Pierre Ramus - Historische Warnungssignale für die deutsche Arbeiterwelt (1907)

Der folgende Artikel wurde vor Auflösung des Reichstags, die am 13. Dezember erfolgte, verfasst. Da durch diese Auflösung auch die Gesetzesvorlage bezgl. des "Entwurfes eines Gesetzes betreffend gewerbliche Berufsvereine" vorläufig aufgehoben ist, verschob auch die "Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands" den bereits anberaumten ausserordentlichen Gewerkschaftskongress, um erst dann wieder Stellung gegen die Anschläge der Reaktion zu nehmen, sobald dieselbe den nun abgetanen Gesetzesvorschlag aufs Neue vorbringt.

Dass diese Aktion eine hanebüchene, alberne, im Hinblick auf die Interessen der deutschen Arbeiter geradezu verbrecherische genannt werden muss, lassen wir vorläufig dahingestellt; sie wird erklärlich und begreiflich dadurch, dass die meisten der Herren Gewerkschaftsführer zur Stunde viel zu sehr beschäftigt sind im Interesse ihres Parlamentssitzes, kurz, für die bevorstehenden Wahlen, als um Sinn und Zeit zu haben für die wahren ökonomischen Interessen des Proletariats. Dringlichkeiten der Wahlzeit, im Interesse ihres eigenen Parlamentssitzes, sind weit zu überwiegend massgeblich, als um Zeit dafür übrig zu haben, die wahren ökonomischen Interessen des Proletariats zu vertreten.

Dadurch hat nachfolgender Artikel seine periodische Aktualität eingebüsst. Nichtsdestoweniger lassen wir ihn erscheinen, im richtigen Hinblick des Volkssprüchleins, dass aufgeschoben noch lange nicht aufgehoben sei. Hat auch die Generalkommission dies vergessen, so ist es noch lange kein Grund für uns, dies auch zu tun. Wir bringen den Artikel aus diesem Grunde sogar in seiner ursprünglichen Abfassung, ohne eine Veränderung an ihm vorzunehmen.

Sollte man uns vielleicht vorhalten, dass er "unzeitgemäss", so akzeptieren wir den Vorwurf gerne, nur sollten diese Mahner des gesunden Menschenverstandes nie vergessen, dass das Unzeitgemässe in Deutschland seit langem wichtiger ist als das Zeitgemässe! Motto: "Der Kampfesruf der Zentralverbände richtet sich deshalb auch nicht gegen den Grundgedanken des Gesetzes, sondern nur gegen einzelne Bestimmungen. Werden diesen die schärfsten Zähne ausgebrochen — dann werden die Zentralverbände das Gesetz anerkennen und sich ihm unterwerfen." ("Der freie Arbeiter", 15. Dezember 1906)

Eine jede staatlicherseits eingeschlagene Politik sozialer Fürsorge ist ein Danaergeschenk. Sie muss es um so dringender sein, weil die von ihr vorgeschlagenen Gesetzesvorlagen niemals ihrem eigenen, freien Willen entspringen, sondern bloss ein durch soziale Machtbewegungen verschiedener Gesellschaftsschichten erzwungenes Nachgeben und Sichfügen darstellen. Allein es liegt in dem Wesen eines jeden Staates, mag dieses oder jenes Zugeständnis auch nicht im geringsten die Grundsätze seiner Sozialgewalt antasten, nie mehr, immer bloss die Konsequenzen des vorwaltenden Rechtszustandes zu erfüllen; Konsequenzen, die schon längst vereinzelt in Erscheinung treten, aber in ihrer Vollgültigkeit nicht anerkannt wurden, weil eben das konservative Wesen der Staatsgewalt sich stets gegen die Neuerscheinungen auf sozialem Gebiete kehrt, so lange dieselben nicht selbst zum Durchbruch gelangen und dadurch neuartige Rechtssituationen schaffen, neue staatliche Vorsichtsmassregeln gebieterisch fordernd.

Nur von diesem Standpunkte aus muss der Gesetzentwurf über die Rechtsfähigkeit der deutschen Berufs- oder Gewerkvereine gewertet werden, nur so wird er verständlich. Mit einem Kräfteverhältnis von fast zwei Millionen organisierten Personen innerhalb seiner Grenzpfähle ist jeder Staat gezwungen, zu rechten und zu rechnen, dasselbe aufmerksam zu betrachten, mag auch die wirtschaftliche Kraft dieser Kolossalmacht latent bleiben, dank der Schlaffheit und Wesenlosigkeit des organisatorischen Prinzips, das diese Massen vereinigt. Nichtsdestoweniger stellen sie unbedingt eine Finanzmacht dar, die als Kollektivgebilde im Privatigentumsstaat wirtschaftlich ausschlaggebend werden kann, wenn neben dieser Kapitalskraft auch die nötige Kampfesstimmung zu stehen kommt, eine Stimmung, neue Methoden und taktische Mittel zu werten, und zu prüfen, wie sie während der letzten paar Jahre in Deutschland gewissermassen vulkanartig nach Ausdruck rang, wie sie in einer nahen Zukunft ihren formvollendeten Kampfesausdruck finden muss, finden wird.

In allen Perioden vergangener Klassenkämpfe war es immer dieses Stadium, welches den Staat und die herrschenden Klassen besonders auf ihrer Hut fand — wachsam, denn sie wussten, was auf dem Spiele stand. Dieses Stadium der Entwicklung, das unbedingt und unaufhaltsam steigende Gefühl in den Massen, eine kräftigere, nachdrücklichere Kampfesmethode — diejenige des Generalstreiks — annehmen zu müssen, oftmals im reinen Selbsterhaltungstrieb, hat trotz der Dämpfer seitens der Führerklique einen internationalen Rundlauf getan und somit auch Deutschland nicht verschont. Der Wunsch der bei uns ungemein erstarkten Reaktion, der Arbeiterbewegung die ohnedies ganz erbärmlichen politischen und sozialen Freiheiten zu nehmen, wird in Deutschland nur von jenem Gefühle durchkreuzt und nur so vorweg gehalten. Mit dem Zertrümmern des russischen Zarentums schiebt sich Deutschland allmählich und sachte an dessen reaktionäre Position auf der europäischen Weltbühne.

Nur ist das offizielle Deutschland weit klüger und geriebener als das asiatische, brutale, russische Zarentum. Es kennt die Geschichte und begreift, dass der offenen, unverdeckten Tyrannei gegenüber stets die Revolution als Antwort auftritt. Und kein Staat in Europa ist gegenwärtig öffentlich trotz aller Versicherungsphrasen so sehr Englands Feind, wie auch kein Staat in Europa so sehr und genau die innere Politik Englands in sozial bedeutenden Fragen nachahmt, diese Politik, die den englischen Lohnsklaven Träume irdischer Freiheitsphantasien vorgaukelt, dadurch die Stimme der Revolution erstickend, wie es Deutschland tut.

Diese Behauptung erscheint als kühn; besonders in Deutschland, wo man den idealen Begriff der Freiheit an dem Krämer- und dem Philisterstillleben misst, das sich in England Freiheit nennt. Aber es illustriert nur die Ignoranz, die Verständnislosigkeit der Vertreter unserer öffentlichen Meinung in der Tagespresse, dass kein einziges Blatt darauf hinwies — von den sozialdemokratischen ganz abgesehen, denen Englands Trade-Unionismus als Idealbild erscheint —, dass das deutsche Gesetz über die Rechtsfähigkeit der Gewerkschaften in seinem Kern nichts anderes ist als eine Nachahmung des bestehenden englischen, ganz ebenso gefährlich für eine revolutionäre Gewerkschaftsbewegung — wenn es auch in Wahrheit für eine solche keine Gefahr gibt; im Gegenteil: sie selbst bildet eine Gefahr! — wie jenes, leider aber gerade deshalb von den behäbigen Führern der englischen Gewerkschaftsbewegung gar nicht beachtet, geschweige denn gar bekämpft wird.

Einem jeden deutschen Zeitungsleser ist es bekannt, dass die letzten zwei bis drei Jahre der englischen Gewerkschaftsbewegung dem politisch-parlamentarischen Kampfe gegen diverse richterliche Urteile, welche gegen grosse Gewerkschaften gefällt wurden und deren Vermögen quasi konfiszierten oder sagen wir lieber: legal expropriierten, galten. Scheinbar ist der Kampf ein sehr siegreicher gewesen; erst kürzlich ging diejenige "Bill" (Gesetzesvorlage) in beiden Häusern gewissermassen durch, infolgedessen sie nun Gesetz werden wird. Es handelte sich um die abermalige Fixierung des Rechtsbestandes der englischen Gewerkschaften laut einem im Jahre 1871 angenommenen Gesetze, das durch die bekannte Taff-Vale-Entscheidung und andere mehr lädiert worden war. Dieser Rechtszustand ist nun bereits so gut wie wieder erkämpft und gesichert.

Die Geschichte der Arbeiterbewegung ist ja schliesslich überall dort, wo es sich nicht um sozialistische und anarchistische Zielpunkte handelte, ein traurig anzusehender, vergeblicher Windmühlenkampf. Selten jedoch, dass man imstande sein wird, Episoden aufzuweisen, welche so offenkundig Windmühlenkämpfe darstellten, dennoch aber sämtliche sogenannten fortschrittlichen Parteien und Bewegungen mit sich rissen, wie es in obiger Aktion der englischen Arbeiter der Fall war. Alle, angefangen vom einfachen "pure and simple"-Tradeunionisten bis zum internationalen Sozialdemokraten, rufen sie "Sieg, Sieg!" — ohne die Nichtigkeit dieses Scheinsieges zu durchschauen, der für den Staat nicht einen einzigen Fuss breit verlorenen Terrains, hingegen jedoch nach wie vor die totale Auslieferung der Arbeiterbewegung, ihre hinterlistige, zwangsweise Legalisierung bedeutet.

Vor 1871 bestand die englische Gewerkschaftsbewegung als eine illegale Bewegung. Sie bestand, das war ihre juristische Grundlage, sie kämpfte, das war ihre Macht. Gehetzt, gedrängt von allen Seiten, wurde sie als eine Verschwörergruppierung betrachtet, und ihre Wesensäusserungen waren von drakonischen Richterurteilen begleitet. Doch sie überstand alles; sie hielt all den mannigfachen Gesetzen und Gesetzchen stand, die sich gegen ihr natürliches Koalitionsrecht kehrten; sogar ihr schon damals bestehender Unterstützungscharakter trug durch ihren beständigen Guerillakrieg mehr die Signatur brüderlicher Solidarität, als einen Geschäftscharakter, wie gegenwärtig. Und von 1825 an, als Robert Owen den englischen Arbeitern in seiner "Grossen nationalen Trade-Union" zum ersten Male eine breite und national-solidarisch organisierte Aktionsform gab, errangen sie Sieg auf Sieg in ihrer Zurückdrängung aller gesetzlichen Beschränkungen. Ihre Triumphe waren die Folge einer teilweise sehr konsequent durchgeführten Generalstreiktaktik, die auch vor diversen, manchmal mit ihr verknüpften Gewalterscheinungen nicht zurückschreckte.

Die Bewegung riss auch andere Schichten der Bevölkerung in ihr Aktionsgebiet hinein, und während sie strikt auf ökonomischem Gebiete verblieb, liess sie ganz unabhängig von sich einige klügere, weitblickende Bourgeois auf politischem Gebiet für sich arbeiten, unter ihnen ganz besonders Joseph Hume, Anhänger des philosophischen Radikalismus. So kam es, dass die Gewerkschaftsbewegung Englands alle die in den Zeitumständen gelegenen Ebbe- und Flutperioden, ihre Erfolge ganz ungerechnet, dennoch immer einen Zug des Fortschritts zu verzeichnen hatte. So sehr dies, dass im Jahre 1867 bereits ein Gesetz angenommen werden musste, welches die grössten Ungerechtigkeiten dem Wortlaut gemäss abschaffte — die Bewegung war dem engen Rahmen erfolgreicher Unterdrückungsmöglichkeit durch richterliche Urteile entwachsen! Doch dieser Ohnmachtserklärung des Gesetzes gegenüber der Gewerkschaftsbewegung ruhte das Unternehmertum nicht.

Mit allen Mitteln erzwang es den Eingriff der staatlichen Gewalt, und nun kommen wir zu den schlauen Schlichen und heimtückischen Erdrosselungen der Arbeiterbewegung durch Gesetze, wie sie der englische Staat in der Folgezeit erfolgreich durchführte. Zum ersten Mal trat er den Gewerkschaften entgegen mit dem Anerbieten, ihnen Rechtsfähigkeit zu gewähren, zu sichern. Die Gewerkschaften sollten nicht mehr als Gruppen von Individuen betrachtet werden, mit denen man einzeln fertig werden müsste, sondern die Gruppe sollte als zu Recht bestehende Körperschaft betrachtet und mit allen einer solchen zustehenden Rechtsbefugnissen ausgestattet werden, die Trade-Union sollte das Recht haben, als legale Körperschaft Lohn vertrage mit den Unternehmen für ihre Mitglieder abzuschliessen, für deren Aufrechterhaltung zu sorgen. Doch dieser Konzession war überdies noch eine Billerklärung von Strafgesetzen gegen die Gewerkschaften angehängt, die in Streikfällen in Kraft treten sollte. Beide Gesetzesteile wurden angenommen, und erst vier Jahre später konnte der zweiter in den Hintergrund gedrängt werden.

Da aber trat die Regierung mit etwas anderem auf, das den aktuellen Zweck der Rechtsbefähigung erst so recht deutlich enthüllen sollte. Nun, da die Trade-Unions gesetzlich anerkannte Körperschaften waren, mussten sie auch gebeugt werden unter jenes Joch, dem jedes gewerbliche Wirken im staatlich beherrschtet Gesellschaftsleben unterliegt: der staatlichen Oberaufsicht, eigenmächtiger Einsichtnahme in alle private Angelegenheiten.

1876 schmuggelte sie ein Amendement ein, welches die gesamte Gewerkschaftsbewegung einem sogenannten "Registry-Act" (Registrierungsgesetz) unterwarf. Dasselbe war freiwillig, bot aber denjenigen Gewerkschaften, die das neue Gesetz anerkannten, kleine, in ihrer Totalität geradezu lächerliche Vorteile auf juristischem Gebiete. Dafür verpflichteten sich die Unions, ihre Organisationsform, ihre Statuten, ihre Vermögensumstände gänzlich dem Gutachten des Registrars anheimzustellen, Verlangen, die so weit gingen, in die Rechnungsausweise genau Einblick, über die Einnahmen und Ausgaben sich genau Auskunft verschaffen zu können, im Eventualfälle, wenn vielleicht nicht im Einklang mit den gesetzlichen Bestimmungen gehandelt würde, die Union auflösen zu können, das Eigentum staatlich einstreichen zu dürfen! Und es gehört zu den Tragödien der englischen Trade-Unionistenbewegung, dass sie, trunken vor Freude über den Wegfall der strafrechtlichen Bestimmungen von 1871, sich völlig diesem infamen Gesetz fügte, damit ihre privatesten Angelegenheiten vor den ominösen Blicken des Staates entblössend, damit jede revolutionäre Aktion von vornherein unmöglichmachend.

Was folgte, lässt sich leicht begreifen. Die angebliche Freiwilligkeit kam nicht mehr in Betracht, sobald es sich einmal um kleine, kleinliche Vorteile handelte. Der geheime Zweck des englischen Staates, eine zu übermächtig werdende, drohende Volksbewegung, wie überhaupt das ganze, der freien Initiative des Einzelnen entspringende Assoziationswesen des Volkes stets unter seiner wuchtigen Faust zu haben, es in seinem Zwecke zu jeder Stunde zermalmen zu können — dieser geheime Zweck wurde glänzend erreicht. Denn wo eine Volksbewegung oder -Organisation anfängt, legal, rechtlich zu werden, entkleidet sie sich unbedingt ihres völkischen, natürlich-freien und spontanen Charakters, wird eine Unternehmerorganisation im Rahmen der bestehenden Gesellschaft, kann nicht mehr gegen diese sein, muss vielmehr von dieser so viel des Guten abzujagen suchen, als irgend möglich: sie wird selbst eine Rechtsinstitution. Es ist nun leicht zu begreifen, weshalb der englische Staat nach vielem heuchlerischen Zögern sich dazu verstand, das Gesetz von 1871 für die Gewerkschaften wieder anzuerkennen. Er kann es getrosten Mutes tun, es ist ihm nichts in der Welt ungefährlicher als dieses Gesetz. Der englische Staat kontrolliert die englische Trade -Unionbewegung so genau, kennt die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer jeden ihrer Äusserungen so genau, dass nicht ein einziges Pfund Sterlinge ausgegeben werden kann, ohne dass er davon und vom Zweck der Ausgabe Kenntnis besässe!

Wenn man sich seinerzeit in Westeuropa moralisch entrüstete über die Subatow'schen Gründungen von legalen Gewerkschaften in Russland, dann vergass diese spöttwohlfeile Entrüstung gänzlich daran, dass es überall im übrigen Europa auch so ist, ganz zumal- im Mutterlande des Gewerkschaftswesens. Der englische Staat weiss ganz genau, dass er, so lange sich die Gewerkschaften ihm einverleiben, seinen Geist anerkennen, mit oder ohne Gesetz von 1871, stets Sieger über sie bleiben würde. Und wie tief er sie, die Gewerkschaftsbewegung unter sich bringen kann, entnimmt man schon dem einen Umstände, dass die meisten Gewerkschaften in England, ohne den Ursprung oder Zweck dieses "Registry-Act" zu kennen, sich registrieren lassen, ihre Finanzberichte und alles übrige dem englischen Staat unterbreiten — alles aus lässiger, traditioneller Gewohnheit: Ignoranz. So sehr verleugnet diese Trade-Unionsbewegung, eine ursprünglich proletarische, ihren geistigen und historischen Wesensgehalt, dass sie sich der Umschreibung ihrer Ziele und Zwecke durch den "Act" (§ 1265) unterwirft, der als das alleinzulässige Strebensziel einer Gewerkschaft folgendes kurz und bündig darstellt: "Eine Gewerkschaft ist irgend eine Vereinigung, die zeitweise oder permanent die Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern, Arbeitern und Arbeitern, Unternehmern Unternehmern und reguliert oder diverse restriktive Bedingungen der Führung irgend eines Gewerbes oder Geschäftes stellt". Nicht mehr, nicht weniger, dies ist die englische Trade-Union der Rechtsfähigkeit.

Nur angesichts der langen Entwicklung der englischen Trade Unions wird uns der deutsche Gesetzentwurf klar und begreiflich. Wir wollen doch nicht als Klasse Geschichte durchlebt haben, ohne aus ihr zu lernen! Nur weil es der deutsche Staat begreift, dass sich das deutsche Proletariat über kürz oder lang notgedrungen aufraffen muss, dass der Generalstreik die nächste Periode proletarischer Waffenführung und Waffenübung auch in Deutschland sein wird, nur deshalb, und nur zu diesem Zweck will er den Gewerkschaften dieselbe "Rechtsfähigkeit" gewähren, die das Proletariat noch stets total entrechtete. Zehnjährige Vorarbeiten haben unserem Entwürfe eine Reife geboten, welche unbedingt auf die Unterbindung jeder revolutionären gewerkschaftlichen Aktion in Deutschland zugeschnitten ist. Und alles für das Linsengericht der lächerlich winzigen Zugeständnisse und totalen Nichtigkeiten.

Es ist kein allzu merkwürdige Zusammentreffen: die, in Bezug auf wirkliche Aktion, hochnotpeinlich konservative sozialdemokratischen Partei, das konservative Bureaukratentum an Führern in den Gewerkschaften habe sich verschworen, dem Generalstreik, jeder revolutionären Idee vorzubeugen. Vielleicht glaubten sie dadurch, den Staat versöhnlicher gegenüber der Kirchturmspolitik der Zwangspalliativen zu stimmen.

Gerade das Gegenteil ist eingetroffen. Der deutsche Staat traut ihnen beiden nicht die Kraft zu, die Elemente rebellischen Kampfes und hochfliegenden Freiheitsdranges bändigen zu können. Er misstraut aufs tiefste der scheinbaren Ruhe des deutschen Proletariers. Darum sein Gesetz, welches ohne Zweifel ein in jeder Beziehung hinreichender Schubriegel für eine nichtrevolutionäre Gewerkschaftsbewegung ist. Freilich, nicht für eine revolutionäre; in Frankreich, Spanien, Italien bestehen eine Unmenge von Rechtsbestimmungen gegen die Gewerkschaften, sie sind auch nicht rechtsfähig im Sinne der deutschen Auffassung — es sind eben nur Gewerkschaften, Vereinigungen der Arbeiter behufs revolutionären Ringens um die erhabensten Lebensziele der Menschheit, den momentanen Erfolg nicht ausser Acht lassend, aber nur im Hinblick auf das Ziel.

Darauf kommt es allein an. Und der ausserordentliche Gewerkschaftstag, der am 25. und 26. Januar 1907 zwecks Stellungnahme zu dem Regierungsvorschlag bezgl. der Rechtsfähigkeit der Organisationen zusammentreten soll, zu dessen Nutz und Frommen diese Zeilen geschrieben wurden, sollte dies immer im Auge halten. Nicht darauf kommt es an, dass das vorliegende Gesetz der Regierung ein schädliches ist. Schliesslich ist es die Regierung, die es bringt, das besagt alles und genugsam; dann aber wieder darf man niemals vergessen, dass solchen oder ähnlichen Beschränkungssatzungen jede juristische Persönlichkeit oder Körperschaft unterworfen.

Ohne ein gewisses Mass von Unfreiheit geht es im Klassenstaat auch für die Herrschenden nicht ab; im Interesse des Profits ertragen sie alles dies gerne, durch diesen können sie jedes Gesetz umgehen. Anders für die Gewerkschaften. Sie haben Lebensberechtigung nur als antistaatliche, als antikapitalistische Körperschaften, die kein gleiches Dach mit ihren Gegnern beherbergen darf. Wohl wahr, sie bestehen auf Grundlage des gültigen Rechtes: an der Vervollkommnung desselben haben sie jedoch keinerlei Interesse. Für sie gilt es, die geschworenen Feinde einer jeden Rechtsfähigkeit, rechtlichen Anerkennung zu sein, die den Staat noch gewaltiger in ihre Angelegenheiten eingreifen liesse, als es schon geschieht. Überhaupt ist die ideale Gewerkschaftsbewegung eine radikal illegale, die sich der legalen Methoden — soweit dieselben bestehen — nur in agitatorisch-aufklärender Hinsicht zu bedienen hat. Die Gewerkschaften müssen, um ihren Aufgaben getreu bleiben zu können, rechtsunfähig sein, und es ist ein bedenkliches Zeichen für sie, dass der deutsche Staat ihre Befähigung für den bestehenden Rechtsboden anzuerkennen gewillt ist.

Schwach, erbärmlich schwach sind bislang die Massenkundgebungen gegen den Gesetzentwurf gewesen. Es ist fast zum Lachen, wenn man die Resolution der Generalkommission liest, die sie an den Reichstag richtete, "die dringende Bitte, diesen Gesetzentwurf abzulehnen". Dass aber "die Versammlung erklärt, dass sie es für äusserst wünschenswert erachtet, dass den gewerkschaftlichen Organisationen die Rechtsfähigkeit gewährt wird". Wahrlich, es ist notwendig, den Staat in Schutz zu nehmen und zu erklären, dass man Unmögliches von ihm verlangt. Eine Rechtsfähigkeit der Gewerkschaften kann der Staat doch nur geben im Rahmen seines eigenen Rechts, des Klassenrechtes, nie aber laut den Wünschen und Bedürfnissen des organisierten Proletariats, denn diese reichen logischerweise über seine Existenzmöglichkeiten hinaus.

Das zu erklären, muss, sollte die Aufgabe eines ausserordentlichen deutschen Gewerkschaftskongresses sein. Das Proletariat, wo es sich ernstlich im Kampfe mit der bestehenden Gesellschaft befindet, bittet nie um Rechtsfähigkeit, bittet um nichts, erzwingt sich alles, wozu es die Macht besitzt. Es gibt nur ein Recht, nur einen Rechtsboden, auf dem es sich heimatlich und häuslich findet, es ist das Recht der Freiheit, des libertären Sozialismus, aus dessen Recht die Blüte der Gerechtigkeit erwächst. Dieses, ein solches Recht ist aber für den modernen Staat etwas Unerreichbares, Unbegreifliches, nur eine befreite Menschheit kann ihm eine feste, unerschütterliche Grundlage durch wahrhaft freiheitliche Lebensbedingungen zimmern. Das Recht der Gegenwart ist nichts als das schreiende Unrecht, die Gewerkschaftsbewegung auf fortschrittlichem Boden muss es verschmähen. Erst mit dem Sturze der vielen Zitadellen des modernen "Rechts" kann und wird die Welt des Proletariats, stolz lächelnd über jede Rechtsfähigkeit — welch komischer Begriff — hinwegschreitend, diejenigen Rechtsgrundsätze schaffen, welche ihre festesten und sichersten Stützen finden in der befreiten und wirklich freien Arbeit, deren ideale gesellschaftliche Assoziation wir in der anarchistischen Produktionsgruppe erblicken.

Aus: "Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus", 1. Jahrgang, Nr. 7, Jänner 1907. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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