Rudolf Rocker - "Nationale Staaten sind politische Kirchengebilde" (1937)
Die alte Behauptung, welche die Entstehung des nationalen Staates auf das erwachende Nationalbewußtsein der Völker zurückführt, ist nur ein Märchen, das den Trägern der nationalen Staatsidee gute Dienste leistete, aber darum nicht minder falsch ist. Die Nation ist nicht die Ursache, sondern das Ergebnis des Staates. Es ist der Staat, der die Nation schafft, nicht die Nation den Staat. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, besteht zwischen Volk und Nation derselbe Unterschied wie zwischen Gesellschaft und Staat.
Jede gesellschaftliche Bindung ist ein natürliches Gebilde, das sich auf Grund gemeinsamer Bedürfnisse und gegenseitiger Vereinbarung organisch von unten nach oben gestaltet, um die allgemeinen Belange zu schützen und wahrzunehmen. Sogar wenn gesellschaftliche Einrichtungen allmählich erstarren oder rudimentär werden, läßt sich der Zweck ihres Ursprunges in den meisten Fällen deutlich erkennen. – Jede staatliche Organisation aber ist ein künstlicher Mechanismus, der den Menschen von irgendwelchen Machthabern von oben herab aufgezwungen wird und der nie einen anderen Zweck verfolgt, als die Sonderinteressen privilegierter Minderheiten in der Gesellschaft zu verteidigen und sicherzustellen.
Ein Volk ist das natürliche Ergebnis gesellschaftlicher Bindungen, ein Sichzusammenfinden von Menschen, welche durch eine gewisse Gleichartigkeit der äußeren Lebensverhältnisse, durch die Gemeinschaft der Sprache und durch besondere Veranlagungen auf Grund klimatischer und geographischer Lebensbedingungen zustande kommen. Auf diese Art entstehen gewisse gemeinsame Züge, die in jedem Gliede des Volksverbandes lebendig sind und einen wichtigen Bestandteil seiner gesellschaftlichen Existenz bilden. Diese innere Verwandtschaft kann ebensowenig künstlich gezüchtet als willkürlich zerstört werden, es sei denn, daß man alle Glieder einer Volksgruppe gewaltsam von der Erde vertilge. – Eine Nation aber ist stets das künstliche Ergebnis machtpolitischer Bestrebungen, wie ja auch der Nationalismus nie etwas anderes gewesen ist als die politische Religion des modernen Staates. Die Zugehörigkeit einer Nation wird nie, wie beim Volke, durch tiefere natürliche Ursachen bestimmt; sie unterliegt stets den Erwägungen der Politik und den Gründen der Staatsräson, hinter der sich immer die Sonderinteressen privilegierter Minderheiten im Staate verstecken. Ein Häufchen Diplomaten, die lediglich die Geschäftsträger bevorrechteter Kasten und Klassen im Staatsverbande sind, entscheidet oft ganz willkürlich über die nationale Zugehörigkeit bestimmter Menschengruppen, die sich ihrem Machtgebot unterwerfen müssen, weil sie sich nicht anders helfen können, und ohne daß man sie auch nur um ihre Zustimmung gefragt hätte.
Völker und Völkergruppen haben bestanden, lange bevor der Staat in die Erscheinung trat; sie bestehen auch heute noch und entfalten sich ohne das Zutun des Staates und werden nur dann in ihrer natürlichen Entwicklung beeinträchtigt, wenn sich irgendeine äußere Macht in ihr Leben gewaltsam einmischt und dieses in bestimmte Formen zwingt, die ihnen bis dahin we-sensfremd geblieben sind. Die Nation aber ist ohne den Staat undenkbar; sie ist mit ihm zusammengeschmiedet auf Gedeih und Verderb und verdankt ihr Dasein lediglich seiner Existenz. Deshalb wird uns das Wesen der Nation stets unerschlossen bleiben, wenn wir versuchen, sie vom Staate zu trennen und ihr ein Eigenleben zuzusprechen, das sie nie besessen hat.
Ein Volk ist stets eine ziemlich engumgrenzte Gemeinschaft; eine Nation aber umfaßt in der Regel eine ganze Anzahl verschiedener Völker und Völkerschaften, die durch mehr oder weniger gewaltsame Mittel in den Rahmen einer gemeinsamen Staatsform gepreßt wurden. In der Tat gibt es in ganz Europa keinen Staat, der nicht aus einer ganzen Reihe der verschiedensten Völkerschaften besteht, die ursprünglich durch Abstammung und Sprache voneinander getrennt waren und lediglich aus dynastischen, wirtschaftlichen oder machtpolitischen Interessen gewaltsam zu einer Nation zusammengeschweißt wurden.
Sogar dort, wo unter dem Einfluß demokratischer Ideengänge die Bestre-bungen für nationale Einheit von großen Volksbewegungen getragen wurden, wie dies in Deutschland und Italien der Fall gewesen ist, lag diesen Bestrebungen von Anfang an ein reaktionärer Kern zugrunde, der zu keinen guten Ergebnissen führen konnte. Die revolutionäre Betätigung Mazzinis und seiner Anhänger für die Herstellung des nationalen Einheitsstaates mußte sich unvermeidlich als Hindernis für die soziale Befreiung des Volkes auswirken, deren eigentliche Ziele durch die nationale Ideologie verschleiert wurden. Zwischen dem Menschen Mazzini und dem heutigen Diktator Italiens gähnt ein ganzer Abgrund, aber die Entwicklung der nationalistischen Ideenwelt von der «politischen Theologie» Mazzinis bis zum faschistischen Totalitätsstaat Mussolinis bewegt sich in einer geraden Linie.
Ein Blick auf die neugebackenen nationalen Staatswesen, die infolge des ersten Weltkrieges in die Erscheinung traten, gibt uns einen Anschauungsunterricht, der nicht leicht mißverstanden werden kann. Dieselben Nationalitäten, die sich vor dem Kriege nicht genug empören konnten gegen die Gewalt, die ihnen von fremden Bedrückern angetan wurde, erweisen sich heute, wo sie das Ziel ihrer Wünsche erreicht haben, als die schlimmsten Unterdrücker der nationalen Minderheiten in ihren Ländern und wenden gegen diese dieselben brutalen Methoden moralischer und gesetzlicher Unterjochung an, die sie einst, als sie selber noch die Unterdrückten waren, mit Recht bitter bekämpften. Dieses sollte auch den Blindesten darüber aufklären, daß ein harmonisches Zusammenleben der Völker im Rahmen des heutigen Staatensystems überhaupt nicht möglich ist. Aber jene Völker, die im Namen der nationalen Befreiung das Joch einer verhaßten Fremdherrschaft von sich abschüttelten, haben dadurch auch nichts gewonnen; in den meisten Fällen haben sie nur ein neues Joch auf sich genommen, das häufig viel bedrückender ist als das alte. Polen, Ungarn, Jugoslawien und die Randstaaten zwischen Deutschland und Rußland sind klassische Beispiele dafür.
Die Verwandlung menschlicher Gruppierungen in Nationen, das heißt in Staatsvölker, hat der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung Europas keine neuen Ausblicke erschlossen; sie hat sich vielmehr zu einem der festesten Bollwerke der internationalen Reaktion ausgewachsen und ist heute eines der gefährlichsten Hindernisse für die soziale Befreiung. Die europäische Gesellschaft wurde durch diesen Vorgang in feindliche Gruppen zerstückelt, die sich stets mißtrauisch und oft haßerfüllt gegenüberstehen; und der Nationalismus in jedem Lande wacht mit Argusaugen, daß dieser krankhafte Zustand Bestand hat. Wo immer eine gegenseitige Annäherung der Völker angebahnt wird, dort häufen seine Träger immer wieder neuen Zündstoff an, um die nationalen Gegensätze zu erweitern. Denn der nationale Staat lebt von diesen Gegensätzen und müßte in dem Augenblick verschwinden, wo es ihm nicht mehr gelänge, diese künstliche Scheidung weiterbestehen zu lassen.
Der Begriff der Nation beruht daher auf einem rein negativen Prinzip, hinter dem sich allerdings sehr positive Ziele verborgen halten. Denn hinter allem Nationalen steht der Machtwille kleiner Minderheiten und das Sonderinteresse privilegierter Kasten und Klassen im Staate. Sie bestimmen in Wirklichkeit den «Willen der Nation»; denn «die Staaten als solche haben gar keinen Zweck – wie Menger richtig bemerkte –, sondern nur ihre Machthaber». Damit aber der Wille der wenigen der Wille aller werde – denn nur so kann er seine volle Wirksamkeit entfalten –, müssen alle Mittel des geistigen und seelischen Drills herhalten, um ihn im religiösen Bewußtsein der Massen zu verankern und ihn zu einer Sache des Glaubens zu gestalten. Die wahre Stärke jedes Glaubens aber liegt eben darin, daß seine Priester die Trennungslinien, welche den «Rechtgläubigen» von dem Bekennertum anderer Glaubensgemeinschaften scheiden, möglichst scharf herausarbeiten. Ohne die Ruchlosigkeit des Satans wäre es um die Größe Gottes schlecht bestellt. – Nationale Staaten sind politische Kirchengebilde. Das sogenannte Nationalbewußtsein, das dem Menschen nicht angeboren, sondern anerzogen wird, ist eine religiöse Vorstellung; man ist Deutscher, Franzose oder Italiener, wie man Katholik, Protestant oder Jude ist.
Aus: Rudolf Rocker, Nationalismus und Kultur
Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2012/04/29/rduolf-rocker-nationale-staaten-sind-politische-kirchengebilde-1937/