernunft das Volk am Ende der bolschewistischen Parteidiktatur unterlag. Der Mann war gebrochen. Er wußte nicht, was er von der Zukunft der Anarchie denken sollte-; die Anarchisten, so erklärte er, können nicht weiterkommen, wenn sie nicht imstande sind, die Massen zu organisieren.

Der optimistische und hoffnungsvolle Wollin warnte mit Recht vor dem - man würde sagen anarchistischen Opportunismus, der aus diesen Worten zu folgen schien: man solle nicht die Massen organisieren wollen; das würde notwendigerweise zu irgendeiner Art von Diktatur führen; man solle die Idee des Anarchismus in den Klassen propagieren und sie den Weg weisen, soviel wie man könne.

Er hatte in dieser Hinsicht recht, aber der andere hatte es auch, besonders als er bemerkte, daß die Marxisten ein einheitliches Prinzip haben, womit sie fortwährend operieren; daß sie und alle ihre Anhänger sich ganz genau bewußt sind, was sie wollen, aber daß es unter den Anarchisten ein chaotisches Durcheinander von Prinzipien und Meinungen gibt: es gäbe wohl Polyanarchismus, aber wo war der Mono-Anarchismus? Mono- Anarchismus - das Wort ähnelt gefährlich Monarchismus: Wollin hatte recht, die Kameraden vor solchen Auffassungen zu warnen, aber  Wollin selbst glich zu sehr einem derer, zu denen ein Mitglied der Versammlung immer: "Aber die Übergangszeit!" rief.

Es ist nichts Neues, daß Revolutionäre enttäuscht werden. Nicht nur die großen naiven Phantasten, wie Jesaias oder Jesus - wenn er gelebt hat -, die mittelalterlichen Schwärmer und späteren Utopisten, sondern auch bewußte wissenschaftliche Vorkämpfer des modernen Sozialismus: Marx, Engels, Bakunin, Kropotkin haben etwas Ähnliches durchlebt. Und jetzt erleben es viele von uns aufs neue durch den Verlauf der russischen Revolution.

Es sollte hiermit aber endlich ein Ende nehmen. Das revolutionäre Subjekt soll sich von diesen oder dergleichen subjektivistischen Antizipationen und verkürzten historischen Perspektiven befreien. Kropotkin hat sich 1904 die Frage gestellt, warum die soziale Revolution im 19. Jahrhundert ausgeblieben ist. Und er hat eingestanden, daß die großen Revolutionäre des 19. Jahrhunderts "nicht die ganze Tiefe der Reaktion ermessen haben", (Peter Kropotkin: Worte eines Rebellen. Wien 1922.) welche international auf dem Volke lastete. In diesem Aufsatz war hiervon genug die Rede. Ich füge nur noch folgendes hinzu.

Geizmann hat recht, daß die Bolschewisten durch ihre einheitliche Weltauffassung und allgemein angenommene Methoden den Anarchisten viel voraus haben. Die revolutionären Marxisten haben eine Gesamtmoral. Es ist eine jesuitische Moral. Aber sie haben diese leidenschaftlich ausgeübt und systematisch ausgebildet zu einer für ihre Zwecke dienstbaren Methode. Ihre Disziplin ist eine äussere Disziplin, aber es ist doch eine Disziplin, welche sie ebensowenig wie die kirchlichen Jesuiten in Praxis bringen können ohne große persönliche Anstrengungen und Obungen in Selbstbeherrschung.

Man kann sich leicht Anarchist nennen und auf jene äußere Disziplin schimpfen, aber inwieweit haben wir Anarchisten eine höhere, eine innere Disziplin, eine frei spontane Selbstbeherrschung, inwieweit haben wir den Mut, unsere kleinen Partikularitäten zu verachten und uns in dem Kampf für die freie Persönlichkeit zu konzentrieren, die Kraft, mehr zu geben als zu fordern, den Trieb, uns in Solidarität mit im Grunde gleichwollenden Kameraden der Idee zu opfern?

Domela Nieuwenhuis hat am Ende seines Lebens erklärt, daß er gefunden hatte, daß ein sehr großer Prozentsatz der besten revolutionären Mitkämpfer früher diese oder jene religiöse Erziehung durchgemacht hatte. Und stets haben große Revolutionäre begriffen, daß ein allumfassendes Prinzip, ein übermenschlicher Trieb zur menschheitlichen und kosmischen Solidarität immer der tiefste Grund von allem Anarchismus und Sozialismus war.

In diesem Sinne wollte auch Dietzgen, daß die "Religion" dem Volke erhalten bleiben solle, und hat Bakunin geredet von der Religion der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. In diesem Sinne sollte es auch jetzt einen Mono-Anarchismus geben, eine fast mystische religiöse Gesinnung als Grundlage sogar für die nüchternste, sachlichste, technische Gesamtpraxis. Insofern solch ein Wille zur Einheit und Gesamttat im Anarchismus lebendig wird, wird sie auch imstande sein, eine einheitliche Wissenschaft, eine in den Hauptlinien allgemein anerkannte, praktische Kampfmethode ausarbeiten .

Aber dies alles ist immerhin nur möglich in dem relativ kleinen Kreise derjenigen Leute, die wohl bewußt die alten Formen und Gedanken gebrochen haben, die dem Geiste der Autorität und des Militarismus prinzipiell abgestorben sind und auferstanden zu einem neuen, revolutionären Leben. Darum ist es unmöglich, daß selbst durch alle Anarchisten in der Welt zusammen, wenn sie auch die reinste Gesinnung, die höchste Tatkraft, die tiefste Überzeugung hätten, jetzt eine freie gesellschaftliche Ordnung geschaffen werden kann. Wenn schon Marx und die Marxisten anerkannt haben, daß ihre Revolution eine Sache von langem Atem ist, so sollen wir Anarchisten wenigstens sagen, daß unsere Revolution eine Sache von noch viel längerem Atem ist.

Und dennoch können wir kämpfen: eben darum wollen wir kämpfen. Im Negativen, dem imperialistischen Regime gegenüber arbeiten wir fortwährend mit allen Revolutionären soviel wie möglich zusammen. Wenn eine revolutionäre Richtung, deren historischer Augenblick da ist, sich durchsetzt, arbeiten wir mit ihr bedingsweise zusammen. Aber insoweit sie sich gegen unsere Auffassung auflehnt, unsere Taten hindert oder unmöglich macht, führen wir immer ihr gegenüber, schon unter dem Imperialismus, prinzipielle Opposition und nötigenfalls praktische.

Und wenn irgendeiner die Geschichte abschliessen will, zerbrechen wir seine Gemäuer und stoßen neue Horizonte auf. Wir arbeiten mit den Diktaturstiftern der dritten, vierten oder fünften Internationale dem Kapitalismus gegenüber zusammen, wie die revolutionären Sozialisten in früheren Jahrhunderten mit den Liberalen und Kleinbürgern dem Feudalismus gegenüber mitgearbeitet haben.

Unser Augenblick ist noch nicht da, - aber er wird kommen. Wir arbeiten nicht nur für die Revolution, sondern für die Revolution der Revolution.

Aus: Aktion 45/46, 1922 (Zeitung von Franz Pfemfert)

Originaltext: Libertäres Forum (Hg.): de Ligt, Lucas, Mühsam, Rühle u.a. Anarchie und Parlamentarismusdiskussion. Verlag Libertäre Assoziation / Verlag Roter Funke, 1980. Digitalisiert und bearbeitet (Krapotkin zu Kropotkin etc.) von www.anarchismus.at


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