Pierre-Joseph Proudhon - Das Gesetz der Armut
I.
Von allen Notwendigkeiten unserer Natur die gebieterischste ist der Zwang uns zu ernähren. Einige Schmetterlingsarten, sagt man, brauchten keine Nahrung zu sich zu nehmen; aber sie haben sich schon als Raupen vollgefressen und haben nur ein sehr vergängliches Dasein. Soll man sie zum Sinnbild des englischen Lebens machen, das von der Haft des Fleisches befreit ist?
Mögen es die entscheiden, die an Gleichnissen Gefallen finden. Wie dem auch sei, der Mensch hat an der allgemeinen Bedingung alles tierischen Lebens teil: er muß essen oder, ökonomisch zu sprechen, konsumieren. Das ist auf dem Gebiete der Ökonomie unser erstes Gesetz; ein furchtbares Gesetz, das uns wie eine Furie verfolgt, wenn wir ihm nicht durch Vorsorge nachzukommen verstehen oder wenn wir darüber jede andere Pflicht vergessen und uns zu seinen Sklaven machen. Mit dieser Notwendigkeit, unseren Unterhalt zu finden, stehen wir den wilden Tieren ganz nahe; und unter dem Stachel dieser Notwendigkeit machen wir uns zu Schlimmerem als wilde Tiere sind, wenn wir uns in der Ausschweifung wälzen oder wenn wir, vom Hunger getrieben, keine Scheu tragen, zur Befriedigung unseres Verlangens zum Betrug, zur Gewalttat und zum Mord zu schreiten.
Es sieht jedoch so aus, als ob der Schöpfer, der diese Daseinsform für uns gewählt hat, seine Absichten gehabt hätte. Das Bedürfnis des Unterhalts treibt uns zur Industrie und zur Arbeit: das ist unser zweites Gesetz.
Was ist nun Industrie und Arbeit anders als die zugleich körperliche und geistige Ausübung der Kräfte eines Wesens, das zugleich Körper und Geist ist? Die Arbeit ist nicht allein zur Erhaltung unseres Leibes notwendig, sie ist unentbehrlich für die Entwicklung unseres Geistes. Alles, was wir besitzen, alles, was wir wissen, entspringt der Arbeit; jede Wissenschaft, jede Kunst entstammen ihr ebenso wie jeder Reichtum. Auch die Philosophie ist nur eine Art, die Ergebnisse unserer Erfahrung, das heißt unserer Arbeit, zu verallgemeinern und abstrakt zu machen.
So sehr uns das Gesetz des Verzehrs niederzudrücken schien, so sehr erhebt uns das Gesetz der Arbeit. Wir leben nicht ausschließlich vom Leben des Geistes, weil wir keine reinen Geister sind; durch die Arbeit aber vergeistigen wir unser Dasein mehr und mehr; dürfen wir also über sie klagen?
Hier erhebt sich eine Frage, eine der ernstesten Fragen, von deren Beantwortung unser gegenwärtiges Wohl, und wenn wir uralten Mythen glauben dürfen, unser zukünftiges Heil abhängt.
Was braucht der Mensch für seinen Bedarf? Wieviel muß er also, wieviel kann er herstellen? Wieviel hat er zu arbeiten?
Die Antwort auf diese Frage wird unser drittes Gesetz bilden. Bemerken wir zuerst, daß beim Menschen die Fähigkeit zu verzehren unbeschränkt ist, während die Fähigkeit zu produzieren es nicht ist.
Das liegt in der Natur der Sache: verzehren, verschlingen, vernichten ist eine negative, chaotische, unbegrenzte Fähigkeit; hervorbringen, schallen, organisieren, Form und Wesen geben ist eine positive Fähigkeit, deren Gesetz die Zahl und das Maß, das heißt die Beschränkung ist.
Blicken wir um uns: alles hat in der erschaffenen, ich meine in der formal bestimmten Natur sein Maß. Die Kugel, die wir bewohnen, hat einen Umfang von 40.000 Kilometern; sie dreht sich in vierundzwanzig Stunden um sich selbst, in 365 1⁄4 Tagen um die Sonne. Bei seier Umdrehung um sich selbst wendet unser Erdball abwechselnd seine beiden Pole der Sonne zu. Seine Atmosphäre ist nicht über zwanzig Meilen hoch; der Ozean, der vier Fünftel seiner Oberfläche bedeckt, erreicht im Durchschnitt keine grössere Tiefe als dreitausend Meter. Das Licht, die Wärme, die Luft und dar Regen sind uns ohne Zweifel in genügender Menge zugemessen, aber sicher nicht im Übermaß, man möchte fast sagen, mit einer gewissen Sparsamkeit. In der Ökonomie der Erdkugel bringt das kleinste Zuviel, das kleinste Zuwenig Unordnung hervor. Eben dieses Gesetz herrscht über Tiere und Pflanzen.
Die gewöhnliche Dauer des Menschenlebens übersteigt kaum siebzig Jahre. Der Ochse braucht sechs Jahre, um auszuwachsen; der Hammel zwei Jahre; die Auster drei Jahre. Eine Pappel von fünfunddreißig Zentimetern Durchmesser ist mindestens fünfundzwanzig Jahre alt; eine Eiche, die so dick ist, hat hundert Jahre dazu gebraucht.
Das Getreide und die meisten Pflanzen, die wir zu unserer Nahrung bauen, wachsen in einem halben Jahre heran. In der ganzen gemäßigten Zone, der besten des Erdballs, erntet man im Laufe des Jahres im großen Ganzen nur einmal; und wie viele weite Flächen giebt es auf dem festen Teil unseres Planeten, die unbestellbar und unbewohnt sind! Wenden wir uns zum Menschen, dem Verwalter und Nutznießer in diesem Reich.
Seine Muskelkraft erreicht durchschnittlich nicht den zehnten Teil einer Pferdekraft. Er kann, ohne sich zu erschöpfen, im Tag nicht mehr als zehn Stunden, im Jahr nicht mehr als dreihundert Tage wirkliche Arbeit leisten. Er kann nicht einen Tag ohne Nahrung bleiben; er kann nicht auf die Hälfte seiner Nahrungsmenge heruntergehen.
Im Beginn, als das Menschengeschlecht auf der Erde dünn gesät war, lieferte ihm die Natur reichlich, was es brauchte. Das war das goldene Zeitalter, das Zeitalter des Überflusses und des Friedens, dem die Dichter nachtrauern, seit die Menschheit gewachsen ist und sich vermehrt hat, seit dadurch die Notwendigkeit, zu arbeiten, immer dringlicher geworden ist und die Hungersnot die Zwietracht hervorgerufen hat.
Jetzt übersteigt die Bevölkerung unter allen Himmelsstrichen die Naturvorräte weitaus, und man kann getrost sagen, daß der Mensch im Zeitalter der Zivilisation, in das er vor unvordenklichen Zeiten eingetreten ist, nur von dem existiert, was er durch zähe Arbeit der Erde entreißt. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen.
Das nennt er produzieren, Reichtum schaffen; denn die Dinge, die er verzehrt, haben für ihn nur durch den Nutzen, den er in ihnen findet und durch die Arbeit, die sie ihn kosten, Wert. So kommt es, daß zufolge dieser Entwicklung der Bedingungen des Wohlstands Überfluß und Reichtum hier als entgegengesetzte Ausdrücke erscheinen.
Es kann sehr wohl Überfluß ohne Reichtum geben, und ebenso Reichtum ohne Überfluß: beide Ausdrücke bezeichnen also gerade das Gegenteil dessen, was sie zu besagen scheinen. Es ergiebt sich: der Mensch erlangt im Zustande der Zivilisation durch die Arbeit, was der Unterhalt seines Körpers und das Gedeihen seiner Seele beanspruchen, nicht mehr und nicht weniger.
Diese gegenseitige strenge Beschränkung unserer Produktion und unseres Konsums nenne ich Armut und sie ist das dritte der organischen Gesetze, die uns die Natur gegeben hat. Man darf sie nicht mit dem Pauperismus, das heißt der Entbehrung, der Entblößtheit oder dem Notstand verwechseln; davon sprechen wir später.
Hier erhebe sich, und ich darf es nicht verhehlen, das allgemeine Vorurteil gegen mich. Die Natur, sagt man, ist unerschöpflich; die Arbeit wird immer produktiver.
Wir sind weit davon entfernt, die Erde, unsere alte Nährmutter, zur Leistung all dessen zu bringen, was sie uns geben kann. Es wird ein Tag kommen, wo der Überfluß, der nie an Wert verliert, Reichtum heißen kann, wo der Reichtum also im Überfluß da sein wird.
Dann haben wir von Gütern aller Art die Fülle und leben in Frieden und Wonne. Dein Gesetz der Armut ist also falsch. Der Mensch täuscht sich gern mit Worten. Die größte Schwierigkeit seines Philosophierens wird immer sein: seine eigene Sprache zu verstehen. Die Natur ist insofern unerschöpflich, daß wir in ihr fortwährend neue nutzbare Dinge finden, aber nur unter der Bedingung, daß die Arbeit unaufhörlich wächst: und das durchbricht unsere Regel nicht. Die reichsten, auch an Industrien reichsten Nationen sind die, die am meisten arbeiten.
Sie sind es zugleich, bei denen, aus einer Ursache, die wir bald aufzeigen werden, das Elend immer größer wird. Das Beispiel dieser Nationen kann das Gesetz nicht widerlegen; es bestätigt es vielmehr.
Was den Fortschritt der Industrie angeht, so zeigt er sich am meisten in den Dingen, die nicht unbedingt zum Leben erforderlich sind und für die wir die unmittelbare Tätigkeit der Natur weniger brauchen. Aber wenn diese Gattung von Produkten nur eine Winzigkeit über die Menge hinausgeht, die ihr von dem erzielten Vorrat an notwendigen Lebensmitteln streng angewiesen wird, so sinken sie sofort an Wert: all dieser Überfluß gilt für nichts.
Der gesunde Menschenverstand, der noch eben dem Reichtum nachzujagen schien, will doch nichts davon wissen, daß die Produktion die Grenze der Armut überschreitet und widersetzt sich der darüber hinausgehenden Produktion.
Aus alledem ergiebt sich, daß uns angesichts einer unbegrenzten Gabe des Verzehrens und einer notwendigerweise begrenzten Produktivkraft, die genaueste Wirtschaftlichkeit anbefohlen ist. Mäßigkeit, Einfachheit, tägliches Brot durch tägliche Arbeit, Elend als Strafe für Schwelgerei und Faulheit: das ist das erste unserer Moralgesetze.
So ist es der Natur, als sie uns der Notwendigkeit unterwarf, zu essen, um zu leben, nicht eingefallen, uns ein Leben der Lüste zu versprechen, wie es die Bauchphilosophen und Epikuräer behaupten; sie hat uns vielmehr Schritt für Schritt zum asketischen und geistigen Leben führen wollen; sie lehrt uns Nüchternheit und Ordnung und bringt uns dazu, sie liebzugewinnen.
Unsere Bestimmung ist nicht der Genuß, Aristipp mag sagen, was er will: das giebt uns die Natur nicht und wir können es nicht uns allen schaffen, weder durch Industrie noch durch Künste aller Art, was im vollen Sinne des Wortes, so wie es die sensualistische Philosophie versteht, die aus der Wollust unser höchstes Gut und unsern Zweck macht, genießen heißt.
Wir haben keinen andern Beruf, als unser Herz und unsern Geist zu bestellen, und um uns dazu zu helfen, im Notfall uns dazu zu zwingen, hat uns die Vorsehung die Armut zum Gesetz gemacht: Selig sind die Armen im Geiste.
Daher kommt es auch, daß nach den Alten die Mäßigung die erste der vier Kardinaltugenden ist; daß im Zeitalter des Augustus die Dichter und Denker der neuen Zeit, Horaz, Virgil, Seneca die goldene Mitte feierten und die Verachtung des Luxus predigten; daß Christus, in einer noch ergreifenderen Art, uns anweist, wir sollen Gott bitten, uns, für all unser Glück, unser tägliches Brot zu geben.
Sie sahen alle ein, daß die Armut die Grundlage der sozialen Ordnung und unser einziges Glück hinieden ist. Eine Tatsache, die oft angeführt wird, deren wahren Sinn man aber nicht erfaßt zu haben scheint, ist das mittlere Einkommen auf den Tag und den Kopf in einem Lande wie Frankreich, das eines der glücklichst gelegenen der Erde ist.
Dieses Einkommen ist vor etwa dreißig Jahre n von den einen auf 56 Centimes, von den andern auf 69 Centimes berechnet worden. Ganz neuerdings hat ein Mitglied der gesetzgebenden Körperschaft, Herr Auguste Chevalier, in einer Etatsrede das Gesamteinkommen der Nation auf 13 Milliarden berechnet, das ergiebt auf den Tag und auf den Kopf 98 Centimes.
Aber man hat dieser Schätzung Rechenfehler und offenbare Übertreibungen vorgeworfen und es scheint, daß diese Ziffer von 13 Milliarden um mindestens anderthalb Milliarden verkürzt werden muß; das giebt auf den Tag und den Kopf 87,5 Centimes und für jede Familie von vier Personen 3 Fr. 50 täglich (2 Mark 80 Pfennig). Bedienen wir uns dieser Ziffer.
Eine Familie von vier Köpfen kann mit 3 Fr. 50 täglichem Einkommen leben. Aber es leuchtet ein, daß da kein Luxus möglich ist; Mutter und Töchter können keine seidenen Kleider tragen; der Vater kann nicht ins Wirtshaus gehen; wenn Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall kommt, wenn ein Laster ins Haus gelassen wird, ist das Defizit da und bald die Not. Das ist das Gesetz, das strenge Gesetz, dem sich, mit seltenen Ausnahmen, keiner entziehen kann, es sei denn auf Kosten der andern; das Gesetz, für das der Sold des Soldaten und des Matrosen und im großen Ganzen jeder Arbeitslohn Beispiele sind, und das schließlich ganz und gar aus uns gemacht bat, was wir wert sind, aus uns gemacht hat, was wir sind.
Die Armut ist die wahrhafte Vorsehung des Menschengeschlechts.
Die Statistik beweist also, daß eine Nation wie unsre, die sich der besten Bedingungen erfreut, bei einer mittleren Ernte nur soviel hervorbringt, wie ihr genügt. Man kann diese Feststellung für jedes Land machen: überall wird man zu dem Schluß kommen, von dem zu wünschen wäre, daß wir alle von ihm durchdrungen wären: die Bedingung, unter der der Mensch auf der Erde weilt, ist Arbeit und Armut; sein Beruf ist denken und gerecht sein; seine erste Tugend ist Mäßigung. Wenig brauchen, viel arbeiten und immer lernen: das ist unsere Bürgerregel.
Wird man wieder einwenden wollen, dieses Einkommen von 87,5 Centimes auf den Tag und den Kopf sei nicht das letzte Wort der Industrie, die Produktion könne verdoppelt werden? Dann würde ich zur Antwort geben, daß, wenn die Produktion doppelt so groß wäre, die Bevölkerung sich auch verdoppelt hätte, was zu nichts führen könnte. Aber sehen wir uns die Sache noch näher an.
II.
Die Produktion entspringt ursprünglich und stets von neuem aus dem Bedürfnis. Es besteht also ein natürliches Verhältnis zwischen dem Produkt, das erlangt werden soll, und dem Bedürfnis, das den Menschen zur Produktion stachelt.
Wird das Bedürfnis nur um ein geringes schwächer, so läßt sofort auch die Arbeit nach und der Reichtum muß sich vermindern: das ist unvermeidlich. Ja sogar, wenn Wir annehmen wollten, die Produktion bliebe bei verringertem Bedürfnis die nämliche, so wäre das, da dann eine geringere Nachfrage nach den Produkten wäre und ihr Wert also sänke, genau das Selbe, wie wenn ein Teil dieser Produkte nicht produziert worden wäre.
Der Bedürfnisse giebt es zweierlei Art: notwendige Lebensbedürfnisse und Luxusbedürfnisse. Obzwar zwischen diesen beiden Gattungen von Bedürfnissen keine genaue Scheidelinie gezogen werden kann, obzwar ihre Grenze nicht für jedermann die nämliche ist, ist ihr Unterschied darum nicht weniger wirklich: man gewahrt ihn unverkennbar und am stärksten, wenn man das Notwendigste mit dem Ueberflüssigsten vergleicht.
Es lebt niemand, der nicht, wenn er seine gewöhnliche Lebensführung ins Auge faßt, sagen könnte, was seine notwendigen Lebensbedürfnisse, und was seine Luxusbedürfnisse sind.
Wenn wir nun das Leben, die Gewohnheit und den Mang, die Bildungsstufe der ungeheuren Mehrheit der Arbeiter in Betracht ziehen, gewahren wir mit Leichtigkeit, daß ihre Arbeit den höchsten Grad der Intensität erreicht, wenn die Notwendigkeit die Triebfeder ist; sie läßt schnell nach und erlischt bald völlig, sowie die notwendigen Lebensbedürfnisse befriedigt sind und die Arbeit nur noch für den Luxus geleistet wird. Im großen Ganzen will sich der Mensch nur für das anstrengen, was ihm unzweifelhaft nützlich ist. In dieser Hinsicht darf er sich den Repräsentanten der Natur nennen, die nichts Ueberflüssiges tut. Der Lazzarone, der jeglichen Dienst ablehnt, wenn er gegessen hat, ist ein Beispiel dafür. Der Neger macht es ebenso. Wenn das Notwendige erlangt ist, strebt der Mensch nach Ruhe, die von allen Befriedigungen des Luxus die oberste ist und am heftigsten begehrt wird.
Will man aus ihm ein Mehr von Arbeit hervorlocken, muß man seinen Lohn schon verdoppeln und verdreifachen, muß man für seine Arbeit mehr zahlen als sie wert ist, und das verstößt gegen die Bedingungen einer Produktion, die Gewinn abwerfen soll, das heißt gegen das Gesetz der Produktivität. Auch hier wird die Theorie von der Praxis bestätigt. Die Produktion hebt sich nur da, wo durch die Vermehrung der Bevölkerung ein dringendes Bedürfnis nach Lebensunterhalt und infolgedessen dauernde Nachfrage nach Arbeit besteht. Alsdann hat der Lohn mehr die Tendenz zu sinken als zu steigen, der Arbeitstag hat mehr die Tendenz, länger, als kürzer zu werden. Wo eine Bewegung in umgekehrter Richtung
stattfände, müßte die Produktion bald ins Stocken kommen.
Zur Vermehrung des Reichtums in einer gegebenen Gesellschaft bei gleichbleibender Bevölkerung ist dreierlei nötig:
- Es müssen den Arbeitermassen neue Bedürfnisse gegeben werden, was nur durch die Pflege des Geistes und des Geschmacks, mit andern Worten durch eine höher stehende Erziehung geschehen kann, deren Wirkung ist, sie allmählich über den Zustand des Proletariats hinauszuheben;
- es müssen den Arbeitermassen vermöge einer immer vollkommeneren Organisation der Arbeit und Industrie in immer steigendem Maße Zeit und Kräfte für die Muße erobert werden;
- es muß, eben um dieses Zweckes willen, das Schmarotzertum aufhören.
Diese drei Bedingungen für die Steigerung des Reichtums lassen sich auf die Formel zurückführen: immer größer werdende Gleichheit in der Verteilung des Wissens, der Leistungen und der Produkte. Das ist das Gesetz des Gleichgewichts, das größte, man könnte sogar sagen, das einzige Gesetz der Sozialökonomie. Denn alle andern Gesetze sind nur Variationen dieses einen, und sogar das Gesetz der Armut ist nur ein anderer Ausdruck für etwas, was in ihm inbegriffen ist.
Die Wissenschaft lehrt, daß dieser Plan nichts enthält, was nicht ausführbar wäre; der vereinigten, wenn auch noch schwachen Wirksamkeit dieser drei Ursachen: der Erziehung des Volkes, der Vervollkommnung der Industrie und der Ausmerzung des Schmarotzertums ist sogar der ganze geringe Fortschritt zu verdanken, der in den wirtschaftlichen Zuständen der Menschheit im Laufe von drei Jahrtausenden vor sich gegangen ist.
Aber wer sieht nicht, daß, wenn die Arbeitermasse in der Zivilisation, in dem, was ich das Leben des Geistes nennen will, um einen Grad in die Höhe geht, wenn ihre Reizbarkeit stärker, ihre Phantasie lebhafter wird, wenn ihre Bedürfnisse mannigfaltiger, feiner und dringender werden, daß dann der Konsum zu diesen neuen Anforderungen im Verhältnis stehen, die Arbeit also ebenfalls zunehmen muß und so die Situation dieselbe bleibt, das heißt, daß die Menschheit an Geist und Tugend und Gnade, wie das Evangelium sagt, zwar zunimmt, dabei aber immer nur das tägliche Brot erwirbt und also, leiblich gesprochen, immer arm bleibt?
Wie es in diesem Augenblick in Frankreich steht, ist der Beweis für das Gesagte. Es ist nicht zu leugnen, daß die Produktion in den letzten vierzig Jahren stark zugenommen hat; vielleicht ist sie heute sogar verhältnismäßig leistungsfähiger als im Jahre 1820. Trotzdem aber steht für alle, die noch unter der Restauration gelebt haben, fest, daß es für alle Gesellschaftsklassen heute schwerer zu leben ist als unter der Regierung Ludwig XVIII. Woher kommt das? Es kommt daher, daß, wie ich eben gesagt habe, in den mittleren und unteren Klassen die Sitten sich verfeinert haben und daß zugleich, aus Gründen, auf die ich gleich zu sprechen komme, das Gesetz des Gleichgewichts immer mehr verkannt und verletzt, das Gesetz der Mäßigung mit Füssen getreten wurde und so die Armut drückender geworden ist und sich aus dem Segen, zu dem sie von der Natur bestimmt war, in einen Fluch verwandelt hat.
Das Überflüssige haben wir maßlos vermehrt und am Notwendigen fehlt es uns. Sind Einzelheiten nötig zur Erhärtung dieser Tatsache? So verweise ich darauf, daß seit dem Patentgesetz von 1791 sechzigtausend Patente auf Erfindungen und Verbesserungen von Erfindungen erteilt worden sind, daß sich die Dampfmaschinen außerordentlich vermehrt haben, daß Eisenbahnen gebaut worden sind, daß die Finanzspekulation sich mächtig gesteigert hat, daß aber in der selben Zeit die Staatsschuld sich verdoppelt hat, das Staatsbudget von einer Milliarde auf zwei gestiegen ist, der Preis der Mieten und aller Gegenstände des Konsums um 50 bis 1OO Prozent gestiegen ist und daß alles auf einen Zustand des offenbaren Verfalls und der ewigen Krise lossteuert.
So ist jede Nation, ob sie zivilisiert oder barbarisch ist, ob sie die oder jene Einrichtungen und Regierungsart hat, von Natur wegen arm, und ist um so ärmer, je mehr sie vom ursprünglichen Zustand, welcher der Überfluß ist, durch die Arbeit in den Reichtum vorgeschritten ist. Je mehr sich die Bevölkerung der Vereinigten Staaten von Amerika, vermehrt und sich des Bodens bemächtigt, um so mehr vermindern sich verhältnismäßig die natürlichen Hilfsmittel, das Gesetz der Arbeit wird dringlicher und das unfehlbare Zeichen der Armut stellt sich ein: was vorher umsonst oder so gut wie umsonst weggegeben wurde, erlangt jetzt einen immer höheren Preis, die Herrschaft des Werts bekommt die Oberhand, und schon fängt ein Proletariat zu entstehen an...
Eine entsprechende Erscheinung beobachten wir in Spanien. Nach Jahrhunderten der Erstarrung hört Spanien plötzlich den Ruf der Arbeit und der Freiheit und erwacht. Es geht daran, sein Gebiet auszubeuten, und sofort sprudelt auf allen Seiten und für alle Welt der Reichtum hervor. Der Lohn steigt, und das ist kein Wunder: der Boden und das Ausland bezahlen ihn.
Aber man warte nur, bis die Bevölkerung sich diesem Reichtum angepaßt hat, wozu keine fünfzig Jahre nötig sind, und Spanien wird auf einer höheren moralischen Stufe hoffentlich wieder sein, was es von Isabella I. bis Isabella II. war*): im Gleichgewicht, d.h. arm.
Also, fällt mir ein fanatischer Verehrer der Mammona, der Göttin des Geldes ins Wort, ist es unnütz, daß wir uns so anstrengen.
All diese nationalen Unternehmungen, die riesenhaften Arbeiten, die erstaunlichen Maschinen, die sinnreichen Erfindungen, all diese ruhmvolle Industrie hat demnach keinen weitern Zweck, als unsere Ohnmacht zur Schau zu stellen, und wir täten klug daran, wenn wir darauf verzichteten. Alles nur ein Werkzeug des Elends, reiner Betrug. Denn wozu sollen wir so viel schwitzen und uns den Kopf zerbrechen, wenn wir von unserer Arbeit lediglich die Notdurft zu erwarten haben? Es wäre demnach klug, in seinen Mitteln bescheiden zu sein, sich nicht mit Genialität zu beschweren, ein beschränktes Leben im kleinen Haushalt zu führen. Siehe da, was du für ein edles Werk verrichtest: du entmutigst die Herzen, drückst den Geist herunter, begießest die Glut mit kaltem Wasser, ertötest den schöpferischen Geist! Das ist deine Moral, das ist deine Zivilisation, das ist dein Friede!
Wahrhaftig! wenn du uns auf solche Weise vom Krieg befreien willst, ist es uns tausend Mal lieber, seine Gefahren auf uns zu nehmen. Da zahlen wir eben, wenn es sein muß, eine Milliarde mehr für das Staatsbudget; aber man lasse uns den Ruhm unserer Industrie, die Illusionen unsrer Unternehmungen.
Jedem, der diese Sprache zu mir spricht, antworte ich: Herunter mit der Maske! Man kennt dich an deiner Schönrednerei, Industrieritter, Börsenjobber, Spekulant und feiler Schmarotzer! Jawohl, geh nur, befreie die Arbeit von deiner verhaßten Gegenwart. Denn euer Reich verschwindet, und wenn ihr nicht mit euren zwei Händen zu arbeiten lernt, kommt ihr in Gefahr, Hungers zu sterben.
Den schlichten Menschen, die von der Beredsamkeit der Marktschreier so leicht verführt werden, sage ich: Warum wollt ihr nicht verstehen, daß ebenso, wie es eine Zeit gab, wo der Landmann die Notdurft seines Lebens mit Hilfe seines Spatens erlangte, er sie sich später, als er sich vermehrt hatte, mit dem Pfluge holte, und daß er auf Grund der nämlichen Entwicklung in unserer Zeit dazu gebracht wurde, sie sich durch die Maschine, das Dampfschiff und die Lokomotive zu verschaffen?
Habt ihr berechnet, wie viel Reichtum man braucht, um auf einem Flächengebiet von achtundzwanzigtausend Quadratmeilen siebenunddreißig Millionen Seelen zu ernähren? Arbeitet also, denn wenn ihr erlahmt, verfallt ihr dem Notstand, und an Stelle des Luxus, von dem ihr träumt, habt ihr nicht einmal mehr das Notwendigste.
Arbeitet, vermehrt und verbessert eure Hilfsmittel; erfindet Maschinen, suchet Dungmittel, gewöhnt Tiere aus andern Zonen an euer Klima, baut neue Nutzpflanzen, drainiert, forstet auf, macht urbar, bewässert, trocknet Sümpfe; setzet Fische in eure Flüsse, eure Bäche, eure Teiche und eure Pfützen; erschließet Kohlengruben, grabt Gold, Silber, Platin; gießet Eisen, Kupfer, Stahl, Blei, Zinn, Zink; spinnet, webet, nähet; stellt Möbel, Töpferwaren und vor allem Papier her und baut eure Häuser neu auf; eröffnet euch Märkte, pfleget den Tausch und nehmt eine radikale Umwälzung mit euren Banken vor. All das ist euch dringend zu raten, Und es ist nicht genug, daß ihr produziert, es tut euch, wie ich euch schon ans Herz gelegt habe, not, daß die Leistungen nach den Fähigkeiten eines jeden unter allen verteilt werden, und daß der Lohn jedes Arbeiters im Verhältnis zu seinem Produkt steht.
Wird dieses Gleichgewicht nicht hergestellt, so bleibt ihr im Elend, und eure Industrie verwandelt sich in euer Verhängnis. Wenn ihr aber das alles getan habt und ihr nun denkt, ihr hättet es durch die Anspannung eurer Produktion und die Genauigkeit eurer Verteilung dazu gebracht, reich zu sein: dann gewahrt ihr mit Staunen, daß ihr in Wirklichkeit nur gerade so viel habt, um euer Leben zu fristen und daß ihr nicht einmal so viel übrig habt, um vierzehn Tage Fasching zu feiern.
***
Man fragt, ob dieser industrielle Fortschritt, derimmer dem Gesetz der Notdurft unterworfen ist, außer den Existenzmitteln, die er einer größer gewordenen Bevölkerung verschafft, nicht eine Verbesserung im Dasein des Individuums mit sich führt? Ohne Frage findet eine Verbesserung im Leben des Individuums statt: worin aber besteht sie? Auf der Seite des Geistes in der Entwicklung des Wissens, der Gerechtigkeit und des Ideals; auf der Seite des Leibes in einem Konsum, der gewählter ist und der erhöhten Kultur des Geistes entspricht.
Das Pferd frißt seinen Hafer, der Ochse sein Heu, das Schwein seine Eicheln, das Huhn sein Futter. Sie haben keinen Wechsel in ihrer Nahrung und machen sich gar nichts daraus. Ich habe gesehen, wie die Landarbeiter Tag für Tag das nämliche Schwarzbrot, die nämlichen Kartoffeln, die nämliche Polenta gegessen haben, ohne daß es schien, daß ihnen das unangenehm gewesen wäre: nur unter der übermäßigen Arbeit magerten sie ab.
Der zivilisierte Arbeiter jedoch, der Arbeiter, den der erste Strahl des Geistes getroffen hat, hat das Bedürfnis in seiner Nahrung zu wechseln. Er nährt sich von Korn, Reis, Mais, Gemüsen, Fleisch, Fischen, Eiern, Obst, Milchprodukten; er nimmt manchmal Wein, Bier, Most, Meth, Tee, Kaffee zu sich; er salzt seine Speisen, würzt sie, bereitet sie auf die verschiedensten Arten zu. Anstatt sich einfach mit einem Schaf- oder Bärenfell zu bedecken, das an der Sonne getrocknet wurde, trägt er Kleider, die aus Wolle, Leinen oder Baumwolle gewebt sind; er trägt leinene oder Flanellwäsche und hat für Sommer und Winter verschiedene Bekleidung. Sein Körper ist nicht schwächer, aber es fließt ein reineres Blut in ihm, das der Ausdruck der Pflege ist, die seine Seele empfangen hat, und er verlangt darum eine sorgfältigere Betreuung, die der Wilde nicht braucht. Das ist der Fortschritt, der die Menschheit nicht hindert, arm zu bleiben; denn sie hat immer nur, was sie braucht, und sie kann nicht einen Tag verlieren, ohne daß sofort der Hunger gespürt wird.
Könnt ihr bewirken, daß der Mensch im Durchschnitt mehr als zehn bis zwölf Stunden im Tag arbeitet? Könnt ihr es zuwege bringen, daß achtzig Personen die Arbeit von hundert verrichten, oder daß die Familie, die 3 francs 50 im Tag zu verzehren hat, 5 francs ausgiebt? Nun, ebenso wenig könnt ihr durchsetzen, daß eure Magazine, eure Lagerräume, eure Docks mehr Lebensmittel enthalten, als verlangt werden, mehr als neun Millionen Familien, die ein mittleres Einkommen von elf bis zwölf Milliarden haben, das sie mit ihrer Hände Arbeit geschaffen haben, kaufen können. Man gebe all den Männern und Frauen, die Mangel daran haben, ein halbes Dutzend Hemden, ein Tuchwams, ein Kleid zum Wechseln, ein paar Schuhe, und man wird sehen, was übrig bleibt. Dann mögt ihr mir sagen, ob ihr Überfluß habt, ob ihr im Reichtum schwimmt.
Die Eleganz der Städte, die ungeheuren Vermögen, der Glanz und Pomp des Staates, das Budget der Staatsschuld, der Armee, der öffentlichen Arbeiten; die Dotationen, die Zivilliste, die Protzerei der Banken, der Börse, der Millionen und Milliarden; die berauschenden Genüsse, von denen manchmal ein Bericht bis zu euch dringt: all das blendet euch, all das läßt euch an den Reichtum glauben, all das macht euch traurig über eure Armut. Aber bedenket doch: diese Herrlichkeit ist von dem kümmerlichen Durchschnittseinkommen von 3 francs 50 für die Familie von vier Personen und für den Tag abgezogen worden, sie ist eine Steuer auf das Produkt des Arbeiters, die vor der Feststellung des Lohnes vorweg erhoben wird. Der Heeresetat ist ein Abzug von der Arbeit; der Etat des Eigentums ist ein Abzug von der Arbeit; der Etat des Bankiers, des Unternehmers, des Größhändlers, des Beamten ist ein Abzug von der Arbeit; der Etat des Luxus folglich ist ein Abzug von der Notdurft.
Laßt es euch also nicht verdrießen; akzeptiert männlich die Lage, in der ihr von Natur wegen seid und saget euch einmal für alle: der ist der Glücklichste, der am besten arm zu sein versteht.
Die Weisheit der Alten hatte diese Wahrheiten geahnt. Das Christentum stellte zuerst in deutlichem Ausdruck das Gesetz der Armut auf, brachte es aber, wie es die Eigenheit jedes Mystizismus ist, mit seiner Theologie in Einklang. Es kämpfte gegen die heidnische Wollust und konnte von seinem Standpunkt aus die Armut nicht in ihrer wahren Bedeutung erkennen; es machte aus ihr einen Zustand des Leidens in seinen Kasteiungen und seinem Fasten; einen Zustand des Schmutzes in seinen Mönchen; einen Fluch des Himmels in seinen Bußübungen.
Davon abgesehen ist die Armut, wie das Evangelium sie verherrlicht, die größte Wahrheit, die Christus den Menschen gelehrt hat. Die Armut ist sittsam ; ihre Kleider sind nicht zerrissen, wie der Mantel des Zynikers; ihre Wohnung ist sauber, gesund und von der Welt abgeschlossen; sie wechselt mindestens einmal in der Woche die Wäsche sie ist nicht blaß und nicht hungrig. Wie Daniel und seine Gefährten strahlt sie vor Gesundheit, wenn sie ihr Gemüse ißt; sie hat ihr tägliches Brot, sie ist glücklich.
Die Armut ist nicht der Wohlstand; er wäre für den Arbeiter schon der Verderb. Es ist nicht gut, daß der Mensch im Behagen sitzt; es ist vielmehr nötig, daß er immer den Stachel des Bedürfnisses spürt. Dieser Wohlstand wäre noch mehr als Verderb; er wäre Knechtschaft; und es ist wichtig, daß der Mensch sich gelegentlich über das Bedürfnis erheben und selbst aufs Notwendige verzichten kann. Aber die Armut hat trotzdem ihre stillen Freuden, ihre harmlosen Feste, ihren Luxus in der Familie, einen rührenden Luxus, der aus der gewohnten Einfachheit des Haushalts sich abhebt.
Uns dieser unvermeidlichen Armut, die ein Gesetz unsrer Natur und unsrer Gesellschaft ist, entziehen zu wollen, — daß daran kein Gedanke ist, leuchtet ein. Die Armut ist gut, und wir dürfen sie als den Ursprung und den Grund unserer Lust und unsrer Heiterkeit betrachten. Die Vernunft gebietet uns, ihr unser Leben durch die Einfachheit der Sitten, die Mäßigung in den Genüssen, die Hingabe an die Arbeit und die völlige Unterwerfung unsrer Gelüste unter die Gerechtigkeit anzupassen.
Wie geschieht es nun, daß eben diese Armut, deren Aufgabe ist, in uns die Tugend zu wecken und das allgemeine Gleichgewicht zu sichern, uns in den Kampf gegen einander treibt und den Krieg zwischen den Völkern entzündet? Das wollen wir im weiteren aufzudecken versuchen.
III.
Die Bestimmung, die der Mensch auf Erden hat, ist völlig eine geistige ; die Lebensweise, die diese Bestimmung ihm anweist, ist ein Leben der Einfachheit. Im Vergleich zu ihrer Gabe des Verbrauchens, zur Unendlichkeit ihrer Wünsche, zum Prunk der Bilder, die sie locken, sind die Hülfsquellen der Menschheit sehr beschränkt; sie ist arm und muß arm sein, weil sie sonst durch den Trug der Sinne und die Verführung des Intellekts in die Tierheit zurücksinkt, an Leib und Seele verdirbt und gerade durch den Genuß ihre Tugend und ihre geistige Art verliert. Das ist das Gesetz, das uns unsre Lage hier auf Erden auflegt, und das zugleich von der Sozialökonomie, der Statistik, der Geschichte und der Moral aufgezeigt wird Die Nationen, die als höchstes Gut den materiellen Reichtum und die Genüsse, die er verschafft, erstreben, sind Nationen, die im Verfall sind.
Der Fortschritt oder die Vervollkommnung unsrer Art beruht ganz und gar auf der Gerechtigkeit und der Philosophie. Die Vermehrung des Wohlstands kommt dabei weniger als Belohnung und Mittel der Glückseligkeit in Betracht, als vielmehr als Ausdruck der Stufe unsrer Wissenschaft und als Sinnbild unserer Tugend. Vor dieser Wirklichkeit der Dinge bricht die sensualistische Theorie ein für alle Mal zusammen: sie ist überführt, mit der sozialen Bestimmung in Widerspruch zu stehen.
Wenn wir lebten, wie es das Evangelium empfiehlt, in einem Geiste der frohen Armut, so würde die vollkommenste Ordnung auf Erden herrschen. Es gäbe kein Laster und kein Verbrechen; die Menschen bildeten in Arbeit, Vernunft und Tugend eine Gesellschaft von Weisen; sie genössen all die Glückseligkeit, deren ihre Natur fähig ist. Aber das kann heutzutage nicht stattfinden, das ist zu keiner Zeit so gewesen, und zwar infolge der Verletzung unserer zwei großen Gesetze, des Gesetzes der Armut und des Gesetzes der Mäßigung...
Der Mensch glaubt an das, was er in unsrer französischen Sprache mit einem einzigen Wort fortune, d.h. Glück durch Geldbesitz nennt, wie er an den Sinnengenuß und an alle Täuschungen seiner Wünsche glaubt. Gerade dadurch, daß er genötigt ist, zu produzieren, was er verbraucht, betrachtet er die Anhäufung der Reichtümer und den Genuß, der sich daraus ergiebt, als sein Ziel. Diesem Ziel jagt er gierig nach: das Beispiel einiger reich gewordenen läßt ihn glauben, was einige erreicht haben, müsse allen möglich sein; er würde es als einen Widerspruch der Natur, als eine Lüge der Vorsehung betrachten, wenn es anders stünde.
Auf diese Induktion seines Geistes gestützt bildet er sich ein, er könnte seine Habe bis ins Unendliche vermehren, könnte unter dem Wertgesetz den ursprünglichen Ueberfluß wiedererlangen. Er sammelt, er häuft an, er stapelt Schätze auf; seine Seele sucht in diesem Streben all ihre Sättigung. Das Jahrhundert, in dem wir leben, ist ganz von diesem Glauben erfüllt, der törichter ist als alle Glaubensvorstellungen, an deren Stelle zu treten, er sich anmaßt. Das Studium der Nationalökonomie, dieser ganz modernen Wissenschaft, die noch wenig verstanden wird, treibt die Geister in ihn hinein; die verschiedenen sozialistischen Schulen haben sich an dieser Orgie des Sensualismus um die Wette beteiligt; die Regierungen begünstigen die Jagd nach den Interessen und ihren Kultus nach Kräften; selbst die Religion, deren Sprache früher so streng war, scheint die Hand dazu zu reichen. Reichtum schaffen, Gold machen, sich mit Luxus umgeben, ist allenthalben ein Grundsatz der Moral und der Regierung geworden.
Man hat sich bis zu der Behauptung verstiegen, das Mittel, die Menschen tugendhaft zu machen, Laster und Verbrechen zu verscheuchen, bestünde darin, überall den Komfort zu verbreiten, einen doppelten und dreifachen Reichtum zu schaffen: wer auf dem Papier spekuliert, kann ja leicht mit Millionen um sich werfen. Kurz, durch diese neue Ethik hat man sich daran gemacht, die Begehrlichkeit zu entzünden, im Gegensatz zu dem, was die alten Moralisten lehrten, die sagten, man müßte die Menschen zuvörderst mäßig, sittsam, bescheiden machen, sie anweisen, mit wenigem auszukommnn und mit ihrem Los zufrieden zu sein, und dann könnte alles in der Gesellschaft gut werden. Man kann sagen, in dieser Hinsicht ist das öffentliche Gewissen völlig ins Gegenteil verkehrt worden, und jeder kann heute sehen, zu welchem Ergebnis diese seltsame Revolution geführt hat.
Es ist jedoch für jeden, der über die Gesetze der Wirtschaftsordnung etwas nachgedacht hat, klar, daß der Reichtum ebenso wie der Wert weniger eine Wirklichkeit als ein Verhältnis darstellt: das Verhältnis der Produktion zum Konsum, des Angebots zur Nachfrage, der Arbeit zum Kapital, des Produkts zum Lohn, des Bedürfnisses zur Tätigkeit usw. Dieses Verhältnis hat als allgemeinen, typischen Ausdruck den Tagelohn und das Tagewerk des Arbeiters in ihrer Zusammengehörigkeit: Ausgabe und Produkt. Das Tagwerk der Arbeit: da haben wir in zwei Worten die Bilanz des öffentlichen Vermögens, die gewiß von Zeit zu Zeit anders wird, aber in viel engeren Grenzen, als man gewöhnlich annimmt: auf der Seite der Aktiva werden Änderungen bewirkt durch die Erfindungen und Neuerungen auf den Gebieten der Industrie, des Handels, der Minen und Verhüttung, der Landwirtschaft, der Kolonisation und der Eroberung: auf der Seite der Passiva durch Epidemien, Mißernten, Revolutionen und Kriege.
Aus dieser Erscheinung des Tagwerks der Arbeit folgt, daß die Gesamtproduktion, der Ausdruck der Gesamtarbeit, in keinem Fall das Gesamtnotwendige, das, was wir das tägliche Brot genannt haben, nennenswert übersteigen kann. Die Idee, die Produktion eines Landes zu verdreifachen oder vervierfachen, wie man bei einem Leinwand- oder Tuchfabrikanten eine Bestellung aufs Dreifache oder Vierfache erhöht, und dabei nicht eine entsprechende Vermehrung in der Arbeit, dem Kapital, der Bevölkerung und den Absatzgelegenheiten, vor allem eine parallele Steigerung der Intelligenz und der Sitten ins Werk zu setzen, welch letztere die meiste Sorgfalt erfordert und am meisten kostet, diese Idee ist noch mehr vernunftwidrig als die Quadratur des Kreises: sie ist ein Widerspruch, eine Sinnlosigkeit. Aber eben das wollen die Massen nicht begreifen, das stellen die Ökonomisten nicht ins Klare, darüber bewahren die Regierungen vorsichtiges Schweigen. Produziert, macht Geschäfte, bereichert euch: das ist jetzt, wo ihr nicht mehr an Gott und nicht an die Menschheit glaubt, eure einzige Zuflucht.
Aus dieser Illusion und der bittern Enttäuschung, die ihr unvermeidlich folgt, ergiebt sich die Wirkung, daß die Begierden gereizt und aufs äußerste gesteigert werden, daß der Arme wie der Reiche, der Arbeiter wie der Schmarotzer unmäßig und habgierig wird; und daß er dann, wenn die Hoffnungen gescheitert sind das Kartenhaus eingestürzt ist, gegen sein übles Los erbittert wird, die Gesellschaft haßt und schließlich zu Verbrechen und Krieg getrieben wird. Die Unordnung erreicht jedoch ihren Gipfel durch die maßlose Ungleichheit in der Verteilung der Produkte.
IV.
Wir haben im ersten Kapitel gesehen, daß das Gesamteinkommen Frankreichs aller Wahrscheinlichkeit nach 87,5 Centimes auf den Tag und den Kopf nicht übersteigt. Siebenachtzigundeinhalb Centimes (knapp siebzig Pfennig) auf den Tag und die Person: das darf man heutzutage als das mittlere Einkommen, das heißt als das durchschnittliche Produkt, also als den durchschnittlichen Verbrauch, als den Ausdruck für einen gerechten Bedarf betrachten.
Wäre dieses Einkommen, so gering es auch scheint, jedem Bürger gesichert; mit andern Worten, genösse jede Familie in Frankreich, Vater, Mutter und zwei Kinder, ein Einkommen von 3 francs 50; oder wenn wenigstens die Minima und die Maxima nicht für die armen Familien, die es immer in sehr großer Zahl giebt, unter 1 francs 75, die Hälfte von 3 francs 50 sänken oder für die Reichen, die es in viel kleinerer Zahl giebt, nicht über 15 oder 20 Franken stiegen, wobei angenommen ist, daß jede Familie, was sie verbraucht, selbst produziert hat: dann gäbe es nirgends Notstand. Die Nation erfreute sich dann eines unerhörten Wohlstands; ihr Reichtum wäre völlig geordnet und verteilt und wäre unvergleichlich groß und dann könnte die Regierung mit Recht rühmend von dem immer wachsenden Wohlstand des Landes sprechen.
Aber dazu ist nötig, daß der Abstand zwischen den Vermögen sich in solchen Grenzen hält; ist, sage ich, nötig, daß die ärmsten Familien es auf ein Einkommen von 1 francs 75 bringen, und daß die reichsten sich damit begnügen, zehnmal so viel zu erhalten. Nach neueren Berechnungen eines gelehrten und gewissenhaften Nationalökonomen hat der größte Teil der Bevölkerung der Bretagne nicht mehr als fünfundzwanzig Centimes (zwanzig Pfennig) auf den Tag und den Kopf zu verzehren; und er fügt hinzu, daß diese Bevölkerung nicht für notleidend gilt. Andrerseits ist bekannt, daß eine große Zahl Einkommen nicht bloß auf zehn und fünfzehnEranken Einkommen pro Tag und Kopf steigen, sondern auf fünfzig, hundert, zweihundert, fünfhundert, tausend Franken, man nennt einige, die es bis auf zehntausend Franken täglich bringen sollen. Da ist nun besonders anzumerken, daß seit dem fabelhaften Aufschwung, den die Geschäfte genommen haben, einige Zwischenhändler, die offenbar des Glaubens leben, der Reichtum sei allen gesichert und sich für ihr Draufgängertum im Voraus bezahlt machen wollen, damit angefangen haben, sich selbst ein, zwei, zehn, zwanzig, fünfzig und gar achtzig Millionen zuzuerkennen. Das besagt, daß sie einstweilen, bis das Schlaraffenleben eintritt, das sie uns für ewige Zeiten versprechen, der Gemeinschaft, die vorläufig fasten muß, jeder hundert bis dreitausend Anteile für sich wegnehmen. Und das Land läßt sich diesen schnöden Raub ohne Widerspruch gefallen, obwohl die Krisen auf dem Geldmarkt, das Stocken der Geschäfte, das Anwachsen der Schulden ihm klar genug zeigen müssten, was von den goldenen Bergen, die ihm versprochen werden, zu halten ist.
Woher kommt nun diese empörende Ungleichheit? Man könnte der Habgier, die vor keiner Niedertracht zurückschreckt, der Unkenntnis des Wertgesetzes, der Willkür des Handels usw. die Schuld zuschreiben. Diese Ursachen sind gewiß nicht ohne Einfluß; aber sie haben nichts Organisches und hielten sich nicht lange gegen die allgemeine Verdammung, wenn sie nicht auf ein tiefer liegendes und achtbareres Prinzip zurückgeführt werden könnten, dessen falsch angewandte Energie das ganze Übel hervorbringt.
Dieses Prinzip ist das nämliche, wie das, von dem wir auf die Jagd nach dem Reichtum und Luxus geschickt werden und das uns für den Ruhm entflammt; das nämliche, aus dem das Recht der Gewalt, später das Recht der Intelligenz und schließlich sogar das Recht auf Arbeit entsteht; es ist das Gefühl von unserm Wert und unsrer persönlichen Würde, aus welchem Gefühl die Achtung vor dem Nächsten und vor der ganzen Menschheit hervorgeht und das die Gerechtigkeit herstellt.
Eine Folge aus diesem Prinzip der Menschenwürde, das der Ausgangspunkt jedweder Gerechtigkeit ist, jedoch erst durch eine lange Erziehung des Gewissens und der Vernunft wahrhaft zur Gerechtigkeit wird, ist, daß wir zunächst uns in allem und für alles dem andern vorziehen und daß wir sogar diese willkürliche Bevorzugung auf die ausdehnen, an denen wir Gefallen finden und die wir unsere Freunde nennen.
Der gerechteste Mensch ist geneigt, den Nächsten nicht nach seinem Verdienst einzuschätzen und zu behandeln, sondern nach der Sympathie, die seine Person einflößt. Diese Sympathie bringt die Freundschaft hervor, die so heilig ist; sie ruft die Gunst hervor, die an sich noch harmlos ist wie das Vertrauen und noch nichts Ungerechtes in sich birgt, die jedoch bald die Rechtsbeugung, das Ansehen der Person, den Schwindel, die sozialen Unterschiede und die Kasten hervorbringt. Der Fortschritt der Arbeit und die Entwicklung der sozialen Beziehungen allein konnten uns unterscheiden lehren, was hier Rechtens ist und was es nicht ist; einzig und allein der Umgang mit den Tatsachen konnte uns zeigen, daß zwar in unserm Verkehr mit unsers Gleichen eine gewisse Läßlichkeit, eine gewisse Bevorzugung der Freunde gestattet ist, daß aber vor der ökonomischen Gerechtigkeit jedes Ansehen der Person verschwinden muß und daß, wenn die Gleichheit vor dem Gesetz irgendwo in voller Strenge gelten muß, das vor allem da der Fall ist, wo es sich um die Entlohnung der Arbeit, um die Verteilung der Leistungen und der Produkte handelt.
Die übertriebene Meinung von uns selbst, der Mißbrauch der persönlichen Begünstigung: daher kommt die Übertretung des Gesetzes von der gerechten ökonomischen Verteilung; und diese Übertretung und Verletzung ist es, die in Verbindung mit unserer Sucht nach dem Luxus den Pauperismus erzeugt, diese Erscheinung, die noch schlecht beschrieben ist, angesichts deren aber alle Nationalökonomen insofern einig sind, als sie ihren zerstörenden Einfluß auf die Gesellschaften und Staaten allesamt erkennen.
Versuchen wir, uns darüber klar zu werden. Die Armut ist das Gesetz unserer Natur, das uns zwingt, alles zu produzieren, was wir verbrauchen sollen, und dabei unserer Arbeit nur die Herstellung des Notwendigen gestattet. Wir kamen, indem wir das erkannten, zu dem Satze, der so wahr wie paradox ist: Die normale Bedingung des Menschen in der Zivilisation ist die Armut.
Der Pauperismus ist die unnormale Armut und wirkt zerstörend. Auf Grund welcher besonderen Tatsachen er auch entstehen mag, immer besteht er in dem mangelnden Gleichgewicht zwischen dem Produkt des Menschen und seinem Einkommen, zwischen seiner Ausgabe und seinem Bedürfnis, zwischen dem Traum seines Strebens und demnach zwischen den Lebensbedingungen der einzelnen Bürger. Mag der Fehler an den Individuen liegen oder an den Einrichtungen, an der Knechtschaft oder dem Vorurteil, immer ist der Pauperismus eine Verletzung des ökonomischen Gesetzes, das einerseits den Menschen zwingt, zu arbeiten, um zu leben, und andrerseits sein Produkt zu seinem Bedarf ins Verhältnis setzt.
Der Arbeiter zum Beispiel, der nicht im Tausch für seine Arbeit das Minimum des mittleren Kollektiveinkommens, also 1 francs 75 täglich für sich und seine Familie bekommt, verfällt dem Pauperismus. Er kann mit diesem ungenügenden Lohn seine Kräfte nicht mehr erneuern, kann seinen Hausstand nicht führen, kann seine Kinder nicht erziehen und noch weniger seinen Geist ausbilden. Mehr und mehr sinkt er in die Entartung, den sittlichen Verfall und das Elend.
Und diese Verletzung des Gleichgewichts hat, ich wiederhole es, ihren Ursprung in einer wesentlich psychologischen Tatsache: sie entspringt einerseits der Ideologie unserer Begierden, andererseits dem übertriebenen Gefühl, das wir alle von unserer Würde haben, und der geringen Beachtung, die wir der Würde der anderen schenken.
Dieser Geist des Luxus und der Aristokratie, der in unesrer vorgeblich demokratischen Gesellschaft immer lebendig ist, macht aus dem Austausch der Produkte und der Leistungen einen Betrug, indem er ein persönliches Element darin einführt; er ist es, der dem Wertgesetz zum Trotz dank seiner allgemeinen Verbreitung daran arbeitet, das Vermögen seiner Auserwählten um die zahllosen Teilchen, die dem Lohn aller geraubt werden, zu vermehren.
V.
Die Tatsachen, die in der allgemeinen Wirtschaft die ungerechte Verteilung zum Ausdruck bringen, wechseln je nach Ort und Umständen; aber immer laufen sie darauf hinaus, daß der Lohn im Vergleich zum Bedürfnis des Arbeiters nicht ausreichend ist. Führen wir nur die wichtigsten und verbreitetsten Erscheinungsformen an:
1. Die Entwicklung des Schmarotzertums, die Vermehrung der Posten und der Luxusindustrien. Das ist der Zustand, dem wir alle mit aller Macht unseres Hochmuts und unserer Sinnlichkeit zusteuern. Jeder will auf Kosten der Gemeinschaft leben, will eine Pfründe haben, will kein Handwerk ausüben oder will für seinen Dienst eine Belohnung haben, die im Vergleich mit dem öffentlichen Nutzen seiner Tätigkeit zu groß ist, eine Belohnung, wie sie nur die Phantasie, die übertriebene Meinung von seiner Begabung usw. verleihen können. Diese Schmarotzer, Pfründner und Luxusarbeiter zählen nach vielen Hunderttausenden.
2. Die unproduktiven, unangemessenen Unternehmungen, die in keinem Verhältnis zu den Ersparnissen stehen. Wie die Bürger im Privatleben sind, muß unvermeidlich auch der Staat sein: die Beispiele des alten Griechenland, des kaiserlichen Rom, Italiens nach der Renaissance beweisen es. Hier ist hauptsächlich zu bemerken, daß die Ausgaben in dem Verhältnis wachsen, in dem die Einnahmen abnehmen; daraus entstehen dann die Deklamationen der Moralisten gegen die Künste, die sie für die Ursache des Luxus halten, während man in ihnen nur sein Werkzeug zu erblicken hat.
3. Das Übermaß der Regiererei, das aus all diesen Ursachen herbeigeführt wird. In Frankreich ist für 1862 ein Budget von 1929 Millionen vorgesehen. Das bedeutet, daß die Nation sich nicht zu lenken versteht und darum dafür, daß sie gelenkt und regiert wird, ungefähr ein Sechstel ihrer Einkünfte ausgibt. Da die Miete ebensoviel kostet wie die Regierung, bleiben für Einrichtung der Wohnungen, Kleidung, Heizung, Erziehung und Lebensmittel nur zwei Drittel übrig.
4. Der Raub, den die Großstädte ausüben, die, von welcher Seite man sie auch betrachtet, selbst wenn man sie als Zentren der Produktion, hauptsächlich aber der Luxusproduktion ansieht, der Arbeit des Landes nie so viel wiedergeben, wie sie ihr nehmen, und im großen Ganzen nur für die Unterhaltung der Müßiggänger und das Vermögen etlicher Bourgeois arbeiten.
5. Die maßlose Steigerung des Kapitalismus, der alles auf den Gelderwerb zuspitzt und selbst dazu kommt, die öffentlichen Einrichtungen, wie Banken, Eisenbahnen, Kanäle usw. in Objekte der Ausbeutung zu verwandeln. Bei dieser Gelegenheit mache ich eine Bemerkung. Ein achtbares Mitglied der gesetzgebenden Körperschaft sagte jüngst, in unsern verschiedenen Kreditanstalten lägen 500 Millionen Kapitalien zur Verfügung, die nur die Sicherheit des Friedens abwarteten, um sich in Bewegung zu setzen. Viele Leute sind versucht, aus dieser unerschöpflichen Menge baren Geldes zu schließen, die Hilfsquellen des Landes seien in gleicher Weise unerschöpflich. Aber man beachtet dabei nicht, daß das bare Geld infolge der Wirksamkeit der Steuer, der Banken, der Eisenbahnen, der Bodenpacht usw. eine Kreisbewegung vollzieht, bei der es nur vorübergehend in die Hand der Arbeiter kommt, immer aber zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt: der Kasse des Kapitalisten.
Frankreich könnte seine Vorräte zehnmal aufgegessen haben, und dieselbe Erscheinung könnte sich trotzdem noch zeigen. In Bezug auf den Fabrikanten und den Bankier kann das Geld Kapital genannt werden, weil es das Äquivalent für eine gewisse Menge Lebensmittel und Rohstoffe ist; in der Gesellschaft, wo das Geld nur als Tauschmittel oder nur als Unterpfand für die Banknoten dient, und nicht verbraucht wird, ist es ein fiktives Kapital: nur die Arbeitsprodukte sind wahre Kapitalien.
6. Die Schwankungen der Währung, die entweder aus der Verteuerung oder Verbilligung der Metalle, oder aus der Ausfuhr des Metallgeldes oder aus der Änderung des Münzfußes stammen. Es entsteht daraus, zum Schaden der Produzenten und Konsumenten, eine ungeheure Spekulation. So hat die Entdeckung der Minen in Kalifornien auf den Märkten Verwirrung erzeugt und das Silbergeld verschwinden lassen. Abgesehen von dieser verbrecherischen Spekulation hätte die Verbilligung des Goldes, die von dem Überfluß an diesem Metall kam, nicht mehr Schaden tun können als die Verbilligung des Zuckers oder der Baumwolle infolge der verdoppelten Produktion dieser Waren.
7. Schließlich die Verteuerung der Mieten und fast aller Bedarfsartikel. Sie bedeutet, daß infolge der Entwicklung des Schmarotzertums und der unproduktiven Unternehmungen, der Vermehrung des Regierungspersonals, der Beraubung von Seiten der Großstädte, der Finanzmanöver, des Luxus der Privatpersonen und des Staates, für den nützlichen Arbeiter nur noch drei Viertel, zwei Drittel oder die Hälfte dessen übrig bleibt, was er früher konsumierte, was, anders ausgedrückt, heißt, daß sein Lohn in Geld ausgedrückt zwar derselbe geblieben, tatsächlich aber um 50, 60 oder 80 Prozent gesunken ist.
Die Tatsachen, die wir hier aufzeigen, verschlimmern sich dadurch, daß sie auf einander einwirken und sich in einander verschlingen. So ist eines der Motive für die großen Arbeiten, die die Regierung unternimmt, der Wunsch, den Arbeiterklassen zu Hilfe zu kommen. Die Absicht ist trefflich: leider kann ihr nur der Erfolg nicht entsprechen. Tatsächlich geht aus allem, was wir eben gesagt haben, hervor, daß die Regierung den Pauperismus, wenn sie ihn mit künstlichen Mitteln bekämpfen will, nur verschlimmert: aus diesem Kreise giebt es kein Entrinnen. Die Kapitalisten bringen das Elend zu seinem Gipfel. Wenn das Land ihnen keine Unterkunft mehr giebt, dann wandern sie aus; sie tragen ihre Industrie und mit ihr das Elend ins Ausland.
Wenn erst einmal durch das fehlende Gleichgewicht in der Verteilung der Pauperismus die Arbeiterklasse ergriffen hat, dehnt er sich immer, weiter aus und steigt von den unteren Schichten. der Bevölkerung zu den oberen, selbst zu denen, die in Üppigkeit leben. Bei dem, der im Elend ist, bringt sich der Pauperismus durch den langsamen Hunger, von dem Fourier gesprochen hat, zum Ausdruck: das ist der Hunger in jedem Augenblick, das ganze Jahr über, das ganze Leben durch; der Hunger, der nicht an einem Tage tötet, sondern der sich aus allen Entbehrungen und allen Sorgen zusammensetzt; der ohne Unterlaß den Körper unterwühlt, am Geiste frißt, das Gewissen herunterbringt, die Rassen verdirbt, alle Krankheiten und alle Laster erzeugt, darunter die Trunksucht und den Neid, die Unlust an der Arbeit und Sparsamkeit, die Niedrigkeit der Seele, die Skrupellosigkeit des Gewissens, die Rohheit in den Sitten, die Faulheit, Bettelei, Prostitution und den Diebstahl.
Dieser langsame Hunger erzeugt und unterhält den dumpfen Haß der Arbeiterklasse gegen die Wohlhabenden, der in den Zeiten der Revolutionen sich in Zügen der Wildheit zum Ausdruck bringt, die die friedlichen Klassen auf lange hinaus in Schrecken setzen. Dieser Haß mit seinen Folgen erzeugt wiederum die Tyrannei von oben und sorgt dafür, daß die Machthaber in den gewöhnlichen Zeiten immer gerüstet und in Bereitschaft sind, loszuschlagen.
Beim Schmarotzer ist die Wirkung eine andere: er hat keinen Hunger, sondern eine unersättliche Gefräßigkeit. Die Erfahrung lehrt, daß der Unproduktive, je mehr er verzehrt, sowohl infolge der Erregung seines Appetits wie der Untätigkeit seiner Glieder und seines Hirns, um so mehr zu verzehren begehrt. Die Fabel von Eresichton in den Metamorphosen ist das Sinnbild dieser Wahrheit. Ovid hätte an Stelle des mythischen Eresichton die vornehmen Römer seiner Zeit anfuhren können, die bei einem Gelage die Einkünfte einer ganzen Provinz verzehrten. Je mehr der Reiche sich von der Flamme des Genusses, die ihn verzehrt, ergreifen läßt, um so wilder greift ihn der Pauperismus an, sodaß er mit einem Male verschwenderisch, habgierig und geizig wird.
Und was von der Gefräßigkeit gilt, ist für alle Arten der Genußgier wahr: je mehr sie befriedigt werden, um so heftiger wird ihre Gier. Die Schwelgerei im Essen und Trinken ist nur ein Teil des Verbrauchs des Unproduktiven. Phantasie und Eitelkeit kommen dazu, und bald ist ihm kein Vermögen mehr groß genug: inmitten der Genüsse verschmachtet er. Er muß seine Kasse füllen, die sich mehr und mehr leert: jetzt bemächtigt sich der Pauperismus ganz und gar seiner Person, treibt ihn zu den verwegenen Unternehmungen, zu den wilden Spekulationen, zum Spiel, zur Gaunerei und rächt schließlich im schmählichsten Zusammenbruch die gekränkte Mäßigung, Gerechtigkeit und Natur.
Das gilt für die Extreme des Pauperismus. Aber man darf nicht glauben, daß die Familien, die sich zwischen diesen Extremen, in der mittleren Lage befinden, wo Arbeit und Verbrauch in gerechterem Gleichgewicht stehen, vor der Geißel geschützt wären. Der Ton wird von der üppigen Schicht der Bevölkerung angeschlagen, und jeder beeifert sich, es ihr nachzutun. Das Vorurteil des Vermögens, der Wahn des Reichtums treibt die Seelen vorwärts. Der Familienvater wird in seinem Innern von künstlichen Bedürfnissen gequält und träumt davon, wie er sagt, "seine Lage zu verbessern", womit in den meisten Fällen gemeint ist, seinen Luxus und seine Ausgaben zu steigern. Um sich Genüsse verschaffen zu können, macht man Anleihen auf die Zukunft; und so kommt man, da der Preis der Produkte und der Leistungen steigt, die Arbeit geringer wird, die Ersparnisse kleiner werden, die Ausgaben selbst der Ordentlichsten größer werden, ohne daß sie es merken, da sie dem Beispiel der Großen und des Staates folgen, schließlich überall beim Defizit an: Ausdruck dessen sind die Geschäftsstockungen, die Finanz- und Handelskrisen, die Bankerutte, das Anwachsen der Steuern und der Schulden.
Begreift man jetzt, wieso Einfachheit, Mäßigung, Bescheidenheit in allen Dingen für uns nicht nur eine schöne Beigabe zur Reinheit unseres Lebens, sondern Tugenden sind, die schlechterdings notwendig sind?
Das ist der Gang des Pauperismus, der sich in der Menschheit eingenistet hat und allen Schichten der Gesellschaft gemeinsam ist. In manchen Ländern, wie in Rußland, Österreich, wo die meisten Familien von der Bestellung des Bodens leben, fast alles durch sich und für sich selbst herstellen und nur geringe Beziehungen zur Außenwelt haben, ist das Übel weniger schlimm. Da leiden hauptsächlich die Regierung, die kein Geld und keinen Kredit hat, und die oberen Klassen, denen der Boden nur eine geringe Rente liefert, die oft in natura gezahlt wird, unter der Klemme. Da kann man sagen, daß für die Massen die Sicherheit des Lebens und die Garantie des Notwendigen im Verhältnis stehen zu der geringen Entwicklung der Industrie und des Handels in diesen Ländern.
Bei den Völkern dagegen, wo eine ineinander greifende Arbeitsteilung eingeführt ist, wo auch die Landwirtschaft industrialisiert worden ist, wo alle Vermögen von einander abhängig sind, wo der Lohn des Arbeiters von tausend Ursachen abhängt, auf die sein Wille keinen Einfluß hat, da kann der geringste Vorfall diese empfindlichen Beziehungen durch einander bringen und kann in einem Augenblick Millionen von Menschen den Unterhalt nehmen. Man ist erschreckt, wenn man bedenkt, an was für dünnen Fäden das tägliche Leben der Völker hängt, und was für eine Menge von Ursachen alle die Neigung haben, es zu stören.
Aber es ist zu beachten und bestätigt die Wahrheit dieser ganzen Theorie: in dieser Kette von Rechenfehlern, die die Völker in den Krieg hineinzieht, ist nicht der Pauperismus der armen Massen das Element, das sich am ungeduldigsten erweist. In erster Linie kommt die Not der Fürsten; gleich nach ihr folgt die unerträgliche Lage der Großen und der Reichen.
Hier wie überall figuriert der Pöbel an letzter Stelle. Der Arme hat in dem allgemeinen Notstand nicht einmal die Ehren der Armut: auch da wird ihm nicht der Vortritt gelassen.
Die Reichen, die großen Verzehrer, gleichen, wenn man mir dieses Bild gestatten will, den großen Säugetieren, die durch die Größe ihres Körpers und geradezu durch ihre Macht viel mehr der Gefahr ausgesetzt sind, Hungers zu sterben als der Hase, das Eichhörnchen oder die Maus. Mehrere Arten, wie z.B. das Mammut, sind ausgestorben, andere sind dem Untergang nahe. Die Hauptursache der Vernichtung dieser Rassen ist, daß sie nichts mehr zu leben finden. So ähnlich ist es mit den aristokratischen Klassen, mit den Familien mit großen Vermögen. Sie sind inmitten des Geschmeißes, das sie noch mehr aussaugt als es ihnen dient, immer bedürftig, sind verschuldet, ausgepfändet und bankerott: von allen Opfern des Pauperismus sind sie, wenn nicht die interessantesten, so doch sicher die reizbarsten ...
Fassen wir zusammen. Die Natur hat sich in allen ihren Schöpfungen an den Grundsatz gehalten: Nichts zu viel, ne quid nimis. Sie verpflichtet uns zur Arbeit, sie bewilligt uns nur das Notwendige und macht uns die Armut zum Gesetz. Handeln wir gegen dieses Gesetz, trachten wir nach dem Luxus und seinen Genüssen, treibt uns die übertriebene Einschätzung unser selbst dazu, für unseren Dienst mehr zu begehren, als die Ökonomie uns bewilligen kann, so straft uns die Natur und gibt uns dem Elend preis.
Alle, wie wir da sind, Unterthanen und Monarchen, Individuen und Völker, Familien und Verbände, Gelehrte, Künstler, Industrielle, öffentliche Beamte, Rentiers und Handarbeiter, alle sind wir zur Armut bestimmt.
Im großen Ganzen produzieren wir nicht mehr, als was wir zum Unterhalt brauchen.
Der Pauperismus, wenn man seinem Grund bis in die Seelenverfassung der Menschen und ihrer Beziehungen zu einander nachgeht, hat die nämliche Ursache wie der Krieg: er entspringt der Überschätzung der Person des Menschen, die von dem inneren Wert der Leistungen und Produkte absieht. Dieser angeborene Kultus des Reichtums und des Ruhms, dieser falsch verstandene Glaube an die Ungleichheit konnte eine Zeitlang ein wirksamer Wahn sein: er muß vor der Erwägung hinschwinden, die ganz auf der Erfahrung beruht: daß der Mensch, der zur täglichen Arbeit, zu strenger Einfachheit bestimmt ist, die Würde seines Daseins und den Ruhm seines Lebens anderswo suchen muß, als in der Befriedigung des Luxus und der Eitelkeit des Befehlens.
Aber wir lehnen uns gegen die Vorschrift der Arbeit und der Mäßigkeit auf, wir widerstreben der Verteilung, die nichts anderes ist als die Gerechtigkeit, und darum hat uns der Pauperismus angefallen, und in seinem Gefolge die Zwietracht und der Krieg.
Anmerkung:
*) D.h. vom 15. Jahrhundert bis in Proudhons Gegenwart. (Der Übersetzer)
Aus: "Der Sozialist. Organ des Sozialistischen Bundes", 2. Jahrgang, Nr. 2, 15.1.1910 / Nr. 3, 1.2.1910 / Nr. 5, 1.3.1910 / Nr. 6, 15.3.1910 / Nr. 7, 2.4.1910. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.