Peter Kropotkin - Die anarchistisch-kommunistische Gesellschaft
I.
Jede Gesellschaft, die mit dem Privateigentum gebrochen hat, wird nach unserer Meinung gezwungen sein, sich in anarchistisch-kommunistischer Form zu organisieren (1). Die Anarchie führt zum Kommunismus und der Kommunismus zur Anarchie; das eine wie das andere ist nur Ausdruck der in den modernen Gesellschaften vorherrschenden Tendenz: des Strebens nach der Gleichheit.
Es gab eine Zeit, da eine Bauernfamilie das Getreide, das sie angebaut hatte, und die Wollkleider, die sie in ihrer Hütte gewoben hatte, vielleicht als Früchte ihrer eigenen Arbeit betrachten konnte. Aber selbst damals war die Anschauung nicht ganz zutreffend. Es gab damals Straßen und Brücken - Produkte gemeinschaftlicher Arbeit; Ländereien, wo ehemals Sümpfe waren, die man durch Kollektivarbeit trok- kengelegt hatte; Gemeindewiesen, von Hecken umschlossen, an deren Pflege alle mitwirkten. Eine Verbesserung an den Webinstrumenten oder im Färbungsverfahren der Wollstoffe kam allen zugute; in dieser Epoche schon konnte eine Bauernfamilie nur unter der Bedingung existieren, daß sie bei tausend Gelegenheiten Rückhalt im Dorf oder in der Kommune fand.
Aber heute, da in der Industrie alles eng miteinander verwachsen und verschlungen ist und sich jeder Produktionszweig aller anderen bedienen muß, ist das Bestreben, die Produkte weiterhin als das Ergebnis individueller Tätigkeit zu betrachten, anmaßend und absolut unhaltbar. Wenn die Textilindustrie oder die Metallwarenbranche in den zivilisierten Ländern eine erstaunliche Vervollkommnung erfahren haben, so verdanken sie das der gleichzeitigen Entwicklung von tausend anderen großen wie kleinen Industrien; sie verdanken es der Ausbreitung des Eisenbahnnetzes, der transatlantischen Schiffahrt, der Geschicklichkeit von Millionen von Arbeitern, einem gewissen Grad von allgemeiner Bildung in der ganzen Arbeiterklasse, kurz, den gesamten Arbeitsleistungen der Welt.
Die Italiener, die beim Durchstich des Suezkanals an der Cholera starben oder an der Gicht im Gotthardtunnel, ebenso die Amerikaner, die scharenweise im Krieg für die Abschaffung der Sklaverei im Geschützregen dahinsanken, sie alle haben zur Entwicklung der Baumwollindustrie in England und Frankreich beigetragen, und zwar im gleichen Maße wie jene Mädchen, die in den Manufakturen von Manchester und Rouen verkümmern, oder wie jener Ingenieur, der (infolge des schmerzlichen Eindrucks, den das Bild einer solchen Arbeiterin in ihm hinterlassen hatte) auf irgendeine Vervollkommnung der Webinstrumente gekommen ist.
Wie will man den Teil abschätzen, der von den Reichtümern, an deren Aufhäufung wir alle mitarbeiten, auf jeden entfällt?
Wenn wir uns der Produktion gegenüber auf einen allgemeinen vergleichenden Standpunkt stellen, können wir uns nicht der Meinung der Kollektivisten anschließen, daß eine Entschädigung nach der Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden, die ein jeder bei der Erzeugung aller Reichtümer leistet, ein Ideal oder auch nur ein Schritt in Richtung auf das Ideal ist. Wir wollen hier nicht darüber diskutieren, ob sich in der gegenwärtigen Gesellschaft der Tauschwert der Waren wirklich nach der in ihnen enthaltenen Arbeitsmenge bemißt, was Smith und Ricardo behauptet haben und was Marx von ihnen übernommen hat; es genügt mir, unter dem Vorbehalt, später noch einmal darauf zurückzukommen, hier festzustellen, daß das kollektivistische Ideal (2) uns unausführbar erscheint in einer Gesellschaft, die in den Produktionsmitteln ein allen zukommendes Erbe sieht. Legt man einer Gesellschaftsordnung dieses letztere Prinzip zugrunde, dann wird man sich auch gezwungen sehen, gleichzeitig das ganze Lohnsystem aufzugeben.
Wir sind der Überzeugung, daß der gemilderte Individualismus des kollektivistischen Systems unvereinbar ist mit jenem partiellen Kommunismus, den dieses System in Gestalt des Gemeineigentums an Grund und Boden und an den Arbeitsinstrumenten enthält. Eine neue Produktionsform bedingt auch eine neue Form der Verteilung der Produkte. Eine neue Produktionsweise kann, ebensowenig wie sie sich der alten politischen Organisationsform anpassen konnte, die alte Konsumtionsform beibehalten.
Das Lohnsystem hat seinen Ursprung in der persönlichen Aneignung des Grund und Bodens und der Arbeitsinstrumente durch einige wenige. Es war dies eine notwendige Voraussetzung für die Entwicklung der kapitalistischen Produktion. Das Lohnsystem wird mit dieser verschwinden, selbst wenn man es in die Form von «Arbeitsbons» kleiden wollte. Der Gemeinbesitz an den Arbeitsinstrumenten führt notwendig zum gemeinschaftlichen Genuß der aus gemeinsamer Arbeit stammenden Produkte.
Wir behaupten außerdem, daß der Kommunismus nicht allein wünschenswert ist, sondern daß auch die gegenwärtige Gesellschaftsordnungen, die sich auf den Individualismus gründen, gezwungen sind, sich ständig dem Kommunismus zu nähern.
Die Entwicklung des Individualismus in den letzten drei Jahrhunderten erklärt sich hauptsächlich aus dem Bemühen des Menschen, sich gegen die Macht des Staates und des Kapitals zu schützen. Der Mensch hatte einen Augenblick lang geglaubt, und diejenigen, die seine Gedanken formulierten, gleichfalls, daß er sich ganz vom Staat und der Gesellschaft befreien könnte. «Mit Geld», sagte er, «kann ich alles, was ich brauche, kaufen.» Aber das Individuum ist fehlgegangen, und die moderne Geschichte führt es zu der Erkenntnis zurück, daß es ohne das Zusammenwirken aller nichts vermag, selbst mit Schränken voller Gold nicht.
In der Tat: Neben dem individualistischen Zug begegnen wir in der ganzen modernen Geschichte der Tendenz, einerseits zu erhalten, was von dem partiellen Kommunismus des Altertums übriggeblieben ist, und andererseits das kommunistische Prinzip in tausend und aber tausend Äußerungen des Lebens wieder zur Geltung zu bringen.
Als es den Kommunen des 10., 11. und 12. Jahrhunderts geglückt war, sich von den weltlichen oder kirchlichen Herren zu befreien, wandten sie sofort das Prinzip der gemeinschaftlichen Arbeit und des gemeinschaftlichen Genusses in großem Umfang an.
Die Stadt - nicht die Privatleute - befrachtete die Schiffe und entsandte die Karawanen für den fernen Handel. Ihr Ertrag kam allen und nicht einzelnen Individuen zugute. Die Stadt kaufte auch die Lebensmittel für ihre Bewohner. Die Spuren dieser Institutionen haben sich bis zum 19. Jahrhundert erhalten, und die Völker bewahren ihnen noch heute in ihren Legenden ein frommes Andenken.
Dies alles ist verschwunden. Aber die Landgemeinde kämpft noch heute für die Aufrechterhaltung der letzten Überbleibsel des Kommunismus, und dies stets mit Erfolg, wenn nicht der Staat sein gewichtiges Schwert in die Waagschale wirft (3).
Zur gleichen Zeit entstehen unter tausend verschiedenen Gesichtspunkten neue Organisationen, die auf demselben Prinzip beruhen: Jedem nach seinen Bedürfnissen (4). Denn ohne eine gewisse Dosis Kommunismus kann die heutige Gesellschaft nicht existieren. Trotz des engherzigen egoistischen Geistes, den die Warenproduktion hervorgebracht hat, offenbart sich die kommunistische Tendenz alle Augenblicke und bürgert sich in unseren Beziehungen unter allen möglichen Formen ein. Die Brücke, für deren Passage einst von den Passanten eine Gebühr bezahlt wurde, ist öffentliches Eigentum geworden. Eine Bezahlung für die Benutzung der gepflasterten Landstraßen, die ehemals nach Meilen bemessen wurde, gibt es nur noch im Orient. Die Museen, die jedem offen stehenden Bibliotheken, die unentgeltlichen Schulen, die Speisungen der Kinder auf Gemeindekosten, die öffentlichen Parks und Gärten, die gepflasterten und beleuchteten Straßen, jedermann unentgeltlich zugänglich, die Wasserleitungen, bei denen die Tendenz auch dahin geht, die Bezahlung nicht nach der verbrauchten Menge zu berechnen - alle diese und noch viele andere Institutionen beruhen auf dem Prinzip: «Nehmt so viel, wie ihr braucht.»
Die Eisenbahnen und Straßenbahnen führen schon monatliche oder jährliche Abonnementsbillette ein, bei denen die Anzahl der Fahrten keine Rolle mehr spielt; und kürzlich hat eine ganze Nation - Ungarn - auf ihrem Eisenbahnnetz den Zonentarif eingeführt, nach dem die Zurücklegung einer Strecke von 500 oder 1000 Kilometern den gleichen Preis kostet. Von hier ist es nicht mehr weit bis zum Einheitspreis, wie er im Postdienst verwirklicht ist. In allen diesen modernen Errungenschaften und tausend anderen kommt die Tendenz zum Ausdruck, die Konsumtion nicht zu bemessen. Jener will 1000 Kilometer zurücklegen, ein anderer nur 500. Dies sind persönliche Bedürfnisse, und es ist kein Grund dafür vorhanden, den einen doppelt soviel als den ändern bezahlen zu lassen, weil das Bedürfnis doppelt so groß war. Alle diese Phänomene zeigen sich schon in unseren heutigen individualistischen Gesellschaften.
Es liegt unbestreitbar, so schwach sie auch noch sein mag, die Tendenz vor, die menschlichen Bedürnisse von der Größe des Dienstes, den der Mensch der Gesellschaft geleistet hat oder leisten wird, unabhängig zu machen. Man kommt dahin, die Gesellschaft als ein Ganzes zu betrachten, von dem jeder Teil so eng mit dem anderen verbunden ist, daß der einem Individuum erwiesene Dienst ein allen erwiesener Dienst ist. Wenn ihr in eine öffentliche Bibliothek - nicht die Nationalbibliothek von Paris, sondern, sagen wir, in die Londons oder Berlins - eintretet, fragt der Bibliothekar euch nicht, welche Dienste ihr der Gesellschaft geleistet habt, um euch je nach erfolgter Antwort das eine oder die fünfzig erbetenen Bücher zu geben; und nötigenfalls hilft er euch auch, wenn ihr die gewünschten Bücher im Katalog nicht zu finden versteht. Wenn man ein für alle gleichmäßig bemessenes Eintrittsgeld bezahlt - und sehr häufig ist es eine Steuer in Form einer Arbeitsleistung, die dafür vorgesehen ist -, macht die wissenschaftliche Gesellschaft ihre Museen, ihre Gärten, ihre Bibliotheken, ihre Laboratorien, ihre jährlichen Feste jedem ihrer Mitglieder zugänglich, sei dies ein Darwin oder ein einfacher Amateur.
Wenn ihr in Petersburg einer Erfindung nachgehen wollt, geht ihr in eine besondere Werkstatt, wo man euch einen Platz, einen Werktisch, eine Drehbank, alle notwendigen Werkzeuge, alle Meßinstrumente anweist, vorausgesetzt, daß ihr sie zu handhaben versteht; dort läßt man euch arbeiten, solange es euch gefällt. Hier habt ihr die Werkzeuge, gewinnt Freunde für eure Idee, vereint euch mit Kameraden verschiedener Berufe, wenn ihr es nicht vorzieht, allein zu arbeiten, erfindet die Flugmaschine oder erfindet sie nicht - das ist eure Sache. Eine Idee leitet euch - das genügt.
Fragt ferner die Bemannung eines Rettungsbootes die Matrosen eines sinkenden Schiffes nach ihren Namen? Sie schifft sich ein, wagt ihr Leben in den wütenden Wogen; sie ertrinkt auch zuweilen, um denen das Leben zu retten, die sie nicht einmal kennt. - Und warum sollte sie sie kennen?« Man bedarf unseres Dienstes; es sind menschliche Wesen dort - das genügt, ihr Recht auf unsere Hilfe steht fest. - Retten wir sie!» Das ist die Tendenz, und zwar eine Tendenz ausgesprochen kommunistischer Art, die sich überall geltend macht, unter allen möglichen Formen, selbst im Schöße unserer heutigen Gesellschaftsformen, die den Individualismus predigen.
Und wenn morgen eine der großen Städte, sonst so egoistisch gesonnen, von irgendeinem Unglück heimgesucht wird - einer Belagerung zum Beispiel dann wird diese Stadt beschließen, daß die Bedürfnisse, die zuerst befriedigt werden müssen, die der Kinder und Greise sind, und zwar ohne sich darüber zu informieren, welche Dienste sie der Gesellschaft erwiesen haben oder erweisen werden; und es gilt zuerst die Kämpfer zu ernähren und für sie Sorge zu tragen - unabhängig von der Tapferkeit oder der Klugheit, die ein jeder noch beweisen soll, und Tausende von Männern und Frauen werden in Selbstverleugnung wetteifern, um die Verwundeten zu pflegen.
Die Tendenz zum Kommunismus besteht. Sie verschärft sich mit dem Augenblick, an dem die dringendsten Bedürfnisse eines jeden befriedigt sind, und zwar in dem Maße, wie die Produktionskraft des Menschen wächst; sie verstärkt sich immer dann noch mehr, wenn eine große Idee an die Stelle der kleinlichen Sorgen des täglichen Lebens tritt.
Wie kann man also daran zweifeln, daß an dem Tag, an dem sich die Produktionsmittel im Besitz der Gesamtheit befinden werden, an dem die Arbeit gemeinschaftlich sein wird, an dem die Arbeit den Ehrenplatz in der Gesellschaft einnehmen und produktiv sein wird, wie es die Bedürfnisse aller erfordern - wie kann man daran zweifeln, daß an jenem Tag diese (schon heute so mächtige) Tendenz ihren Wirkungsbereich so weit ausdehnen wird, bis sie zum Fundament des gesamten gesellschaftlichen Lebens geworden ist?
Angesichts dieser Anzeichen und in Erwägung der praktischen Seite der Expropriation, die uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen wird, halten wir es für unsere erste Aufgabe - nachdem die Revolution die Macht, die das heutige System schützt, gebrochen hat -, sofort den Kommunismus zu verwirklichen.
Doch unser Kommunismus ist nicht derjenige der Phalansterien (5) noch derjenige der autoritären deutschen Theoretiker. Er ist der anarchistische Kommunismus, der Kommunismus ohne Regierung - derjenige freier Menschen. Er ist die Vereinigung der beiden von der Menschheit seit alters her verfolgten Ziele: der ökonomischen Freiheit und der politischen Freiheit.
II.
Wenn wir die «Anarchie» als unser Ideal der politischen Organisation bezeichnen, formulieren wir damit nur eine zweite offensichtliche Tendenz der Menschheit. Jedesmal, wenn es der Entwicklungsgang der europäischen Völker erlaubt hat, schüttelten sie das Joch der Autorität ab und arbeiteten ein System aus, das auf den Prinzipien der individuellen Freiheit beruhte. Und wir sehen in der Geschichte, daß die Perioden, in denen die Regierungen infolge partieller oder allgemeiner Empörungen geschwächt waren, die Epochen eines schnellen Fortschritts auf ökonomischem wie intellektuellem Gebiet waren.
Bald ist es die Befreiung der Städte, deren Bauwerke - die Frucht der freien Arbeit freier Assoziationen - niemals wieder übertroffen worden sind; bald sind es die Bauernkriege, deren Folge die Reformation war und die das Papsttum in Gefahr brachten; bald ist es jene Gesellschaft - frei für einen Augenblick -, die auf der ändern Seite des Atlantischen Ozeans von Männern, die des alten Europas müde waren, geschaffen wurde.
Und wenn wir die augenblickliche Entwicklung der zivilisierten Nationen beobachten, dann sehen wir, wie sich in unmißverständlicher Weise eine Bewegung entfaltet, die nicht zu Unrecht beschuldigt wird, den Wirkungsbereich der Regierung beschränken und dem Individuum mehr und mehr Spielraum schaffen zu wollen. Darin zeigt sich die gegenwärtige Evolution, allerdings noch von einer Unzahl von Institutionen und ererbten Vorurteilen behindert. Wie alle Evolutionen, wartet auch sie nur auf die Revolution, um das alte hinderliche Gemäuer zu stürzen, um in der neuen Gesellschaft einen freien Aufschwung zu nehmen.
Nachdem man lange Zeit vergeblich danach gestrebt hat, das unlösbare Problem zu lösen: nämlich das Problem, sich eine Regierung zu geben, «die das Individuum zum Gehorsam zwingen kann, ohne jemals selbst der Gesellschaft ungehorsam zu werden», sucht die Menschheit sich jetzt von jeder Art Regierung zu befreien und ihren Organisationsbedürfnissen auf dem Wege der freien Vereinbarung zwischen Individuen und Gruppen mit gleichen Zielen zu genügen. Die Unabhängigkeit der kleinsten territorialen Einheit wird ein dringendes Bedürfnis; das gemeinsame Übereinkommen ersetzt das Gesetz und regelt - über die territorialen Grenzen hinaus - die Sonderinteressen mit Rücksicht auf ein allgemeines Ziel.
Alles, was man ehemals als Funktion des Staates angesehen hat, wird ihm heute streitig gemacht: Man einigt sich viel leichter und besser ohne seine Einmischung. Wenn man die Fortschritte, die in dieser Richtung gemacht worden sind, studiert, dann kommt man zu dem Schluß, daß die Menschheit bestrebt ist, die Tätigkeit der Regierung auf Null zu reduzieren, das heißt, den Staat, diese Personifikation von Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Monopolbesitz, zu beseitigen.
Wir können schon eine Welt voraussehen, in der das Individuum, nicht mehr durch Gesetze gefesselt, nur noch gesellschaftliche Neigungen haben wird. Diese Neigungen entspringen dem von jedem von uns empfundenen Bedürfnis, Hilfe und Mitgefühl bei seinen Nachbarn und die Zusammenarbeit mit ihnen zu suchen.
Gewiß, die Idee einer Gesellschaft ohne Staat wird eine wenigstens ebenso große Gegnerschaft finden wie die politische Ökonomie mit der Vorstellung von einer Gesellschaft, in der es kein Privateigentum mehr geben soll. Wir alle sind in dem Vorurteil erzogen worden, daß die Vorsehungs-Funktionen des Staates notwendig seien. Unsere ganze Erziehung, angefangen vom Unterricht in der römischen Geschichte bis hin zur Einweihung in den corpus juris, den man unter dem Namen «römisches Recht» studiert, sowie die verschiedenen an den Universitäten gelehrten Wissenschaften haben uns daran gewöhnt, an die Regierung und an die Tugenden des von der Vorsehung eingesetzten Staates zu glauben.
Man hat philosophische Systeme entworfen und gelehrt, um dieses Vorurteil zu erhalten; mit dem gleichen Ziel hat man Rechtstheorien ausgearbeitet. Die ganze Politik beruht auf diesem Prinzip, und jeder Politiker, ganz gleich welcher Richtung, wird stets zum Volk sagen: «Gebt mir die Macht; ich will, ich kann euch von dem Elend befreien, das auf euch lastet!»
Von der Wiege bis zum Grabe stehen wir unter der Herrschaft dieses Prinzips. Öffnet ein beliebiges Buch der Soziologie oder der Jurisprudenz, und ihr werdet finden, daß die Regierung, ihre Organisation und Handlungen einen derartig breiten Raum einnehmen, daß wir schließlich zu dem Glauben kommen müssen, es gäbe nichts weiter auf der Welt als Regierungen und Staatsmänner.
Der gleichen Litanei begegnen wir in allen Tonarten in der Presse. Ganze Spalten sind den Debatten der Parlamente, den Intrigen der Politiker gewidmet; das tägliche, gewaltige Leben einer Nation kommt höchstens in einigen wenigen, einen ökonomischen Gegenstand behandelnden Zeilen zur Geltung - gelegentlich eines neuen Gesetzes oder unter «Verschiedenes » durch Vermittlung der Polizei. Und wenn ihr diese Journale lest, dann kommt ihr nicht auf den Gedanken, daß es außer einigen Persönlichkeiten, die alles in den Schatten stellen, die man in den Himmel hebt, und die nur dank unserer Unwissenheit diese Rolle spielen, noch eine unberechenbare Anzahl von Wesen - die ganze Menschheit fast - gibt, die leben und sterben, die Schmerzen erdulden, die arbeiten und konsumieren, denken und schaffen.
Wenn man sich dagegen vom Papier zum Leben selbst wendet, wenn man einen Blick auf die Gesellschaft wirft, dann wird man betroffen von der unendlich geringen Rolle, die die Regierung in Wirklichkeit spielt. Schon Balzac macht darauf aufmerksam, wie viele Millionen von Bauern während ihres ganzen Lebens mit dem Staat nicht in Berührung kommen, ausgenommen, daß sie an ihn drückende Steuern bezahlen müssen. Jeden Tag werden Millionen von Übereinkommen ohne die Intervention der Regierung geschlossen, und die wichtigsten - diejenigen im Handel, an der Börse - werden in einer Form geschlossen, die es nicht zuläßt, daß die Regierung im Falle eines Vertrauensbruchs angerufen werden kann. Sprecht mit einem Mann, der etwas vom Handel versteht, und er wird euch sagen, daß die vielen Tauschakte, die täglich zwischen den Handeltreibenden stattfinden, ein Ding der Unmöglichkeit wären, wenn sie nicht auf gegenseitigem Vertrauen beruhten. Die Gewohnheit, sein Wort zu halten, der Wunsch, seinen Kredit nicht zu verlieren, sind vollständig hinreichend, um diese - wenn auch äußerst relative - Ehrenhaftigkeit, die Ehre des Händlers, zu bewahren. Derselbe Mann, der keine Gewissensbisse dabei empfände, seine Kundschaft mittels unreiner, aber mit prunkenden Etiketten ausgestatteter Waren zu vergiften, betrachtet es als Ehrensache, seinen Handelsverpflichtungen nachzukommen. Ja, wenn diese relative Moral unter den gegenwärtigen Verhältnissen, unter denen Bereicherung und nochmals Bereicherung das einzig treibende Moment ist, sich entwickeln kann - können wir daran zweifeln, daß die Moral außerordentliche Fortschritte machen wird, sobald die Gesellschaft nicht mehr auf der Aneignung fremder Arbeit beruht?
Ein anderer überraschender Zug, der besonders unsere Generation charakterisiert, spricht noch mehr zugunsten unserer Ideen. Es ist die ständig wachsende Zahl von Unternehmungen, die ihren Ursprung der Privatinitiative und der wunderbaren Entwicklung von freien Gruppierungen aller Art verdanken. Wir werden davon des längeren in den Kapiteln, die der Freien Vereinbarung gewidmet sind, sprechen (6). Hier möge der Hinweis genügen, daß diese Gründungen so zahlreich und alltäglich sind, daß sie eigentlich ein Wesensmerkmal der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts bilden. Die Schriftsteller des Sozialismus und der bürgerlichen Politik ignorieren das freilich und ziehen es vor, uns ständig mit Abhandlungen über die Funktionen der Regierung zu unterhalten. Diese freien, unendlich variablen Organisationen sind ein so natürliches Entwicklungsprodukt, ihre Anzahl wächst so rapide, ihre Bildung vollzieht sich mit so außerordentlicher Leichtigkeit, sie sind ein so notwendiges Resultat der ständig wachsenden Bedürfnisse des zivilisierten Menschen, und sie ersetzen endlich in so vorteilhafter Weise jegliche Einmischung seitens einer Regierung, daß wir in ihnen einen immer wichtigeren Faktor des gesellschaftlichen Lebens erblicken müssen. Wenn sie sich noch nicht über alle Lebensbereiche ausdehnen, so liegt dies daran, daß sie einem unübersteigbaren Hindernis im Elend des Arbeiters, im Kastengeist der gegenwärtigen Gesellschaft, im Monopolbesitz und im Staat begegnen. Beseitigt diese Hindernisse, und ihr werdet sehen, wie diese freien Organisationen alle Lebensbereiche der zivilisierten Menschen erfassen werden.
Die Geschichte der letzten fünfzig Jahre hat den schlagendsten Beweis dafür geliefert, daß die repräsentative Regierung ohnmächtig ist, den Funktionen, die man ihr andichten wollte, gerecht zu werden. Man wird einst das neunzehnte Jahrhundert als das Datum der Fehlgeburt des Parlamentarismus bezeichnen.
Aber diese Ohnmacht wird für jedermann so einleuchtend, die Mängel des Parlamentarismus, die fundamentalen Schwächen des repräsentativen Prinzips werden so offenkundig, daß einige Denker, die ihn kritisiert haben [J.S.Mill, Leverdays (7)], nur der allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck geben konnten. Man sieht mehr und mehr ein, wie absurd es ist, einige Männer zu wählen und zu diesen zu sagen: «Macht uns für alle Bereiche unseres Lebens Gesetze, auch wenn keiner von euch eine Ahnung von ihnen hat.» Man beginnt zu begreifen, daß die Herrschaft der Majoritäten bedeutet, alle Geschäfte eines Landes denen zu überlassen, die die Mehrheit für sich zu gewinnen wissen, d. h. den «Kröten des Sumpfes» im Parlament und in den Wahlversammlungen, mit einem Wort denen, die keine Meinung haben. Die Menschheit sucht und findet neue Wege.
Der Internationale Postverein, die Vereinigung der Eisenbahnen, die wissenschaftlichen Gesellschaften liefern uns Beispiele für die Lösung, die man auf dem Wege der freien Vereinbarung anstelle des Gesetzes gefunden hat.
Wenn heute über alle vier Windrichtungen des Erdballs verstreute Gruppen sich zu irgendeinem gemeinsamen Ziel organisieren wollen, so ernennen sie nicht mehr ein internationales Parlament von Deputierten mit unumschränkter Vollmacht, zu denen man sagt: «Beschließt Gesetze, wir gehorchen.» Nein, wenn man sich heute nicht direkt oder auf dem Wege der Korrespondenz verständigen kann, dann schickt man sachverständige Delegierte zum Verhandeln und sagt diesen : «Versucht euch über diese oder jene Fragen zu einigen und kommt dann zurück - aber nicht mit einem Gesetz in der Tasche, sondern mit einem Verständigungsvorschlag, den wir dann annehmen werden oder nicht.»
In dieser Weise handeln die großen industriellen Unternehmen, die wissenschaftlichen Gesellschaften, die Vereinigungen aller Art, die sich heute schon über ganz Europa und die Vereinigten Staaten ausbreiten. Und in gleicher Weise wird eine befreite Gesellschaft handeln müssen. Um die Expropriation durchzuführen, wird es ihr ganz unmöglich sein, sich nach dem Prinzip der parlamentarischen Repräsentation zu organisieren. Eine auf der Leibeigenschaft begründete Gesellschaft konnte sich mit der absoluten Monarchie abfinden, eine auf dem Lohnsystem und der Ausbeutung der Massen durch die Kapitalbesitzer beruhende Gesellschaft konnte sich dem Parlamentarismus anpassen. Aber eine freie Gesellschaft, eine Gesellschaft, die Besitzer des allen zukommenden Erbes ist, muß in der freien Gruppierung, in der freien Föderation der Gruppen, eine neue Organisation finden, eine Organisation, die der neuen ökonomischen Phase der Geschichte entspricht.
Jeder ökonomischen Phase entspricht eine politische Phase, und es wird unmöglich sein, am Eigentum zu rütteln, ohne zugleich eine neue Form des politischen Lebens zu finden.
Fußnoten:
1.) Pierre Kropotkine, La conquête du pain. Préface par Elisée Reclus, Paris 1892, S. 31-45: Le Communisme Anarchiste. Deutsche Übersetzung aus: Peter Kropotkin, Der Wohlstand für alle, 3. Auflage, Zürich 1918, S. 25-35.
2.) Hier im Sinne der Bedürfnisbefriedigung auf der Grundlage der Leistung gemeint.
3.) Diese Vorstellung von der besonderen Bedeutung der Landgemeinde dürfte auf Cernysevskij zurückgehen, der angesichts der an kommunistische Organisationsformen erinnernden russischen Dorfgemeinschaft (mir oder obicina) die These formuliert hatte, daß die Weiterentwicklung dieser Dorfgemeinschaft es Rußland erlauben würde, den Kapitalismus zu überspringen und direkt zum Sozialismus zu gelangen. Gerade die Geschichte der sogenannten Bauernbefreiung in Rußland beweist aber, daß weniger die Bauern und schon gar nicht die wirtschaftliche Entwicklung die Erhaltung dieser Art «Kommunismus» fördern, sondern daß es sich hier in erster Linie um die Wunschvorstellungen von Theoretikern handelte. Anders als in Rußland verhielt es sich etwa in Spanien. Vgl. Einleitung S. 50-51.
4.) Vgl. Text 9, S.234, Anm. 3.
5.) Phalansterien nannte Fourier die von ihm entworfenen Großkommunen, in deren Rahmen etwa 400 Familien auf einem bestimmten Stück Land, untergebracht in einem großen Gebäude, in Gemeinschaft arbeiten und alle ihre Bedürfnisse befriedigen sollten. Vgl. Dokumente der Weltrevolution, Bd. I: Die frühen Sozialisten, a.a.O., S.213-241.
6.) Vgl. in der deutschen Ausgabe a.a.O., S. 118-132.
7.) Kropotkin bezieht sich hier offenbar auf J.St. Mill, On Liberty, London 1859, und E. Leverdays, Les Assemblées parlantes. Critique du gouvernement représentatif, Paris 1883.
Aus: Oberländer, Erwin (Hg.): Dokumente der Weltrevolution. Der Anarchismus. Walter-Verlag 1972. Digitalisiert von www.anarchismus.at