Rudolf Rocker - Peter Kropotkin und das Problem der Arbeit (1)

Nun sind schon zehn Jahre ins Land gegangen seit dem Tode Peter Kropotkins, zehn inhaltsschwere, unvergessliche Jahre, die in der Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung schwerer wiegen als manches verflossene Jahrhundert. Nach den blutigen Jahren des Weltkrieges befinden wir uns nun mitten im Strudel einer wirtschaftlichen und politischen Weltkrise, wie sie die kapitalistische Gesellschaftsordnung in diesen Ausmassen bisher nicht erlebt hat. Alle feststehenden Begriffe sind ins Wanken geraten, niemand weiss mehr, wohin die Reise geht. Lebte heute ein wahrhaft sozialistischer Geist unter den Massen und jene tiefe innere Begeisterung, die der Schöpferfreude entspringt, und ohne die bisher nie etwas Grosses geschaffen wurde, so würde dem Sozialismus eine Gelegenheit geboten wie nie vorher. Allein die sozialistische Begeisterung hat sich totgelaufen in den Zwerggebilden der Parteien und der ihnen verwandten Organisationsgebilde; der Sozialismus, der eine Bewegung der Gesamtheit sein sollte, ist eine Bewegung der Teile geworden. So musste die Sache der Menschheit den Gründen der Parteiraison weichen, die nimmer imstande ist, jenen glühenden Drang zu entfachen, der eine Bewegung unwiderstehlich macht und das Unmögliche in den Bereich der Wirklichkeit zwingt.

Nie zuvor hat sich die Unzulänglichkeit des kapitalistischen Systems so offenkundig ausgewirkt wie heute, nie Vorher ist die brutale Ungerechtigkeit dieses Systems und seine menschenfressende Gepflogenheiten so sehr in den Vordergrund getreten, nie vorher hat sich die ganze Hilflosigkeit seiner Träger dem drohenden Verderben gegenüber, das sie selber heraufbeschworen, haben, so deutlich offenbart wie in dieser schicksalschweren Zeit. Der Haupteinwand, den der Sozialismus bisher gegen den Kapitalismus als Wirtschaftssystem ins Feld führen konnte, war rein ethischer Natur. Er lebte von der unbezahlten Arbeit der breiten lassen und erniedrigte diese zu einem riesigen Heere von Lohnsklaven. Aber er war bisher Imstande, die Produktion und den Verbrauch in der Gesellschaft auf seine Welse zu regeln und die Massen des werktätigen Volkes mit Arbeit zu versorgen. Sogar unter dem kapitalistischen System war die Arbeit bisher Regel, die Krise die Ausnahme.

Heute aber wird es immer klarer, dass der Kapitalismus ausser Stande ist, seine bisherige Aufgabe weiter erfüllen zu können. Seine Unzulänglichkeit ist nicht länger nur ein Frage der ethischen Auffassung, sondern auch eine Frage der Technik und Organisation. Sein Versagen gerade auf diesem Gebiete steht heute im Mittelpunkt aller wirtschaftlichen Erörterungen. Der Kapitalismus war Imstande, die, Ausbeutung der Massen bis zu einem Grade zu entwickeln, von den man noch mit zwanzig Jahren zurück kaum zu träumen wagte. Unter der Parole die Wirtschaft zu rationalisieren hat er das menschliche Leben völlig dem eisernen Herzschlag der Maschine unterstellt und die Ausbeutungsfähigkeit jeder Muskel, jedes Nerves nach wissenschaftlichen Methoden bis ins Kleinste berechnet. Doch das Furchtbarste ist, dass er in dieser menschenmordenden Arbeit die Unterstützung der Sozialisten gefunden hat. In Russland faselt man von einer »Sozialisierung des Taylorsystems«; in Deutschland waren es besonders die sozialistischen Führer der Gewerkschaften, die das Hohelied der Rationalisierung am lautesten gesungen haben und erklärten, dass dies der einzige Weg zur Überwindung der Krise sei.

Seitdem sind nur wenige Jahre vergangen, aber das Ergebnis steht unheilverkündend vor unseren Augen wie das drohende Schicksal. In Europa allein gibt es gegenwärtig über zwanzig Millionen Arbeitslose, von denen die meisten vom Staate eine Bettelrente für erzwungenen Müßiggang beziehen. Was man diesen Ärmsten verabreicht, ist zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel, aber es belastet die Wirtschaft nichtsdestoweniger in ungeheuerlicher Weise und verschärft nur die Krise, die uns an der Gurgel sitzt. Denn der gegenwärtige Zustand kann letzten dadurch Endes nicht dadurch verbessert werden, dass man Millionen armer Teufel ein staatliches Almosen für unfreiwilliges Nichtstun verabreicht, sondern nur dadurch, dass man diese wirtschaftlich Geächteten der gesellschaftlichen Produktion wieder dienstbar macht und sie Werte schaffen lässt, die die Gemeinschaft benötigt.

Dazu ist aber der Kapitalismus nicht imstande, weil er bewusst den Profit, nicht die Bedürfnisse der Allgemeinheit in den Mittelpunkt aller und Jeder wirtschaftlichen Betätigung gestellt hat. Wie der politische Faschismus heute die alte liberale Formel, dass der Staat des Menschen willen da sei, bis aufs Messer bekämpft und mit brutaler Offenherzigkeit verkündet, dass der Mensch nur des Staates wegen existiere und nur zu dem Zwecke, vom Staate verbraucht auf werden, so verkündet der moderne Wirtschaftsfaschismus, dass der Mensch der Wirtschaft wegen da sei und der Sinn seines Lebens nur darin bestehe, von der Wirtschaft verschlungen zu werden. Die Wirtschaft alles, der Mensch nichts!

Die Folgen dieser Einstellung machen sich heute mit furchtbarer Deutlichkeit bemerkbar, besonders in Deutschland, wo durch die Last der Kriegsentschädigungen die allgemeine Wirtschaftskrise noch hoffnungslosere Formen angenommen hat. Sogar eine so rein bürgerliche Zeitung wie der »Petit Parisien« musste zu dem Schlusse gelangen, »dass falls die gegenwärtige Entwicklung der Dinge in Deutschland so weiter gehe, es dahin kommen werde, dass nur noch eine Handvoll Bank- und Industriebesitzer übrig bleiben, während die Masse des Volkes im Elend verkommen müsse«. Der bürgerliche Kritiker hat nur das eine verkannt, dass die gegenwärtige Tendenz des Kapitalismus nach und nach alle Länder ergreift und die sogenannten Kulturnationen einem Zustande vollständiger Staatsversklavung und wirtschaftlicher Hörigkeit immer näher bringt.

Doch die grosse Gefahr dieses Zustandes bilden nicht nur seine rein materiellen Ergebnisse, sondern seine geistigen und seelischen Auswirkungen. Jeder, der mitten in den Kämpfen unsrer Zeit steht und die Dinge nicht lediglich von der Studierstube aus beurteilt, weiss, wieviel geistiges Elend und seelische Verkümmerung heute im Volke ihre Kreise ziehen, wieviel grenzenlose Verbitterung, ohnmächtiger Haas und tiefe Hoffnungslosigkeit die Massen bis ins Innerste ergriffen haben. Die Verbreitung der Verbrechen und besonders das unheimliche Anwachsen der Selbstmorde in den Kreisen der Alten und der Jugendlichen spricht eine beredte Sprache, die leider in dieser Zeit allgemeiner Teilnahmslosigkeit kaum verstanden wird.

Was wir heute brauchten, ist der Wille zum Sozialismus, die klare Erkenntnis, dass der Kapitalismus nicht langer imstande ist, seinen rein technischen Funktionen nachzukommen und ein Verharren in dem heutigen System uns einem Abgrund entgegenführt, der vielleicht auf Jahrhunderte hinaus den Tod jeder Kultur bedeuten sag. Der Sozialismus muss vor allem dem Leben ganz neue Ziele setzen. Es ist unsinnig zu denken, dass der Weg der Rationalisierung der Weg zum Sozialismus sein könnte, oder dass man sich damit tröstet, dass die Eintönigkeit der Arbeit in einer sozialistischen Gesellschaft durch eine weitgehende Beschränkung der Arbeitszeit erträglicher gestaltet wird. Denn das Problem der Arbeit ist nicht nur ein wirtschaftliches, sondern in viel höherem Grade ein psychologisches Problem. Die Arbeit muss auf ganz neuen Grundlagen organisiert werden; sie muss vor allem den Charakter des Frons verlieren, der ihr heute anhaftet und als notwendiges Übel erscheinen lässt. Es kommt nicht darauf an, wieviel Stunden ein Mensch arbeitet, sondern welche Freude er an seinem Werk empfindet. Niemand hat das besser begriffen und nachdrücklicher betont als Peter Kropotkin, der in dieser und in mancher anderen Hinsicht ein direkter Nachfahre Charles Fouriers gewesen ist.

Der Sozialismus ist nicht nur eine Messer- und Gabelfrage, er ist das Problem einer neuen gesellschaftlichen Kultur, die auf ganz neuen Grundlagen zu errichten ist, und die vor allem in den Geistern und Herzen Wurzel schlagen muss. Nur aus dem Geiste der Menschen kann sich der Sozialismus in die Wirklichkeit umsetzen, niemals aber wird er den Menschen kommen als das notwendige Ergebnis einer entwickelten Produktionstechnik wie der Marxismus es seinen Anhängern verkündet hat. Eine solche könnte uns höchstens einen Staatskapitalismus wie in Russland oder einen »sozialistischen« Ständestaat, wie ihn der sogenannte National-Sozialismus erstrebt, bringen, wo man die Unterwerfung als höchste Errungenschaft betrachtet und die Freiheit entweder als »bürgerliches Vorurteil« oder als abgetanes »liberales Prinzip« bewertet.

Gerade in dieser Zelt des Grauens wirkt das Andenken Kropotkins wie eine belebende Kraft, die nach neuen Horizonten Ausschau hält. Man hat sich den Kopf darüber zerbrochen, welche Form der Produktion für den Sozialismus die geeignetste ist und die Vorbedingung für seine praktische Verwirklichung darstellt. Man sprach von Arbeitsteilung, Industrialisierung der Landwirtschaft, Untergang der Kleinbetriebe und Massenproduktion als die unvermeidlichen Auswirkungen unabänderlicher Wirtschaftsgesetze und vergass darüber nur allzu oft das Wichtigste — den Menschen.

Kropotkin war einer der wenigen, der das nie vergass. Er wusste, dass die Form der Produktion durch die Verschiedenheit der Bedingungen bestimmt wurde, dass aber »der Mensch das Mass aller Dinge« sei, dass es vor allem darauf ankomme, das geistige und materielle Wohlbefinden des Menschen in den Mittelpunkt aller wirtschaftlichen Betrachtungen zu stellen. Aus diesem Grunde konnten ihm weder die Methoden der bürgerlichen Nationalökonomie, die aus der wirtschaftlichen Ertragsfähigkeit eines Landes und seiner Ausfuhr seinen Wohlstand ableiten, noch die Ausblicke des autoritären Sozialismus imponieren, die das Prinzip der allgemeinen »Arbeitspflicht« durch eine möglichst kleine Arbeitszeit schmackhafter zu machen glauben. Für ihn kam es vielmehr darauf an, welchen Anteil der Einzelne an der Summe des nationalen Wohlstands hat und welche inneren Sympathien er seiner Arbeit entgegenbringt.

Kropotkin hatte deutlich erkannt, dass keine Gesellschaftsordnung sich auf eine bestimmte Form der Produktion begrenzen lässt, sogar nicht die kapitalistische. Dass die Form der Produktion vielen Schwankungen ausgesetzt ist, ebenso wie die Methoden der Arbeit, lässt sich sehr leicht nachweisen, und zwar auf allen Gebieten produktiver Tätigkeit. Aus diesem Grunde sollte man sich hüten, aus der einseitigen Überindustrialisierung der kapitalistischen Wirtschaft feste Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. In Amerika hat man schon lange erkennen müssen, dass die Industrialisierung der Landwirtschaft nicht in allen Fallen profitabel und der Traktor kein Allheilmittel ist. Für manche Ländereien eignet er sich überhaupt nicht. Das hat man letztens auch in Russland erfahren müssen, wo die Männer des sogenannten Fünfjahresplans glaubten, mit Hilfe des Traktors eine vollständige Revolution in der Landwirtschaft herbeiführen zu können und die Ertragsfähigkeit ins Ungemessene zu steigern. Neben der maschinellen Bearbeitung der Erde entwickelt sich die intensive Landwirtschaft in immer steigenderem Masse, die von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht und alle Errungenschaften der Chemie in ihre Dienste stellt.

Dieselben Erscheinungen sehen wir auch in der Industrie. Sogar in kapitalistischen Kreisen beginnt man heute schon einzusehen, dass die sogenannte Rationalisierung, unter deren Zeichen die gesamte Industrie der Zukunft stehen sollte, bereits einen Grad erreicht hat, wo sie aufhört, auch für den Kapitalist[en] rentabel zu sein. Die Entwicklung der Grossindustrie konnte die kleineren Betriebe nirgends gänzlich verdrängen, ja sie hat sogar dazu beigetragen, dass eine ganze Reihe sogenannter Kleinindustrien entstanden sind und sich seitdem gut bewährt haben. Nimmt man noch in Anbetracht, dass gerade für den Sozialismus eine engere Verbindung von Stadt und Land, von Industrie und Landwirtschaft eine Frage von grundlegender Bedeutung ist, so wird man sich der Einsicht nicht verschliessen können, dass die Zukunft der Produktion und des Wirtschaftslebens im allgemeinen nicht ein Erstarren in bestimmten Formen sein wird, sondern ein vielgestaltiges Zusammenwirken der verschiedensten Formen zu einen gemeinschaftlicher Zwecke.

Es war ein besonderes Verdienst Kropotkins, dass er klar erkannte, dass die stete Verfeinerung der Maschine und der technischen Hilfsmittel zu einer immer grösseren Vielseitigkeit der Produktionsformen und zu einer Dezentralisation der Industrien führen müsse. Diese Erkenntnis richtet sich heute in aller erster Linie gegen den sogenannten »Wirtschaftsnationalismus«, der ebenso wie die Rationalisierung auch die Befürwortung vieler Sozialisten gefunden hat. Kropotkin, der die ersten Anzeichen dieser Bestrebungen noch erlebt hatte, erkannte sofort ihre verhängnisvolle Bedeutung. Nachdem der Kapitalismus den Menschen in die Zwangsjacke einer ganz einseitigen Lebensweise gesteckt hatte, versuchte man nun das Experiment auf ganze Nationen anzuwenden und erblickte in dem das unvermeidliche Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung. Man entdeckte die besonderen wirtschaftlichen Fähigkeiten der Nationen und wollte nur diese auf die Kosten aller anderen Anlagen entwickeln, um die Wirtschaft ertragreicher zu gestalten. Ob die Menschen dabei physisch und geistig verkrüppeln, spielte keine Rolle, solange ein neuer Weg für eine erhöhte Ertragsfähigkeit der Produktion gefunden war. Das Prinzip der Arbeitsteilung sollte sich in der Zukunft für die produktive Betätigung ganzer Nationen bewahren, und wie man früher von politischen und anderen »Missionen« der Völker gesprochen hatte, so hatte man nun glücklich ihre wirtschaftliche Mission ausgetüftelt. Die arme Menschheit! Hätte sie alle Missionen erfüllt, mit denen man bisher ihre einzelnen Glieder beschenkt hatte, ihre letzten Träger wären langst im Irrenhause umgekommen. Hegel hatte damit begonnen, die kulturellen Missionen der Völker zu entdecken, und die ganze Völkerpsychologie folgte ihm auf diesem Irrwege, wo »Vernunft Unsinn, Wohltat Plage« wird. Dann beglückte uns der Marxismus mit der »historischen Mission des Proletariats«. Mazzini und seine Nachfolger waren der »politischen Mission« der Völker glücklich auf die Spur gekommen, und neuerdings haben die Herrn Günther, Hauser und Co. die »historische« Mission der sogenannten »nordischen Rasse« ergründet, die eigens dazu bestirnt ist, alle andere Rassen unter die Fuchtel zu nehmen. Umso schlimmer, wenn die anderen diese »Notwendigkeit« nicht einsehen wollen.

Kropotkin glaubte nicht an diese Missionen. Er wusste, dass es nur Truggebilde sind ohne tiefere Bedeutung. Aus diesen Grunde wurde es ihn klar, dass das Prinzip der Arbeitsteilung und der Wirtschaftszentralisation zwar für die kapitalistische Welt eine bedingte Bedeutung haben mögen, nie aber für den Sozialismus. Deshalb stellte er der Arbeitsteilung die Arbeitseinheit, der Zentralisation die Dezentralisation der Industrien entgegen und berührte damit eines der tiefsten Probleme unsrer Zeit. Denn die Arbeitseinheit ist nur möglich, wenn das ganze Prinzip der Erziehung von Grund auf neu umgestaltet wird, wenn an Stelle der modernen Bildungsdressur die allseitige Ausbildung des Menschen vom frühster Jugend an tritt. Nicht auf die einseitige Vermittlung abstrakter Kenntnisse kommt es an, sondern auf die praktische Erprobung jeder Theorie im Garten, auf den Felde, in der Werkstätte, im Atelier,  im Laboratorium, um den jungen Menschen einen allseitigen Überblick über alle Gebiete des geistigen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu eröffnen, damit sie später mit selbständigen Gedanken, gestärkt durch praktische Erfahrungen, ins Leben treten und ihren Platz ausfüllen können. Kropotkin sah, dass das Fundamentale jedes Berufes in der praktischen Kenntnis der Benutzung bestimmter Werkzeuge besteht, und er betrachtete es als eine Aufgabe der zukünftigen Erziehung, schon den Kindern diese Kenntnisse zu vermitteln. Eine solche Erziehung inmitten einer sozialistischen Umwelt bedeutet aber auch das Verschwinden des Unterschiedes zwischen geistiger und physischer Arbeit, der sich nur in einer Gesellschaft des Monopolismus und der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen entwickeln konnte. Damit verschwindet aber auch die Notwendigkeit einer bestimmten Kaste als Träger der wirtschaftlichen Verwaltung. Denn hier ist eines der schwersten Probleme für die Zukunft und für den Sozialismus. Jede Verwaltung der Dinge, die sich dauernd in den Händen einer bestimmten Kaste befindet, verwandelt sich allmählich in eine Regierung über die Menschen und verewigt das Prinzip der Autorität in der Gesellschaft. Indem der Mensch von Jugend auf durch eine allseitige Erziehung einen vollständigen Überblick über die verschiedenen Gebiete des Wirtschaftslebens erhält, wird sein Sinn für die Verwaltung geweckt, seine Fähigkeiten gestärkt. Damit wird aber auch die Gewähr geboten, dass die Verwaltung der Wirtschaft nicht das Erbgut einer bestimmten Kaste bleibt, sondern dass ein steter Wechsel ihrer ausführende Organe möglich ist, die stets neuen Geist und neue Ideen in die Verwaltung hineintragen. Nur auf diesem Wege kann der Bürokratismus überwunden werden, diese Institution des Ungeistes und der öden Routine, die bisher eines der festesten Bollwerke jeder Tyrannei gewesen ist.

Durch die allseitige Erziehung und ihre praktischen Auswirkungen verschwindet aber auch das Monotone und Geistlose, das die kapitalistische Industrie aus der Arbeit gemacht hat. Die Möglichkeit für einen jeden, sich abwechselnd auf den verschiedensten Gebieten des Wirtschaftslebens zu betätigen, gibt dem Menschen die Freude an seinem Werke wieder, die ihm durch die Lohnarbeit völlig abhanden gekommen ist. Solange die Arbeit als Zwang empfunden wird, solange es Sozialisten gibt, die sich damit trösten, dass diese »unangenehme Notwendigkeit« durch eine weitgehende Beschränkung der Arbeitszeit gemildert werde, solange wird uns der Sozialismus niemals kommen. Ein »Sozialismus« in dieser Richtung kann nur zur schlimmsten Form der wirtschaftlichen Ausbeutung führen, zum Staatskapitalismus. Es ist der »Sozialismus des Zuchthauses oder der Kaserne«. Nur Menschen, die mit der Idee des Sozialismus die stärkste Form der Autorität verbinden, können wie Trotzki und seine Anhänger auf den monströsen Gedanken einer »Militarisierung der Arbeit« (2) verfallen, ein Gedanke, den vor ihnen schon Louis Bonaparte, bevor er Kaiser wurde, in einer besonderen Schrift entwickelt hatte. Die ganze Nation eine Armee, von der ein Teil in die Kaserne, der andere Teil in die Betriebe und auf die Felder kommandiert wird. Indem Kropotkin das Problem der Arbeit in seinem tiefsten kulturellen Sinne erfasste, musste er zu der Erkenntnis gelangen, die für uns Wahlspruch des Lebens geworden ist: »Der Sozialismus wird frei sein oder er wird nicht sein!«

Kropotkin lehrte uns auch, nie die Hoffnung zu verlieren, denn sogar in der Zeit der finstersten Reaktion gibt es Lichtpunkte, die den Weg zur Freiheit beleuchten. Alles an eine Idee zu setzen, die alles, was Menschenantlitz trägt, in ihre Kreise bannt, das ist ein Vermächtnis, das keine inneren Zweifel aufkommen lässt und das endlich alle Hindernisse überwinden wird.

R. Rocker

[handschriftlicher Nachsatz:]

Lieber Genosse Jensen,

komme gerade von einer Reise zurück und finde von Souchy (3) eine Karte, euch einen Kropotkin-Artikel zu senden. Bin sehr zufrieden darüber.

Herzl. Grüße auch an Deine Frau. Meine Frau befindet sich seit einer Woche im Krankenhaus

R. Rocker


Fußnoten:
1.) Achtseitiges deutschsprachiges Typoskript mit wenigen handschriftlichen Korrekturen. Am Ende des Skripts sind einige handschriftliche Zeilen von Rocker an den Chefredakteur der Tageszeitung der schwedischen syndikalistischen Gewerkschaft SAC Arbetaren, Albert Jensen.
Der Text stammt von der SAC-Internetseite und wurde 1931 verfaßt: »Maskinsskrivet manus på tyska från 1931, efter manuset följer några handskrivna rader från Rocker till Arbetarens huvudredaktör Albert Jensen.« (siehe https://www.sac.se/en/Om-SAC/Historik/Arkiv/Andra-spr%C3%A5k/Tyska/Peter-Kropotkin-und-das-problem-der-arbeit). In welcher Ausgabe des Arbetaren er erschien, ist nicht vermerkt.
Der Text ist eine wörtliche Wiedergabe der Vorlage. Offensichtliche Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert, weitergehende Eingriffe in Anmerkungen ausgewiesen. Sämtliche Fußnoten sowie [eckige Klammern] im Text sind vom Bearbeiter. Die Seitenzahlen des Skripts sind [fett in eckigen Klammern] in den Text integriert. (Anmerkung www.anarchismus.at: Die Seitenzahlen des Skripst wurden für die flüssigere Lesbarkeit entfernt)
2.) In der Vorlage: Mobilisation – siehe hierzu die Texte Trotzkis aus den Jahren 1919 und 1920 unter dem Abschnitt The Labour Armies in Leon Trotsky,. The Military Writings and Speeches of Leon Trotsky: How the Revolution Armed, Vol. III: The Year 1920 (MIA 2002)
3.) Augustin Souchy

Originaltext: Das Typoscrypt (siehe Fußnote 1) wurde anarchismus.at dankenswerterweise in Textform zur Verfügung gestellt.


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